Traumschiff – Teil 6

Jerome und Ole haben zum ersten Mal das Gefühl, sich ein wenig in einen anderen jungen Mann zu verlieben oder zumindest einem anderen etwas näher zu kommen. Das ist neu und auch zum Teil auf und erregend. Ob sich ihre Erwartungen erfüllen?

Noch Dienstag

Ole

Nach der Mittagsruhe, gegen drei Uhr, kommen endlich Armin und Denise, um mich zu besuchen. Nach der Begrüßung mit Umarmung und Bussi und so pflanzen sich die beiden mit Stühlen rechts und links neben mein Bett.

Denise sitzt mit dem Rücken zu Torsten zwischen den Betten und Armin auf meiner linken Seite. Sie haben was Süßes zum Futtern und auch noch Saft zum Trinken mitgebracht. Nachdem ich sie kurz Torsten vorgestellt habe, wende ich mich an die Beiden.

„Schön, dass ihr beiden euch endlich mal blicken lasst. Ich habe schon richtig Sehnsucht gehabt“, sage ich, „es ist hier nicht so kurzweilig und durch den blöden Rollstuhlcrash darf ich jetzt auch noch länger hier bleiben. So eine Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt“.

„Sei einfach froh, dass nicht noch schlimmeres passiert ist. Die Zeit geht doch Ruckzuck vorbei und du kannst ja auch noch einiges für das Abi tun, wenn du hier liegst“, meint Denise, „in der Penne geht doch jetzt eh nicht mehr viel für eure Klasse, da versäumst du nix“.

„Ich habe von deinem Klassenlehrer noch ein Kuvert bekommen mit einigen Übungsthemen für die Fächer, die noch geprüft werden“, sagt Armin, „da ist noch ein Zettel dabei, auf dem steht, was da in der Prüfung gefordert ist“. Er legt ein größeres Kuvert auf mein Bett.

„Das schau ich mir erst später an, jetzt habe ich keinen Bock auf Lernen“, sage ich, „erzählt lieber mal, was es an Neuigkeiten gibt auf der Penne.“

„Dass Heiner und Marie jetzt zusammen sind, hast du ja bestimmt schon erfahren“, stellt Denise fest, „seit Armins Geburtstag sehen die sich immer schwer verliebt an und sind auch dauernd zusammen auf dem Pausenhof“.

„Ja, da sind sie ja wohl nicht allein da, die Beiden“, sag ich, verschmitzt grinsend, „bei euch ist das ja wohl mindestens genauso und mir fällt, wenn ich euch sehe, immer das Lied von Klaus Lage ein, ihr wisst schon , Tausendmal berührt“.

„Ja, da gibt es schon Ähnlichkeiten“, sagt Armin und grinst seine Denise an. Torsten hat zwar den Fernseher an, mit Kopfhörer versteht sich, aber ich habe den Eindruck, dass er unser Gespräch sehr genau verfolgt.

Jerome

Für den heutigen Nachmittag hat Doktor Schmelzer noch ein 60-Minuten Training angesetzt. Zuerst ruhe ich mich aber nach dem Essen noch ein wenig aus, bevor ich beginne. Max und Moritz hatte ich ja gleich anbehalten und als ich jetzt los will zum Trainieren, werde ich von Martin gestoppt.

Er kommt nach kurzem Anklopfen in mein Zimmer. „Wir müssen zuerst noch die Salbe auftragen und ein massieren“, sagt er und hilft mir auch gleich dabei, meine Zweitfüße zu lösen. Dann beginnt er, zügig und gar nicht zart, die Salbe in die verbliebenen Beinpartien unter den Knien ein zu massieren.

Trotzdem dass er nicht gerade zart mit mir umgeht, ist das Gefühl nicht unangenehm und ich genieße das ein bisschen, von seinen großen und kräftigen Händen massiert zu werden. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Gesicht von Sergej und stelle mir vor, dass er meine Beine einreibt.

Dabei muss ich wohl einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck machen, denn Martin sagt: „Einen Zehner für deine Gedanken“, und grinst mich an. Eine leichte Röte huscht in mein Gesicht und ich komme mir ein bisschen ertappt vor. „Oh Martin, du kannst dir ja schon denken, an wen oder was ich gerade gedacht habe“, sage ich und grinse zurück.

„Du kennst mich, seit ich auf der Welt bin und du liest von meinem Gesicht fast alles ab, was ich empfinde“, fahre ich fort, jetzt aber ernst und nicht mehr grinsend, „und da du ständig in meiner Nähe bist, wenn ich das Haus verlasse, fällt es auch schwer, etwas vor dir zu verheimlichen, also versuche ich das schon gar nicht mehr.

Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn du nicht da wärest, aber diesen Gedanken will ich dann auch wirklich nicht zu Ende denken, weil ich gar nicht möchte, das du dich nicht mehr um mich kümmerst.

Du bist ein Teil meines Lebens geworden in all den Jahren und ich verdanke dir viel. Du hast viel für mich getan, Martin, und ich habe mich eigentlich noch nie so richtig bedankt bei dir. Das möchte ich jetzt und hier nach holen und dir mal für all das Danke sagen, was du für mich getan hast“.

Nun habe ich ihn wohl doch sehr verlegen gemacht. Sein Gesicht hat Farbe bekommen und man sieht deutlich, dass er sich freut über das, was ich gerade gesagt habe.

„Das ist mein Job, für den ich gut bezahlt werde, aber ich will nicht verheimlichen, das du mir im Laufe der Jahre fast wie ein Sohn ans Herz gewachsen bist“, sagt er und sieht mich dabei schon fast liebevoll an, „ich habe mit Vergnügen verfolgt, wie du heran gewachsen bist und werde weiterhin alles tun, was ich tun kann für dich, solange du mich brauchst.

Erst wenn du mir sagst, dass du mich nicht mehr brauchst, dann werde ich, wenn dein Vater zustimmt, in den Ruhestand treten. Ich hoffe aber, dass bis dahin noch einige Jahre ins Land gehen werden. Leider war es mir nicht vergönnt, den Unfall und die damit verbundenen Folgen von dir fern zu halten und ich mache mir immer noch Vorwürfe, an diesem Tag nicht da gewesen zu sein“.

„Dich trifft keine Schuld, Martin, das habe ich selbst verursacht“, sage ich leise und erkläre: „Das war der Tag, an dem mir unmissverständlich klar wurde, das ich schwul bin. Das war etwas, was ich zu diesem Zeitpunkt aber absolut nicht sein wollte und so habe ich, mit meinem Schicksal hadernd , wohl nicht genug achtgegeben auf die Baustelle, den Verkehr und die Geschwindigkeit“. Ich sehe gerade die Teermaschine vor mir, in die ich hinein gekracht bin.

Ein Schauer überläuft mich kalt. „Leider ist das nicht mehr zu ändern, also müssen wir jetzt sehen, wie ich mit Hilfe der Technik mein Leben wieder in den Griff bekomme und wieder möglichst normal laufen lerne“, fahre ich fort, „also lass uns Max und Moritz anziehen und dann gehen wir üben.“

Wir legen beide zusammen die Prothesen an und dann rollt mich Martin in Richtung Aufzug. Es ist bewölkt draußen und es sieht aus, als würde es heute noch regnen. Nach dem wir die untere Terrasse erreicht haben, schiebt Martin mir den Rollator vor den Rollstuhl und ich stemme mich hoch und nehme die Griffe fest in die Hände.

Ein dankbarer Blick noch zu Martin und dann geht es in Richtung Park auf die Piste. Heute laufe ich bewusster als das letzte Mal. Ich achte gezielt auf das Gefühl in beiden Stümpfen und im Moment scheint es nirgendwo zu drücken. Ich erhöhe nach etwa zehn Minuten das Tempo ein wenig.

Da ich auch nach dreißig Minuten keinerlei Druck oder Schmerz empfinde, entschließe ich mich beim nächsten Vorbeikommen an der Terrasse den Rollator stehen zu lassen und ohne das Ding weiter zu gehen. Martin zieht zwar die Augenbrauen hoch, als ich das Ding an der Terrasse abstelle, aber er sagt nichts.

Ohne die gummibereifte Gehhilfe setze ich nun gleichmäßig eine Fuß vor den anderen und gehe, immer sicherer werdend so normal wie möglich den Weg durch den Park entlang. Nach anfänglichen kleinen Unsicherheiten geht es immer besser und meine Laune steigt. Das klappt ja echt viel besser, als ich das zu träumen wagte und so gehe ich den Rest der Trainingsstunde in mäßigem Tempo ohne Rollator.

Als ich dann zum Ende an die Terrasse komme, stehen alle dort, außer Papa, und klatschen in die Hände. Man sieht die Freude und so stehlen sich zwei mir Freudentränen in meine Augenwinkel. Zum ersten Mal seit dem Unfall fühle ich mich wieder ein wenig glücklich und meiner Familie geht es in diesem Augenblick wohl genauso.

Martin hilft mir beim Ablegen von Max und Moritz und dann sucht er akribisch an den Beinen nach Druckstellen oder Blasen. Sein Gesichtsausdruck und mein Gefühl sagen mir, das er vergeblich nach Verletzungen gesucht hat und mit der gewohnten Gründlichkeit reibt er die Beine wieder mit der Salbe ein.

Da ich in einem mäßigen Tempo unterwegs war, habe ich auch nicht geschwitzt, so dass er mir die Prothesen nach dem Einreiben wieder anzieht. Zufrieden mit mir selbst stemme ich mich hoch und erklimme die zwei Stufen auf die Terrasse, was mir auch problemlos gelingt. Max und Moritz werden mir immer sympathischer.

Mama nimmt mich in den Arm, Natascha klopft mir auf den Rücken und Oma und Frieda haben Tränen in den Augen. Alle freuen sich mit mir, dass es so rasant aufwärts geht und ich so gute Fortschritte mache.

Martin räumt den Rollator und den Rollstuhl ins Haus, wir gehen ins Wohnzimmer und Mama bestellt Kaffee und Tee für uns .Die Stimmung ist gut und ich freue mich jetzt wirklich auf den Abend mit Sergej. Wenn es auch nur ein kurzer Abend wird, so ist es doch ein Anfang in eine hoffentlich mehr als freundschaftliche Beziehung.

Ole

Nach fast zwei Stunden wollen Denise und Armin mich nun wieder verlassen. Wir haben uns viel erzählt und viel gelacht. Ich habe den beiden dann auch leise von Frank erzählt. Das war natürlich für beide die interessanteste Neuigkeit, aber wegen Torsten und weil ja auch eigentlich noch so viel unklar ist, habe ich nur das nötigste erzählt und keine Fragen beantwortet.

Ich bringe die zwei noch nach unten und erst draußen im Flur sage ich ihnen, das Frank einen Freund hat und mir wohl morgen etwas mehr über alles berichten wird und ob sein Freund in München genau so treu war, wie Frank hier in Bremerhaven.

Das ist alles ein bisschen verzwickt“, meint Denise, „hoffentlich geht das auch gut, nicht das du nach her total enttäuscht bist, Öle, das hast du nicht verdient.“ „Frank hat mir ja von Anfang an gesagt, dass er seinen Freund liebt und wenn der ihm treu ist, wird er zum Semesterbeginn in München mit ihm zusammen ziehen“, sage ich den Beiden.

„Dann musst du halt warten und sehen, wie die Sache sich entwickelt“, meint Armin, „ aber cool dabei zu bleiben, wird dir wohl kaum gelingen.“ „Ich bin schon aufgeregt, vor allem, weil er ja eigentlich schon wieder hier sein wollte“, sag ich, „aber er hat noch einen Tag angehängt, warum auch immer. Meine Hoffnung wird immer geringer, je länger ich über alles nachdenke. Ich habe mich ein bisschen in ihn verknallt und wenn es dann nix wird, dann muss ich das wohl erst mal verdauen.“

„Kopf hoch, Junge, auch wenn das jetzt nicht klappt mit euch beiden, wir werden schon bald ein Schätzchen für dich finden“, versucht Denise mich schon mal im Voraus zu trösten. „Aber ihr wisst ja gar nicht, auf welchen Typ ich abfahre, wer überhaupt für mich in Frage kommt“, entgegne ich, „ das muss ich schon in erster Linie selber regeln und ich habe ja noch etwas Hoffnung, dass das mit Frank was werden könnte.“

Wir haben den Eingangsbereich erreicht und beide nehmen mich kurz in den Arm. Das tut gut und ich fühl mich gleich ein wenig besser. „Wir kommen am Freitag noch mal vorbei und wenn du am Sonntag heimkommst, besuchen wir dich zu Hause“, sagt Armin noch, bevor sie das Krankenhaus verlassen. Ich werde mal noch kurz in der Cafeteria eine neue Computerzeitschrift kaufen.

Nachdem das erledigt ist, gehe ich zurück ins Zimmer, wo Torsten weiterhin vor der Glotze hängt. „Dein TV-Konsum ist wirklich erschreckend, Torsten“, sag ich, „willst du es nicht mal mit lesen probieren, du hast doch schon viereckige Augen“. „Du hast gut reden, ich muss hier fest liegen und habe außer Fernsehen und Essen und mit dir reden keine Abwechslung, Besuch kommt selten und irgendwas muss ich ja wohl machen, also fernsehen, OK?“, gibt er mir leicht aufgebracht zur Antwort.

„Wir können ja mal fragen, ob die hier vielleicht ein paar Spiele haben, was mit Karten oder Würfeln, dann haben wir mal was anderes zum ablenken“, sag ich und schwing meine Beine aus dem Bett, um ins Stationszimmer zu gehen. „Aber nix kompliziertes“, meint Torsten, „ Karten wären schon gut“. „Bin gleich zurück“, sag ich und schon bin ich auf dem Flur.

Als ich in die Nähe des Stationszimmers komme, höre ich erregte Stimmen. Eine Stimme kommt mir gleich sehr bekannt vor. Das müsste Frank sein. Langsam und leise, dicht an der Wand vorbei, gehe ich näher an die Türe heran. „Ich bin sauer und traurig, wieso hat er das gemacht. Ich hatte vom ersten Moment an ein ungutes Gefühl, obwohl er sich ganz normal verhalten hat“, höre ich die Stimme, die nur Frank gehören kann.

Ich bleibe so stehen, dass mich aus dem Zimmer keiner sehen kann. „Erst am nächsten Morgen fiel mir auf, das im Badschrank ein Nassrasierzeug lag. Paul hat sich noch nie nass rasiert und plötzlich war mein Misstrauen da“, redet die Stimme weiter, „abends im Bett erschien mir alles dann plötzlich kindisch, wegen einem Rasierapparat gleich an Untreue zu denken.

„Na ja, das kann man doch klären, du hättest ihn ja nur fragen müssen nach dem Teil“, höre ich nun Horst aus dem Zimmer. „Wenn er dann sagt, der sei von ihm, was dann? Ich kann doch nicht wissen, ob er sich jetzt nass rasiert, er ist ja schon neun Monate in München, da kann das ja durchaus sein. Dann steh ich da als der eifersüchtige Pitter“, kommt Franks Antwort.

„Ich habe dann so getan, als ob ich am Sonntag wieder zurückfahren muss und habe dann ein billiges Zimmer genommen. Dann habe ich mich am Montag in der Früh in der Nähe der Wohnung auf die Lauer gelegt. Und siehe da, ist er doch mit einem Kerl aus der Türe gekommen. Dann gaben sie sich einen Kuss und Paul ist dann mit seinem Auto weg gefahren“, erzählt Frank weiter.

„Der Andere ging in Richtung Bushaltestelle, an der ich vorher ausgestiegen war. Ich bin dann auch dahin, hab mich etwas von ihm weg hingestellt. Er hat mich nicht beachtet und so konnte ich mir den Typ in aller Ruhe ansehen. Rein figürlich hatte er viel mit mir gemeinsam, seine Haare waren aber viel heller als meine und auch länger, ein wenig verstrubbelt“, höre ich.

„Unter anderen Umständen hätte ich ihn wohl auch nett gefunden, aber das kam mir nicht in den Sinn. Als der Bus kam, stieg ich hinter ihm ein und löste einen Fahrschein, um zu meiner Unterkunft zurück zu fahren. Eine Station vor der, an der ich aussteigen musste, stieg er aus und ich beeilte mich, ebenfalls dort den Bus zu verlassen. Als er jedoch zu einem U-Bahn-Bahnhof hinabstieg, gab ich die Verfolgung auf“, schildert er sein weiteres Vorgehen.

In diesem Moment kommt ein Arzt um die Ecke des Ganges neben dem Stationszimmer. Der mustert mich kurz und geht dann in das Zimmer hinein. Jetzt kann ich da nicht mehr so stehen bleiben und stell mich in den Türrahmen. Der Arzt sagt zu Horst: „ Herr Müller auf Zimmer 22 bekommt einen Katheder, bereite mal alles vor, ich komm dann gleich“.

Frank dreht sich um und sieht mich in der Türe stehen. Mein Gesicht drückt gerade große Freude aus, ihn wieder zu sehen. Als er mich erkennt, huscht ein Schatten über sein Gesicht, der aber dann einem Lächeln Platz macht. Er kommt auf mich zu und fasst mich links und rechts an der Schulter und zieht mich in eine kurze Umarmung.

Er riecht gut, aber der Moment ist nur kurz, bis er mich wieder loslässt. „Hallo, Ole, schön dich zu sehen“, sagt er so, das nur ich es verstehen kann. „Hallo, Frank“, flüster ich zurück, schön dass du wieder da bist“. Er schiebt mich auf den Flur, in Richtung meines Zimmers, um Horst mit dem Medikamentenwagen durch zu lassen.

„Was wolltest du denn auf dem Stationszimmer?“, fragt er mich. Ich schau ihm ins Gesicht, erkenne die deutlichen Ringe unter den Augen und meine auch, Schmerz in seinen Augen zu lesen. Ich kann meine Neugier kaum zügeln, will ihn mit Fragen bombardieren, will wissen was los ist, aber mein Verstand hindert mich daran. Er wird mir schon alles erzählen.

„Ich wollte fragen, ob es hier ein paar Spiele gibt, mit denen man sich die Langweile vertreiben kann. Torsten hat schon viereckige Augen vom vielen Fernsehen“, sage ich zu Frank.

„ Hier auf der Station gibt es keine Spiele, wegen der Infektionsgefahr, weißt du, wenn die rumgereicht werden von Zimmer zu Zimmer“, sagt er, „aber ich kann euch ein Kartenspiel vom mir holen, ich habe ja da unten im Wohnheim ein Zimmer.“

„Das wäre toll“, sag ich, „vielleicht hast du ja auch Lust, mit Torsten und mir was zu spielen“.

„Mir ist im Moment nicht nach Spielen, Ole“, sagt er und seufzt kurz, „ich werde dir morgen von meinem Besuch in München erzählen, nach her habe ich auch noch einen Termin, der sich nicht aufschieben lässt. Morgen auf der Frühschicht bin ich dann wieder hier und wir können dann meine Pause nutzen, um in der Cafeteria zu reden. Ich geh jetzt schnell das Spiel holen und dann muss ich weg“.

Frank geht und ich mache nachdenklich auf mein Zimmer zurück. Torsten sieht natürlich gleich, das irgendwas gewesen sein muss. „Hast du ein Gespenst gesehen oder was ist passiert, Alter“, will er wissen.

„Ich habe Frank getroffen, er ist aus München zurück und bringt uns ein Kartenspiel aus seinem Zimmer. Auf der Station gibt es aus hygienischen Gründen keine Spiele“, antworte ich.

„Erzähl, Alter, was hat er gesagt, hat er seinen Studienplatz?“, will Torsten wissen, „und zieht er da hin, oder will er hier bleiben, das wäre ja ganz gut für dich, oder?“ Ich verdrehe die Augen, der Junge ist extrem neugierig.

„Er hatte nicht viel Zeit, aber morgen früh ist er wieder da und wird dann wohl was erzählen“, sag ich, „und nenn mich nicht dauernd Alter, das geht mir nicht so gut ab“.

„Stell dich mal nicht so an, das ist doch nix schlimmes, wenn ich mal Alter sage, das macht doch heute jeder“, erwidert er und grinst mich frech an.

„Leider macht dass jeder heut, schon im Kindergarten. Denk dran, dass du nicht weglaufen kannst“, sag ich.

„Und du denk dran, du hast nur eine Hand und bist auch sonst nicht fit. Also keine leeren Drohungen“, sagt er und das Grinsen wird noch frecher. Dann klopft es an der Tür und Frank kommt mit dem Kartenspiel. Torsten begrüßt ihn und nach dem Frank ihn auch begrüßt hat, gibt er mir ein Rommespiel.

„Hier ist das Kartenspiel, ich wünsch euch viel Spaß. Bis morgen Früh“, sagt er und dann ist er auch schon wieder raus. Das sah jetzt fast aus wie, na ja, wenn er den Termin nicht hätte, hätte ich gesagt: „Flucht“. Aber warum sollte er vor mir fliehen? Ich will ihm doch bestimmt nichts Böses.

Auf der anderen Seite, wenn ihn Paul wirklich betrügt, dann muss er das erst mal verarbeiten. Dann wird er wohl erst mal nicht gleich in eine neue Beziehung flüchten, oder? Zu viele Fragen, auf die es heute mit Sicherheit keine Antwort mehr geben wird. Mal sehen, was er morgen erzählt, hoffentlich kann ich heute Nacht schlafen.

Ich packe die Karten aus und fange an zu mischen. Ich werde mich wohl zum Spielen an Torstens Bett setzen müssen, sonst wird das nix mit dem Spielen. „Kannst du Rommé, Torsten“, frag ich. „So leidlich, meine Oma hat mir das gelernt, aber du kannst noch mal kurz zusammenfassen, Alter, auf was ich achten muss“, antwortet er.

Ich erkläre noch mal kurz, wie wir das immer spielen und dann geht es los. Die ersten Spiele gewinn ich, aber dann ist Torsten wieder drin im Spiel und wir schenken uns nichts mehr gegenseitig. Es gelingt mir tatsächlich, mich für einige Zeit abzulenken. Mit wechselndem Erfolg spielen wir, bis das Abendessen kommt.

Wir beschließen, nach dem Essen um Geld zu spielen. Der Gewinner erhält vom Verlierer jeweils fünfzig Cent. Das ist zwar nicht viel, erhöht aber den Reiz des Spiels enorm.

So etwa um halb elf hören wir dann auf zu spielen und ich habe zwei Euro und fünfzig Cent verloren, weil mir halt Frank und alles, was damit zusammen hängt, im Kopf rum spuken.

Irgendwann bin ich dann, nach längerem Rumgewälze, doch eingeschlafen.

Jerome

Zum Abendessen krieg ich fast nichts runter vor Aufregung und muss mir schon ein paar Sticheleien anhören, hauptsächlich von Natascha, aber auch Papa hat die eine oder andere, aber nicht böse gemeinte Spitzfindigkeit los gelassen. Nun sitze ich nach einer ausgiebigen Dusche nackt auf meinem Bett und reibe mich mit einer Bodylotion ein.

Wäsche und Kleider liegen hinter mir auf dem Bett, die hat Martin schon vorher raus gelegt, nach dem ich ihm gesagt habe, was ich anziehen will. „Oh ha“, hat er gesagt, „da wird aber ganz schön abgedrückt, he, so sexy Klamotten im Hilton, du scheinst ja echt ernst zu machen“. Dabei hat er natürlich frech gegrinst, aber das war eh nur scherzhaft gemeint.

Hinter mir liegt neben meiner schwarzen Unterwäsche eine dunkle Lederhose, die ziemlich eng anliegt. Ein enges Shirt mit kurzen Armen und ein leichter, ebenfalls eng anliegender, schwarzer Kapuzenpulli, der mit reichlich Silberfäden durchwirkt ist, lassen mich bestimmt geil aus sehen heute Abend.

Dazu lege ich erstmals eine schwere Silberkette an, die mir Natascha zum letzten Geburtstag geschenkt hat. Ohrringe habe ich bis jetzt auch keine, nehme mir aber fest vor, das auch schnellstmöglich zu verändern.

Ringe trage ich keine, habe ich mir doch vor längerer Zeit vorgenommen, erst dann einen Ring zu tragen, wenn es einen Mann gibt, der das Duplikat dazu ebenfalls an seinem Finger trägt.

Das wird, wie es aussieht, noch ein bisschen dauern, wenn ich mir auch mit Sergej eine Beziehung wünsche, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass er nicht mein absoluter Mister right ist. Allerdings kenne ich ihn ja auch noch nicht so gut, dass ich das vollkommen ausschließen würde

Eigentlich ist es noch früh, aber ich ziehe mich doch jetzt soweit an, damit ich, wenn Martin für Max und Moritz kommt, soweit fertig bin. Mama muss mir auch noch ein bisschen Geld geben, weil ich nur höchstens Zehn Euro habe.

Sonst zahlt immer Martin oder der gibt mir Geld, das er dann von Mama wieder kriegt. Außer, wenn wir Shoppen gehen, dann nehmen wir unsere Kreditkarte mit, Natascha und ich.

Die könnte ich natürlich auch nehmen, aber dann kann Mama immer auf den Kontoauszügen sehen, was ich ausgegeben habe. Beim Shoppen ist mir das egal aber nicht bei einem Date, also muss ich Bares mit nehmen.

Martin kommt und gemeinsam ziehen wir die Prothesen an, die Martin wohl ganz offensichtlich vorher noch ein wenig auf poliert hat. Nachdem ich die Hosenbeine der Lederhose über die Prothese nach unten geschoben habe, pfeift Martin anerkennend durch die Zähne. „Mein lieber Mann, wenn ich 25 Jahre Jünger wäre, würde ich jetzt voll auf dich abfahren, so gut siehst du aus“, sagt er grinsend.

Leicht rot werdend, erhebe ich mich vom Bett und wende ich mich dem großen Wandspiegel zu. Ich muss zu meiner Freude sagen, dass Martin nicht untertrieben hat. Mein Outfit steht mir gut und das gibt mir ein Stück Sicherheit und hilft mir über das Gefühl hinweg, ohne Kleider und Prothesen doch eher ein Krüppel zu sein.

Ich will mir jetzt mit solchen Gedanken nicht die Stimmung vermiesen und gehe mit Martin zusammen nach unten. Mama und Papa sitzen im Wohnzimmer bei einem Glas Wein, als wir reinkommen.

„Oh, Jerome, so schick hast du ja schon lange nicht mehr ausgesehen, das sieht ja echt toll aus“, sagt Mama, steht auf und kommt mir entgegen, um mich kurz zu umarmen, „ und gut riechen tut mein Großer“. Sie schnüffelt regelrecht an meinem Hals entlang.

So langsam kommt mir der Verdacht, dass ich vielleicht doch besser etwas weniger Auffälliges angezogen hätte, um mich nicht so stark von Sergej zu unterscheiden. Auf der anderen Seite muss er ja auch nicht durch sein gutes Aussehen von körperlichen Gebrechen ablenken, wie das bei mir der Fall ist und für mich ist mein Outfit eher sexy anstatt auffällig.

„Mama, ich brauch noch ein bisschen Bares, du weißt schon, wir gehen ins Hilton, weil Sergej da arbeitet und weil ich denke, das die Getränke da nicht gerade so billig sind, wie bei Mac Donald“, sag ich, „ich habe nur Zehn Euro und das ist definitiv zu wenig“. Mit Martin waren Natascha und ich des Öfteren mal in dem Fastfood -Tempel, deshalb waren mir die Preise dort halt bekannt.

Bevor Mama an den Sekretär gehen kann, in dem sich ihr Geld befindet, zückt Papa seine Börse und gibt mir drei Fünfzigeuro Scheine. „Das müsste langen, für euren Abend in der Bar, wenn nicht, dann soll Martin, wenn er euch abholt, den Rest begleichen.“

„Warum nimmst du nicht deine Kreditkarte mit, Jerome“, fragt Mama jetzt. „Ich möchte nicht, Mama, dass du jede Ausgabe, die ich bei meinem Date mache, auf deinem Kontoauszug nachlesen kannst“, antworte ich mit einem Grinsen, das einzig den Zweck hat, meine Verlegenheit zu überspielen.

„Man merkt, dass du so langsam erwachsen und ein Mann bist“, sagt Mama, „du versuchst, deine Spuren zu verwischen, damit deine Mutter sich nicht so viel Gedanken machen muss. Das ist vielleicht gut gemeint, aber denk bitte immer daran, dass du dir und anderen gegenüber immer verantwortungsbewusst handelst. Das beinhaltet auch alle Dinge, die was mit Sexualität zu tun haben. Gefährde dich und auch andere nicht. Wir möchten nicht, das du im Zusammenhang mit deiner sexuellen Orientierung leichtsinnig bist und deine Gesundheit gefährdest“

Jetzt bin ich doch wieder mal richtig schön rot geworden bei dieser Predigt. Aber im Grunde genommen hat sie ja recht und Martin hat mir auch schon die notwendigen Utensilien zum Schutz besorgt und ausgehändigt.

„Mama, dein Sohn ist Achtzehn und auch wenn ich in einem goldenen Käfig aufwachsen musste, so hab ich doch nicht hinter dem Mond gelebt. Und weiß schon, wie das so abläuft und wie man sich schützt“, sage ich, immer noch etwas rot im Gesicht. „Wir müssen los“, erlöst mich Martin aus der für mich doch ein bisschen peinlichen Situation.

„Viel Spaß“, wünscht mir Mama und auch Papa sagt was ähnliches, was ich aber nicht mehr so richtig mit bekomme, weil ich den Raum schon in Richtung Haustür verlassen habe. Das Laufen fällt mir relativ leicht und ich erreiche ohne große Schwierigkeiten das Auto und setze mich vorn auf den Beifahrersitz.

Bisher habe ich fast immer hinten gesessen, aber heute will ich vorne sitzen, mit Martin, und Kai, der auch mitkommt, der sitzt heute hinten. Martin und Kai wollen in der Zeit, in der ich mit Sergej in der Bar bin, ein bisschen um die Häuser ziehen, um dann später Sergej und danach uns auch wieder nach Hause zu fahren.

Ich bin aufgeregt, mein erstes Date, man, bleib locker, sag ich mir. Was kann schon groß passieren, wir müssen uns ja erst mal etwas besser kennenlernen. Mal sehen wie es läuft.

Martin fährt Richtung Bremen, was mich dann auch veranlasst zu fragen, wo er denn hin will. „Das Hilton ist in Bremen und wenn du richtig zugehört hast, dann arbeitet der Sergej ja wohl dort. Um ihn zu treffen, müssen wir also die 60 Kilometer nach Bremen fahren“, sagt Martin, „aber das ist Autobahn und da sind wir ruck zuck mit unserem Auto“.

„ Ich bin mir absolut sicher, dass er das so gesagt hat“, sage ich, überlegend, ob ich alles richtig verstanden habe. Das würde allerdings bedeuten, dass Sergej entweder ein Auto hat oder aber die Bahnverbindung so gut ist, dass er zweimal am Tag pendeln kann zwischen Bremen und Bremerhaven.

Mit jedem Kilometer, den wir näher ans Hilton kommen, werde ich ruhiger. Martin hat mich ab und zu aus den Augenwinkeln beobachtet. Das machte er vor allem, wenn wir an einer Ampel halten müssen. Er hat ein leichtes Grinsen im Gesicht, aber nicht abwertend, eher interessiert.

„Wir, Kai und ich haben uns auch zum ersten Mal im Hilton getroffen“, sagt Martin und Kai brummt zustimmend. „Ich habe damals deine Eltern gefahren zu einem Empfang und Kai war damals noch bei einem anderen Chef als Fahrer. Wir mussten warten, bis die Party zu Ende war und bei dieser Gelegenheit haben wir uns zum ersten Mal gesehen und sind miteinander ins Gespräch gekommen.“

„Heute sind wir schon 17 Jahre fest zusammen, also ist das schon fast 18 Jahre her, dass wir uns im Hilton das erste Mal gesehen haben“, sagt Kai von hinten und ein bisschen stolz und auch glücklich klingt er, wie er das so sagt. „Später habe ich dann Dank Martin bei Euch angefangen und nächstes Jahr im Januar bin ich dann 15 Jahre bei Euch beschäftigt“, fügt er hinzu, „du warst damals gerade Vier geworden und noch richtig klein.“

Wir sind da. Es ist 2 Minuten vor Einundzwanzig Uhr und ich steige aus und gehe auf den Eingang zu, den ein livrierter Portier einladend öffnet. „Guten Abend, der Herr, was können wir für sie tun?“, fragt mich der Mann. „Ich möchte bitte zu einer Verabredung in die Atrium Bar“, sage ich ebenso höflich.

Der Mann winkt einen jungen Bediensteten heran, ich glaube, die nennt man Pagen. Der soll mich jetzt zur Atrium Bar bringen. Ich schaffe es locker, ihm zu folgen und er bringt mich in die Bar. Schwarze Lederausstattung und Orangetöne prägen den Raum und eine große Bar mit schwarzen Lederhockern bildet den Mittelpunkt. Ich schau mich um.

Sergej kommt aus dem Servicebereich und begrüßt mich mit Handschlag. „Setz dich bitte irgendwo hin, wo du möchtest, ich zieh mich schnell um, dann bin ich da“, sagt er und verschwindet nach hinten. Ich suche mir eine Sitzgruppe aus, die nicht gerade so in der Mitte liegt und setze mich dorthin.

Eine Bedienung kommt und fragt nach meinen Wünschen und ich bestelle mir ein Pils. Da habe ich jetzt gerade Lust drauf und da ich ja eh noch nicht wieder Auto fahre, brauch ich ja auch nicht abstinent zu sein. Sergej soll selbst bestellen, ich weiß ja nicht, was er trinken möchte.

Es dauert gerade mal 10 Minuten, da ist er zurück und sein Outfit steht meinem doch nicht so viel nach, wie ich es befürchtet hatte. Er trägt eine dunkelbraune Bundfaltenhose, ein orangefarbenes Hemd, dessen beide oberen Knöpfe offen sind, und eine dünne, braune Lederjacke mit aufgesetzten Taschen. Er sieht richtig gut aus und das kann er wohl auch gerade in meinem Gesicht lesen.

„Hey, Jerome, schön das du gekommen bist. Wo hast du denn deinen Begleiter gelassen, der sitzt doch nicht etwa im Auto“, will Sergej wissen. „Martin ist mit Kai, unserem zweiten Fahrer unterwegs, den haben wir mit genommen, damit Martin nicht irgendwo allein rumhängen Muss“, sag ich und dann kann ich nicht umhin, zu sagen: „Du siehst verdammt gut aus in den Klamotten, das steht dir wirklich super, Sergej.“

Er wird tatsächlich ein bisschen rot um die Nase und ein feines Zittern ist in seiner Stimme, als er sagt: „Du siehst aber auch echt gut aus in deinem Sachen, vor allem die Lederhose ist echt scharf. So, jetzt sag mir bitte, was du heute Abend noch vor hast.“

„Ich wollte eigentlich mit dir hier mal etwas trinken und ein bisschen mit dir reden, dich besser kennen lernen“, sag ich, „und wenn du mir sagst, was du gerne trinkst, dann könnten wir das bestellen und dann solltest du dich auch setzen, das ist wesentlich bequemer. Außerdem sieht es so aus, das die Bedienung erst daher kommt, wenn du dich hingesetzt hast:“

„Ja, das ist hier so, das weiß ich“, sagt er und setzt sich in einen Sessel rechts von mir, so dass wir uns gut unterhalten können. Sofort erscheint die Bedienung und Sergej bestellt auch ein Pils. „Eins kann ich trinken, maximal zwei, ich muss ja morgen früh wieder in die Klinik, da muss ich fit sein“, sagt er zu mir.

„Sag mal Sergej, ist das nicht furchtbar umständlich, in Bremen zu arbeiten und in Bremerhaven zu wohnen und zu jobben?“, frag ich. „Das hat sich so ergeben und außerdem habe ich eine gute Zugverbindung hin und zurück. Der Zug braucht etwa 35 Minuten und es fahren mindestens zwei in jeder Stunde“, erzählt er, „weil meine WG in unmittelbarer Nähe vom Bahnhof ist und ich auch immer gut aus dem Bett komme, ist das kein Problem.“

„Aber das kostet doch auch bestimmt viel Fahrgeld, oder nicht“, will ich wissen. „Mein Vater ist bei der Bahn beschäftigt“, antwortet er, „ und da gibt es schon Vergünstigungen. Ich zahle hier nicht mehr, als ich für die Fahrkarte von meiner WG zur Klinik bezahle. Die Wohnung ist aber dort wesentlich günstiger, als wenn ich hier in Bremen eine genommen hätte. Ich habe damals, als ich anfing hier, schon einige Wochen vorher alles Mal aus gekundschaftet und es klappt ja auch einwandfrei.“

Er trinkt einen Schluck aus seinem Glas, das die Bedienung zwischenzeitlich gebracht hat. „Hast du Hunger, sollen wir eine Kleinigkeit essen hier?“, frage ich. „Ich möchte nichts essen, wir bekommen hier immer was abends, und deshalb bin ich satt, aber wenn du gerne was hättest, dann tu dir keinen Zwang an. Die machen noch bis Mitternacht so kleinere Gerichte“, meint er.

Da ich auch keinen Hunger habe, beginne ich ihn ein wenig auszufragen, was er seinerseits natürlich auch bei mir macht. Bald sind wir über die gegenseitigen Familienverhältnisse im Bilde .Es entwickelt sich eine angeregte Unterhaltung und jeder erfährt einiges über den Anderen.

Leider vergeht die Zeit dabei auch wie im Flug und auf Sergejs Wunsch hin ruf ich Martin über das Handy um viertel vor Elf an und bitte ihn, uns abzuholen. Keine Zehn Minuten später sind Martin und Kai da, um uns nach Hause zu fahren. Nachdem ich bezahlt habe, Sergej wollte das zwar nicht, gehen wir zum Auto. Diesmal sitze ich mit Sergej natürlich hinten und Kai sitzt jetzt neben Martin.

Unterwegs bin ich ein bisschen näher an Sergej heran gerutscht und wir haben uns weiter unterhalten. Ich berühre ihn, während wir reden ab und zu, ganz zufällig, versteht sich. Es scheint ihn aber nicht zu stören und irgendwann sitze ich dann doch sehr dicht bei ihm.

Leider dauert die Fahrt ja nicht lange und Martin fragt Sergej nach seiner Adresse. Fünf Minuten später bleiben wir dann vor dem Haus stehen, in dem Sergej wohnt. „Bist du Freitag morgens in der Klinik?“, frag ich ihn, bevor er aus steigt. „Ja, von acht Uhr bis halb Eins habe ich Dienst da und dann habe ich aber frei, auch in Bremen bis Montagmorgen“, sagt er.

„Wir, Martin und ich kommen um Neun in die Klinik zur Kontrolle und dann komm ich nachher runter zu dir. Dann können wir uns ja absprechen, wie wir das Wochenende gestalten wollen. Ich weiß ja nicht, was du so alles noch erledigen muss, aber wenn ich dir was helfen kann oder du wo hin musst, dann können wir uns ja auch von Martin fahren lassen“, sage ich zu ihm und merke, dass ich die ganze Zeit seine Hand festgehalten habe.

„Gute Nacht, Jerome, es war ein netter Abend. Bis Freitag dann, gute Nacht und Danke Martin und Kai“, sagt er, löst seine Hand und steigt aus. „Gute Nacht, Sergej, bis Freitag und schlaf gut“ ruf ich ihm nach und auch Martin und Kai wünschen ihm „Gute Nacht“, dann fällt die Tür wieder zu und Martin gibt Gas. Außer dem Rauschen der großen Maschine ist es still im Auto, keiner sagt was.

Nach 10 Minuten sind wir dann auch zu Hause und ich sag den beiden gute Nacht. Allein und ohne Hilfe lauf ich bis zum Aufzug, als ich sehe, das noch Licht im Wohnzimmer brennt. Also geh ich mal nach schauen, wer da noch auf ist um viertel vor Zwölf. Mama und auch Papa sitzen jeder für sich in einem Sessel, als ich den Raum betrete.

Leise Musik kommt aus der Anlage, sie hören Operettenmusik. Ich glaub mich zu erinnern, dass das „Zar und Zimmermann“ ist, aber sicher bin ich da nicht. Ich weiß nur, dass sie das beide recht gern hören und das hat auch, wie Mama mal erzählt hat, bei Ihrem ersten Kennenlernen eine große Rolle gespielt.

„Hallo, mein Großer“, sagt Mama und steht auf. Auch Papa murmelt, Zeitung lesend, eine Gruß und schaut kurz rüber zu mir. Mama kommt mir entgegen und nimmt meine Hände. „Wie war dein Date, mein Junge?“, fragt sie und zieht mich in Richtung Couch und drückt mich neben sie auf die Sitzfläche.

„Mama“, sag ich und entziehe ihr vorsichtig meine Hände wieder, „es war schön, interessant und leider auch viel zu kurz, aber wir sehen uns ja am Wochenende. Außerdem weißt du ja, dass alles für mich Neuland ist. Darüber hinaus ist es ja auch absolut unklar, ob wir überhaupt über eine ganz normale Freundschaft hinaus kommen. Ich habe keine Ahnung, ob Sergej genau so tickt wie ich, und ich werde das Gefühl nicht los, das er das selber auch noch nicht weiß“.

„Na ja, Junge, da können dein Vater und ich dir leider auch nicht helfen, ich denke aber, das ist auch gar nicht notwendig, du schaffst das schon allein. Wir sind ja froh, dass du mal jemanden , der nicht zu unserem Umfeld gehört, an dich heran lässt und was Papa bis jetzt über den jungen Mann weiß, ist positiv genug, um ihn unbedenklich hier her ein zu laden. Es steht also eurem Wochenendplan nichts im Wege“, sagt Mama zu mir.

„Schön, das freut mich“, sag ich, „aber jetzt wird es Zeit für ins Bett. Um Neun steht mein Deutschlehrer auf der Matte, da muss ich fit sein. Gute Nacht zusammen“. Ich steh auf, aus der tiefen Couch ist das nicht ganz so leicht und ich muss mich mit den Armen hoch drücken, aber ich schaff es fast so, als ob ich meine Beine noch hätte.

Dann geh ich zum Aufzug und zehn Minuten später schlägt mein Kopf auf dem Kissen auf. Mit den Gedanken bei Sergej und dem kommenden Wochenende schlafe ich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen ein. Die Träume dieser Nacht drehen sich um Sergej und um mich und auch ein großes weißes Schiff spielt eine Rolle.

Mittwoch

Ole

„Guten Morgen“, reißt mich eine Stimme aus dem Schlaf und mein Unterbewusstsein schlägt Alarm. Das ist Frank, meldet es, Frank. Das reicht aus, mich wach werden zu lassen. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht öffne ich, noch leicht schlaftrunken, meine Augen und richte mich auf. Da ist Frank und er steht zwischen unseren Betten und schaut mich an.

„Du bist süß, wenn du so wach wirst und so verstrubbelt aus siehst“, sagt er zu mir und dann fährt seine Hand durch mein Haar. Mir wird gerade mal wieder bewusst, dass er mir richtig gut gefällt.

„Wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier, Frank“, kommt es durch die offene Tür und dann ist Horst auch schon im Zimmer. Zu meiner Erleichterung sehe ich ihn grinsen, das kann also nicht so ernst gemeint sein.

Rot bin ich trotzdem mal wieder geworden und Torsten, der alles beobachtet hat, grinst mal wieder wie ein Honigkuchenpferd. Ich muss raus aus dem Bett und bei Torsten machen sie das Bett, obwohl er drin liegt. Als sie bei mir anfangen, verkrümel ich mich ins Bad. Franks Anwesenheit hat unerwünschte Auswirkungen auf Klein-Ole und bevor das richtig sichtbar wird, bin ich schon im Bad verschwunden.

Mit Waschen und Zähneputzen lenke ich mich ab und als ich fertig bin mit der gründlichen Morgentoilette, ist auch im Süden um Klein-Ole herum wieder alles im grünen Bereich. Die Bettenbauer sind verschwunden und so enter ich wieder in mein Bett, um bis zum Frühstück noch ein bisschen zu dösen.

Jerome

Um Acht weckt mich Musik und nach einer Räkelphase, in der ich mich strecke um richtig wach zu werden, stehe ich auf, das heißt ich setze mich auf die Bettkante. Soll ich Max und Moritz anziehen, oder soll ich im Rollstuhl frühstücken? Wenn ich den Rolli nehme, brauch ich mich nicht fertig an zu ziehen, dann würde der Bademantel reichen.

Martin kommt und nimmt mir die Entscheidung ab. Er schiebt mir den Rolli so hin, dass ich rein steigen kann und schiebt das Ding zum Bad. „Geh Duschen, ich bring dir dann Kleider. Irgendwelche Sonderwünsche oder Standard“, fragt er und zum ersten Mal wird mir bewusst, wie viel Martin in mein Leben integriert ist. Bor, das war mir noch nie so klar wie jetzt in diesem Moment.

Das ist ein Moment, in dem ich mich zum ersten Mal frage, ob ich eigentlich auch ohne Martin klar kommen würde oder ob ich total unselbstständig bin. Mir ist auf einmal klar, dass es wirklich nur wenige Tage in meinem Leben ohne Martin gegeben hat, ohne seinen Überblick, sein Organisationstalent, seine bescheidene Unauffälligkeit. Hat der eigentlich in meiner Gegenwart mal an sich selber gedacht?

Nachdenklich drehe ich die Dusche auf. Das Wasser ist schön heiß und ich drehe mich mit dem Sitz unter die kräftigen Strahlen. Es prasselt auf mich herunter und in Gedanken über Martins Leben lass ich die Dusche meine Müdigkeit von mir runter spülen. Ich muss mal unbedingt mit Martin sprechen, über uns und wie das in Zukunft laufen soll.

Ich möchte ihn nicht mehr so total an mich binden. Er soll mehr Zeit für sich und Kai haben und auch mal etwas ohne mich unternehmen können. Er der so viel für mich getan hat und noch immer tut, er soll auch mal an sich denken und nicht seinen gesamten Tages und Lebensablauf am Leben des Jerome Remmers fest machen.

Ich habe jetzt ein richtig schlechtes Gewissen Martin gegenüber, auf der anderen Seite will ich auch wissen, ob ich in Zukunft allein klar komme mit meinem Leben. Ich will nach dem Abi studieren und das werde ich wohl in Bremen tun. Vielleicht erlaubt Papa ja, dass ich mir in Bremen eine Studentenbude miete.

Das würde dann auch bedeuten, dass ich ohne Martin klar kommen will und auch muss. Andererseits will ich auch nicht, dass Martin sich jetzt auf einmal überflüssig vor kommt.

Das wird noch ein Spagat werden und ich muss Martin und Papa da mit ins Boot nehmen, um eine akzeptable Lösung zu finden. Gleich nach her, beim Frühstück werde ich mal zuerst mit Papa reden und ausloten, was machbar ist, ob meine Pläne Unterstützung finden. Wenn nicht, kann ich ja immer noch andere Möglichkeiten suchen.

Jetzt muss ich aber mal das Duschgel benutzen, sonst komm ich zu spät zum Frühstück. Ich drehe das Wasser ab und seife mich mit dem Gel gut ein, spül alles runter und trockne mich ab, so gut es geht. Ein Handtuch in den Rolli und dann den nassen Hintern hinein und ab Richtung Bett. Dort auf dem Bett, im Liegen wird der Rest gut trocken gemacht.

Die Kleider, Unterwäsche, Strümpfe und ein beiges Sweatshirt sowie eine hellgrau Jeans hat Martin bereits aufs Bett gelegt. Ich ziehe mich, teilweise im Liegen an und schieb die Hosenbeine der Jeans bis zu den Knien nach oben. Martin kommt er gerade mit dem frisch polierten Max und Moritz in mein Zimmer.

Ich setze mich auf und lass den Rest meiner Beine über die Bettkante raushängen und dann ziehen wir die beiden Prothesen an. Nach dem dann die Hosenbeine runter gekrempelt sind, steh ich auf. Anfangs vorsichtig, dann aber fast normal, gehe ich zum Aufzug

Und fahre nach unten. Martin bleibt noch oben und mir wird bewusst, dass er jetzt noch einige Dinge in meinen Räumen in Ordnung bringt und die Duschtücher und meine Unterwäsche von gestern in die Wäsche bringt. Wieder wird mir bewusst, dass er in meinem Leben all gegenwärtig ist, sichtbar oder unsichtbar.

Beim Frühstück frage ich dann Papa, ob er im Laufe des Tages mal etwas Zeit freischaufeln kann, für ein Gespräch unter 6 Augen mit Martin und mir. Da ich ihm sage, dass es für mich sehr wichtig ist, holt er seinen Organizer heraus und schaut, wie seine Zeit heute verplant ist.

„Nun, über Tag ist das kaum möglich, aber ich könnte gegen Siebzehn Uhr hier sein, dann können wir gerne reden und dann haben wir auch Zeit genug“, sagt er, „ist das OK?“ „Ja, Papa, das ist OK. Ich sag dann Martin Bescheid“, sag ich und mach mir dann mal einen leckeren Vollkorntoast mit Nutella. Heißer Kakao dazu, das ist doch ein guter Start in den Tag.

Ole

Es ist kurz vor Neun und um Neun hat Frank Pause. Ich steh auf und mach mich auf den Weg in die Cafeteria, um mich dort mit Frank zu treffen. Da unten ist ziemlich Betrieb, aber ich kann in der Ecke am Fenster noch einen Zweiertisch ergattern. Dort sitz ich nun und warte auf Frank. Ein junger Mann, der sieht echt schnuckelig aus, kommt und fragt nach meinen Wünschen.

Ich bestelle ein Hörnchen und einen heißen Kakao. Als er geht, um die Sachen zu holen, schau ich eher unbewusst auf seinen Hintern und denke, dass der auch richtig nett aus sieht.

„Na na, du kriegst gleich Stielaugen“, sagt Frank, der auf Grund meiner anderweitigen Beobachtungen von mir unbemerkt heran gekommen ist. „Man stiert anderen Männern nicht so offensichtlich auf den Arsch“, fügt er hinzu und pickt mich leicht in die Seite. „Wenn dich jetzt einer beobachtet hat, dann hast du dich bei dem geoutet, so offensichtlich war dein Blick“, zieht er mich weiter auf und setzt sich dann mir gegenüber.

„Der hübsche Junge heißt übrigens Sergej, aber ich bin mir nicht sicher, ob der überhaupt in unserer Liga spielt. Der ist aber sehr nett und ich habe mit ihm schon des Öfteren ein bisschen geredet“, erklärt mir Frank, „der macht hier abwechselnd eine Woche Frühschicht und eine Woche Mittagschicht, um sich was nebenbei zu verdienen.“

Der junge Mann kommt wieder und bringt meine Sachen, für Frank hat er einen Latte macciato dabei. „Ich habe deinen Latte gleich mitgebracht, Frank, das ist doch Ok, oder?“, sagt er und stellt alles auf den Tisch. „Hey Sergej, klar ist das OK. Das hier ist Ole, Ole das ist Sergej“, stellt er uns vor und Sergej hält mir seine Hand zur Begrüßung hin.

„Hallo“, sagt er, „freut mich, dich kennen zu lernen. Warum bist du hier?“ „Hey, freut mich auch“, sag ich, „ich hatte auf dem Weg zur Schule einen Fahrradunfall und habe mir einige Verletzungen zugezogen. Am Schlimmsten ist die Hand, sie ist kompliziert gebrochen und zu allem Übel bin ich dann drei Tage nach der Op im Gang mit einem Rollstuhl zusammen gerasselt und auf die Hand gefallen. Das musste dann noch mal operiert werden.“

„So ein Pech, na ja, ich muss leider weiter arbeiten, aber man sieht sich ja bestimmt noch mal. Ah, Frank, was ich noch fragen wollte, wie geht es denn deinem Paul? Ist alles Ok bei euch“, will Sergej noch wissen.

Franks Gesicht verdüstert sich augenblicklich und mit Ärger in der Stimme sagt er: „Da gibt’s schon Neuigkeiten, aber das erzähl ich dir bei Gelegenheit mal ausführlich“. Sergej geht, nach dem wir bezahlt haben, zurück an seine Arbeit. Frank sieht nicht gut aus, ich glaube, er ist kurz davor, zu heulen. Ich lege meine Hand vorsichtig auf seinen rechten Unterarm und frage ihn: „Willst du mit mir darüber reden oder kannst du nicht.“

„Ich habe Paul beobachtet, am Montagmorgen, er meinte, ich wäre am Sonntag schon zurück gefahren. Aber ich glaube, ich muss von vorn anfangen, damit du alles verstehst“, sagt er, gerade so laut, das nur ich es hören kann.

„Es gab in der letzten Zeit einige Unstimmigkeiten, was unsere Beziehung angeht. Mir sind Veränderungen aufgefallen, nie was Gravierendes aber Veränderungen halt. Beim Anrufen hatten wir immer viel Zeit, in den letzten Wochen allerdings hatte ich öfter das Gefühl, das er die Gespräche mit irgendwelchen Argumenten wie zum Beispiel „viel Arbeit“, „noch lernen“, „Arbeitskreis“, oder Asta-Versammlung bewusst beenden wollte.

Über das Festnetz war er fast nicht mehr erreichbar, und zweimal war auch ein anderer Mann am Telefon, was Paul auch wieder mit dem Arbeitskreis erklärt hat. Einen Wochenendbesuch hier, der fest vereinbart war, hat er kurzfristig abgesagt mit der Begründung, dass sie für eine Klausur dringend dieses Wochenende lernen müssten.“

Er trinkt einen Schluck und ich bemerke, dass er ein wenig zittert. Meine Hand liegt immer noch auf seinem Arm und ich streichele ein bisschen hin und her. „Als ich am Samstagmorgen dann in seinem Bad war, habe ich einen Nassrasierer und Schaum gesehen. Er hat sich noch nie nass rasiert, immer elektrisch. Das war aber das einzige, was mir in der Wohnung auf gefallen ist und ehrlich gesagt, wollte ich auch nichts finden, weil ich nicht will oder nicht wahr haben will, dass da jemand anderes ist, dem Paul mehr als Freundschaft entgegen bringt.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag, wie waren abends in einer Disco und haben ausgelassen getanzt und auch was getrunken, habe ich im Halbschlaf mitbekommen, das er noch ziemlich lange telefoniert hat. Er dachte wohl, das ich tief schlafe, aber ich habs halt gemerkt. Genaues verstanden hab ich nicht, aber die letzten Worte waren „ich dich auch“ und das habe ich genau verstanden.

Mein Misstrauen war geweckt, ich war aber in dem Moment zu feige, ihn darauf hin anzusprechen und stichhaltige Beweise hatte ich ja auch nicht. Alle Dinge wären irgendwie als harmlos zu erklären gewesen, also wollte ich Gewissheit. Ich bin dann allein auf den Bahnsteig, habe gesagt, dass er nicht mitkommen muss, wegen der sehr schlechten Parkmöglichkeiten.

Früher war im das immer egal und er ist mit zum Zug gegangen, diesmal nicht. Ich bin dann auf dem Bahnhof geblieben, bis ich sicher war, das er weg ist. Das Gepäck habe ich in ein Schließfach gemacht. Dann habe ich ein Zimmer in einem billigeren Hotel am Bahnhof gesucht und für eine Nacht gebucht.

Dorthin bin ich dann mit meinen Sachen, habe dort zu Abend gegessen und wollte früh schlafen gehen, um am nächsten Morgen auch zeitig dort zu sein und zu gucken, wer sich da denn nass rasiert. Natürlich konnte ich vor Aufregung fast überhaupt nicht schlafen und bin dann, nach einem mickrigen Frühstück um sieben Uhr in die Nähe seiner Wohnung gegangen.

Dort habe ich mich etwa zwanzig Meter vom Eingang weg zwischen ein paar hohen Büschen des gegenüberliegenden Grundstücks versteckt und habe gewartet. Ich wusste, dass er so gegen halb acht die Wohnung verlässt. Um zur Uni zu fahren. Dann kam er aus der Haustür, und wie ich vermutet habe, nicht allein.

Ein junger Mann, der mir vom Äußeren sehr ähnlich war, allerdings mit helleren Haaren, begleitete ihn. Am Auto angekommen, gaben sie sich einen Kuss. Mir war, als hätte mir einer in den Magen gehauen. Die Gewissheit traf mich tief, Tränen kamen und dann Wut.

Das Auto fuhr los, der junge Mann wandte sich nach rechts in Richtung der etwa hundert Meter entfernten Bushaltestelle. Ich klaubte meine Sachen zusammen und ging dann ebenfalls zu dieser Haltestelle, weil ich ja auch wieder zum Bahnhof musste. Als ich dort ankam, standen der junge Mann und noch einige andere Passanten dort und alle warteten auf dem Bus.

Ein kurzer Blick auf den Fahrplan und auf die Uhr zeigte mir, dass noch fünf Minuten Zeit waren, bis der Bus kam. Ich beobachtete den Jungen, ich schätzte ihn auf Zwanzig, so wie ich, so unauffällig wie möglich. Er hatte meine Größe und Figur, war gut und chic angezogen und hätte unter anderen Umständen wohl auch mein Interesse geweckt.

Der Bus kam und ich bemühte mich um einen Platz in seiner Nähe, um ihn weiter zu beobachten. An der nächsten Haltestelle wurde ein Sitzplatz ihm gegenüber frei und so nahm ich dort Platz. Jetzt konnte ich ihn noch besser betrachten.

Offensichtlich fiel ihm das dann doch irgendwann auf und kurz bevor wir zum Bahnhof kamen, fragte er mich: „ Ich habe das Gefühl, das du mich die ganze Zeit beobachtest, stimmt irgendwas nicht mit mir oder kennen wir uns von irgendwo her?“

Der Bus bremste, ich stand auf, nahm meinen Rucksack, und bevor ich zum Ausstieg gegangen bin, sagte ich zu ihm: „ Ich wollte halt genau wissen, wie das Gesicht aussieht, das morgens immer mit dem Nassrasierer aus Pauls Badezimmerschrank rasiert wird. Vielleicht rasierst du dich aber ganz woanders damit, denn Paul hat eine auch Vorliebe für andere glatt rasierte Teile und Regionen, aber ich denke, das weißt du mittlerweile selber.“

Spätestens da ist bei ihm der Groschen, aber auch seine Kinnlade runter gefallen. Ich bin dann ausgestiegen und bin zum Bahnhof. Um Zehn Uhr fünfundzwanzig bin ich dann los und war abends spät nochmal hier in Bremerhaven.

Da ich mir telefonisch noch den Montag und Dienstag freigenommen hatte, bin ich ja gestern Nachmittag kurz hier gewesen, um was zu regeln und habe euch ja dann auch noch das Kartenspiel gegeben. Ich bin immer noch total geschockt und habe bislang alle SMS und Telefonanrufe von Paul ignoriert. Heute Abend werde ich ihn anrufen und dann wird das geregelt.“

Wir trinken unsere Tassen leer und gehen wieder auf die Station. Im Aufzug, wir sind allein, ziehe ich ihn kurz an mich uns sag in sein Ohr. „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst“. Er hat feucht Augen, aber er drückt meine Hände und nuschelt ein „Danke“ in meine Haare.

Auf der Station trennen sich unsere Wege und ich gehe still und nachdenklich in unser Zimmer. Torsten guckt, wie fast immer, Fernsehen. Ich horche in mich hinein, Frank tut mir auf der einen Seite leid, weil er so hintergangen wurde, das ist schon schlimm. Auf der anderen Seite werden ja erst durch dieses Betrügen meine Chancen reell, Frank, den ich sehr mag, endlich auch richtig näher zu kommen.

Mutsch würde jetzt sagen: „Wat dem einen sein Uhl, ist dem andern sein Nachtigall“, frei übersetzt: „Des einen Freud ist des anderen Leid“. So war das jetzt wohl auch mit Frank und mir.

„Was geht ab, Alter, erzähl mal, was Frank gesagt hat“, kommt jetzt der Spruch von Torsten. Das geht jetzt überhaupt nicht und wortlos ergreife ich die Flucht, weg, raus an die frische Luft. Nur kein Gelaber jetzt oder irgendwelche Erklärungen. „Hee, was denn, hau doch nicht ab Mann. Ole, komm her, man Alter, du kannst doch nicht einfach….“. Den Rest hör ich nicht mehr.

Ich geh jetzt mal raus und dann ruf ich Mutsch mal an. Die soll mal Schwarzwälder machen, den brauch ich jetzt. Mensch, warum muss immer alles so kompliziert sein auf der Welt. Warum ist das so kompliziert, eine Beziehung zu haben und sie auch zu behalten. Warum müssen so viele Menschen ihre Partner immer hintergehen, warum sind viele so trieb gesteuert.

Gerade von Schwulen wird ja oft behauptet, das sie nicht treu sein können. Das ist doch voll die Scheiße und stimmt doch gar nicht. Ich will auch nicht betrogen werden, also werde ich auch nicht betrügen. Wenn man nicht mehr miteinander klar kommt, dann muss man sich aus sprechen und wenn’s nicht geht, auch trennen, aber bitte, bevor man mit anderen in die Kiste springt.

Unten angekommen, setze ich mich auf eine Bank und rufe Mutsch an. Ich erzähle ihr ein wenig von Frank und von meiner Stimmung, bevor ich dann auf den Schwarzwälder zu sprechen komme. Mutsch lacht und verspricht, einen zu backen. Das will sie schon auf der Arbeit machen und heute Nachmittag für jeden zwei Stücke vorbei bringen.

Nach ein paar Runden um den Park bin ich dann wieder bereit, mich Torsten zu stellen.

Der soll noch vor Mittag seinen Liegegips ab bekommen. Danach soll durch Übungen die Muskulatur wieder auf gebaut werden und aufstehen kann er dann wohl auch wieder. Zuerst bekommt er wohl einen Rollstuhl um zu den Reha -Übungen zu fahren.

Dann kann ich mit ihm ja auch so ein bisschen rum fahren und auch in die Cafeteria. Dann muss er auch nicht mehr so viel fernsehen und in die Flasche muss er dann ja auch nicht mehr pissen. Seine Lebensqualität steigt rasant und dann sehn wir mal, was dann abgeht bei ihm.

Bevor ich nach oben fahre, hol ich mir mal noch einen Schreibblock am Kiosk, ich will mal was fürs Abi machen heute Nachmittag. Die Unterlagen, die Armin mit gebracht hat, liegen noch ungesehene im Kuvert in meinem Nachtschrank und so viel Zeit, was zu tun ist ja nun auch nicht mehr.

Also werde ich heute Nachmittag nach dem Essen bis zum Eintreffen des Schwarzwälders ein intensives Lernen durchführen. Morgen dann, am Vormittag werde ich das dann noch einmal durch arbeiten und das müsste dann aber ausreichen. Ich muss nachher bei der Visite unbedingt noch fragen, ob ich am Sonntag entlassen werden kann, weil ich Montag in der Schule sein muss.

Torsten ist ein wenig angepisst, weil ich vorhin abgehauen bin, Der dezente Hinweis auf die zu erwartende Schwarzwälder Kirschtorte lässt seinen Frust aber gleich wieder verschwinden. Bevor er jedoch wieder nach Frank fragen kann, kommt dieser herein, um Torsten mit samt Bett zu holen und nach unten zu bringen, wo jetzt Gips uns Schrauben entfernt werden sollen.

Ein bisschen Angst vor dem Entfernen der Schrauben hat er bestimmt und das hätte ich an seiner Stelle bestimmt auch. Bei meiner Hand sind ja auch Drähte verwendet worden, die bleiben aber auch noch mindestens sechs Wochen drin, bevor die in eine kleinen OP mit zwei winzigen Schnitten wieder entfernt werden sollen.

Nach einer guten Stunde kommt Frank mit Torsten und Bett zurück und Torsten strahlt. „Alles ab, der ganze Scheiß, man Alter ich fühl mich wie neu geboren. Ich krieg jetzt einen Rolli und dann können wir zusammen mal darum fahren, ich kenn ja hier gar nichts außer diesem Zimmer und den OP-Raum. Sogar das Bad werde ich jetzt mal kenne lernen“, sagt er.

„Jetzt kann ich auch wieder normal kacken und pinkeln, das man sich da so über freuen kann, das hätte ich nie geglaubt, Ole. Jetzt kann es nur noch besser werden“, freut er sich.

Ich muss lachen und Frank natürlich auch. „Du bist schon einer, Torsten“, sagt Frank und Torsten meint: „Heiner und du, ihr seid jetzt bestimmt traurig, das ihr meinen geilen Körper nicht mehr waschen dürft“, und lacht sich halbtot.

Als er dann wieder halbwegs normal ist, meint Frank: „Dein Bein ist noch nicht so kräftig, das du unter der Dusche länger stehen kannst, also kannst du dir jetzt aussuchen, welcher Zivi, Heiner oder Frank, deinen Astralkörper später im Stationsbad in der Wanne baden soll. Antwort bis Elf Uhr dreißig, für Frank, später für Heiner. Ich komm nachher fragen“, und geht lachend raus.

Ich halte meinen Bauch vor Lachen, vor allem Torstens Gesicht ist gerade zu schön. Das muss er jetzt erst mal verarbeiten.

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