Noch einmal fühlte er nach, dann schrie Kirchheim lachend.
„Hehe, das mit dem füttern hat sich wohl erledigt!“ und die Gondel setzte sich wieder in Bewegung.
Nico wollte es nicht fassen, als er eine hektische Zunge in seinem Gesicht spürte.
„Rick…! “
Der Hund versuchte sein Gleichgewicht zu halten und tapste so auf den Jungen unter den Decken herum. Marco hob seinen Kopf.
„Rick, du Untier, schön dass du wieder da bist.“
„Platz. Leg dich hin!“, schrie Nico.
Er fürchtete, der Hund könnte aus der schwankenden Gondel hinausfallen. Der Rüde gehorchte sofort und dass er dann auf den Jungen lag, störte keinen. Nico packte ihn am Fell und hielt ihn fest. Sehr fest. Trotz der misslichen Lage liefen Freudentränen über sein Gesicht. Er war wieder da.
Diesmal schaukelte die Gondel um einiges mehr als bei der ersten Abfahrt. Windböen zerrten an dem Gefährt und es wankte bedenklich. Nico presste die Augen zusammen, seine Hand verkrampfte sich jetzt in Ricks Fell und nun kam die nackte Angst dazu.
Man konnte nicht sehen oder fühlen, wie schnell oder langsam die Gondel nach unten fuhr.
Er hob kurz seinen Kopf, aber die Schneeflocken waren jetzt zu kleinen Geschossen geworden, die wie Nadeln auf der Haut stachen. Eis, hämmerte es in seinem Kopf. Das waren eher Eiskörner als Schnee.
Er leuchtete mit seiner Lampe über das Bündel, das in der Gondel verteilt lag, aber nichts rührte sich dort. Dann richtete er das Licht nach oben und erschrak: Die Seilrolle stand.
Sturmböen schlugen Breitseite gegen die Gondel und ließ sie auf- und abtanzen.
Nico wurde beinahe schlecht, er vertrug solche Schaukeleien nicht, wenn er keinen Horizont sehen konnte. Er riss sich zusammen und immerzu leuchtete er hinauf zu der Seilrolle. Doch sie bewegte sich nicht, sie hingen fest.
Er hatte keine Ahnung, wie lange sie bisher unterwegs waren und wie lange sie schon nicht mehr fuhren. Waren es erst ein paar Meter? Waren sie schon unten? Er wagte es, sich über die Brüstung zu lehnen und nach unten zu leuchten.
Doch der Lichtstrahl verlor sich im Schneetreiben und in dieser entsetzlich dunklen Nacht.
Er spürte Panik aufkommen. Lange konnten sie so nicht aushalten, trotz der Decken. Die würden die Nässe aufsaugen und dann taugten sie zu nichts mehr.
Noch ahnten die Jungen nichts, aber irgendwann würden sie es bemerken. Warum zum Teufel ging es nicht weiter? Woran lag das? Nico wollte sich zur Ruhe zwingen, aber das gelang ihm diesmal nicht. Immer wieder polterte der Sturm gegen die Gondel, der Eisschnee tat sein Übriges.
Nicht mehr lange, dann würden sie fragen, wie lange es noch dauert. Verzweiflung machte sich in ihm breit, er musste etwas tun. Er löste seinen Gurt und ging in die Knie. Dann hielt er sich an einem Tragseil der Gondel fest und versuchte, aufzustehen.
Ihm war, als stünde er auf dem rasenden Wagen einer Achterbahn; keinen Augenblick durfte er sich loslassen. Rick stand nun auch auf wackligen Beinen und beobachtete ihn.
Nico leuchtete wieder nach oben und nun konnte er sehen, dass Eisklumpen an der Seilrolle Schuld waren. Und ihm wurde sofort klar, was das bedeutete.
Diese Schicht würde immer größer und dicker. Wenn, dann musste er jetzt handeln. Doch zu der Rolle fehlten ihm auch mit der Taschenlampe gute zehn Zentimeter. Mit ihr hätte er versucht, das Eis abzuschlagen.
„Was ist los?“, hörte er Rubens Stimme.
Er brauchte keine Ausreden, er musste handeln.
„Wir stecken fest!“
„Was?“ Ruben warf seine Decke zur Seite und kniete sich hin.
„Halt dich bloß fest!“, rief Nico ihm zu.
Der Junge hangelte sich an einem anderen Tragseil hoch, bis er stand.
„Wieso?“
„Da ist Eis an der Rolle. Wir müssen es wegschlagen, aber ich komm nicht ran.“
Nun streckten auch Marco und Jonas ihr Köpfe aus den Decken und setzten sich auf.
„Bleibt liegen“, rief Ruben ihnen zu.
„Was ist los?“, fragte Marco.
„Wir stecken fest.“
„Und jetzt?“
„Die Seilrolle ist vereist, wir kriegen das nicht weg, es ist zu hoch“, erklärte Ruben und musste dabei fast schreien.
Marco schnappte sich das dritte, freie Tragseil und zog sich hoch.
Es würde zwecklos sein, es ihnen zu verbieten.
„Halte dich fest“, mahnte Nico auch ihn.
„Jonas, bleib verdammt noch mal unten“, schrie Marco aus vollem Hals, als auch der Anstalten machte, aufzustehen.
Aber Jonas legte den Gurt ab und griff nach einem der Tragseile. Er schien in Panik zu sein und Nico hätte vor Zorn schreien wollen.
Es kostete unendlich Kraft, sich in dem schwankenden Gefährt festzuhalten. Immer wieder peitschte der Sturm auf und Nico fürchtete auf einmal, dass die ganze Konstruktion dieser Gewalt nicht mehr standhalten würde.
Er spürte, dass er es nicht mehr unter Kontrolle hatte und das war höchst gefährlich.
Plötzlich hörte er neben dem Heulen des Sturms noch etwas. Ein metallenes Geräusch, das immer lauter wurde. Was immer es auch war, es klang nicht gut.
„Runter“, schrie er aus vollem Hals und ließ sich in die Gondel fallen. Ruben und Marco reagierten sofort und taten es ihm nach.
Augenblicke später gab es einen gewaltigen Knall, Funken stoben und ein mächtiger Ruck ging durch die Gondel. Eisstücke flogen herum und Nico musste zusehen, wie Jonas strauchelte, den Halt verlor und aus der Gondel in die Tiefe stürzte.
„Jonas!“. Er schrie aus vollem Hals, bevor sich seine Kehle zusammenzog.
Rick stand plötzlich an der Bordwand und sah hinunter. Augenblicke später machte er einen Satz und sprang aus der Gondel in die Tiefe.
Nico konnte nicht mehr rufen, nicht mehr schreien. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Entsetzt beugte er sich über die Bordwand und leuchtete nach unten, aber außer einer dichten Wand aus vorbeirasenden Schneeflocken sah er nichts.
Er ließ sich zurückfallen. Tausend Gedanken hämmerten durch seinen Kopf, er konnte nicht mehr klar denken. Jonas, Rick. Das war einfach nicht wahr. Er versuchte, sich wenigstens Ricks Verhalten zu erklären, aber er konnte keine klaren Gedanken fassen.
Das musste jetzt erst alles durchgestanden werden. Er leuchtete wieder nach oben und sah, dass sich dort oben plötzlich eine zweite Seilrolle befand. Und sie fuhren wieder.
Eine zweite Rolle..
Ruben und Marco kauerten am Boden, keiner sagte etwas. Sie hatten gesehen, wie Jonas aus der Gondel fiel und Rick hinterher sprang. Sie wagten nicht, weiterzudenken oder zu sprechen.
Das Gefühl für Zeit und Raum war ihnen längst abhanden gekommen und so wussten sie nicht, wie lange es noch gedauert hatte, bis es um die Gondel heller wurde und sie schließlich mit einem Ruck stehen blieb.
Nico war nicht fähig, sich zu bewegen, auch Ruben und Marco hoben zunächst nur den Kopf.
Dann waren jedoch schnell viele Hände um sie herum und halfen ihnen aus der Gondel. Stein war da, Rainer, Leo.
Nico konnte noch immer nichts sagen, er stand unter Schock. Er ließ sich führen, jemand schob ihn in ein Fahrzeug und es war ihm gleichgültig, wo und bei wem er war. Alles, was er empfand, war Leere.
Er hörte Stein etwas sagen, es mochte aber auch Leo oder Rainer oder sonst wer gewesen sein. Er verstand nichts und konnte nicht antworten. Er registrierte die kurze Fahrt in dem Auto kaum und ließ sich schließlich in einen hellen, warmen Raum führen.
Dann wurde es dunkel um ihn. Als er die Augen wieder aufschlug, wusste er nicht wo er war und auch nicht, warum. Er lag in einem kleinen Zimmer in einem Bett, das war alles, was er zunächst registrierte.
Es roch nach Holz und es war hell in dem Raum. Langsam setzte er sich auf und sah sich um. Es musste so etwas wie ein Gästezimmer eines alten Bauernhauses sein, das sagten ihm die Möbel um ihn herum, dann fiel er in das Kissen zurück, weil ihm schwindlig wurde.
Was war passiert? Er konnte sich an nichts erinnern. Er trug nur seine Boxershorts und ein T-Shirt, aber er konnte nicht sagen, ob er sich selbst ausgezogen hatte. Wie lange lag er da?
Er schloss die Augen und dachte angestrengt nach.
Aber sein Gedächtnis endete irgendwo und irgendwann da oben im Camp. Er sah Rick vor sich und den toten Wolf im Licht der Taschenlampe. Schnee überall. Wind und Kälte. Dann wurde es verschwommen und schließlich kam ein dunkles, schwarzes Loch.
Trotz des Schwindels versuchte er, aufzustehen, doch es reichte nur zum sitzen auf der Bettkante. Übel war ihm und er hatte das Gefühl, tagelang in einer Schleuder gesteckt zu haben.
Dann hörte er Stimmen. Er verstand nicht, was geredet wurde, aber die Stimmen kamen ihm bekannt vor. Leise klopfte es dann an der Tür. Er legte sich wieder hin und rief
„Herein.“
Schon dieses Wort fiel ihm irgendwie schwer. Die Tür öffnete sich langsam, dann tauchte Falk Steins Kopf auf. Er lächelte, warum auch immer und kam dann ganz ins Zimmer. Er schloss die Tür und trat ans Bett.
„Na, wie geht es dir?“
„Oh Falk, willst du das wirklich wissen?“
Stein setzte sich auf die Bettkante und er betrachtete Nico jetzt etwas sorgenvoller.
„Ich kann mir nicht gut denken, wie du dich fühlst. Aber nach zwei Tagen Schlaf ist das auch kein Wunder.“
„Zwei Tage? Falk, was ist denn bloß passiert? Wo bin ich und wie komme ich hierher?“
„Du kannst dich wohl nicht erinnern?“
„Keine Ahnung. Ich weiß noch dass wir da draußen Rick gesehen haben und den Wolf. Alles andere ist irgendwie weg.“
Stein atmete laut aus.
„Das ist nicht viel. Du bist hier in der Pension im Ort.“
„Und warum?“
„Nun, du bist zusammenklappt und das war hier die beste Lösung.“
„Und warum bin ich umgefallen? Und warum bin ich nicht im Camp? Ich kann mich wirklich nicht erinnern.“
Es klopfte erneut und diesmal erschien Doktor Schnell samt seiner voluminösen Tasche.
„Aha, der Patient ist aufgewacht. Falk, würdest du uns bitte alleine lassen? Ich muss Nico genau untersuchen.“
Stein stand auf, ihm war diese Unterbrechung sehr recht.
„Klar. Bis später, Nico.“
Der Arzt setzte sich jetzt zu ihm.
„Wie geht es dir? Hast du Schmerzen irgendwo?“
Nico schüttelte den Kopf.
„Aber mir fehlt ein ganzes Stück Erinnerung, wie mir scheint.“
„Das ist nicht verwunderlich. Aber keine Bange, du wirst dich bald wieder erinnern können. Das kommt häufig vor und ist kein Grund zur Panik.“
„Aber was war der Anlass? Warum fehlt mir da Erinnerung?“
Der Arzt räusperte sich.
„Nun, es ist ein Schock. Der Körper wehrt sich gegen einen vollständigen Kollaps, in dem er die Erinnerung eine Zeitlang ausschaltet. So eine Amnesie ist durchaus auch hilfreich.“
„Schon klar, aber warum tut er das bei mir? Was ist denn passiert?“
„Nun, ich denke du solltest jetzt noch nicht so sehr darüber nachdenken. Du bist sehr schwach, der Körper darf nur langsam wieder Fahrt aufnehmen.“
„Fahrt? Da war doch was.. der Lastenaufzug. Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein. Aber was war da, warum ist alles so verschwommen?“
„Wie gesagt, langsam. Hast du Hunger? Du solltest etwas essen.“
„Nicht wirklich.“
„Eine Suppe kann nicht schaden. Ich lasse dir eine bringen und dann päppeln wir dich wieder auf. Mach dir keine Gedanken, es wird alles gut. So, jetzt mach mal den Oberköper frei.“
Kaum war der Arzt nach der Untersuchung aus dem Zimmer, stand Nico langsam auf und ging zum Fenster. Vor ihm breitete sich eine Winterlandschaft aus, wie er sie noch nie gesehen hatte.
Es war kaum abzuschätzen, wie hoch der Schnee da draußen lag, aber über einen Meter war es mit Sicherheit. Es schneite nicht mehr, der Himmel war leicht bewölkt und suggerierte fast ein Postkartenpanorama.
Erneut klopfte es und Nico blieb am Fenster stehen, als er den Gast hereinbat. Sein Gesicht hellte sich merklich auf, als er Marco unter der Tür stehen sah.
„Ah, so sehe ich dich am liebsten – mit fast nichts an“, grinste er über das ganze Gesicht.
Er hatte ein Tablett dabei, auf dem offenbar die Suppenterrine stand. Er stellte sie auf dem kleinen Tisch ab und kam langsam auf Nico zu. „Du siehst Scheiße aus. Aber selbst dann bis du schön.“
Er nahm ihn in die Arme und drückte ihn.
„Ich bin so froh, dass das alles vorbei ist. Wie geht es dir?“
Nico schob ihn von sich und sah im tief in die Augen. Es war ihm nicht nach Zärtlichkeit, was jedoch nicht an Marco lag. Es war einfach ein blöder Zeitpunkt und gut ging es ihm ja auch nicht.
„Marco, ich freu mich so, dass du da bist. Aber sag mal, was ist denn eigentlich passiert? Weder Falk noch der Doktor wollen mir sagen, warum ich mich an nichts erinnern kann.“
„Kannst du nicht?“, fragte Marco ungläubig.
„Nein. Ich habe keine Ahnung. Sag du es mir doch, bitte. Ich werde sonst noch verrückt.“
„Komm, iss erst mal was, die Suppe wird kalt.“
Sie setzten sich an den Tisch und Nico begann unlustig, die Suppe zu löffeln.
Nach einer Weile sah er Marco an.
„Du willst es mir also auch nicht sagen, stimmts?“
Marco sah verlegen auf den Boden.
„Ich darf es nicht, oder besser, ich soll es nicht. Der Arzt hat mich darum gebeten. Er meinte, es ist zu früh. Du musst erst körperlich wieder in die Reihe kommen.“
„Quatsch, ich fühl mich fit.“
Marco wurde ironisch.
„Genau das sieht man dir auch an. Nico, hab ein bisschen Geduld. Ich will ja auch nicht, dass du dann tagelang herumgrübelst.“
„Und warum soll ich denn grübeln?“
Marco stand auf und sah zu Fenster hinaus.
„Ich habe mich mit Falk lange unterhalten können.“
„Aha. Und über was, wenn ich das fragen darf?“
„Über dich. Über mich. Über uns. Und über das Camp überhaupt.“
Nico ließ den Löffel fallen. „Über uns? Was.. hast du ihm erzählt?“
„Ich.. ich hatte an dem Abend, als wir alle bei Emmi versammelt waren, ein paar Gläser Glühwein getrunken. Und niemand wusste, was mit dir ist.“
Er drehte sich zu Nico um.
„Ich habe eine Scheißangst um dich gehabt. Falk hat das sofort gemerkt und dann haben wir geredet.“
„Wieso bei Emmi?“
Dann fragte nicht weiter nach. Er lehnte sich zurück und schnaufte tief durch.
„Also weiß er jetzt, wie es um uns steht. Toll.“
„Nein, Nico, er hatte es schon gewusst. Das hat er gesagt und auch, dass er es akzeptiert. Ich soll das für mich behalten, für alle Ewigkeit. Darum hat er mich gebeten. Sonst um nichts.“
Stein. Falk Stein. War der Mann sein Schicksal? Nico wusste es nicht, aber wieso er auf die Idee gekommen war, Falk etwas Derartiges verheimlichen zu wollen?
„Und mehr nicht? Was hat er sonst noch gesagt?“
„Nico, bitte.“
Er stand auf und ging zu Marco hin.
„Ich denke, wir sollten und wir müssen jetzt keine Geheimnisse mehr voreinander haben.“
Nun nahm er ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich.
„Ich habe dich sehr lieb, hab ich dir das schon gesagt?“
Marco seinerseits umarmte ihn und so standen sie eine ganze Weile da.
Plötzlich sah Nico durch das Fenster einen Hund vor dem Haus. Er ließ Marco los und deutete hinaus.
„Rick.. was war da mit Rick?“
„Das ist nicht Rick, das ist Arko.“
„Ich weiß, aber mit Rick war doch irgendwas, oder? Wo ist er?“
„Ich weiß nicht, wo er gerade ist.“
„Überhaupt, wo sind die anderen Jungs?“. Nico hatte das Gefühl, sein Kopf raucht. Er hörte plötzlich Stimmen, Schreie, sah Gesichter in flackerndem Licht.
„Sie sind oben im Camp. Es geht ihnen gut.“
Nico kniff plötzlich die Augen zusammen.
„Jonas.. Jonas? Was ist mit ihm?“
„Er ist bei den anderen, warum fragst du nach ihm?“
„Ich weiß nicht, sein Name, sein Gesicht.. es ist alles so verworren. Warum bin ich nicht auch im Camp?“
„Du hast zwei Tage hier geschlafen, vergiss das nicht.“
„Ich will zurück. Wo sind meine Klamotten?“ Er ging zu dem Schrank und öffnete ihn. Aber er war leer.
„Wo sind meine Kleider?“
„Unten, Nico, sie mussten erst trocknen.“
„Trocknen? Warum?“
Marco spürte, dass ihn das alles überforderte und er war froh, dass Falk Stein wieder erschien.
„Ich geh dann mal wieder“, sagte er und schüttelte den Kopf, als er an Stein vorbei ging.
„Er ist völlig durcheinander“, flüsterte er, so dass es Nico nicht hören konnte.
Stein nickte, klopfte Marco auf die Schulter und ging zu Nico hin.
„Du solltest dich wieder hinlegen. Du bist noch nicht fit.“
„Hinlegen? Falk, was geht hier vor? Warum will mir niemand sagen, was los ist?“
„Du wirst es erfahren, aber jetzt tu mir bitte den Gefallen und ruhe dich aus. Und nimm die Tabletten, die dir Doktor Schnell hingelegt hat.“
Nico wusste, dass dieser Ton keinen Widerspruch duldete. Er konnte bei Falk sehr wohl zwischen einer Bitte und einem Befehl unterscheiden. Und dies war ein Befehl.
Er kroch zurück ins Bett, zog die Decke bis über den Kopf und rollte sich zusammen.
Schweißgebadet wachte er auf. Es war dunkel bis auf eine Lampe in der Ecke und drüben am Tisch sah er Falk sitzen.
„Hallo Nico. Alles in Ordnung?“
Langsam richtete sich Nico auf. Er fühlte sich nicht mehr so schlecht, aber wirklich gut war etwas anderes.
„Es geht. Ich hatte bloß so einen furchtbaren Traum.“
„Möchtest du davon erzählen?“
„Na ja, ich habe einen Jungen gesehen. Der tanzte mit einer Balancestange auf einem Seil, ziemlich hoch oben. Keine Ahnung wo das war und den Jungen kenne ich auch nicht. Aber es war kalt, das hab ich gespürt.“
„Und dann?“ Stein hörte genau zu.
„Plötzlich riss das Seil. Ich hab irgendwas geschrieen und bin dorthin gerannt, wo der Junge zu Böden stürzen würde. Ich habe meine Arme ausgebreitet und er ist auf mich gefallen. Und da bin ich wach geworden.“
Stein huschte ein Lächeln über das Gesicht.
„Das war doch ein guter Traum.“
„Ich weiß ja nicht, was dann passiert ist. Aber egal. Wann kann ich denn nun ins Camp zurück?“
„Es geht dir besser, wie ich sehe. Daher nehme ich dich jetzt mit.“
Er zeigte auf den anderen Stuhl.
„Hier, deine Klamotten. Zieh dich an und komm runter, ich warte dort auf dich.“
Nico zog sich rasch an. Er dachte zwar an eine Dusche, aber dafür war in seinem Zimmer noch genug Zeit. Seine Kleider rochen frisch und luftig, wie seit langem nicht mehr. Der Frage, was passiert war, wollte er erst einmal nicht mehr nachgehen.
Er sehnte sich nach dem Camp, seinem Zimmer und vor allem auch nach den Jungs. Stein saß bei einigen fremden Leuten am Tresen in der Gaststube. Die Leute sahen Nico kurz an, als er den Raum betrat, wandten sich dann aber wieder ihren Gesprächen zu.
Nico folgte Stein dann nach draußen. Frische, kalte Winterluft schlug ihnen entgegen, am Himmel blinkten unzählige Sterne.
„Es ist doch wirklich schön hier. Ich freue mich so auf das Camp.“
Stein legte einen Arm um seine Schulter, dann liefen sie zu seinem Auto.
„Du bist so viel ruhiger geworden seit gestern, so gefällst du mir viel besser. Hier, schau mal, ich habe jetzt auch Schneeketten. Anders kommt man hier überhaupt nicht vorwärts.“
Sie fuhren los und bogen auf die Hauptstraße ab. Niemand war unterwegs, an vielen Fenstern hingen Weihnachtsbilder, bei einigen blinkten bunte Lichter und vor dem Kirchplatz prangte eine riesige Tanne, die über und über mit Kerzen bestückt war.
Nico ließ diese friedlichen Bilder in seine Seele, der Frieden und die Ruhe die sie ausstrahlten, taten ihm gut.
„Was ist eigentlich aus der Gasleitung geworden?“
„Die Stadtwerke kamen vorgestern Abend mit einer ganzen Kolonne. Sie haben die Leitung geschlossen und mit Druckluft gespült. Leo hat die Heizung auf Öl umgestellt, es ist also alles in Ordnung.“
„Und wie kommen wir überhaupt hoch ins Camp? Die Brücke ist doch eingestürzt“, fragte er dann, als sie die Straße zum Haus abbogen.
Stein fuhr im Schritttempo auf die Stelle zu. „Das Technische Hilfswerk hat eine Notbrücke über die Schlucht gebaut. Die waren echt fix.“
Dann tauchte das Haus auf. Schön zu sehen, dass die Lichter brannten und alles so aussah, als wäre nie etwas gewesen.
Nico stieg aus und sein Blick ging zu Ricks Hütte.
„Ist er schon wieder unterwegs? Der muss sich ja Tunnel graben bei dem hohen Schnee.“
Stein nickte.
„Ja, das müsste er wohl.“
Gemeinsam betraten sie dann das Haus. Es kam ihm etwas ungewohnt vor, nachdem er fast drei Tage in einer anderen Umgebung gewesen war. Er hörte Stimmen aus dem Gemeinschaftsraum und trat unter die Tür.
Da saßen sie, „seine“ Jungs auf der Couch vor dem Fernseher und bemerkten ihn nicht. Es lief wohl irgendein Fantasie-Film. Daneben leuchtete der Weihnachtsbaum und das Kaminfeuer prasselte.
Er ging zu ihnen hin und als Maik ihn sah, sprang er auf.
„Hey Nico, du bist wieder da!“
Sofort wurde er von den anderen begrüßt, umringt, beklopft, umarmt. Sie freuten sich so, dass sich Nico schon etwas wunderte. Sie fragten durcheinander wie es ihm ginge und ob alles in Ordnung wäre.
Nur Marco hielt sich etwas zurück; er stand etwas abseits und beobachtete das Treiben.
Nico sah zu ihm hin und freute sich, dass er in Marcos Gesicht ein Lächeln erkennen konnte.
Dann waren da auch Leo und Rainer, Holzmann kam aus der Küche und kurz darauf waren Frau Berger, der Professor und Ralf Kirchheim in dem Raum. Zum Schluss tauchte Doktor Schnell auf.
Wie eine Traube wurde er umringt und er verstand den Wirbel um seine Person nicht. Er sah sich genauer um und fragte dann plötzlich: „Wo ist denn Jonas? Den hab ich noch gar nicht gesehen.“
Die Jungen sahen sich um und Ruben antwortete: „Vorhin war er noch da. Vielleicht in seinem Zimmer?“
Nico entschuldigte sich.
„Ich geh mal eben nach ihm schauen.“
Er ließ alle zurück und lief direkt zu Jonas‘ Zimmer. Die Tür stand offen und es fiel Licht in den Flur. Nico klopfte zaghaft, dann trat er ein. Beinahe wäre er gestürzt, als Rick an ihm hochsprang.
„Du, hier? Hey, gehst du fremd?“
Er knuddelte den Rüden und dann sah er, dass Jonas auf dem Bett lag und ihn anlächelte.
„Hi Nico.“
Er hob einen Arm, der andere lag quer über seinem Bauch, dick verbunden. Nico machte große Augen.
„Jonas. Was hast du denn gemacht?“
Jonas versuchte ein Lächeln, aber es wurde doch eher ein Grinsen.
„Och, nur ein bisschen den Arm gebrochen. Das ist nur Gips.“
Nico ging zu ihm hin und setzte sich auf die Bettkante.
„Wie ist das denn passiert?“
Jonas setzte sich auf.
„Nico, das war alles meine Schuld. Ich hab… ich bin durchgedreht.“
„Bei was denn?“
Plötzlich stand Professor Roth in der Tür. Nico konnte gar nichts sagen, das war zu überraschend.
„Wenn ich kurz unterbrechen darf: Herr Hartmann, kommen Sie mal bitte mit mir?“
Nico fuhr mit den Fingern über Jonas über die Wange.
„Erzähl es mir später, ja? Ich komme wieder.“
Nico folgte dem Professor und sie gingen hoch in Steins Zimmer. Er wusste nicht, was der Professor von ihm wollen könnte, aber wichtig würde es schon sein.
Der Professor deutete auf den Stuhl.
„Bitte, setzen Sie sich doch“, sagte er und holte zielsicher, als wäre es sein Büro, eine Flasche Wein und zwei Gläser aus dem Schrank.
Er schenkte ein und setzte sich auf Steins Platz.
„Herr Hartmann, es ist ein bisschen kompliziert, aber ich habe mich entschlossen, selbst mit Ihnen darüber zu reden.“