Up and away – Teil 5

Die Unterhaltung hier gestaltete sich eigentlich genauso wie am Tag vorher auch – ich denke mal sie gestaltete sich so, wie das bei den meisten Jugendlichen in unserem Alter der Fall war. Man redete über alles mögliche angefangen von den neuesten Musik-Videos bis hin zur Weltpolitik und der neuesten Krawatte des Schulleiters – im großen und ganzen aber nichts wovon die Zukunft der Welt abhängen würde oder das und ins Gefängnis bringen würde, wenn uns irgendwer belauschen sollte.

Was mir natürlich immer noch ein bisschen zu schaffen machte war die Sprache, denn selbst das best-geübteste Schulenglisch war immer noch weit davon entfernt auch im tatsächlichen Leben so verwendet werden zu können wie man das gerne hätte – diesem Schluss kann sich eigentlich niemand entziehen, der einigermaßen mitbekommt, was um ihn herum los ist.

Doch zurück zu unserer lustigen Runde. Obwohl es ja eigentlich gar keine Runde war, sondern ein ziemlich langgezogenes Rechteck (aber das nur mal so am Rande) kam es, wie es wohl irgendwann kommen musste. Das Gespräch landete beim Thema Freunde und Freundinnen.

Dass Sherly in dieser Hinsicht schon so manch einen gehabt hatte und von den anderen auch munter damit aufgezogen wurde, hatte ich ja schon am Tag zuvor mitbekommen aber bei den anderen hatte ich noch nicht die geringste Ahnung davon, wer eigentlich mit wem zusammen war.

Es stellten sich ein paar interessante Kombinationen heraus, die entweder einmal zusammen waren oder wo ein Teil den anderen gerne mal „gehabt“ hätte. Wenn ich mir die Leute so ansah dann fand ich das schon teilweise ziemlich lustig, obwohl ich sie wie gesagt erst seit einem Tag kannte. Nun gut lange Rede kurzer Sinn irgendwann fragte mich auch irgendwer wie es denn bei mir mit einer Freundin aussähe.

‚Freundin? Nö ich bin schwul und von daher fällt das Thema Freundin flach‘ hätte ich am liebsten gesagt und mir damit weitere Fragen für den Rest meiner Schulzeit vom Leibe gehalten aber wie das eben so ist traut man sich dann in so einer Situation auch nicht ganz aus sich heraus zu gehen, erst recht nicht wenn man gerade erst mal den zweiten Tag an der Schule ist und noch nicht mal die Raumverteilung seiner eigenen Stunden so richtig im Kopf hat.

Ich gab ihnen also die »Standardantwort«. Ich hatte keine Freundin, wieso wusste ich auch nicht so genau. Verdammt natürlich wusste ich es haargenau – aber trotzdem.

Zu meinem Glück fragte dann auch niemand weiter nach und so blieb es dann bei dieser Feststellung – puhh, nochmal Glück gehabt.

Die Unterhaltung streifte dieses Thema noch das ein oder andere mal wobei mir auffiel, dass Matthew sich überhaupt nicht an irgendeiner der üblichen Kommentare beteiligte – war vielleicht … nein ich machte mir wieder unnötig Gedanken über etwas, dass sowieso nicht so war wie ich es mir vorstellte.

Der restliche Schultag brachte nichts Außergewöhnliches mit sich – wenn man das überhaupt so sagen kann denn immerhin war alles noch ein bisschen außergewöhnlich für mich aber irgendwann lernt man auch hier gewisse Abstufungen vorzunehmen.

Kurz vor der letzten Stunde fragte mich Matthew ob ich nicht Lust hätte zusammen mit ihm die Stadt unsicher zu machen und ein bisschen auf Tour zu gehen. Na klar hatte ich Lust – mit Matthew hätte ich glaube ich alles gemacht und wenn das bedeuten würde, dass ich mich von Kopf bis Fuß in ein Schlammbad begeben musste.

Die nächste Stunde ging mir Matthew nicht mehr aus dem Kopf, wie er dagestanden hatte und mich mit seinem üblichen Grinsen gefragt hatte ob wir beide nicht was unternehmen wollten. Der Unterricht schien geradezu nur noch an mir vorbeizuziehen. Ups – Ich glaube je mehr ich drüber nachdachte desto klarer wurde mir eine Sache: Ich hatte mich in Matthew verliebt. Ich hatte mich verliebt in einen Typen, den ich erst seit zwei Tagen kannte aber trotzdem doch wieder irgendwoher so lange – wenn ich bis dahin nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt hatte – jetzt tat ich es.

Die letzten zehn Minuten schienen sich wie zehn Stunden dahinzuziehen und der Sekundenzeiger an meiner Uhr schien durch irgendwas geradezu am Zifferblatt festgeklebt zu sein – doch nach einer halben Ewigkeit war es dann endlich soweit. Die Schule war vorbei und ich machte mich auf den Weg zu Matthew, der wie verabredet draußen an seinem Auto auf mich wartete.

Er unterhielt sich gerade mit irgendeinem anderen Jungen, den ich bisher nur flüchtig durch die Cafeteria laufen gesehen hatte. Als die beiden mich gesehen hatten winkte mir Matthew nur kurz zu und stellte mir besagten Jungen (der übrigens auch nicht gerade schlecht aussah) als Tan Normit vor – oder war es Mornit? Ich weiß es nicht mehr genau. Tan schüttelte also kurz meine Hand, eine Angewohnheit, die unter Jugendlichen in Amerika wesentlich verbreiteter zu sein scheint als in Deutschland wie ich immer wieder feststellen musste, und verbschiedete sich dann mit einem energischen aber lustig gemeinten „See you! Und Mat … Fall nicht über den armen kleinen her ja?“

Matthew’s Antwort hierauf war ein nicht minder energisches „Du Spinner!“

„Ein Freund von dir?“ fragte ich Matthew als wir in sein Auto einstiegen

„Jep!“ war seine Antwort „Wir beiden haben früher ziemlich viel zusammen unternommen. Wir waren radfahren, schwimmen und …“ hier zögerte er ein bisschen „na eben alles, was man so zusammen machen kann“

„Und jetzt?“

„Ach weißt du irgendwie ist es nicht mehr so wie es früher mal war. Ich denke seit er eine Freundin hat bleibt ihm nicht mehr viel Zeit für irgendwas anderes – der arme Kerl, da siehst du mal wie uns die Frauen vereinnahmen – leg dir bloß keine zu, das gibt nur ärger“

„Gut ich wird es mir merken“ grinste ich ihn an – zu mindestens diesen Ratschlag würde ich zu 100% befolgen „Und was machen wir jetzt?“

„Was hältst du davon, wenn wir in die Arcade fahren?“, sagte er nach einer kurzen Denkpause an einer Ampel.

„Klasse Idee – da hab ich schließlich schon eine Menge drüber gehört und wollte das auch endlich mal ausprobieren“

Und das machten wir dann auch. Wir suchten uns einen Parkplatz im Zentrum, oder besser gesagt Matthew suchte sich einen Parkplatz meine Aufgabe bestand immer nur darin ihm klarzumachen, dass er in diese Lücke ganz bestimmt nicht reinkommen würde – ich frage mich wie dieses Auto ohne mich überhaupt so lange ohne größere Schramme überleben konnte, denn der Fahrer schien nicht gerade bedacht darauf zu sein den Schaden für sein Auto – und anderleuts Auto natürlich auch – so gering wie möglich zu halten. Als wir schließlich doch einen genügend großen Platz gefunden hatten machten wir uns zu Fuß auf den Weg zu einer der großen Arcades.

‚Arcade‘ lässt sich im deutschen vielleicht mit Spielhölle umschreiben obwohl das eigentlich eine sehr unzureichende Beschreibung ist, denn von ‚Hölle‘ hatte es ziemlich wenig und es waren auch nicht nur diese gewisse Art von Leuten dort, die man in Deutschland häufig sieht.

Eigentlich alle Altersschichten waren vertreten angefangen bei irgendwelchen alten Omis, die stundenlang vor den Automaten hockten und sich fast zu Tode freuten wenn ein paar Münzen wieder den Weg durch die Maschine in das Ausgabefach fanden, bis hin zu kleinen Jungs, die wohl gerade ihr erstes Taschengeld bekommen hatten und stolz waren es ausgeben zu dürfen. Solche scharfen Spielregeln wie in good old Germany gab es schließlich dort nicht.

„Sieh dir die an“ sagte Matthew und deutete auf zwei Jungs die vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als wir waren und eifrig dabei waren sämtliches Geld, das sie hatten auf nimmer wiedersehen den Betreibern dieses Riesengebäudes zu schenken „das brauchst du gar nicht erst anzufangen – du wirst nie mehr rausbekommen als du reingesteckt hast – nicht mal annähernd soviel.“

Ich musste zugeben es war schon irgendwo verlockend gewesen endlich an der großen weiten Welt des Glückspiels teilnehmen zu dürfen aber Matthew fuhr mit seiner Erklärung fort

„Eigentlich jeder, den ich kenne – ja ich auch“ lachte er „hatte irgendwann diese Phase gehabt in der wir alle meinten, dass man doch irgendwann etwas rausholen muss aber glaub mir – da kommt nichts raus.

Wenn Ich hier bin, dann nur um ein bisschen zu Flippern oder ein paar Telegames zu zocken. Ansonsten lasse ich die Finger von den Dingern oder bin in einer Woche pleite

Hier, das ist Fun ohne Ende“ lachte er und zeigte auf eine alte Spielekonsole die so aussah als sei sie ungefähr zum selben Zeitpunkt gezeugt – oder besser gebaut – worden war wie wir beide.

„Ist das dein ernst?“ fragte ich ihn „Im Zeitalter von Handy und Playstation II soll das hier der totale Knüller sein? Also ich weiß nicht so ganz“

„Doch klar“ antwortete er „Warte mal ab, bis du drei oder viel Spiele gemacht hast, dann schickst du Handy und Playstation II sonst wohin.“

„Na das glaube ich erst, wenn ich es sehe“, lachte ich aber musste mich schon eine Viertelstunde später eines besseren belehren lassen, denn es war tatsächlich so – trotz uralter Technik und einer Graphik, wo jeder Taschenrechner heute bessere Qualität liefert, machte es einen ungeheuren Spaß mit den Dingern zu zocken – vielleicht ja auch gerade weil es keine Riesen-Effekte gab und man sich so voll und ganz auf das Spiel konzentrieren konnte.

Den Rest des Nachmittags verbrachten wir also damit uns durch die verschiedensten Spiele zu hangeln und auszutesten, wer denn von uns beiden der bessere ist. Nicht verwunderlich, dass ich es eigentlich in keinem Fall war denn Matthew hatte da einfach die längere Erfahrung und irgendwann geht einem so ein Spiel in Fleisch und Blut über.

Ehe wir uns versahen war es auch schon Abend geworden und wir beide beschlossen uns langsam auf den Heimweg zu machen. Matthew brachte mich noch nach Hause und da war der Tag auch schon fast wieder zu ende.

Meine Eltern wunderten sich zwar jetzt schon den zweiten Abend, dass ich erst so spät nach Hause kam und wollten natürlich auch direkt wissen, wie es gelaufen ist und ob ich schon neue Freunde gefunden hatte – die üblichen Fragen, wie Eltern eben so sind.

Sven grinste mich nur ein paarmal kurz an und gab einen Kommentar von sich in der Art, dass ich mir noch Sorgen gemacht hatte irgendwo alleine in der Ecke zu stehen.

„Ich kann ja auch nichts dafür“ grinste ich zurück „Wenn die alle was mit mir zu tun haben wollen – das ist nicht meine Schuld“

„Ja, ja kleiner Bruder – du bist mir schon einer“, sagte er und verschwand aus meinem Zimmer.

Ich für meinen Teil beschloss mich auch mal wieder eine Runde aufs Ohr zu hauen und den Abend, Abend sein zu lassen. Ich machte mich fürs Bett fertig und schlief wie ein kleines Baby.

Die nächsten Tage verliefen im Grunde genommen genauso wie die ersten beiden auch – natürlich mit dem Unterschied, dass ich langsam begann mir merken zu können welcher Raum wo war und wie ich mich bei welchem Lehrer verhalten musste um in sein Raster reinzupassen – als Schüler lernt man eben doch sehr viel schneller als manch ein Lehrer denkt, vielleicht nur eben nicht die Sachen, die die Lehrer gerne hätten, dass sie die Schüler lernen – nun ja.

Die Nachmittage verbrachte ich wie zuvor auch schon – mit Matthew und jedes Mal fühlte ich mich in seiner Gegenwart so gut wie selten zuvor. Wir beide schienen aber auch wie zwei Puzzle-Stücke aneinander zu passen. Wir interessierten uns für dieselben Video-Filme, hatten fast den gleichen Geschmack was Musik anging und waren uns beide einig später einmal eine steile Karriere in der Informationsbranche einschlagen zu wollen – es passte einfach alles.

Als ich am Freitagabend – wieder mal ziemlich spät nach einem am Computer durch gezockten Nachmittag mit Matthew – nach Hause kam lag auf dem Küchentisch wie immer der scheinbar von Tag zu Tag größer werdende Haufen Post. Nicht nur die Nachbarn die ab und zu bei uns vorbeischauten sondern auch die amerikanische Werbeindustrie schien Wind davon bekommen zu haben, dass unser Haus nicht mehr länger leer steht sondern von einer sehr lebendigen und scheinbar auch als kaufwütig eingeschätzter Familie bewohnt wurde.

Ich blätterte also kurz durch den Stapel von Katalogen, entdeckte tatsächlich sogar einen für mich dabei (die Frage war nur, was ich mit Esoterik-Büchern anfangen sollte) und dann entdeckte ich tatsächlich einen richtigen Brief – keinen Katalog sondern einen richtigen Brief – Halleluja!

Was mir aber sofort auffiel war, dass mir dieser Brief bekannter vorkam als die ganzen anderen, die meine Eltern auf dem Tisch liegen hatten und nach einem genaueren Blick merkte ich auch wieso – der Brief kam aus der alten Heimat, aus Deutschland und nach einem weiteren Blick auf den Absender schlug mein Herz noch schneller als ich es jemals für möglich gehalten hatte – der Brief war von Nico!

Ich hatte ihm ja vor gar nicht allzu langer Zeit schon eine Antwort auf seinen Brief geschrieben, der bei mir so einiges ausgelöst hatte, und von daher war ich jetzt natürlich mehr als nur unheimlich gespannt darauf zu lesen, was Nico diesmal geschrieben hatte.

In null komma nix hatte ich mich in mein Zimmer und auf meine Couch verzogen und begann mir Nicos Brief durchzulesen. Erstaunlicherweise begann der Brief wie jeder andere ihn wohl auch begonnen hätte. Nico erzählte mir, was es alles an unserer neuen Schule und in der Gegend neues gab – bzw. was immer noch genauso unerträglich war wie vorher. Aber dann nach dem Ende der ersten Seite kam er auf unser Verhältnis zueinander.

Es war schon eine Schande gewesen – Nico und ich die uns so nah und doch irgendwo so fern gewesen waren. Seine Meinung und seine Verarbeitung des ganzen zu lesen berührte mich wieder ungeheuer. Diesmal aber nicht auf eine traurige Weise wie bei seinem letzten Brief sondern auf eine Weise wie ich sie vorher kaum gekannt hatte – wir waren jetzt so weit auseinander aber innerlich näher als jemals zuvor. Nico erzählte mir von seinem Coming-Out bei seiner Familie und seinen engsten Freunden und von den Schwierigkeiten, die er befürchtet hatte die aber tatsächlich nie eingetreten waren.

‚Wer weiß was passiert wäre wenn wir beide zusammengekommen wären Steffen“, schrieb er gegen Ende der dritten Seite, „ich glaube ich hätte es nicht verkraften können dich zu verlieren wenn ich dich so nahe an mich herangelassen hätte“

Er hatte Recht – ich hätte auch nicht gewusst, wie ich mich verhalten hätte wenn ich meinen Freund und Partner verlassen müsste ohne, dass wir beide uns irgendwie gestritten hätten. ‚Vielleicht ist es so tatsächlich besser‘ seufzte ich, faltete ich Nicos Brief wieder zusammen und legte ihn zu seinem ersten Brief in eine Kiste und mein Bett.

Kaum war ich fertig damit und hatte meinen Fernseher eingeschaltet, da kam auch schon Sven rein und ich konnte die Erwartungshaltung in seinen Augen schon sehen – irgendwas hatte er vor.

„Na kleiner Bruder, wie geht’s?“

„Gut danke“, antwortete ich kurz.

„Und? Was schreibt Nico so?“

Aha dachte ich mir – daher weht der Wind.

„Woher weißt du denn, dass mir Nico geschrieben hat?“, fragte ich doch ein bisschen überrascht.

„Also wirklich – für so intelligent hatte ich dich dann doch schon gehalten. Was meinst du, wer bei uns seit Jahren den Briefkasten jeden Mittag leert – na?“

Richtig, das hatte ich ja total vergessen.

„Tja und da sein Absender draufstand musste ich nur eins und eins zusammenzählen. Also erzähl schon, was schreibt er denn so?“

Ich erzählte also Sven die Kurzfassung von dem was ich gelesen hatte und damit schien er sich dann auch zufrieden zu geben. Wir redeten noch ein bisschen darüber wie es früher war als wir noch »Zuhause« wohnten und dann machte sich Sven auch wieder auf den Weg.

„Ciao Steffen“ sagte er und schloss die Tür hinter sich. ‚Diese kleine Neugiersnase‘ dachte ich mir und widmete mich wieder dem zugegeben nicht gerade sehr interessanten Fernsehprogramm.

Es dauerte nicht lange und Letterman hatte mich in den Schlaf geredet. Und dann soll nochmal jemand kommen und von sensationeller Unterhaltung reden.

Samstagmorgen war für mich endlich mal wieder ausschlafen angesagt und genau das tat ich auch lange und ausgiebig. Irgendwann so gegen Mittag machte ich mich dann aber doch auf den Weg nach unten wo meine Familie schon allesamt am Küchentisch versammelt war.

„Ah ja sieh mal an, mein Herr Sohn steht also doch noch irgendwann auf. Wir haben uns schon Sorgen gemacht du seihst nachts von einem bösen Einbrecher aus deinem Zimmer entführt worden“ lachte meine Mutter.

„Hey meine Lieben, ich brauche meinen Schönheitsschlaf – ihr wollt doch nicht, dass ich irgendwann aufwache und ihr den Glöckner von Notre Dame vor euch habt oder?“ diese Antwort von mir traf genau die Stimmung und so brach mal wieder allgemein Heiterkeit im Hause Reder aus. „Aber sagt mal, was sitzt ihr hier eigentlich nicht alle zusammen? Ist irgendwer gestorben oder was ist los?“

„Tja mein Schatz leider muss ich dich enttäuschen – Tante Emilia geht es immer noch gut und alle anderen Verwandten sind auch noch hellauf. Wir sind übrigens heute Nachmittag bei unseren Nachbarn zum Grillen eingeladen, nur falls es einen von euch interessiert“

„Sorry Mum aber ich bin schon verabredet – wichtige Geschäftsangelegenheit wenn du verstehst, was ich meine“ antwortete Sven.

Ja ja mein Bruder und seine Geschäftsangelegenheiten. Nicht genug, dass er mit seinen 17 Jahren schon jeden Wirtschaftsreporter unserer alten Tageszeitung persönlich kannte (und das ist kein Witz!), nein er hatte meine Eltern auch tatsächlich irgendwann im Laufe des letzten Jahres dazu überredet ein Depot zu eröffnen, das er natürlich nun allwissend verwaltete wobei er – das muss man ihm ja zugute halten – gar nicht mal so eine schlechte Rendite erzielte. Für mich waren das aber immer noch alles böhmische Dörfer auch wenn Sven schon mehrmals versucht hatte mir das große und tolle Broker-Leben schmackhaft zu machen – ne, ne für mich war das alles nichts.

„Und was ist mit dir Steffen?“ Dieser inquisitive Blick meiner Mutter sagte eigentlich schon alles nämlich ‚Ich will wenigstens, dass einer meiner Söhne mitkommt“

Ich wollte schon gerade ein aussichtsloses „Ja wenn es denn unbedingt sein“ antworten als das Telefon klingelte. Sven ging ran und rief mir dann zu, dass es für mich sei. Ich ging also zum Telefon und war gespannt wer denn samstagmittags was von mir wollte

„Ja Hallo?“

„Hi Steve …“

„Mat?“

„Yep, wer denn sonst? Hast du heute schön was vor?“

War sie das? Meine Erlösung? Ich blickte kurz zu meiner Mutter herüber und murmelte ein „Ehmmmm …“

Meine Mutter lächelte nur und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich bei unseren Nachbarn zu mindestens heute nicht zu erscheinen brauchte – Puh, nochmal Glück gehabt.

„Du hättest keine Minute später anrufen dürfen“ lachte ich „aber jetzt habe ich nichts mehr vor also worum geht’s?“

„Nichts Spezielles – hier sind alle im Moment ausgeflogen und nur noch mein Bruder und ich sind da. Da Daniel heute schon was vor hat, hab ich mir gedacht ob wir beide nicht was zusammen unternehmen könnten.“

„Na klar doch“ was Besseres hätte mir gar nicht passieren können. Einen schönen Nachmittag mit Matthew war mit allemal lieber als mich mit meinen Eltern zu unseren zwar netten aber dann doch auch wieder nicht so interessanten Nachbarn zu begeben. Okay sie hatten eine Tochter, die ungefähr in Svens Alter war aber irgendwie … naja ich weiß auch nicht so recht. Sieht man mal davon ab, dass ich mir aus Mädchen sowieso nichts mache wäre sie wahrscheinlich auch nicht die Art von weiblichem Wesen mit der mein Bruder sich vergnügen würde – kurz und gut sie war zwar ganz nett aber konnte einem ungeheuer auf die Nerven gehen.

„Okay, dann sehen wir uns um .. sagen wir 15:00 bei mir?“

„Alles klar ich werd da sein … bis denn dann“

„See you …“ und damit war das Gespräch beendet. Wie man in Amerika so schön sagt : ‚Saved by the bell‘

„Ihr seid mir ja eine Rasselbande“ lachte meine Mutter als sie sich auf den Weg in’s Wohnzimmer machte „Sheela hätte sich bestimmt gefreut dich zu sehen“

„Mamaaaaaaa!“

„Ja ja – jetzt macht schon, dass ihr fortkommt“

Sven und ich machten uns also wieder auf den Weg nach oben.

„Kommst du noch mit zu mir auf ’ne Runde Schach?“ fragte ich Sven – wir hatten schon länger keine Partie mehr zusammen gespielt. Früher waren wir beide eigentlich nirgendwo ohne Brett anzutreffen gewesen, Schach war sozusagen unser Nationalsport. Alles hatte damit angefangen, dass mein Vater uns irgendwann mal in diese ‚Hohe Kunst‘ einweihen wollte, wir auch mehr oder weniger begeistert die ersten Partien mit ihm gespielt haben und uns dann auch das Fieber packte.

„Ne sorry aber ich muss weg – wir wollen noch ein bisschen was zur aktuellen Börsensituation schreiben für die Schülerzeitung.“

Das war mein Bruder – kaum an der neuen Schule und schon hat er wieder etwas gefunden, wo er seine Einsatzkraft dran demonstrieren kann.

„Na dann mal viel Spaß dabei“

„Klar den werden wir haben – aber das sind doch sowieso Welten, die sich deiner Wahrnehmung entziehen oder kleiner Bruder?“

„Mal nicht so frech“ lachte ich und gab ihm einen kleinen Knuff in die Rippen.

Die Zeit bis kurz vor drei vertrieb ich mir damit mein Zimmer mal wieder etwas aufzuräumen – schrecklich! Manchmal glaube ich der ganze Kram hat sein Eigenleben. Ist schon mal irgendjemandem aufgefallen, dass gerade die Sachen, die man am häufigsten sucht sich immer an den unmöglichsten und verwinkelten Stellen aufhalten?

Ich war gerade dabei ein mehr oder weniger gutes System in mein Zimmer zu bringen da sah ich auch schon mit einem kurzen Blick auf die Uhr, dass es ja eigentlich schon wieder höchste Zeit war mich auf den Weg zu machen also ließ ich die Unordnung erst einmal Unordnung sein und verließ das Haus in Richtung Familie Bush.

Dort angekommen wurde ich von Matthew auch direkt mit einer warmen Begrüßung (nein nicht so warm) empfangen und wir machten uns auf den Weg in sein Zimmer. Nachdem wird dort einige Zeit vor dem PC gehangen hatten wie üblich und uns ich weiß nicht wie oft gegenseitig erschossen hatten rief seine Mutter zum Essen.

„Was, die sind schon wieder da?“, rief Matthew verwundert aber nachdem er gesehen hatte, dass es schon fast 19:00 Uhr war meinte er nur, dass es ihm eigentlich auch ganz recht war – schließlich hatte er wie er immer wieder betont hatte schon seit einiger Zeit ziemlichen Hunger gehabt – und mir ging es ja auch nicht anders.

Wir machten uns also auf den Weg nach unten wo ich erst mal seine Mutter begrüßte und sie mich mit der Frage empfing ob ich heute mal wieder bei ihnen mitessen würde. Im Laufe der Woche war es schon fast zur Tradition geworden, dass ich ihre Kochkünste mit in Anspruch nahm und so überraschte sie mein Ja nicht im Geringsten.

„Dann hol doch bitte noch einen Stuhl aus dem Wohnzimmer Matthew, dein Bruder hat auch noch Besuch mitgebracht das scheint ja hier heute richtig volles Haus zu geben – vielleicht hätte ich doch ein Restaurant aufmachen sollen“ kicherte sie und holte die Pizza aus dem Ofen – alleine von dem Geruch bekam ich schon einen ziemlich großen Hunger.

„DANIEL? Kommt ihr jetzt oder muss ich die ganze Pizza alleine essen?“ rief sie durch das ganze Haus

„Das hättest du wohl gerne was?“ Matthews Bruder kam bereits die Treppe runter und mir fiel auf, dass sein Besuch mir irgendwoher bekannt vorkam.

„Mum, Dad das ist …“

„Sven!“, rief ich und musste über das ganze Gesicht anfangen zu Grinsen.

Alle anderen sahen sich etwas komisch an und Daniel fragte mich nur, ob wir uns schon irgendwoher kennen würden. Nachdem Sven und ich lachen klargestellt hatten, dass wie uns nicht nur ‚irgendwoher‘ sondern schon unser ganze Leben lang kannten und sogar von denselben Personen gezeugt worden waren verfielen alle in ein leichtes Schmunzeln – und da soll noch einer sagen die Welt sei nicht voll von Zufällen.

Das Abendessen verlief also angesichts der Tatsache, dass eh schon die halbe Familie Reder anwesend war so, dass Matthews Eltern meinten sie würden unsere Eltern auch gerne mal kennenlernen – alleine schon um ein bisschen über »Fremde Kulturen« zu erfahren. Wir musste alle herzhaft lachen und machten uns dann über die wirklich köstliche Pizza her.

Nach dem Essen quatschen wir noch ein bisschen bevor Sven und ich uns – diesmal zusammen – auf den Weg nach Hause machten.

„Und?“, fragte Sven mich als wir auf dem Weg waren.

„Wie und?“

Ich konnte mir nicht so ganz erklären worauf er hinaus wollte.

„Na hat’s schon gefunkt?“

„Bitte was? Wie kommst du darauf?“

„Na so wie ihr beide euch versteht – ist das schon mehr?“

„Wie kommst du darauf? Was sollte da mehr sein … Okay Mat und ich verstehen uns wirklich klasse aber wieso sollte denn da mehr sein? Meinst du ich falle direkt über jeden her oder was?“ Ich wusste nicht was Sven mit dieser Fragerei bezwecken wollte.

„Okay, okay … ist ja schon gut. Ich hab mir eben nur gedacht wenn ihr beide schon auf Jungs …“, den Rest des Satzes bekam ich nicht mehr mit denn ein Wort von Sven erregte meine besondere Aufmerksamkeit – hatte er da gerade wirklich ‚beide‘ gesagt? Hatte ich da irgendwas verpasst oder was war hier gelaufen?

STOP!“, sagte ich sehr energisch und stelle mich vor meinen Bruder so dass ihm gar keine andere Möglichkeit blieb als stehenzubleiben. „Wieso ‚beide‘? Weißt du was, was ich nicht weiß?“

„Du … ach Steffen ist auch eigentlich auch nicht so wichtig“

Nicht so wichtig? Natürlich war das wichtig!

„Wieso nicht so wichtig? Sven ich will jetzt wissen worauf du anspielst!“ Langsam wurde mir das doch alles ein bisschen zu bunt.

„Okay, okay – ehe wir hier jetzt noch das Streiten anfangen … du weißt es also wirklich noch nicht?“

„WAS weiß ich noch nicht?“

„Na, das Matthew auch schwul ist!“

Matthew? Schwul? Ich hatte ja mit vielem gerechnet aber das war dann doch zu viel des guten. Sollte ich denn wirklich soviel Glück haben?

„Und woher weißt du das?“ fragte ich

„Sein Bruder hat es beiläufig erwähnt und ich hab’s heute genauso beiläufig auch von jemand anders gehört.“

„Beiläufig? Also mir hat er nie irgendwas davon erzählt!“

„Du ihm denn?“

„Ehm … Nein.“

„Na also!“

Da hatte Sven mich mal wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Natürlich war ich jetzt überhaupt nicht mehr zu halten und fragte meinem Bruder Löcher in den Bauch, der mir natürlich auch nicht viel mehr sagen konnte.

Er hatte also von Daniel gehört, dass es eigentlich an der Schule kein Geheimnis war, dass Matthew schwul war und dass bis auf ein oder zwei Leute auch niemand irgendein Problem damit hatte – das war auch der Grund wieso eigentlich niemand so direkt darauf zu sprechen gekommen war – es war eben normal. Wow!

An diesem Abend ging ich mit einem ziemlich komischen Gefühl ins Bett. Auf der einen Seite war ich natürlich total happy endlich mal jemanden zu haben, mit dem ich über gewisse Dinge sprechen konnte die ich auch mit Sven nicht unbedingt bereden wollte und wer weiß was noch draus werden könnte. Aber auf der anderen Seite wusste ich nicht wie ich mich Matthew gegenüber jetzt verhalten sollte. Es war alles nicht so einfach wie es auf den ersten Blick aus sah…

 

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