Boycamp IV – Teil 24

Krampfhaft grübelte Nico darüber nach, wie sie überhaupt hier herauskommen sollten, einen anderen Weg gab es nicht. Sie mussten zwangsweise ins Haus zurück, wenn auch ohne Strom und Heizung. Vielleicht war ja auch schon alles vorbei bis sie zurückkamen und das Gas war abgestellt. An dieser einzigen Option hielt er fest.

Schon von weitem sah er dann Ricks leuchtende Augen. An ihm musste er vorbei, egal wie. Angst direkt war es nicht, was ihn jetzt überfiel, obwohl Rick unberechenbar geworden war. Er wäre sogar gegen seinen Herrn gegangen, dann konnte er erst recht nichts ausrichten.

Er würde einfach an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu beachten.

Das war die einzige Möglichkeit. Was dem Wolf passiert war und warum Rick niemanden an ihn heranließ, war völlig schleierhaft. Rick saß jetzt direkt neben dem toten Tier und beobachtete Nico beim vorbeigehen genau.

Er konnte nicht anders und rasch richtete er die Taschenlampe auf den leblosen Körper im Schnee. Es gab keinen Zweifel, ein Haus- oder Hofhund war das nicht. Beinahe wäre er aus Ehrfurcht vor dem Wolf stehen geblieben, aber er riskierte nichts.

Rick war nicht zu trauen und am Ende war der Wolf doch nur verletzt. Dann war mit dem bestimmt auch nicht zu spaßen. Nico ging weiter und dann rann eine Träne die Wangen herunter, vermischte sich mit den schmelzenden Schneeflocken auf seinem Gesicht.

Das war alles so unbegreiflich. Er hatte Rick gemocht wie einen eigenen Hund und im monotonen Schritt durch den Schnee erinnerte er sich an so viele Dinge, die er mit dem Hund erlebt hatte. Wie oft war er für sie da, als Retter und Helfer in letzter Sekunde?

Rick gehörte zu den Camps, er war im Team, ohne ihn würde alles anders werden. Er konnte das alles nicht begreifen. Vor allem, wie ging es weiter? Irgendwann musste Rick zurück oder er verhungerte da draußen.

Erst jetzt bemerkte er, wie beschwerlich das Laufen in dem Schnee wurde. Zu dem Schneetreiben kam jetzt auch der Wind, der sich bitterkalt einen Weg durch seine Klamotten suchte. Wie auf Befehl ging plötzlich Leo neben ihm her.

„Junger Mann, Ablösung. Wie weit wird es noch sein?“

„Keine Ahnung, Leo. Man sieht ja fast gar nichts mehr. Pass bloß auf, hörst du?“

Leo nickte, nahm die beiden Taschenlampen und Nico stieg rasch in den Wagen. Es kam ihm vor, als würde er in eine Wanne heißes Wasser tauchen. Er zitterte am ganzen Leib und das war nicht nur die Kälte.

Er wusste schon immer, dass er den Winter nicht mochte, aber ab heute würde er ihn nur noch hassen. Er mummte sich in seine nassen Kleider und schloss die Augen. Allmählich glaubte er an einen bösen Traum.

Die langsame Fahrt ging weiter, Stein folgte dem Schein der Taschenlampe und Nico war sicher, dass Falk morgen den Kopf nicht mehr bewegen konnte. Sie sprachen kein Wort

Rainer wechselte Leo dann noch ab und schließlich kamen sie an der Kreuzung zum Haus an.

Stein blies hörbar die Luft aus.

„Gott sei Dank, das hätten wir geschafft.“

„Und wie geht es jetzt weiter, Falk? Wie sollen wir hier wegkommen?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber lass uns erst mal rüberfahren zum Haus. Vielleicht ist ja schon alles wieder in Ordnung.“

Diese Hoffnung hatte Nico ja auch schon und er schickte ein Stoßgebet in den Himmel.

Nachdem auch die drei anderen Fahrzeuge auf dem Vorplatz standen, schickte Stein Leo zum Haus.

„Schau mal nach, ob sich da was getan hat. Wir bleiben so lange im Auto.“

Leo sprang aus dem Wagen und machte sich an der Tür ins Haus zu schaffen, doch schon kurz darauf kam er wieder zurück.

Stein fuhr die Seitenscheibe herunter und Leos Blick sagte alles.

„So ein verdammter Mist«, fluchte er, „es riecht jetzt auch im Haus nach Gas. Und nicht zu knapp.“

Steins Wut äußerte sich nur in seinem Gesicht, er versuchte scheinbar, ruhig zu bleiben.

„Und was machen wir jetzt?“

Leo war eigentlich selten ratlos, aber nun schien auch sein Latein am Ende. Es schneite unaufhörlich, am Ende der Nacht würde man hier auch mit Schneeketten nicht mehr fortkommen.

„Im Auto bleiben?“, war dann seine einzige Idee.

„Zumindest erfrieren wir dann nicht.“

Stein schüttelte den Kopf.

„Das ginge unter Umständen, aber das kostet Kraftstoff. Und leere Tanks können wir hier noch viel weniger gebrauchen.“

Leo stieg wieder in den Wagen und Nico dachte angestrengt nach. Es musste eine Lösung geben.

„Und wenn wir uns von hier abseilen?“

Stein sah ihn mit großen Augen an.

„Was meinst du damit?“

„Es ist nur eine Idee. Aber da ist doch noch der Lastenaufzug.“

Stein schüttelte den Kopf.

„Das ist keine gute Idee, Nico. Das ist kein Personenaufzug und viel zu gefährlich. Da haben wir keine Chance.“

Nico war über Steins Meinung nicht böse, aber er wollte es wenigstens versucht haben.

„Angenommen, die Stadtwerke kommen bei dem Schnee nicht durch, was dann? Denn selbst wenn sie jetzt die Leitung schließen, dauert es mindestens einen Tag, bis das Haus bewohnbar wird.“ Leos Einwand leuchtete ein.

„Du meinst, der Lastenaufzug könnte funktionieren?“

„Ich weiß es nicht, Falk. Zumindest sitzen die ganzen Elemente im Freien, da kann’s auch mal funken, ohne dass etwas passiert. Allerdings müssten wir auf den Elektromotor verzichten. Und dann könnte der Wind ein großes Problem werden. Es wäre auf jeden Fall äußerst riskant und ja, gefährlich obendrein.“

„Wie viele Leute könnten denn da mit einer Fahrt runter?“

Leo dachte kurz nach.

„Ich schätze, maximal vier Personen. Aber das ist das Maximale.“

„Also vier Touren.“

„Das könnte hinhauen, Falk. Meinst du, wir sollen es versuchen?“

„Was für eine Alternative hätten wir sonst? Ins Haus können wir nicht, hier draußen bleiben aber auch nicht. Zumal wir keinen Schimmer haben, wie lange das alles dauert.“

„Aber ich würde für die erste Tour auf jeden Fall nur eine Person fahren lassen. Man muss erst testen, was sich da genau abspielt. Denk dran, wir können nicht kommunizieren.“

Stein lehnte den Kopf an die Seitenscheibe.

„Gut, es bleibt uns keine Wahl. Wer fährt als erstes runter?“

„Ich«, kam es plötzlich von hinten.

„Herr Kirchheim, das ist nett von Ihnen, aber Sie haben nicht die.. richtige Kleidung an.“

Stein wurde mit jedem Satz leiser. So gerne er Kirchheim eingesetzt hätte, ohne die richtige Kleidung war das nicht möglich.

„Leo, wie lange wird es dauern, bis die Gondel unten ist?“

„Es sind laut Betriebstafel fast dreihundert Meter Seillänge. Nehmen wir im besten Fall einen Meter pro Sekunde an, dann wären das…“

„… etwa fünf Minuten«, ergänzte Stein.

„Ja, aber ob es so schnell geht, ist meine Annahme. Ich würde bei dem Wind auf etwa das doppelte gehen wollen. Der Vorteil ist, dass die Gondel durch ihr Eigengewicht von selbst runter fährt. Nur raufholen wird anstrengend.“

„Also zehn Minuten maximal.“

Sein Blick heftete plötzlich auf Nicos Gesicht. Es wäre das erste Mal gewesen, dass sie sich dadurch nicht verständigen konnten.

„Riskierst du es?“

Nico hatte so darauf gewartet, aber nicht zu hoffen gewagt.

„Natürlich.“

„Okay, geht los.“ Dann wandte er sich Kirchheim zu.

„Ich werde Sie und Rainer Bode vielleicht hier oben gebrauchen.“

„Okay. Was solche Aktionen betrifft, kenne ich mich aus«, gab Kirchheim zurück.

Ralf Kirchheims Worte machten Sinn. Er war erfahren, daran zweifelte niemand. Außerdem wollte Stein auf keinen Fall, dass die Jungen ohne einen Begleiter in diese Gondel stiegen.

„Falk, achte drauf, dass nur einer pro Gruppe eine Taschenlampe mitnimmt und die unbedingt noch vorm Haus eingeschaltet werden müssen. Funken gibt’s nur beim ein- oder ausschalten. Sie müssen sie brennen lassen, bis sie durchs Haus gelaufen und an der Plattform sind. Und lasst die Tür und Fenster offen, damit frische Luft ins Haus kommt. Ich mache das große Schiebefenster im Gemeinschaftsraum auf, dann kann’s durchziehen.“

Stein nickte und kurz darauf standen Leo und Nico vor dem Haus.

„Atme sparsam. Das Gas ist wohl nicht so dicht dass es gefährlich wird, aber manchmal wird einem schon von dem Gestank schlecht. Achte drauf, hinter mir zu bleiben. Ich weiß nicht, wie das da unten im Keller aussieht. Wenn es zu stark wird, müssen wir umkehren.“

Leo öffnete die Tür und ohne sich umzusehen eilte er in den Gemeinschaftsraum, um das Fenster zu öffnen, dann folgte er Nico über die Kellertreppe. Er fand nicht, dass der Gasgeruch sehr heftig war und auch Leo zögerte nicht.

Er öffnete die kleine Tür, die in den Gang zum Notstromaggregat führte. Dort roch es überhaupt nicht nach Gas und so standen sie kurz darauf auf der Plattform.

„Scheiß Wind«, fluchte Leo und nicht zu unrecht.

Die Seile schwankten hin und her, dazu kam der Schnee, der ihnen entgegenpeitschte.

Nico leuchtete neben der Plattform in die Tiefe, aber außer Schneeflocken war dort nichts als drohende Dunkelheit. Er konnte sich erinnern wie tief es hier runterging und dabei wurde ihm mulmig.

„Meinst du, es geht?“

Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, das Ganze kam ihm sehr gewagt vor. Er musste an die Jungen denken.

„Es muss gehen, Nico. Wir machen auf jeden Fall erst mal ne Leerfahrt. Wir wissen, dass die Gondel unten ist, wenn das Zugseil stehen bleibt. So können wir auch in etwa abschätzen, wie lange die Fahrt dauert.“

Leo band das Halteseil los und schob den Bremshebel nach oben. Langsam bewegte sich die schaukelnde Gondel nach unten, Nico leuchtete ihr nach. Kurze Zeit darauf verschwand sie im dichten Schneetreiben in der schwarzen Nacht.

Rasch sah er auf seine Uhr, dann zog er sich ein Stück in den Tunnel zurück. Der Wind blies mit Eiseskälte und zerrte an allem, was nicht angebunden war. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Zugseil still stand.

„Genau sieben Minuten«, rief Nico.

„Okay. Ich hol sie jetzt wieder rauf.“

Leo begann die Kurbel am Getriebekasten zu drehen. Durch die Übersetzung brauchte man nicht viel Kraft, aber dafür bewegte sich die Gondel langsamer.

„Leo, sag mir Bescheid, wenn ich dich ablösen soll. Aber warum benutzen wir eigentlich nicht den Motor? Ich rieche hier kein Gas.“

„Der Motor funktioniert nur, wenn das Aggregat Strom liefert. Und das ist mir einfach zu gefährlich. Man kann nicht wissen, ob plötzlich eine Gaswolke da durchzieht. Es ist unberechenbar.“

Leo kurbelte so lange, bis die Gondel wieder im Schein der Taschenlampe auftauchte.

„Das hat jetzt zehn Minuten gedauert.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich dort trotz der Kälte gebildet hatte.

„Schneller geht es wohl kaum. Aber gut, ich denke, wir können es riskieren. Komm her, ich helfe dir in die Gondel. Da liegen Gurte drin, schnall dich damit an. Am besten durch deinen Hosengürtel. Ich löse dann die Bremse und lass dich runter.“

„Und dann wieder rauf. Leo. Falk will, dass immer einer von uns mitfährt.“

„Ja, klar. Ich ziehe dich hoch, sobald die Gondel eine Minute stillsteht. Egal was passiert, schnall dich auf keinen Fall los.“

Nico kroch in die Gondel, was bei der Schaukelei nicht einfach war. Dann band er sich einen der Gurte um seinen Hosengürtel. Er hob den Daumen, Leo nickte und langsam setzte sich die Gondel in Bewegung.

Nico blieb auf dem Boden liegen, mit dem Gesicht zum Berg hin. Er sah nur das schwache Licht der Taschenlampe, die Leo auf die Brüstung gebunden hatte. Doch rasch flackerte nur noch ein trüber Schein, dann war es dunkel.

Die Gondel schaukelte in dem heulenden Wind und das Holz knarrte bedenklich. Nico legte sein Gesicht auf die Arme, um dem Schnee Einhalt zu gebieten. Er hatte schon zu viel erlebt, um wirkliche Angst zu haben, doch diesmal musste er der Technik voll und ganz vertrauen. Leo hätte es niemals zugelassen, wenn es Lebensgefährlich gewesen wäre.

Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Ab und zu knallte eine Windbö an die Bordwände und ließ die Gondel hoch- und runterhüpfen. Außerdem wurde es ihm jetzt empfindlich kalt, hier war er den Unbilden des Wetters fast schutzlos ausgeliefert.

Trotzdem musste er auch an Rick denken, da draußen würde er umkommen. Er kam über diese Sache einfach nicht hinweg. Irgendwann knirschte und knackte es, ein Ruck ging durch die Gondel und plötzlich sie stand unter dem Schutzdach der Talstation.

Die Seilrolle wurde durch einen starken Gummikeil abgebremst, so konnte die Gondel nicht unkontrolliert aufschlagen. Nico hob den Kopf und erschrak zuerst. Helles Licht traf ihn und eine vertraute Stimme drang in seine Ohren.

„So sieht man sich wieder«, hörte er und traute seinen Ohren nicht, aber als er in das Gesicht sah, das zu ihm herunterblickte, musste er es glauben.

„Tante Emmi!“

„Hallo Nico. Komm, ich helfe dir raus.“

„Nein, das geht nicht, Leo zieht die Gondel gleich wieder hoch und ich muss mit. Das war nur eine Probefahrt. Aber.. woher wusstest du?“

„Wir wussten es nicht, reine Vermutung. Berthold hat berichtet, dass die Minen eingestürzt sind und dadurch hat die ganze Gegend gebebt. Und die Brücke hat es dabei ja auch erwischt. Dann riefen mich die Stadtwerke an und fragte was los ist, man könne euch nicht erreichen.

Die haben vom Bruch der Gasleitung berichtet und uns war dann klar, dass ihr nicht da oben bleiben würdet. Der Weg um den Berg ist durch die Trümmer der Minen nicht möglich und da haben wir einfach nur eins und eins zusammengezählt. Berthold war zufällig hier, als die leere Gondel vorhin plötzlich ankam. Da vermuteten wir, dass ihr wahrscheinlich diesen Weg wählt.“

Ein Ruck ging durch die Gondel und Nico legte sich wieder hin.

„Emmi, wir kommen nach und nach herunter. Kannst du dich um die Leute kümmern? Sie sind fertig, fix und fertig«, rief er und konnte gerade noch das Gesicht des Försters neben ihr erkennen.

„Darum sind wir doch hier, mein Junge. Viel Glück und alles Gute!«, schrie sie gegen den Wind und Augenblicke später verschwand die Gondel in der Dunkelheit.

Trotzdem hörte sie noch, dass Nico „Ihr seid Engel!“ rief.

Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte sie sich dann dem Förster zu.

„Berthold, wir hatten recht. Los, fahren wir. Ich muss verschiedenes richten, die Gäste kommen. Verspätet zwar, aber immerhin.“

Die Auffahrt glaubte Nico, nicht zu überleben. Trotz der Freude, dass Emmi und der Förster da unten waren und sie nicht noch eine Tortur erleben mussten, biss ihn die eisige Kälte und mehr als einmal fürchtete er, die Gondel könnte den Schlägen des Sturmes nicht mehr stand halten.

Endlich tauchte das schwache Licht der Taschenlampe auf. Leo half ihm aus der Gondel und er war froh, als ihm Kirchheim eine Decke überwarf. Der wusste, was er mitgemacht hatte.

Zitternd ging er durch den Tunnel in den Raum, wo das Notstromaggregat stand. Antonia Berger, der Professor und Holzmann warteten dort, sie waren für die erste Tour vorgesehen.

Die hatten sich mit Decken der Jungen eingehüllt, mit zwei Taschenlampen als einzige Lichtquellen.

„Keine Angst haben, das ist das Wichtigste«, beruhigte sie Nico, „es schaukelt und ist kalt, aber es geht schnell. Haltet euch am besten gegenseitig fest.“

Der Professor kam auf ihn zu.

„Wessen Idee war das denn eigentlich gewesen?“

Nico versuchte, aus der Stimme und den Augen des Professors zu lesen, aber bestenfalls konnte er ihn dazu anhalten, doch etwas anderes zu machen als diesen Job. Er stand zu den Dingen und zu ändern war es auch nicht mehr.

„Es tut mir leid, aber ich hatte keine andere.“

Der Professor nickte.

„Nun, darüber müssen wir uns bei Gelegenheit noch mal genauer unterhalten.“

Nico konnte mit der Aussage nichts anfangen und er hatte dazu er weder den Nerv noch die Ruhe. Ihm ging es jetzt nur noch um die Jungen, er wollte sie in Sicherheit sehen, egal wie.

Falk nahm in die Arme, mehr um ihn zu wärmen als zur Begrüßung.

„Und, wie war das?“

Nicos Lippen zitterten, aber er bemühte sich, verständlich zu reden.

„Die einfache Fahrt ist ganz okay, aber eine Rückfahrkarte löse ich nicht mehr. Im Übrigen…“

Er wollte von Emmi erzählen, aber diese Überraschung nahm er dann doch nicht vornweg.

„Im Übrigen?“

„Ach, nicht wichtig. Gar nicht.“

Stein drückte ihn fest an sich und Nico tat nicht nur die Wärme gut.

„Muss ich was beachten, Nico?“ Rainer war der Begleiter dieser ersten Tour.

„Nein, bleibt einfach ruhig liegen. Es ist Arschkalt und der Wind zerrt an der Gondel. Aber ich vertraue ihr, sie wird nicht auseinander fallen. Ihr seid in sieben Minuten etwa unten.“

Rainer nickte und drückte Nicos Arm.

„Wird schon. Die Decken kommen wieder mit hoch. Bis später.“

Dann ging er hinaus und begab sich zu den dreien in die Gondel.

„Gebt uns zwei Minuten zum aussteigen, dann könnt ihr wieder hochziehen«, rief er Kirchheim zu, der die Gondel später wieder heraufholen wollte.

Rainer kontrollierte die Gurte der anderen, schnallte sich fest, hob den Daumen und Kirchheim löste die Bremse.

Nico hörte nicht auf zu zittern. Stein stand neben ihm und sie beobachteten, wie die Gondel von der Nacht verschluckt wurde.

„Was gäbe ich jetzt für eine Dusche und einen Glühwein.“

„Glaub ich dir, Nico, das geht wohl jedem so. Die nächsten werden Haber, der Doktor, Benny und Leo sein. Ich gehe sie holen, die sitzen alle noch in den warmen Autos.“

„Ach übrigens, Falk: Wie machen wir das mit der letzten Fuhre? Wir haben ja dann keinen Bremser mehr hier oben.“

„Ralf Kirchheim wird hier oben bleiben. Er sagt, er hat die Einzelkämpferausbildung und weiß, wie er hier oben durchkommt. Genaues sagt er nicht, aber es gibt keinen Grund, es ihm abzuschlagen.“

„Aber der hat doch gar nichts zum anziehen. Wie will er das machen?“

Stein lächelte.

„Das Haus strotzt ja vor Klamotten und er sagt, er würde sie finden. Alles andere, was er braucht, auch. Ohne Funken zu schlagen. Und ich glaube ihm das aufs Wort.“

Nico zollte Respekt vor diesem Mann. Er kannte ihn kaum, aber dennoch konnte er sich vorstellen, dass dieser Kirchheim in das Camp passen würde. Er musste sich einfach mal genauer mit ihm unterhalten.

Stein kam mit der nächsten Besatzung von den Autos zurück. Müde sahen alle aus. Erschöpft, hungrig, durstig.

„Hallo Benny. Wie geht es dir?“

Der Junge sah reichlich mitgenommen aus.

„Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist«, sagte er nur.

Nico streichelte seinen Arm.

„Bald haben wir es geschafft, ein paar Minuten eigentlich nur noch.“

„Hoffentlich.“

Ein greller Pfiff signalisierte, dass die nächsten an die Reihe kamen. Diesmal fuhr Leo mit nach unten und Falk Stein selbst bediente die Bremse.

Niemand wusste, wie die anderen angekommen waren, nur an den Decken, die in der Gondel lagen konnte man erkennen, dass offenbar nichts passiert war. Nico war heilfroh, dass Hilfe unten wartete und bestimmt hatten sich Emmi und der Förster etwas einfallen lassen.

„Ich fahre dann als letzter mit, bis dahin bin ich vielleicht wieder auf Betriebstemperatur.“

„Ist gut Nico, kein Problem. Nimm eine Decke mit, hörst du? Eine Erkältung reicht, denke ich.“

„Schon klar, Falk.“

Stein atmete auf, als das Zugseil anhielt, gleichzeitig machte er ein besorgtes Gesicht.

„Ich habe das Gefühl, der Wind wird stärker. Kann das sein?“

„Ich habe auch den Verdacht. Wir dürfen keine Minute Zeit mehr verlieren«, antwortete Nico.

Er stellte sich zu Kirchheim, der alles genau zu beobachten schien. Diese wachsamen Augen, die ihn so an Falk erinnerten. Nichts würde ihnen entgehen.

„Und Sie bleiben hier oben?“

Kirchheim nickte mit einem Lächeln im Gesicht.

„Ja, das ist aber kein Problem. Ich würde hier Jahre überleben – wenn es denn sein müsste. Auf den Lehrgängen habe ich mir oft vorgestellt, mich so komfortabel durchschlagen zu können.“

„Da ist noch etwas: Sie haben doch Rick kennen gelernt?“

„Euren Hund. Klar. Warum?“

„Wenn sie.. vielleicht Ausschau nach ihm halten könnten? Sie haben ja mitbekommen, dass er sich so merkwürdig verhält. Ich fürchte, das Wetter wird auch ihm zu schaffen machen. Womöglich kommt er zu seiner Hütte, man weiß es halt nicht. Aber es wäre schön, wenn sie sich in dem Fall um ihn kümmern würden. Futter finden Sie hier hinten in der Ecke.“

Er zeigte auf die Futterdosen, die Leo hier für Rick gebunkert hatte.

„Er hat sich zwar merkwürdig benommen in letzter Zeit, aber Angst muss man vor ihm sicher nicht haben.“

„Keine Frage, wenn er auftaucht, schaue ich nach ihm. Mit Hunden verstehe ich mich sehr gut.“

Der letzte Satz passt zu diesem Mann, etwas anderes hätte Nico sehr gewundert.

„Das ist nett.“

„Keine Ursache.“

Nico mochte diesen Mann. Gut, er war Soldat, da bleibt auch später einiges in Sachen Kameradschaft hängen. Aber auch die Art wie er sprach und vor allem was. Kein Gerede, kein Geschwätz. Das Wichtigste brachte Kirchheim auf den Punkt und das wäre eben eine Eigenschaft, wie sie im Camp unerlässlich war.

„Nico, holst du die nächsten? Sie wissen Bescheid«, rief Stein in den Tunnel.

„Lassen Sie, ich geh schon. Sie sind ja noch ganz zittrig.“

Nico konnte nicht widersprechen, da Kirchheim beim letzten Wort schon unterwegs war. Also waren es nicht nur Worte, sondern auch Gefühle. Ralf Kirchheim würde wahrscheinlich sein Leben opfern, wenn es um einen der Jungen ging. Er passte immer mehr in das Bild eines Betreuers.

Kurz darauf kam er mit Sascha, Maik und Timo zurück. Auch sie sahen mitgenommen aus, aber für tröstende Worte blieb Nico keine Zeit. Sie gingen direkt hinaus auf die Plattform, wo Stein schon auf sie wartete.

„Ich bediene die Kurbel«, rief Nico und ging nach vorn, hinaus auf die Plattform.

„Die Bremse kannst du fast ganz lösen, Nico. Je schneller wir unten sind, um so besser.“

„Auf geht’s!“, schrie Nico gegen den immer stärker werdenden Wind und löste die Bremse.

kurz darauf verschwand die Gondel im schwarzen Nichts.

Er spürte, wie das Zugseil ruckte und zitterte, der Wind schien heftig an der Gondel zu zerren. Fest hielt er den Bremshebel in der Hand, zog ihn aber nicht an.

Die Minuten wurden scheinbar zu Stunden, außerdem spürte Nico wieder die Eiseskälte und er hatte manchmal das Gefühl, dass er in Unterwäsche dastand. Aber er hielt durch, bis das Zugseil stoppte.

„Zwei Minuten. Beeilt euch«, sagte er leise vor sich hin und sah dabei auf die Uhr. Schließlich begann er, die Kurbel zu drehen. Er nutzte diese Bewegung, um sich aufzuwärmen und es half.

Inzwischen hatte Kirchheim den Rest der Mannschaft aus den Autos geholt. Jonas, Ruben und Marco warteten, bis Nico die Gondel an dem Sicherungsseil eingeklinkt hatte.

Nico sah sich die Jungen an, in ihren Blicken stand Frucht.

„Ihr müsst keine Angst haben, die anderen sind auch alle heil angekommen. Das schaffen wir. Los jetzt, wir müssen.“

Es blieb keine Zeit für große Reden, auch nicht für Gefühle. Er hätte alle gern in die Arme genommen, besonders Marco, aber der Wind hatte sich bereits zum Sturm entwickelt und man hörte ihn hier um das Haus oben herumtoben. Nico holte tief Luft, es musste gut gehen, egal wie.

Nachdem sich die drei Jungen auf den Boden der Gondel gelegt und mit den Gurten gesichert hatten, warf ihnen Nico die Bettdecken zu.

„Geht da drunter und bleibt um Himmels Willen liegen, ganz egal, was passiert.“

Er ging zu Kirchheim hin, der bereits an der Bremse stand.

„So, das war es dann. Wir werden uns sehen, irgendwann und irgendwie?“

Ralf Kirchheim besaß noch eine Eigenschaft, die Nico zu schätzen wusste: Er blieb ruhig. Keine Panik, keine Hektik.

„Klar, mein komplettes Leben werde ich hier oben ganz sicher nicht verbringen.“

Nico hob kurz die Hand.

„Okay, dann mal los.“

Er stieg in die schwankende Gondel und legte sich dicht neben die Jungen. Sie rührten sich nicht und es war anzunehmen, dass ihnen die Angst im Nacken saß.

Nachdem er einen Gurt an seinem Gürtel befestigt hatte, gab er das Zeichen zur Abfahrt.

Langsam setzte sich die Gondel in Bewegung, um jedoch nach einigen Sekunden abrupt zu stoppten. Nico warf den Kopf hoch und als er mit der Taschenlampe nach der Ursache sehen wollte, polterte etwas auf ihn und die Jungen, so dass sie entsetzt aufschrien. Schnee- und Eisstückchen wirbelten herum, verteilten sich überall und die Gondel schwankte dann bedrohlich hin und her.

Nico spürte etwas auf seinem Körper und als er danach fasste, umklammerte seine Hand etwas Dünnes und Nasses.

 

This Post Has Been Viewed 399 Times

Rating: 5.00/5. From 1 vote.
Please wait...

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.