Boycamp IV – Teil 26

Nico hatte keinen Schimmer, warum er nun hier saß.

„Und um was geht es?“

„Nun, Ihnen fehlt ein Stück Erinnerung und es gibt einen Grund, warum das so ist. Dass Ihnen bis jetzt niemand etwas gesagt hat, beruhte ganz allein auf Doktor Schnells Anweisungen.“

„Und Sie dürfen es jetzt?“

„Er meinte, ja. Also, ich versuche es von Anfang an… “

Nico hörte zu und mit jedem Satz kamen Stückweise die Erinnerungen zurück. Auch, als Jonas abstürzte und Rick hinterher sprang.

„Ihr wart vielleicht noch knappe sechs Meter hoch an der Stelle, unter der Gondel gab es eine vom Sturm angehäufte Schneewehe und die fing Jonas ohne Probleme ab. Hunde können auch bei Dunkelheit gut sehen und Rick sprang deshalb, weil er wusste, dass nichts passieren kann. Und er wollte den Jungen auf keinen Fall im Stich lassen. Dummerweise landete er direkt auf Jonas‘ Arm.. Wie auch immer, Glück im Unglück. Wir waren ja an der Talstation, als Rick plötzlich angerast kam und sich wie wild gebärdete. Der Förster ahnte, dass er uns etwas zeigen wollte und folgte ihm. Kurz darauf kam Wiesner mit Jonas in den Armen zurück. Ohne Rick hätten wir Jonas nicht so schnell gefunden. Er war fast komplett in dem Schnee eingesunken und konnte zunächst nicht rufen.“

Nico sah jetzt alles genau vor sich.

„Und ich bin dann wohl abgetreten.“

„Der Schock, ja. Doktor Schnell meinte, es wäre besser, Ihnen erst einmal nicht alles brühwarm zu servieren. Sie haben sich ja gestern noch selbst erlebt. Er sagte, es wäre möglich, dass sich daraus ein Trauma entwickeln könnte. Er wollte sicher gehen, dass du den Schock einigermaßen überwunden hast.“

Der Professor wusste über alles Bescheid. Es würde nichts in den Camps passieren, worüber er nicht informiert war.

„Und was war mit der Seilrolle? Die zweite meine ich.“

Er wollte nun doch sehen, ob Roth auch darauf eine Antwort wusste.

 

„Nun, Herr Kirchheim hat bemerkt, dass die Gondel steht. Er wusste, dass ihr noch nicht unten angekommen seid, also gab es nur eine Störung als Ursache. Er versuchte, euch wieder hochzuziehen, aber das gelang auch nicht. Es schien ihm nur ein einziger Grund logisch, nämlich dass die Rolle klemmte. Warum war ihm nicht ganz klar, aber nur daran konnte es liegen. Nachdem der Sturm immer heftiger wurde, musste er handeln. Er hat die Ersatzrolle genommen und eingehängt. Die Seilhalterung zieht diese Rolle ja nach unten auf das Tragseil und konnte somit nicht herunterfallen. Dann hat sie Kirchheim einfach losgelassen. Er wusste nicht, was passieren würde oder auch könnte, aber er war sicher, dass die Gondel dem Sturm nicht mehr lange standhalten konnte. Er ging dann eben auf Risiko.“

Nico sah nachdenklich an Roth vorbei. „Und diese Rolle hat das Eis abgeschlagen, das uns blockiert hat.“

„Ja. Leider ist dabei auch Jonas abgestürzt. Aber das konnte Kirchheim nicht ahnen.“

„Nein, das war unmöglich…“

Nico schloss die Augen, es begann sich alles zu drehen. Dann sah er dem Professor in die Augen.

„Das mit Jonas war meine Schuld.“

Roth sah in fragend an.

„Sie haben ihn ja nicht aus der Gondel gestoßen.“

„Nein, das meine ich nicht. Ich war nicht Herr der Lage. Ich hätte sie zwingen müssen, nicht aufzustehen. Sie hätten alle drei abstürzen können.“

Er spürte, wie sich Tränen ihren Weg suchten. Dann schluchzte er. „So etwas darf einfach nicht passieren.“

Roth hob ihm das Glas hin.

„Hier, trinken Sie erst mal, das hilft.“

Nico nahm das Glas und leerte es mit einem Zug. Beruhigen konnte er sich trotzdem nicht.

„Herr Hartmann, oder besser..“ Der Professor hob ihm sein Glas hin und sie stießen an.“

..Nico, genau aus diesem Grund hatte es der Arzt untersagt, es dir gleich zu sagen. Verstehst du jetzt?“

Dass ihn der Professor plötzlich duzte störte ihn nicht und bei allem blieb auch dieser Mann ruhig. Es schien, als wären alle Betreuer und auch die, die sonst mit dem Camp zu tun hatten, aus demselben Holz geschnitzt.

„Ja, schon. Trotzdem, ich kann mir das nicht verzeihen.“ Sein Blick wurde dann sehr ernst. „Wir haben uns um diese Jungen zu kümmern, Tag und Nacht. Wir sind verantwortlich und jeder kleinste Fehler kann schlimme oder schlimmste Folgen haben. Sie erinnern sich an Manuel? An Marco?“

Roth nickte.

„So gut wie du. Aber hier wie da, ihr seid keine Schutzengel. Ihr könnt und sollt Gefahren abwenden, aber es bleibt immer ein Restrisiko. Beispiele aus dem Leben gibt es genug, ich muss da nicht ins Detail gehen. Jeder macht Fehler, ausnahmslos. Jonas sagt, er wäre in Panik geraten. Hast du schon einmal versucht, einem Ertrinkenden das Leben zu retten? Er zieht dich in seiner Panik mit runter, wenn es dumm läuft. Du hattest keine Chance, es zu verhindern.“

Nico musste dem Professor zwar recht geben, dennoch fühlte er sich zumindest mitschuldig.

„Übrigens, es gibt noch etwas«, setzte Roth fort.“

Als wir an dem besagten Abend an der Aufzugstation waren, kam plötzlich ein Mann hinzu. Wir kannten ihn nicht, nicht gleich jedenfalls, aber der Timo.. so heißt der glaube ich?… rief plötzlich aufgeregt, dass das mit Sicherheit der Mann war, den er damals vor dem Haus gesehen hätte. Grüner Mantel, der Hut, die Stiefel. Dieser Mann stellte sich zu uns und wollte, dass wir recht schnell von der Wiese verschwinden.“

Nico horchte auf.

„Ich wette, das war der Strehler-Bauer.“

„Ja, so stellte er sich vor, als wir fragten, was er will. Wir würden seine Wiese zertrampeln und er würde uns das in Rechnung stellen.“

„So ein Arschloch.. entschuldigen Sie.“

„Kein Problem. Jedenfalls bauten sich plötzlich Leo, Rainer und Falk vor ihm auf. Hab ich noch gar nicht gesehen, so was. Falk kochte vor Wut, du kannst es dir denken. Ich fand dann ganz amüsant, was er dem Bauern an den Kopf geworfen hat.“

Nico konnte es sich vorstellen. Er wollte vielleicht viel, aber niemals Falk Stein als seinen Feind haben. „Und, was hat Falk zu dem Idioten gesagt?“

„Wortwörtlich bringe ich es nicht mehr zusammen, aber er schrie ihn richtig an und hat den überhaupt nicht zu Wort kommen lassen. Wer er eigentlich sei, dass er sich hier so aufspielt und dass ihm – also Falk – diese verdammte Wiese so egal sei wie Sand auf dem Mond. Es ginge hier um Menschenleben und wenn er es wagen würde, sich irgendwo bei irgendwem über diese Sache zu beschweren, dann würde er dafür sorgen, dass er wegen unterlassener Hilfeleistung vor den Kadi kommt. Genauso wie seine missratene Verwandtschaft. Und dann fügte er noch hinzu, dass niemand mehr da oben am Haus herumschnüffeln könnte, ohne dass ihm wegen Hausfriedensbruch eine Klage an den Hals gehängt wird. Als er dem Mann vorwarf, hinter all den Machenschaften zu stecken und ihm das auch zu beweisen, hat er sich umgedreht und ist weggegangen. Und dann rief Falk ihm noch etwas hinterher, das hat mich doch gewundert: Schaffen Sie ihren Arsch hier weg, bevor ich mich vergesse.“

Nico grinste. Der gute Falk. Konnte sich also auch mal so richtig gehen lassen.

„Also war er es, der diese Bande angestiftet hat. Klar, der Steffen gehört ja zu der missratenen Verwandtschaft, da war es einfach. Damit wird er wohl auch vor Gericht stehen müssen.“

Roth schenkte Wein nach.

„Ja, Falk hat bereits alles in die Wege geleitet. Aber gut, das war es, was ich dir sagen wollte. Und die Idee mit dem Lastenaufzug.. nun, ich fand sie genial. Ich weiß nicht, ob jemand anderes diesen Einfall gehabt hätte.“

„Es war aber verdammt riskant.“

„Sagen wir mal so: Ich fand es.. nun ja.. ziemlich aufregend. Wir sind ja ohne Probleme unten angekommen und ich bin, um es mal so zu sagen, nicht in der Position, sonst dergleichen Abenteuer miterleben zu dürfen. Also ich für meinen Teil fand es schon recht spannend. Außer einem kaputten Knochen ist ja auch nichts passiert. Rick weicht Jonas übrigens seit der Stunde nicht mehr von der Seite. Anscheinend fühlt er sich schuldig.“

„Noch einer«, sagte Nico leise und der Professor lachte.

„Übrigens hat der Förster den toten Wolf abgeholt und lässt ihn im Veterinäramt untersuchen. Es sieht aber ganz danach aus, dass er von einem größeren Stein oder Felsbrocken getroffen wurde.“

„Warum Rick bei ihm wird aber auch nicht wissen? “

„Nein, nicht direkt. Es könnte sich aber um eine seltene Art von Freundschaft gehandelt haben. Nachdem der Förster auch von Ricks Diebstählen erfahren hat geht er davon aus, dass er den Wolf damit vor dem Verhungern bewahren wollte. Aber das sind Spekulationen und wir werden die echten Hintergründe wohl eh nie erfahren.“

„Das war es, was ich dir sagen wollte.“

Nico lehnte sich zurück.

„Aber Sie haben live miterlebt, was in so einem Camp los ist. Und besonders, wenn ich dabei bin.“

„Du hast die Minen nicht einstürzen lassen, das Wetter nicht gemacht, den Aufzug nicht absichtlich blockiert und das was mit Jonas passiert ist, haben wir ja schon geklärt. Außerdem.. das Camp steht noch. Ich verstehe nicht, was das mit dir zu tun haben sollte.“

„Ich schon. Ich glaube, ich ziehe das Unheil an. Es ist schon öfter schief gegangen und ich frage mich schon öfter, was das nächste Mal passieren wird. Dass ich nicht der Auslöser bin, weiß ich und ich habe Ihnen ja auch schon eine Zusage gemacht, aber da war ich noch in der Hoffnung und dem Glauben, alles zuvor sei Zufall oder auch Pech gewesen. Jetzt bin ich der Meinung nicht mehr.“

Er machte eine kleine Pause, nahm einen Schluck Wein und setzte fort:

„Herr Professor, ich habe beschlossen, nie wieder ein Camp zu betreten. Noch nicht einmal als Gast. Ich habe Angst, es könnte eines Tages noch viel schlimmer ausgehen als das, was bisher geschehen ist. Diese Angst lähmt, sie beherrscht mein Denken und handeln. Und ich weiß, dass gerade das gefährlich ist. Ich tue es nicht gerne, das können Sie mir glauben, aber ich tue es in sicherlich weiser Voraussicht. Nächste Woche muss ich zurück, mein Studium geht weiter. Ich weiß noch nicht, was ich danach mache, aber ich werde etwas finden. Wenn Sie einen Mann suchen, der hierher passt und meiner Meinung nach sogar hierher gehört, dann sprechen Sie mit Ralf Kirchheim. Ich fühle, dass dieser Mann für diesen Job geboren ist.“

Der Professor hatte während des Gesprächs Nico nicht aus den Augen gelassen. Er schien förmlich in ihnen zu lesen, was er nicht sagte oder sagen wollte.

„Ich habe befürchtet, dass du so entscheidest. Dabei hatte ich gehofft, dass ich mich irre; dass du stabil genug sein würdest, um dich diesem Leben zu stellen. Ich kann dich natürlich nicht zwingen, das ist klar und ich fürchte, ich werde dich auch nicht mehr überzeugen können.“

„Ich habe es mir wirklich genau überlegt. Wenn ich zurückschaue, dann liegen einfach zu viele Trümmer auf meinem Weg. Ich möchte nicht, dass noch mehr dazukommen.“

„Und was wirst du machen, nach dem Studium? Ich meine, so ganz ohne eine Planung geht man ja nicht da durch.“

„Ich denke, ich werde eine Weile ins Ausland gehen. Es ist keine Flucht von hier oder vor mir, ich muss einfach mal ganz andere Dinge sehen und auch machen. Ich habe noch nicht herausgefunden, was mir neben diesem Job hier wirklich Spaß machen könnte, aber ich denke, das wird sich ergeben.“

„Weiß es Falk schon?“

„Nein, ich habe mit noch niemandem darüber gesprochen. Aber er wird es akzeptieren, das weiß ich. Mit Kirchheim an seiner Seite wird das Camp noch mal aufgewertet.“

„Er.. er liebt dich, das weißt du? Er sagte mir einmal, der Nico, der ist wie mein eigener Sohn. Wenn ich je einen bekommen hätte, dann müsste er so sein wie dieser junge Mann.“

Nico wurde verlegen. Natürlich wusste er, dass Falk wegen ihm alle anderen fallen lassen würde. Aber das änderte nichts an der Sache an sich. Es wird immer Menschen geben, die man enttäuschen muss, auch wenn man sie noch so gern hat. Und es war das schlimmste an allem, dass es ausgerechnet Falk traf.

„Ich werde es ihm sagen, heute noch. Aber trotzdem, vielen Dank für das Gespräch. Und für alles, was Sie schon für mich getan haben. Ich bin sehr froh, dass es Leute wie Sie, Frau Berger, Falk und die anderen gibt. Es gibt so viele Jungen da draußen, die eure Hilfe brauchen.“

Der Professor lehnte sich zurück.

„Und du willst wirklich nicht an dem Erfolg teilhaben? Sagen können, jawohl, ich habe geholfen, sie auf den richtigen Weg zu bringen? Du weißt, dass es nicht viele Leute wie dich gibt, die diesen Job nicht nur machen, sondern ihn auch leben?“

„Ich weiß, aber was nützt es, wenn diese Camps jedes Mal in einer Katastrophe enden? Wenn gar die Jungen Schaden nehmen? Dann war es nicht Sinn der Sache.“

Mit jedem Wort fiel ihm das sprechen schwerer. Er spürte, dass die Emotionen hoch zu kochen drohten, dass sich Tränen einen Weg nach draußen suchten.

Nein, er wollte nicht fort aus dem Camp, aber er musste es. Um der anderen Willen. Fernhalten musste er sie vom Unheil und das ging nur, wenn er nicht dabei war.

Sein Schwulsein brachte er bewusst nicht zur Sprache. Es könnte der Eindruck entstehen, dass er sich missverstanden fühlte, dass er nach Mitleid suchen würde. Es passte überhaupt nicht zu diesem Gespräch. Natürlich waren da Marco, Jonas und all die anderen. Auch Vlado spielte eine Rolle, aber er musste eines nach dem anderen auf die Reihe bekommen. Immer mehr rückte in sein Bewusstsein, dass er das alles nicht mehr im Griff hatte.

Es würde ewig so weitergehen, wenn er im Camp bliebe. So lange er noch keinen festen Posten hatte, war das mehr oder weniger harmlos. Aber seine Hoffnung, dass er sich dann ändern und im Griff halten könnte, fiel in sich zusammen. Falk war sein Vorbild, aber in dieser Sache stand er allein.

Selbst wenn er im Camp bleiben würde, irgendwann wechselte die Mannschaft, war kein Leo oder Rainer mehr um ihn. Er konnte nicht hoffen, dass andere so frei mit seinem Schwulsein umgehen würden. Und verheimlichen konnte er es auf Dauer nicht. Im Grunde hatte er das alles immer schon gewusst, doch jetzt war der Augenblick gekommen, wo andere Karten auf den Tisch mussten. Bisher hatte er sie nur neu gemischt, nun mussten sie komplett ersetzt werden. Er holte tief Luft. Seine Entscheidung war gefallen, auch wenn es alles andere als leicht war.

Er reichte dem Professor die Hand.

„Wann fahren Sie zurück?“

Roth stand ebenfalls auf.

„Morgen, in aller Frühe. Ich fände es sehr nett, wenn du vorher auch Frau Berger deine Entscheidung mitteilst. Sie wird allerdings nicht begeistert sein.“

„Ich weiß.“

Sie gingen nach unten und Nico hatte das Gefühl, seine Beine würden nachgeben. Falk dürfte seine Entscheidung kennen, der fühlte das. Vielleicht hatte er auch schon mit Frau Berger darüber gesprochen. Es wäre die beste Lösung gewesen.

Da saßen sie, am festlich geschmückten Tisch im Gemeinschaftsraum. Leo, Falk, Rainer, Kirchheim, Doktor Schnell, Frau Berger. Der Christbaum funkelte, das Kaminfeuer knisterte, die Jungen waren wohl in ihren Zimmern.

Nico kam es vor, als müsse er vor Gericht. Sie sahen ihn an und kein Wort fiel. Wussten sie es schon? Dachten sie es sich? Er würde es nur einmal sagen, hier und vor allen.

Er fühlte sich plötzlich ganz klein und mickrig. Wie in der Schule, in der ersten Klasse. Er wäre am liebsten davongelaufen, weg von hier. Weit weg. Aber er wusste, dass er hier und jetzt Rede und Antwort stehen musste.

Einmal wenigstens noch. Er hatte nichts gegen die, die hier saßen. Nein, einige liebte er und auch wenn er nicht wieder zurückkommen würde, wollte er sie als Freunde behalten. Sie bedeuteten ihm viel, sehr viel. Sie waren mit ihm durch dick und dünn gegangen, keine Sekunde gab es da, wo gezweifelt wurde.

Eine Gemeinschaft, wie er sie nie wieder antreffen würde. Er ging um den Tisch herum und setzte sich auf einen freien Platz, zwischen Leo und Ralf Kirchheim. Noch immer herrschte Schweigen und er wusste, er musste anfangen.

Doch dann trat der Professor an den Tisch.

„Liebes Team, sehr geehrte Frau Berger. Ich hatte soeben ein sehr intensives und wichtiges Gespräch mit unserem Praktikanten, Herrn Nico Hartmann und habe mich dazu entschlossen, Ihnen vom Ausgang dieses Gespräch zu berichten. Vorausgesetzt, Herr Hartmann ist einverstanden.“

Nico war einerseits überrascht, andererseits froh. Er nickte. Er spürte Falks Blick und selbst wenn er es bis dahin nicht geahnt hatte, dann spätestens jetzt. Der Professor begann seine Rede mit jenen Höhepunkten, die Nico erlebt hatte.

Der Sturm, die Suche nach den Jungen, der Sanitärwagen, Manuels tödlicher Sturz. Daneben liefen in Nicos Kopf Szenen ab, die der Professor nicht wusste und nicht wissen konnte. Stefan, Erkan, Lucas..

Dann kam Roth auf den kleinen Tobias zu sprechen. Den Verladebahnhof. Die ersten, stabilen Hütten, das abgestürzte Flugzeug, der Bahnhof und natürlich der Waldbrand mit seinen schlimmen Folgen.

Nico sah alles genau vor sich: Stefan. Die Wiese, wo sie wieder zusammenfanden. Erkan, der Raffael mit einem Handgriff zu Boden zwang. Die Solidarität. Das war hier alles so anders als diesmal.

Nico wünschte sich jetzt, Marco wäre hier, neben ihm. Warum wusste er nicht, aber er hätte jemanden gebraucht, an den er sich anschmiegen konnte. Er fühlte sich irgendwie einsam und verlassen, auch weil es bei dieser Rede einzig und allein um ihn ging.

Wie er gehandelt, welche Ideen er entwickelt hatte. Und es kam, was kommen musste. Der Professor war dann voll des Lobes, zitierte auch die anderen Betreuer der Camps und sogar die Jungen, deren Namen Nico noch alle wusste, sparten wohl nicht damit.

„Obwohl Nico Hartmann alle Situationen soweit im Griff hatte, wie das menschenmöglich ist und obwohl er aus meiner – unserer – Sicht ein sehr guter Betreuer geworden wäre, hat er nach den jüngsten Vorfällen beschlossen, einen Posten bei uns nicht anzunehmen.

Obwohl ich das sehr bedauere, kann ich seine Gründe nachvollziehen und es obliegt uns nicht darüber zu befinden, ob er den richtigen Weg wählt. Ich muss sagen, dass nicht nur mir das außerordentlich leid tut, Nico, denn durch dich ist das Camp um viele Dinge reicher und reifer geworden. Wir haben unsere Konzepte geändert, Planungen optimiert und auch in Sachen Sicherheit vieles dazugelernt. Dass nicht immer alles so funktioniert wie es soll, ist der Lauf des Lebens. Wir können durch Menschen wie dich jedoch versuchen, Gefahren eher zu erkennen und auszuräumen. Dafür gilt mein herzlicher Dank und ich wünsche dir auf deinem weiteren Lebensweg alles, alles Gute. Ich bin der Überzeugung, wir verlieren mit dir eine kompetente, ernst zu nehmende Persönlichkeit aber ich wage zu hoffen, dass dir diese Eigenschaften in Zukunft den Weg ebnen werden.“

Der Professor setzte sich und es war in dem Raum augenblicklich so still wie nie zuvor. Niemand hüstelte, keiner schien verlegen. Alle starrten zu Nico hin, der jetzt nach Worten suchte. Er stand auf.

Sein Blick traf sich mit dem von Falk Stein und Nico wusste zum ersten Mal nicht, was sein Vorbild in diesen Augenblicken dachte. War er nun zu einer riesengroßen Enttäuschung geworden? Verstand Falk, was in seinem Kopf vorging?

„Vielen Dank, Herr Professor für die ehrlichen Worte. Ja, ich habe beschlossen, einen anderen Lebensweg zu gehen. Die Gründe dafür sind aufgezählt, ich möchte mich deshalb nicht wiederholen. Ich habe eine sehr schöne, spannende und ereignisreiche Zeit in den Camps erlebt und ich werde mein Leben lang daran denken. Für alles, was passiert ist, möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen. Ich habe sicher nicht immer Schuld an den Dingen gehabt, aber ich scheine das Unglück anzuziehen. Deshalb werde ich eine Arbeit für mich auswählen, bei der es keine Rolle spielt, weil keine Menschenleben dahinter stehen werden. Ich weiß noch nicht, was das sein kann, aber ich werde sicher etwas finden. Aufgrund dieser Tatsache werde ich bereits morgen abreisen, ich denke es macht keinen Sinn mehr, länger hier zu bleiben. Darum nutze ich die Gelegenheit, mich jetzt bei allen offiziell zu bedanken. Es gibt niemanden, den ich besonders hervorheben möchte, jeder von euch hat mich auf diesem Stück Weg begleitet, jeder auf seine Art. Natürlich ist da Falk, der mich bis hierher gebracht hat, der so etwas wie ein Vater für mich geworden ist. Aber erst im Zusammenspiel mit allen anderen, auch aus den vorigen Camps, habe ich meine Erfahrungen sammeln können. Es gibt sicherlich keinen Job auf der Welt, wo Zusammenhang und Teamgeist so gefragt sind wie hier und ich bin froh, diese Erfahrung habe machen zu können. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken.“

Er setzte sich, sichtlich mitgenommen und er zitterte leicht. Es gab keinen Applaus, kein Geräusch war zu hören. Er bekam gar nicht mit, dass Falk Stein sich erhob.

„Lieber Nico, liebe Anwesende. Ich möchte nur kurz ein paar Worte an Nico richten, das Wesentliche wurde ja schon gesagt. Nico, ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht und ich habe gerade in den letzten Tagen genau das befürchtet, was nun eingetreten ist.

Ich kann mich noch an die ersten Tage erinnern, als du neu im Camp warst. Daran wie du mich gehasst hast, weil ich dir keinen Glauben geschenkt habe. Es hat sich entwickelt zwischen uns, wir sind uns nahe gekommen und ja, ich habe dich wie einen Sohn akzeptiert. Ich dachte immer, so hätte er werden müssen, hätte ich je einen gehabt.

Dein Weggang wird ein Verlust für das Camp, das wissen wir beide, aber ich sehe es auch als Chance für dich. Auch wenn du etwas anderes findest, du musst wissen, dass wir hier immer einen Platz für dich haben werden, egal wann das sein sollte. Deine Erfahrungen können dir viel nützen da draußen, vielleicht kannst du sie ausbauen. Wo wir uns gerade herumtreiben, das kannst du immer wissen und ein Besuch würde uns natürlich freuen. Und damit bin ich schon am Ende. Ich, wir alle hier wünschen dir auf deinem weiteren Lebensweg alles Gute und natürlich viel Erfolg.“

Nun gab es doch Applaus, wenn auch eher verhalten. Nico packte in Gedanken bereits seine Sachen, er wollte nur noch weg hier. Nicht in Wut und Zorn, aber er wäre am liebsten im Boden versunken. Er schämte sich fast vor all jenen hier, die ihm so viel bedeuteten und die er jetzt enttäuschen musste.

Er sah noch einmal hoch und blickte hinüber. Leo, Rainer.. Nico nahm hier keinen Abschied für immer. Sie würden sich alle wiedersehen, wenn der Gerichtstermin stattfand. Aber vorbei waren die Tage und Wochen, die sie zusammenhielten wie Pech und Schwefel.

Die Tage und Nächte, Freud und Leid hatten sie ohne Wenn und Aber zusammen geteilt. Nico wusste, dass es keinen Job für ihn geben würde, der ihm all das in dieser Form geben konnte.

Falk Stein.

Nico spürte, dass sich die Bande zwischen ihnen niemals lösen würde. Sie konnte das gar nicht. Sie trennten sich, das wohl, aber es war unmöglich, dass sie sich je ganz aus den Augen verlieren würden. So wie Freunde eben, die wegziehen und trotzdem noch für einen da waren.

Benjamin Kirchheim. Er musste hier bleiben, er war der richtige Mann an Falks Seite. Ein Mann ohne Kompromisse, geradlinig, aufrichtig. Sicher, er kannte ihn kaum, aber das musste er nicht. Für solche Dinge hatte er seine Gefühle.

Er war sicher, Falk hatte bereits an der Stelle seine Fäden gezogen. Nico spürte, wie ihn das alles mitnahm. Er musste auch an die Jungen denken. Sie waren der Grund, warum er überhaupt immer wieder in die Camps zurückgekommen war. Auch diese Ära war vorbei. Er musste sich jetzt besinnen, neu orientieren.

Zu viele Gedanken schwirrten jetzt in seinem Kopf herum.

„Ich geh dann mal nach oben, packen. Wir sehen uns morgen früh. Gute Nacht zusammen.“

Keine Abschiedsparty mit Sekt und allem drum herum. Nico war nicht in der Verfassung dazu, keiner war das wohl. Als er den Raum verließ, spürte er die Blicke in seinem Rücken und nur Rick kam zu ihm und begleitete ihn nach oben in sein Zimmer.

 

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