Boycamp IV – Teil 23

Nico wäre gern mitgefahren, aber bevor er diesen Wunsch äußern konnte, war Stein bereits auf dem Weg.

So vertrieb er sich die Zeit im Internet, beantwortete die Weihnachtsgrüße und stöberte in den Nachrichten. Tatsächlich gab es für ihren Bereich hier eine Unwetterwarnung. Zum Schnee sollte starker Wind aufkommen, was die Gefahr von Schneeverwehungen und Windbruch mit sich bringen konnte.

Keine besonders tollen Aussichten. Stimmen drangen von unten zu ihm herauf und deuteten wohl an, dass die Gäste angekommen waren. Aufgeregt machte sich Nico noch etwas zurecht, an so einem Tag sollte man schon etwas mehr Wert auf sein Äußeres legen.

War der Unbekannte mitgekommen? Dass es sich um ein weibliches Wesen handeln könnte, hatte Nico alsbald verworfen. Es gab einfach keins, das hier seine Aufwartung machen konnte.

Langsam ging er hinunter, die Stimmen kamen aus dem Gemeinschaftsraum.

„Der ist aber sehr schön“, hörte er Antonia Berger begeistert sagen.

„In der Tat, die Jungen haben sich wirklich angestrengt“, ließ der Professor verlauten.

„Wo sind sie eigentlich?“

„Auf ihren Zimmern“, antwortete Stein, „ich habe sie darum gebeten.“

Nico holte Luft und ging auf den Raum zu. Unter der Tür spähte er auf die Gruppe und konnte Stein, Frau Berger, den Professor, Leo und Rainer sowie Haber und den Doktor ausmachen. Eine Person, die er nicht kannte, befand sich nicht unter ihnen. Etwas enttäuscht betrat er den Raum.

„Ah, Herr Hartmann. Nun ist das Team ja vollzählig“, rief Frau Berger und es kam zu einer Begrüßungsrunde. Man wünschte sich frohe Weihnachten, Holzmann reichte ihnen dazwischen Gläsern mit Sekt, ungefragt und Standesgemäß.

„Ah, Herr Kirchheim, kommen Sie. Hier, zur Einstimmung“, sagte Stein plötzlich und hielt ein Glas Sekt hoch.

Nico drehte ob Steins Bemerkung sofort den Kopf zur Tür und starrte nun auf die Person, die soeben den Raum betreten hatte. Er versuchte, den Mann aus seinem Gedächtnis abzurufen, aber er konnte das Gesicht nicht einordnen.

Wie alt mag er gewesen sein? Mitte Zwanzig? Schwer zu sagen, er konnte auch schon Dreißig sein. Etwas kleiner als er, kurze, braune und dichte Haare und die eher schmale Figur steckte in einem richtig eleganten Anzug mit Krawatte.

„Nico, das ist Ralf Kirchheim. Ihr seid euch zwar schon einmal begegnet, aber eher auf Distanz. Würdest du Marco bitte mal kurz holen?“

Nico wusste zunächst nicht, was das zu bedeuten hatte, folgte aber ohne Nachzufragen.

Marco lag auf seinem Bett und tippte auf seinem Handy herum. Sein Gesicht hellte sich auf, als Nico ins Zimmer kam.

„Hui, du hier?“

„Ja, Marco, aber auf Befehl.“

„Bitte?“

„Kommst du mal kurz mit? Ich weiß nicht, worum es geht, aber Falk bittet darum.“

Marco sprang auf und stellte sich vor Nico hin.

„Halt, nicht so eilig, junger Mann.“ Nico betrachtete ihn genau, zupfte ihm dann da am Kragen, dort am Hemd.

„Hey, was fummelst du an mir herum?“, erboste sich Marco künstlich.

Nico lachte.

„Ich möchte nicht, dass du aussiehst wie ein Penner, das ist alles. So ist es okay, jetzt kannst du unter die Öffentlichkeit.“

Sie betraten den Raum und Marco begrüßte die Gäste mit einem Handschlag. Vor dem Fremden blieb er unschlüssig stehen.

„Nico, Marco: Darf ich vorstellen? Ralf Kirchheim. Er war Soldat bei der Heeresfliegerwaffenschule Bückeburg“, setzte Stein fort, ohne auf nähere Einzelheiten einzugehen.

Das musste er auch nicht, denn seine Geschichte war ja bereits in die Legenden des Camps eingegangen.

Nico spürte, wie ihn die Gefühle zu überrennen drohten. Das war er also, der Mann, dem Marco sein Leben zu verdanken hatte.

„Herr Kirchheim, das ist Marco Serrolas.“

Der Junge schien gar nichts wahrzunehmen, erst als ihn Nico am Arm zupfte, reagierte er und nahm eher zaghaft die Hand des Mannes, der sie ihm hingehalten hatte. Er konnte nichts sagen, immerzu sah er Kirchheim in die Augen.

Sie schwiegen beide, ließen die Hände aber nicht los. Stein winkte Nico mit dem Kopf zu sich.

„Vielleicht möchten sich die beiden ohne uns unterhalten. Würdest du sie in mein Zimmer bringen?“

Nachdem Nico sie kurz darauf in Steins Zimmer gebracht und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich an die Wand und atmete durch. Das war eine sehr gelungene Überraschung und sicher hatten sich die beiden eine ganze Menge zu erzählen.

Zum Mittagessen waren dann alle im Gemeinschaftsraum versammelt und Nico half Holzmann diesmal, das Essen zu servieren. Es waren einfach zu viele Leute. So hoch war der Geräuschpegel in dem Raum noch nie, die Stimmung zu Rumpsteak, Pommes frites, Salat und Mokkacreme war hervorragend.

Die Jungen verschwanden danach in ihren Zimmern, sie spürten, dass sich die Betreuer unterhalten wollten.

„Eine sehr gemütliche Weihnachtsfeier“, betonte Antonia Berger ihre Begeisterung.

„So ganz ohne Theater, Action oder sonstigen Sachen, mit denen man solche Ereignisse gern und meist recht langweilig gestaltet. Und das Wetter spielt auch mit.“

Der Schneefall hatte nun mit aller Macht eingesetzt und dicht an dicht fielen große Schneeflocken am Fenster vorbei.

Es wurde viel geredet, alle möglichen Themen waren unter der Mannschaft unterwegs. Plötzlich stand Rick mitten in dem Raum und winselte.

„Hey, du hattest aber auch genug. Beschweren gilt nicht“, rief ihm Leo zu.

Doch der Husky beruhigte sich nicht, im Gegenteil, er begann jetzt laut zu bellen.

„Was hat er denn?“, wollte der Professor wissen.

„Keine Ahnung. Rick, was ist denn los?“ Auch Stein verfluchte öfters, die Hundesprache nicht zu verstehen.

Rick gebärdete sich immer wilder, drehte sich dann bellend im Kreis und allmählich wurde Stein unruhig. Er stand auf und als er sich Rick näherte, sprang der mit zwei Sätzen zur Tür, um dort weiter zu bellen.

Falk Stein war in diesem Moment klar, dass irgendetwas nicht stimmen konnte.

„Ich geh mal nach draußen, nachsehen“, rief er in den Raum und in dem Moment, als er die Tür öffnen wollte, ertönte ein dumpfes Donnergrollen. Es hörte sich an, als tobte in der Nähe ein Gewitter, gleichzeitig jedoch begann das ganze Haus zu beben.

Gläser klirrten, irgendwo zersprang eine Fensterscheibe, die Kugeln am Weihnachtsbaum zitterten und die Deckenleuchter schwankten hin und her. Dem ersten Donnern folgte Sekunden später ein zweites, das aber weniger heftig war und der Boden bebte dabei kaum.

Zuerst waren alle stumm vor Schreck, dann schrie Stein:

„Raus, alle raus hier“, und stürmte in den Flur, wo ihm bereits die Jungen entgegen kamen.

„Los, schnell vor die Tür, beeilt euch.“

Kurze Zeit später standen alle vor dem Haus und rasch zählte Stein die Köpfe durch. Nachdem auch Holzmann aus der Küche geflüchtet und unter ihnen war, fehlte niemand.

Inzwischen schien sich die Lage beruhigt zu haben. Außer dem Wind in den Bäumen und den Stimmen der erschreckten Jungen war nichts verdächtiges mehr zu hören oder zu fühlen. Leo lauschte angespannt.

„Was zum Teufel war das denn jetzt?“

„Es kam mir vor wie ein Erdbeben. Aber soviel ich weiß, ist das keine Gegend für solche Sachen“, stellte Rainer fest.

„Ich geh mal rein, schauen was da passiert ist“, sagte Leo nach einigen Minuten und war froh, der Kälte und dem Schnee entkommen zu können.

„Ich komme mit“, schloss sich ihm Nico an.

Die anderen stellten sich dann auf Steins Anweisung unter die Remise neben die Fahrzeuge, so gingen sie wenigstens dem Schnee aus dem Weg.

Leo ging sehr vorsichtig in das Haus, fast schleichend wie eine Katze. Seine Augen waren überall, an den Wänden, der Decke, den Fenstern.

„Scheint noch mal gut gegangen zu sein. Der Strom ist zum Glück auch nicht ausgefallen. Nico, bleib du hier, ich sehe oben nach.“

Nico fröstelte. Es konnte gar nichts anderes als ein Erdbeben gewesen sein, eine andere Erklärung gab es dafür nicht. Es beruhigte ihn, dass alle mit heiler Haut davongekommen waren und große Sachschäden waren wohl auch keine zu erwarten.

Nach kurzer Zeit kam Leo zurück.

„Rainers Fensterscheibe ist zersplittert, ansonsten ist auf den ersten Blick alles okay. Ich denke, wir können Entwarnung geben.“

Nico ging mit dieser Botschaft nach draußen und wenig später fanden sich alle wieder im Gemeinschaftsraum ein. Der Koch eilte in die Küche, um Bestandsaufnahme zu machen und Stein bat die Jungen, in ihre Zimmer zu gehen. Er fand es angebracht, das ganze Haus auf Schäden zu untersuchen.

„Rainer, du siehst dir die Zimmer der Jungen an, Leo den Keller und die Notstromanlage. Ich nehme mir unser Stockwerk und das Dach vor. Nico, dein Zimmer sollte auch genau inspiziert werden. „

„Kann ich etwas helfen?“

Ralf Kirchheim kam Stein fast wie gerufen.

„Kommen Sie mit mir.“

Sie teilten sich und derweil ließ es sich Holzmann nicht nehmen, eine Flasche hochprozentiges auf den Tisch zu stellen.

„Auf diesen Schreck“, sagte er nur und stellte die Gläser daneben. Antonia Berger stand ebenso wie dem Professor der Schreck ins Gesicht geschrieben, doch Roth fing sich recht schnell wieder.

„Sehen Sie, meine Liebe, man muss nur in eines unserer Camps, und schon ist Langeweile ein Fremdwort.“

Er goss Schnaps in zwei Gläser und hielt ihr eines hin.

„Prost, trotzdem.“

Frau Berger lächelte etwas gequält.

„Nun ja, das mag schon sein. Aber Weihnachten hier stellte ich mir nun doch etwas romantischer vor.“

Nico hatte den Eindruck, dass es zu kühl war in seinem Zimmer. Aber der Thermostat stand wie immer. Als er auf den Heizkörper fasste, war der nun noch lauwarm. Sofort suchte er Leo im Keller auf.

„Leo, wir sollten nach dem Heizwerk sehen. Meine Heizung geht nicht.“

Meier machte sofort ein ernstes Gesicht.

„Da hätten wir gleich nachsehen sollen.“

Kurz darauf betraten sie den Heizraum.

„Die Anlage steht“, brummte Leo mit Blick auf die Instrumente, außerdem leuchtete an der Tafel eine große, rote Lampe.

Er schaltete sie aus.

„Irgendeine Störung ist da, aber wo und warum?“

Er ging zu dem Kessel hinüber.

„Auf den ersten Blick ist da scheinbar nichts kaputt.“

„Aber wieso geht sie dann nicht?“

Leos Blick fiel auf ein großes Manometer.

„Wir haben scheinbar kein Gas. Da ist kaum noch Druck auf der Leitung. Dadurch fallen die Magnetventile und der Brenner geht aus.“

„Kein Gas? Und jetzt?“

„Schlimm ist das nicht, ich kann auf Öl umstellen. Aber ich frage mich, wieso der Druck weg ist.“

Nico schnüffelte plötzlich in die Luft.

„Leo, riechst du das?“

„Nein, was denn?“

„Wirklich nicht?“

„Mein Geruchssinn ist nicht mehr so der allerbeste, weißt du. Nach was riecht es denn?“

„Nach Gas“, sagte Nico nur kurz und knapp.

Leo wurde blass, dann lief er umher und sog hörbar die Luft durch seine Nase.

„Stimmt, jetzt rieche ich es auch.“

„Dann ist wohl eine Leitung undicht?“ Nico ahnte nicht, welche Tragweite seine Aussage hatte.

„Undicht, sicher. Aber das ist.. nicht gut, gar nicht gut.“

Leo roch sich praktisch durch das kleine Heizwerk und in einer Ecke blieb er stehen. Neben ihm führte die Gasleitung aus dem Boden zum Kessel hin. Er wich etwas zurück und schien sehr angestrengt nachzudenken.

„Und? Hast du etwas gefunden?“

„Ich hoffe, dass ich mich irre. Da ist die Gasleitung, sie führt in einem Versorgungsschacht von unten im Tal durch den Felsen hier hoch. Und hier riecht es am stärksten. Ich fürchte, die Leitung ist irgendwo da drin im Felsen geborsten.“

„Und das heißt, wir können sie nicht reparieren?“

Leo schnaufte.

„Das können wir sowieso nicht, aber ich habe ganz andere Sorgen. Wenn das wirklich so ist, strömt das entwichene Gas in alle Fugen und Ritze dieses Felsens. In dem Schacht läuft ja auch die Abwasserleitung und die zweigt irgendwo da unten im Felsen zum Haus ab. Mit anderen Worten, wenn da Gas ausströmt, dann auch drüben ins Haus. Bis dahin nicht besonders schlimm, aber der kleinste Funke, und uns fliegt der ganze Berg um die Ohren.“

„Kann man das nicht abdichten? Ich meine, den Schacht zum Haus?“

„Möglich, aber ich fürchte, gegen Gas können wir nicht viel machen, das strömt durch kleinste Fugen und Ritze.“

Jetzt wurde Nico blass.

„Wir sollten schnellstens die Stadtwerke anrufen. Die müssen die Hauptleitung da unten zudrehen.“

Leo nickte.

„Ich nehme an, sie wissen bereits davon, es ist ja heute alles Fernüberwacht. Aber bis die Bereitschaft kommt, noch dazu an so einem Tag und bei dem Wetter, kann es dauern. Und so lange können wir nicht warten. Außerdem dürfte bereits jetzt jede Menge Gas in den Felsen geströmt sein.“

„Also müssen wir wohl alle raus hier.“

„Ja, runter ins Dorf, bis Entwarnung gegeben wird. Ich kann jetzt auch die Heizung nicht anstellen. Mehr Funken und Feuer kann man gar nicht produzieren.“

Nico stöhnte.

„Klasse. Was sind das denn jetzt für Weihnachten?

„Auch wenn ich es gern anders hätte, Nico, aber der gemütliche Teil scheint jetzt erst einmal vorbei zu sein.“

Stein hörte genau zu, was Leo zu sagen hatte.

„Und du meinst, das könnte wirklich so gefährlich werden?“

„Ich sag es mal so: Es ist das Ende jener Möglichkeiten, die uns blühen können. Ich kann da einfach nur vermuten, vielleicht ist es sogar nur Spekulation, aber das Risiko bleibt. Wir haben keine Heizung und ich muss wohl oder übel auch den Strom abstellen.

Ein Lichtschalter oder Kühlschrank oder was weiß ich, reicht. Funken kann es überall geben. Abgesehen davon, ist Gas Erdgas an sich schon ein Problem. Das kann man nicht einfach so einatmen.

In ein paar Stunden ist es hier drin genauso kalt wie draußen. Dunkel ist es auch schon, ohne Licht geht gar nichts. Zumal Taschenlampen gelegentlich auch Funkenschläger sind. Und wie lange sollen wir das aushalten? Wir müssen evakuieren, Falk. Im Dorf finden wir etwas, da hab ich keine Probleme. Zumal der Professor dabei ist. Der macht denen schon Beine, wenn sie zicken. Und dann ist es ja nur für einen Tag höchstens, Gas ist ja sehr flüchtig. Und noch können wir in Ruhe handeln.“

Stein konnte Leo nichts entgegensetzen.

„Also gut, wir machen einen Notfallplan. Wie viele sind wir und wie viele Autos haben wir?“

Leo rechnete kurz nach.

„Wir sind Siebzehn, alle in allem. Dein Auto, das von Holzmann, Haber und dem Doktor. Meine Kiste ist ja leider nicht fahrbereit. Wenn ich richtig rechne, können wir alle in den Fahrzeugen unterbringen.“

„Okay. Die Jungen sollen sich dick anziehen und ihre Bettdecken mitnehmen. Taschenlampen nicht vergessen. Ich denke nicht, dass wir alles mitnehmen müssen, was wichtig ist. Es darf halt niemand anderes hier hoch kommen, solange es brenzlig ist.“

„Also ich schalte eh den Strom ab und verrammle die Tür. Mehr können wir nicht tun. Und vor allem: Keine Panik. Womöglich ist das Gas ja so verteilt, dass es nichts anrichten kann. Wir sorgen vor, mehr nicht.“

„Übrigens haben wir kein Netz mehr“, sagte Rainer und zeigte auf sein Handy.

Falk Steins Nerven waren nun nicht mehr die besten.

„Klasse, das hat noch gefehlt. Ich kann ja nicht da oben in meinem Zimmer auf Gespräche warten. Aber ich rufe trotzdem vorsichtshalber die Stadtwerke und auch den Eidamer an. Und im Gasthof im Dorf.“

Die Jungen waren in kurzer Zeit abmarschbereit. Sie sammelten sich bei den Betreuern und Gästen im Gemeinschaftsraum und trotz der Ernsthaftigkeit der Lage sah es witzig aus, wie sie so voll aufgerüstet und mit ihren zusammengerollten Bettdecken unter dem Arm so da standen. Nico taten sie irgendwie leid. Von einer auf die andere Minute hatte sich alles geändert. Aber es würde ja nicht lange dauern.

Er legte seine Sachen ab und ging zu ihnen hin.

„Und, alles okay mit euch?“

Es war eigentlich eine seltsame Frage.

„Also ich würde jetzt lieber hier sitzen und Fernsehen gucken“, meinte Maik ehrlich.

Jonas und Marco standen zusammen und schwiegen. Vor allem Marco dürfte das alles jetzt nicht leicht fallen. Sicher war es kein Vergleich zu damals, aber trotzdem. Diese Aufregung hätte er ihm gern erspart.

„War euer Gespräch interessant?“, kam er dann auf Ralf Kirchheim zu sprechen.

„Oh ja, das kann man sagen. Was der alles erleben musste, da bin ich sozusagen ein Waisenknabe dagegen. Aber jetzt hat er einen ruhigen Job. Ich finde es klasse, dass ich ihn kennen lernen konnte. Das halt wohl alles Falk eingefädelt?“

„Ja, ich war genauso überrascht wie du.“

Stein erhob dann das Wort.

„So, jetzt bitte alle nach draußen, die Autos sind vorgefahren. Zum Glück haben die einheimischen hier ein anderes Verhältnis zum Wetter und das bedeutet, dass drei Fahrzeuge Schneeketten aufgespannt haben. Ich werde ihnen hinterherfahren und zusehen, dass wir uns nicht festfahren.“

Die Befürchtung war berechtigt, da es seit dem Mittag ununterbrochen geschneit hatte und jede Flocke liegen blieb.

„Wir sind in höchstens einer viertel Stunde unten im Dorf. Unterkommen werden wir bei Tante Emmi, ich habe sie kurz angerufen um Verpflegung zu bestellen. Sie hat spontan ihre Räumlichkeiten angeboten. Es wird also alles halb so schlimm. Der Hausverwalter kommt so schnell er kann, aber bei dem Wetter weiß er nicht, wann. Die Stadtwerke sind informiert, sie hatten diese Störung übrigens nicht bemerkt. Auch da ist nicht sicher, wann der Bereitschaftsdienst kommen kann. Das mal in Kürze. Und jetzt bitte alle aufsitzen.“

Antonia Berger, der Professor, Ralf Kirchheim sowie Nico, Leo und Rainer konnten bei Stein mitfahren.

Bei Holzmann nahm Ruben Platz, in Doktor Schnells Wagen stiegen Jonas, Marco, Benny und Sascha, Maik und Timo wurden von Haber mitgenommen.

„Wo ist eigentlich Rick?“ Nico war aufgefallen, dass sich der Hund seit dem Beben nicht mehr hatte sehen lassen.

Stein stieg noch einmal aus und rief nach ihm, aber der Rüde tauchte nicht auf.

„Der macht mich in letzter Zeit wahnsinnig“, sagte er etwas wütend, als er nach einer Weile wieder einstieg. „Wir können ihn jetzt nicht suchen. Er wird den Autospuren folgen, dumm ist er ja nicht.“

Als sie in den Autos saßen, erloschen die Lichter, dann kam Leo aus dem Haus und verschloss die Tür.

„So, der Strom ist abgeschaltet, die Tür ist zu. Wir können fahren.“

Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Das dichte Schneetreiben behinderte die Sicht und nur langsam fuhr der Doktor mit seinem Auto voran.

„Mann was ein Wetter. Das hätte jetzt ja nicht auch noch sein müssen“, schimpfte er und beugte sich vor, um die Straße besser sehen zu können. Doch nach einigen Minuten Fahrt blieb er plötzlich stehen.

„Was ist?“, fragte Marco.

„Da vorn stimmt was nicht. Bleibt im Wagen, ich schau mir das mal an.“

Der Arzt stieg aus und lief im Scheinwerferlicht einige Meter voraus. Dann blieb er stehen.

Kurz darauf stand Stein neben ihm.

„Was ist los, warum geht es nicht weiter?“

Der Doktor zeigte voraus.

„Deswegen.“

Falk Stein bleib beinahe die Sprache weg.

„Das darf nicht wahr sein, oder?“

Auch Leo und Rainer kamen jetzt dazu und gemeinsam sahen sie in den dunklen Abgrund, der sich vor ihnen auftat.

„Die Brücke ist weg“, rief Stein gegen den Wind. „Diese verdammte Brücke ist weg!“

Schnell wurde ihm klar, dass dies das zweite Donnern gewesen war. Nach dem Beben stürzte das alte Bauwerk offenbar in die Tiefe.

„Und jetzt?“, fragte Leo fassungslos.

„Wir müssen den anderen Weg nehmen, um den Berg herum. Da kommt man oberhalb der alten Minen heraus und von dort geht es runter auf die Landstraße. Ich hab ihn gelegentlich benutzt, wenn die Brücke gesperrt war. Hoffentlich ist der jetzt noch befahrbar, bei sehr viel Schnee geht da gar nichts“, mischte sich Holzmann ein, der ebenfalls dazugekommen war.

„Dann los“, rief Stein, „wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Die Kolonne musste rückwärts den Weg zurück, da man nicht sehen konnte, wie breit die Straße war. Dann bogen sie den Weg ein, den auch Nico und Rainer von ihrer Wanderung her kannten.

Die Fahrzeuge rutschten auf dem Schnee hin und her, die Sicht war hier noch schlechter und es ging fast nur im Schritttempo voran. Stein steuerte seinen Range Rover in den Fahrspuren der vorderen Fahrzeuge. Alle waren konzentriert, niemand sagte etwas.

Obwohl Nico den Weg schon gegangen war, erkannte er ihn nicht wieder. Bedrohlich hingen die schneebeladenen Tannenzweige über den Weg und immer wieder musste Stein mit dem Gaspedal spielen. Es war für alle eine anstrengende Tortur.

Endlich schien der Weg geradeaus zu gehen, jetzt war es zu den Minen nicht mehr weit. Doch wieder stockte die Kolonne plötzlich und Stein fluchte vor sich hin.

„Keine Überraschungen mehr jetzt.“

Er stellte seinen Jackenkragen auf, stieg aus und ging nach vorne. Diesmal folgte ihm Nico. Der Arzt stand neben seinem Fahrzeug und schaute nach vorn auf den Weg.

„Was gibt es denn?“, fragte Stein ungehalten.

„Da vorn, das ist doch Rick?“, fragte er und tatsächlich stand der Husky etwa zehn Meter weiter mitten auf dem Weg. Seine Augen leuchteten im Scheinwerferlicht und Rick sah nicht mehr aus wie der Hund, den sie kannten. In seinem Gesicht stand etwas, das bedrohlich aussah.

„Ich hatte das Gefühl, der geht mir nicht aus dem Weg. Deswegen habe ich angehalten.“

Stein marschierte jetzt energisch auf Rick zu.

„Sag mal, spinnst du? Was soll das? Komm rein ins Auto.“

Doch der Hund reagierte nicht. Stein ging weiter auf ihn zu, bis der Rüde zu knurren anfing. Er fletschte die Zähne und es bestand keinen Zweifel, dass Stein nicht näher an ihn herankam.

Er blieb überrascht stehen.

„Rick, was ist los mit dir?“

Nico bekam es mit der Angst. Rick war nicht mehr der, der er einmal war.

„Ich brauch eine Taschenlampe“, rief Stein dann nach hinten und Nico ging sofort zu ihm, er hatte seine Lampe in der Tasche.

Stein leuchtete dann an den Berghang und dort im Graben am Weg lag etwas Dunkles. Er musste noch ein paar Schritte vorgehen, was Rick mit einem bedrohlichen Schnappen in die Luft quittierte. Doch Stein konnte wieder zurück, er hatte gesehen was er sehen wollte. Er löschte die Lampe und gab sie Nico.

„Ich weiß nicht.. aber ich glaube, da liegt ein Wolf.“

Die Augen aller, die jetzt an der Stelle versammelt waren, wurden groß.

„Ein Wolf?“

„Ich müsste mich sehr täuschen. Es liegt etwas Schnee auf ihm, Blutspuren sind auch zu sehen. Ich gehe davon aus, dass er tot ist.“

„Und was hat Rick damit zu tun?“ Nico fand den Zusammenhang nicht.

Stein zog die Schultern hoch.

„Keine Ahnung. Aber wir können uns nicht darum kümmern, ich sage dem Förster Bescheid.

Wir fahren weiter, Rick wird schon ausweichen.“

Sie stiegen ein und tatsächlich ging der Hund zur Seite, als der Arzt seinen Wagen an der Stelle vorbeisteuerte.

Doch weit kamen sie nicht, wieder musste er anhalten. Stein knallte seine Hände auf das Lenkrad.

„Was ist denn jetzt schon wieder los? Verdammt.“

So außer sich hatte ihn Nico noch nie erlebt. Diesmal blieb er sitzen, als Stein zornig aus dem Wagen stieg und im dichten Schneetreiben nach vorne lief.

Es dauerte eine Weile, dann kam er zurück, stieg ein und knallte die Tür zu.

„Das ist eine verdammte Verschwörung“, fluchte er.

„Was ist da vorne los?“, wollte Nico wissen.

„Der Weg ist unbefahrbar. Alles voller Steinbrocken und Geröll, teilweise ist der Weg hinunter gebrochen. Da kommen wir nicht durch.“

Das Beben schien wesentlich stärker gewesen zu sein, als sie angenommen hatten, doch das war nicht Steins größte Sorge.

„Wir können hier nirgends wenden. Wir müssen rückwärts wieder raus. Die anderen wissen Bescheid. Also legt euch runter, damit ich etwas sehen kann.“

Nico fürchtete, dass sie hier nicht wieder herauskamen. Der Schnee fiel sehr dicht und die Rückfahrscheinwerfer boten nur ein paar Meter Sicht nach hinten.

„Falk, das ist gefährlich. Wenn du vom Weg abkommst, rutschen wir den Hang runter.“

„Ich weiß, aber was sollen wir machen? Wir dürfen keine Minute Zeit verlieren, sonst bleiben wir im Schnee stecken und kommen hier gar nicht mehr weg.“

„Soll ich nicht vorauslaufen? Ich kann dich lotsen, mit der Taschenlampe.“

Stein schien zu überlegen, aber eine Alternative gab es dazu nicht.

„Okay, aber nur zehn Minuten. Dann wechseln wir ab.“

Rainer nickte.

„Hier, Nico, nimm noch eine Lampe mit. Eine für dich, eine zum lotsen.“

Ralf Kirchheim, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, schimpfte laut.

„Und ich habe nichts Passendes zum anziehen.“

Stein sah ihn im Rückspiegel an.

„Kein Problem, wir kriegen das schon hin. Trotzdem Danke.“

Nico hatte zum guten Glück die komplette Winterausrüstung angezogen, das Wetter konnte ihm nicht viel anhaben.

Er lief los und hielt eine Taschenlampe hinter sich, so dass Stein dem Licht folgen konnte, mit der anderen leuchtete er sich den Weg.

Stein schaltete das Standlicht ein, so dass die Fahrer der anderen Autos nicht geblendet wurden und langsam fuhr der Treck den Weg zurück.

 

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