Kriegskinder – Teil 8 – Frank

Die Heuernte war noch in vollem Gange. Der Großvater und die drei Jungen saßen unter dem Baum am Feldrand und machten Mittagspause. In der Ferne sah Jan eine Person auf sie zukommen. Erst beim Näherkommen erkannte er Petra.

Sie hatte rot glühende Wangen, zusammen mit ihrem blonden Haar sah es recht niedlich aus. Die Tochter von Frau Otte, Kurts Schwester, war recht aufgeregt.

„Stellt euch vor“, rief sie schon von weitem, „der Sohn von Bauer Heinrich ist wieder heim gekehrt.“ Der Großvater zog die Augenbrauen hoch und Jan wurde übel.

Was wenn Martin herausgefunden hatte, auf welchem Wege sein Vater verschwunden war? Wenn er erfahren hatte, welchen Einfluss Jan auf die Verhaftung seines Vaters hatte? Er konnte nicht mehr still sitzen. Die Neuigkeiten ließen ihm keine Ruhe.

Petra und der Großvater unterhielten sich, aber Jan konnte nur an den Bauern denken. Bisher hatten sie noch nichts über dessen Verbleib erfahren. Er wollte diese Episode in seinem Leben für immer aus seinem Gedächtnis verbannen. Jetzt hatte ihn alles wieder eingeholt.

Und er sah sich wieder in der Scheune, über einem Strohballen liegen…

Er wendete sich ab und musste sich übergeben. Reiner und Fritz bemerkten Jans Verhalten, sahen sich aber nur fragend an. Auch der Großvater schaute seinen Enkel fragend an, sagte aber nichts.

Petra erzählte immer noch aufgeregt. Sie redete mit den Armen und Beinen. Sie verabschiedete sich so schnell, wie sie gekommen war. „Was war das denn gewesen?“ Fritz fand als erster die Sprache wieder.

Der Großvater erklärte ihm, wie es um den Wilhelmhof bestellt war. Bevor Familie Otte mit Kurt den Hof übernommen hatte, hatte Jan nach der Verhaftung des Bauern die Wirtschaft geführt. Immer wieder schaute der Großvater zu Jan. Der war immer noch weiß wie eine Wand.

Konnte er ahnen, dass sein Enkel doch etwas mit der Verhaftung des Bauern zu tun hatte? Er wollte es nicht glauben. Der Bauer hatte Waffen und Lebensmittel versteckt. Das war der Grund. Jan konnte damit nicht zu tun haben! Aber da irrte der alte Mann.

Jan war nicht wohl in seiner Haut. Die Übelkeit war weg, aber einen Druck im Bauch spürte er noch immer. Irgendwann würde er Martin gegenüberstehen, das war sicher. Was wusste er über seinen Vater? Was hatte er herausgefunden?

Die Fröhlichkeit beim Arbeiten war wie weggeblasen. Reiner und Fritz spürten es überdeutlich, dass etwas mit Jan nicht stimmte. Aber keiner getraute sich zu fragen. Sie hätten von Jan auch keine Erklärung bekommen.

Der dachte nur an Martin. Er malte sich immer wieder aus, was der mit ihm anstellen würde, wenn er herausfindet, welche Rolle er bei der Verhaftung gespielt hat. Er war den ganzen Tag schweigsam. Die Aufmunterungsversuche seiner Freunde prallten an ihm ab.

Trotz allem hatten sie ihn überredet, nach der Arbeit zum Baden zu gehen. Er beugte sich dem Wunsch seiner Freunde, hätte sich aber lieber im Haus verkrochen. Schließlich waren sie an der Badestelle, Jan blieb auf dem Gras sitzen und beobachtete abwesend die beiden.

Es dauerte nicht lange und die Zwillinge kamen dazu. Beide bemerkten Jans Zustand, sagten aber nichts. Von Reiner und Fritz hatten sie erfahren, das Jan seit der Nachricht über das Auftauchen von Martin so war.

„He, ich hab Besuch mitgebracht“, erklang die aufgeregte Stimme von Kurt. Jan drehte sich ruckartig um und sah neben Kurt. Dort stand Martin! Auch Petra war dabei. Aber der Blick von Jan war nur auf Martin gerichtet.

Wieder stieg die Übelkeit in ihm auf. Er wagte sich nicht zu rühren. Martin kam immer näher. Würde jetzt der große Tanz beginnen? „Hallo Jan“, und Martin hielt ihm die Hand hin. Jan ergriff sie, bemerkte den festen Griff und sah das lächeln in den Augen.

Er lächelte ihn an! Sollte er noch nichts erfahren haben? Hoffnung machte sich in ihm breit. Martin begrüßte auch die anderen, die inzwischen das Wasser verlassen hatten. Er wurde umringt und ausgefragt. Jan sah nur ihn. Er versuchte etwas herauszuhören, aber Martin erwähnte mit keinem Wort seinen Vater.

„So, nun hab ich genug erzählt“, schloss Martin. „Ich möchte mich noch mit Jan allein unterhalten, wenn ihr nichts dagegen habt.“ Jan riss die Augen auf und ihm rutschte das Herz in die Hose. Nun war es also soweit! Er wusste alles, schoss es ihm durch den Kopf.

Zitternd stand er auf und folgte Martin, der sich von der Badestelle entfernte. Er ging zum Wall und setzte sich ins Gras. Jan stand wie ein kleiner Junge vor ihm, wagte nicht den Blick zu heben.

„Komm, setz dich neben mich“, und zeigte mit der Hand neben sich aufs Gras. Jan setzte sich und schaute auf, als  eine Zigarettenschachtel sein Blickfeld erreichte. Zitternd nahm er eine. „Also, kannst du mir bitte erzählen, was vorgefallen ist?“, Martin klang freundlich. Er entzündete ein Streichholz und hielt die Flamme erst Jan hin.

Jan hatte sich schon eine Erklärung zurechtgelegt, aber er hatte nicht gedacht, dass es so kommen würde. Er hatte mit der Wut von Martin gerechnet. Nun war alles anders. Oder sollte es noch kommen?

„Ich, ich weiß nicht…“ Ihm fiel nichts ein. Martin legte seinen Arm um die Schulter des Jungen und schüttelte ihn leicht. „Keine Angst. Ich will nur wissen, was los war.“ Konnte Jan alles sagen? Sicher nicht! Also musste er schnell überlegen. Wenn doch nur Reiner hier wäre.

„Also die Russen sind gekommen und haben den Hof kontrolliert“, begann er stockend zu erzählen, „sie haben etwas gefunden, was ihnen nicht gefiel.“ Martin schaute offen in das Gesicht von Jan. Sollte er sagen, was sie gefunden hatten? Damit würde er sich sicher verraten.

„Dann haben sie das Haus auf den Kopf gestellt und im Keller den Geheimraum entdeckt“, hoffentlich glaubte ihm Martin und fragt nicht weiter nach. Er zog hastig an der Zigarette und schaute zu Boden.

Martin nickte. „Ja, dieser Raum war sein großes Geheimnis. Und dann haben sie ihn mitgenommen?“ Jan nickte stumm. „Und seitdem hat keiner mehr etwas von ihm gehört?“ Jan nickte wiederum. Er hatte seine Sprache verloren.

„Frau Otte hat mir erzählt, dass du den Hof dann allein weitergeführt hast. Du warst echt gut. Sie hat dich richtig in den Himmel gehoben.“ Jan schaute auf und sah das Grinsen in Martins Gesicht.

Ihm wurde leichter ums Herz. War es das gewesen? Oder kommt noch etwas? „Wie findest du eigentlich die Petra?“ „Sie ist, also, sie…“ Der schnelle Themenwechsel irritierte ihn. „Ist doch ne richtige Wucht, die Kleine“, und Martins Grinsen wurde immer breiter.

„Kleiner, mach dir mal keine Gedanken um meinen Vater. Ich werde morgen zu den Russen, vielleicht erfahre ich dann mehr. Du hast ja keine Schuld.“ Wenn sich Martin da nur nicht irrt, dachte Jan.

„Übrigens“, sagte er noch beim Aufstehen, „ich hab noch etwas von meinem Bruder gefunden.“ Seine Stimme wurde traurig. „Du kanntest ja Rolf. Alle haben gebadet und er saß immer und hat in seinem Tagebuch geschrieben“, er griff in seine Tasche und zog das Heft hervor, das Jan noch gut kannte.

„Ließ es. Ich bin mir sicher, dass du damit etwas anfangen kannst.“ Er reichte Jan das abgegriffene Heft und schaute ihm traurig in die Augen. Jan wurde bei dem Gedanken, das Tagebuch von Rolf zu lesen mulmig. Was hatte das zu bedeuten? Wieso gab Martin ihm das Heft?

Er klopfte Jan freundschaftlich auf die Schulter. „Vielleicht verstehst du dann.“ Er drehte sich um und ging zu Petra, die schon auf ihn wartete. Beide zogen sich aus, nicht nackt, und genossen an diesem Tag das kühlende Wasser. Alle anderen waren auch im Kanal und Jan stand verloren mit dem Tagebuch von Rolf auf der Wiese.

Einerseits war er froh darüber, dass es so glimpflich ausgegangen war. Was würde Martin morgen noch von den Russen erfahren? Was wenn sie ihm die Wahrheit sagen und er sich alles nach und nach zusammenreimen würde? Wäre er dann immer noch freundlich zu ihm? Oder würde sich Martin ärgern, dass er die geheimsten Gedanken seines Bruders an ihm, dem Verräter seines Vaters, gegeben hatte?

Jan war nicht nach baden. Er setzte sich ins Gras und schlug das Heft auf. Und die schmerzlichsten Erinnerungen holten ihn wieder ein.

Er begann zu lesen und stellte fest, dass es nicht das erste Tagebuch war. Es begann im Frühjahr 1941.

>11.Mai, 1941,  Sonntag

Heute vor 18 Jahren hab ich das Licht der Welt erblickt. Es ist ein trauriger Geburtstag. Ich hab Fronturlaub. Wär ich doch lieber bei meiner Einheit geblieben! Ich kann es nicht mehr ertragen.

Mutter freute sich natürlich, dass ich da bin. Von Vater kam keine Reaktion. Mein kleiner Bruder ist jetzt 15 Jahre alt. Er freut sich schon, dass er im nächsten Jahr unserem Führer dienen kann. Was weiß er denn schon davon.

Ich hab in seinen Augen den Ausdruck gesehen. Er hat es getan! Aber hatte ich das nicht schon immer geahnt? Es bricht mir das Herz. Wieso muss er auch leiden? Reicht ihm nicht, dass er meine Kindheit zerstört hat?

Dieses kalte und emotionslose Gesicht. Er gab mir nur die Hand und drehte sich dann weg. Sollte ein Vater nicht für seine Kinder da sein? Sie nicht beschützen? Sie nicht lieben?

Er ließ mich seine „Liebe“ spüren. Wie oft eigentlich? Seit ich vierzehn Jahre alt bin, musste ich seine Liebe spüren. Sie brennt heute noch in meinem Leib. <

Jan ließ das Tagebuch sinken. Er zitterte am ganzen Körper. Er war also nicht der einzige, dem der Bauer das angetan hat! Er hat sein eigenes Kind… Eine Träne bahnte sich den Weg aus seinem Auge. Er schaute verschwommen auf die Badenden und musste schlucken.

>Martin ließ sich nichts anmerken. Er badet im Kanal und benimmt sich wie immer. Aber ich sah den Schmerz in seinen Augen. Er kann ihn mir nicht verheimlichen. Kein Wunder, das er so schnell wie möglich an die Front will.

Auch ich hab vor Vater kapituliert. Bin gegangen und habe meinen Bruder im Stich gelassen, obwohl ich wusste, dass er jetzt leiden musste. Wie brachte ich es nur fertig, Martin in die Augen zu sehen? Ich schäme mich. <

Jan konnte nicht weiterlesen. Er legte das Heft beiseite und schaute den Badenden zu. Alle winkten, dass er doch ins Wasser kommen soll, aber er konnte nicht.

Bilder kamen ihn in den Kopf, sah Rolf vor sich, wie er fast an gleicher Stelle gesessen hatte. Das Heft in der Hand.

„Komm, lass uns gehen“, und Reiner zog ihn auf die Beine. Alle verabschiedeten sich voneinander. Auch Martin gab ihm die Hand und zwinkerte ihm zu. Er lächelte, aber Jan wusste, dass er nicht gelächelt hätte, wären sie allein.

Er trottete neben beiden her, nahm die Welt nicht mehr richtig wahr. Reiner und Fritz machten sich Sorgen um ihren Freund. „Jan, willst du uns erzählen, was los ist? Du bist den ganzen Tag schon so anders. Vielleicht können wir dir ja helfen“, Reiner blieb stehen und sah seinen Freund an.

Jans Knie wurden weich, er sackte zusammen. Hände hielten ihn. Vorsichtig setzten die beiden Jungen Jan auf einen Stein. Er reichte wortlos das Tagebuch von Rolf an Reiner.

Beide setzten sich und begannen zu lesen. Jan schaute in den Himmel. „Das kann ja nicht wahr sein“, entfuhr es Fritz laut. „Dieses Schwein“, zischte Reiner. Reiner legte den Arm um Jan. „Hat er auch. Ich mein… dich?“

Jan nickte leicht mit dem Kopf. Fritz sprang auf. Er stapfte mit dem Fuß auf den Boden. „Wenn ich den erwische, dann, dann…“ Er konnte seinen Zorn kaum unter Kontrolle bringen.

Reiner zog ihn zu sich und hielt Jan fest im Arm. Sie hatten verstanden. Beide wussten nun, was Jan beim Bauern erlebt hatte. Und sie waren fassungslos. Während Fritz seine Wut an Steine ausließ, suchte Reiner die Nähe von Jan. Er wollte ihm das Gefühl von Geborgenheit geben. Aber konnte er es überhaupt?

Jan wurde ruhiger, schließlich sah er seine Freunde fest in die Augen. „Es ist vorbei. Das wird sich nie wiederholen.“ Es lag eine Entschlossenheit in seiner Stimme, die die beiden aufhorchen ließ. In diesem Moment war es beiden klar, dass Jan das Thema nicht mehr ansprechen würde, dass er nicht mehr darauf angesprochen werden wollte. Es war ein schweigsamer Weg nach Haus. In der Nacht kuschelte sich Jan dicht an Reiner. Und Fritz schlief dicht bei Jan. Sie gaben ihm Halt. Und er verschloss diese Erlebnisse in seinem tiefsten Inneren.

Martin stattete den Russen am nächsten Tag einen Besuch ab. Er erfuhr, dass der Vater in Gefangenschaft war. Sie sagten etwas von Zwangsarbeit, das ließ ihn aber kalt. Als er hörte, dass es sich um zehn Jahre handeln sollte, schlich sich ein kurzes Lächeln in sein Gesicht. Er wurde zum rechtmäßigen Besitzer des Hofes ernannt, aber mit der Auflage, die Familie Otte weiterhin zu beherbergen.

Damit hatte er keinerlei Probleme, Petra erwiderte seine Gefühle. Am Nachmittag suchte er Jan auf. Er traf ihn auf dem Feld. Als Jan ihn erblickte wurden seine Knie weich. Er ging zu ihm und war auf alles gefasst.

„Jan“, und Martin schaute ihn intensiv in die Augen. „Hat er dich auch…“ Jan nickte leicht. Martin schaute ihn besorgt an. „Er ist für zehn Jahre in Gefangenschaft. Ich hoffe er kommt nie wieder zurück. Sieh es als seine Strafe an. Ich kann mich nicht für ihn entschuldigen, aber glaub mir, ich weiß wie du dich fühlst.“

„Danke“, hauchte Jan. „Ich muss dir etwas beichten“, sagte er und sah Martin fest in die Augen. Er war fest entschlossen, alles zu sagen. „Jan, es ist gut. Es ist egal, was du getan hast, er hat es verdient. Ich will es nicht wissen. Aber bitte versprich mir, dass du nie so wirst wie er. Kümmre dich immer um deine Kinder.“ Jan schluckte. Sollte er sagen, dass er wohl nie Kinder haben wird? Er schluckte es hinunter und nickte nur leicht mit dem Kopf.

Zu Hause suchte Jan einen sicheren Platz für das Tagebuch von Rolf. Er würde es nie wieder hervorholen, aber er konnte es auch nicht einfach verbrennen. Seine Freunde merkten deutlich, dass es ihm wieder besser ging, wenn er auch noch einige Male wie abwesend wirkte. Aber das wurde mit der Zeit immer weniger, bis es schließlich ganz aufhörte.

In den letzten Wochen des Sommers ging es hoch her. Die Ernte stand an und die drei Jungen halfen auch auf dem Wilhelmshof fleißig mit. Das baden nach getaner Arbeit wurde zum Ritual. Auch fand Jan und Reiner immer mal wieder Zeit, sich allein zu vergnügen. Den anderen Pärchen ging es ähnlich. Kurt war immer noch verliebt in Gerda, Fritz konnte nicht von Hildes Seite weichen und bei Martin und Petra sollten die Hochzeitsglocken bald läuten.

Als die Ernte eingefahren war sollte es soweit sein. Es waren schöne Tage und das Wetter bescherte ihnen einen schönen Spätherbst.

.-.-.-

Und Jan erwachte. Sein Schädel brummte. Er war verkatert. Wieder ist es lang geworden, auf der Baustelle. Aber seine Brigade hatte gut geschafft und sie hatten sich die Prämie verdient. Einen Teil davon hatten sie gleich in der Kneipe umgesetzt.

Und dann war da dieser Traum. Der Traum von seiner Kindheit. Er sah all die Gesichter wieder. Eigentlich hätte er glücklich sein müssen. Schon Jahre hatte er nicht mehr von seinen Kindheitserlebnissen geträumt. Viele Sachen schmerzten, andere ließen ihn leicht schmunzeln.

Er ging zum Waschbecken und ließ sich das kalte Wasser in die Hände laufen, um es sich dann ins Gesicht zu klatschen. Er versuchte so leise wie möglich zu sein. Nicht dass er den Kollegen noch weckte. Auch er hatte einen Teil seiner Prämie umgemünzt.

Jan war irritiert, der Traum wirkte so wahr. Er hatte alles so deutlich wahrgenommen. Und nun blieb ein schaler Nachgeschmack hängen. Er griff sich sein Hemd, die Zigaretten und die Geldbörse und verließ auf Zehenspitzen die Arbeiterunterkunft.

Auf dem Weg zur Kneipe holte er Luft. Es war Sonntag, aber diese kleine Kneipe hatte immer eine offene Tür für die Bauarbeiter. Er setzte sich an einen freien Tisch und konnte von hier aus seinen Blick über die Weiten der Ostsee schweifen lassen.

Er dachte wieder an seinen Traum. Was ist seitdem alles passiert? Viel hatte sich verändert. Er hatte sich verändert.

Im Spätherbst 1945 begann die Schule wieder. Er holte seinen Abschluss nach. Auch Reiner, Fritz, Kurt, Hilde und Gerda waren dabei. Es machte Spaß, wenn auch der Mangel an richtigen Schulsachen noch groß war. Sie lernten andere Schüler kennen. Es war eine schöne Zeit. Auch wenn es neben der Schule immer noch Arbeit auf dem Hof gab.

Jan dachte daran, wie sehr Reiner und er ihre Beziehung geheim hielten. Die anderen erzählten auch nichts, keiner ahnte, dass sie ein Paar waren. Dann, im August 1947 passierte es. Reiner war schon Monatelang in ein Loch gefallen.

Nur Jan, der ihn besser als alle anderen kannte wusste davon. Es nagte an ihm, dass er seine Großeltern nicht mehr sah. Eine Postkarte kam seit der Flucht aus dem Dorf bei ihm an. Sie teilten ihm mit, dass sie in der Nähe von Hamburg wohnten. Sooft er auch zurückschrieb, es kam keine Antwort zurück.

„Jan, noch ein Bier und einen kurzen?“, fragte die Bedienung und riss ihn aus seinen Grübeleien. „Ja, bring mal, danke“, und lächelte kurz zu der Kellnerin, die fröhlich schaute. Er war bekannt. Überall auf der Baustelle wurde er geschätzt, was auch auf seine ganze Brigade abfärbte.

Sie stellte die Gläser vor ihn auf den Tisch. „Ich hab noch zu tun“, sagte sie, als sie in sein grüblerisches Gesicht sah. Sie wusste, dass er allein sein wollte. Es kam nicht oft bei ihm vor, aber sie ließ ihn mit seinen Gedanken allein.

Jan dachte wieder an Reiner. Jan hatte ihn schließlich überredet zu ihnen zu fahren. Dieses Thema ließ sie immer wieder in Streit geraten. Schließlich hatte es Jan geschafft. Reiner packte seine Sachen und wollte sie besuchen. Zwei Wochen wollte er wegbleiben. Er hat ihn bis heute nicht wiedergesehen. Es kam auch keine Karte, kein Brief.

Jan zog die Luft scharf ein und kippte den Schnaps in den Mund. Er brannte, wie die Erinnerung an Reiner. Sein Blick glitt über die Ostsee. Ruhig war sie heut. Keine Wellen waren zu sehen.

Wieder glitt er ab. Er sah sich, wie er Monatelang trauerte. Keiner konnte ihn aufmuntern. Fast wäre er zu einem Außenseiter geworden, aber da lernte er jemanden kennen. Es erwischte ihn wie ein Blitz. Er hätte es nie für möglich gehalten, aber es passierte ihm!

Eines Tages stand sie vor der Klasse. Sie war sechzehn, so alt wie er. Ihr glattes dunkelblondes Haar fiel auf ihre Schulter und ihr Lächeln war einfach hinreißend. Sie sah so schüchtern aus, wirkte fast zerbrechlich. Er hatte sich noch nie für Mädchen interessiert, aber hier musste er eine Ausnahme machen.

Er lächelte vor sich hin, sah die schüchternen Versuche, die er unternommen hatte um ihr näher zu kommen. Und schließlich waren sie irgendwann ein Paar. Die Großeltern und die Mutter freuten sich wahnsinnig, als er sie vorstellte. Wie glücklich sie alle waren.

Und er liebte sie! Sie schenkte ihm als sie achtzehn Jahre waren einen Jungen. Zehn Jahre später eine Tochter. Die Erinnerung schmerzte. Sie hatte die Geburt nicht überlebt, aber Katrin war ein gesundes Kind.

Nun stand er da, mit zwei Kindern und war allein auf der Welt. Die Großeltern waren inzwischen verstorben, seine Mutter konnte sich nicht um die Kinder kümmern. Er hatte nach der Schule Maurer gelernt. Ein Beruf, der ihn ausfüllte. Sie hatten sich das Haus der Großeltern ausgebaut. Nach dem Tot seiner Frau fiel er in ein Loch.

Dann bekam er ein Angebot. Er konnte es nicht ausschlagen. Er sollte nach Rostock gehen und mithelfen den Hafen auszubauen. Alle redeten auf ihn ein, bis er schließlich nachgab. Aber wollte er nicht einfach nachgeben? Immer, wenn er in das Gesicht seines Jungen schaute, sahen ihn die Augen der Mutter an.

Es war eine Flucht gewesen, als er schließlich die Koffer packte und sich auf den Weg zur neuen Arbeit machte. Eine Flucht vor seinen Kindern. Er konnte nicht anders. In das Haus zog eine alte Witwe ein, die sich um die Kinder kümmern sollte. Jeden Monat schickte er pünktlich Geld. Zuerst hatte er noch ein schlechtes Gewissen, dann aber ließ es im Laufe der Jahre nach.

Inzwischen schrieben sie das Jahr 1962. Und heute, nach seinem Traum kam alles wieder hoch. Er schüttete sich schon den dritten oder vierten kurzen rein, gemischt mit Bier, dann begann er wieder zu vergessen. Er dachte wieder an die Baustelle, was seine Brigade noch alles schaffen musste.

Seine Brigade war nun die Familie. Die Erinnerungen an seine Kinder rückten immer weiter in den Hintergrund, schließlich waren sie nichts mehr, als der schale Geschmack, den das Bier auf seiner Zunge hinterließ. Als er am nächsten Tag mit brummendem Schädel auf der Baustelle stand, hatte er sein Leben wieder. Keine Gedanken gingen an seine Kinder.

Frank wurde durch das energische Klopfen an seiner Tür geweckt. Er schrak hoch. „Ja“, rief er verschlafen, „ich bin wach.“ Dann hörte er die Schritte, die sich entfernten und schlug die dünne Decke zurück.

Er sah die Bescherung. Wieder hatte er einen wilden Traum gehabt, der seine Spuren im Bett hinterlassen hatte. Betrübt schüttelte er den Kopf und versuchte mit einem alten Tuch das meiste aus der schmutzigen Bettwäsche zu schrubben.

Er zog sich schnell die Sachen an, die schon lange nicht mehr gewaschen wurden. Er wirkte immer schäbig, aber schon lange machte er sich keine Gedanken mehr um sein Aussehen. Es war ihm egal. Die Witwe, die im Haus wohnte, hatte auch keinen Blick dafür. Sie war immer beschäftigt, hatte immer zu tun. Schließlich musste sie sich den ganzen Tag um seine Schwester kümmern, da hätte sie nicht auch noch Zeit, um für den halbwüchsigen Jungen da zu sein.

Letztendlich saß sie den ganzen Tag vor dem Haus und genoss ihren Bohnenkaffee. Die kleine Katrin spielte in ihren schmutzigen Sachen im Hof. „Nach der Schule kommst du nach Haus, im Garten muss Unkraut gezogen werden“, rief sie ihm noch hinterher, als er sich vom Hof schleichen wollte.

Frank verdrehte die Augen. Ausgerechnet heute musste das sein! Dabei hatte er doch gestern eine Entdeckung gemacht, die er mit Peter näher auskundschaften wollte. Ach, soll die Alte doch keifen. Auf dem Weg zur Schule traf er seinen einzigen Freund, den er hatte. Peter machte ein betrübtes Gesicht.

„Frank, ich kann heute nicht kommen. Muss nach der Schule wieder nach Hause und Vater helfen.“ Jan fluchte innerlich. „Da kann man nichts machen“, sagte er traurig und schnippte einen Stein vor Wut weg, der auf dem Weg lag.

Frank kannte den alten Fuhrmann. Das Rheuma plagte ihn schon Jahre und immer wenn er nicht auf den Bock kam, musste Peter einspringen. Und es gab noch eine Seite an dem knorrigen Mann. Er scheute nicht davor zurück, den Gürtel sprechen zu lassen, wenn der Sohn nicht hörte. Nur Frank wusste davon, es war ihr Geheimnis.

„Dann gehen wir morgen, die alte Witwe hat mich auch zum Unkrautziehen verdonnert.“ Sie sahen sich an und mussten grinsen. In der Schule wurden die beiden wie immer kaum von den anderen beachtet. Sie teilten sich eine Bank ganz hinten im Klassenraum.

Die Klassenlehrerin war eine junge Dame, die gerade ihre Lehrerausbildung abgeschlossen hatte. Karla Gutknecht hatte noch keinen richtigen Draht zur Klasse gefunden. Es gab gute Schüler und schlechte. Dann gab es noch welche, die sie gar nicht einschätzen konnte. Und das waren ihre Sorgenkinder. Frank und Peter. Frank, der immer schmutziger zur Schule kam, machte ihr am meisten Sorgen.

Sie wusste, dass er in einem Haus abseits wohnte, die Fürsorge hatte eine alte Witwe übernommen. Der Vater hatte sich in die Arbeit geflüchtet. Mehr wusste sie nicht. Nur, dass Frank noch eine kleine Schwester hatte. Sie hatte sie einmal gesehen, als sie der Witwe im Dorfladen begegnet ist. Die kleine sah genauso schmutzig aus, wie ihr Bruder.

Die beiden waren nicht dumm, wie die Zensuren verrieten. Aber sie wollten sich nicht in die Klasse integrieren. Alles hatte man ihnen auf der Hochschule beigebracht, aber nicht, wie sie mit solchen Fällen umzugehen hatte.

Heute saßen beide in ihrer Bank und schauten noch finsterer drein. In der Nacht hatte sie überlegt, wie man die Klasse dazu bringen könnte mehr zusammenzuarbeiten. „In der letzten Stunde werden wir keine Geschichte machen, sondern etwas anderes.“ Die Klasse horchte auf, nur in der letzten Bankreihe konnte sie keine Regung feststellen.

Ungeduldig fieberte die Klasse der letzten Stunde entgegen. Dann war es endlich so weit. Fräulein Gutknecht stand vor der Klasse, setzte ihr freundlichstes Lächeln auf und begann. „Ich möchte, dass sich jeder von euch etwas überlegt, was die Klasse als Gemeinschaftsprojekt machen könnte. Es sollen dabei alle Schüler mit einbezogen werden.“

Alle sahen sich erstaunt an. Wildes Gemurmel entstand. Frank lehnte sich zu Peter rüber. „Vielleicht sollten alle bei uns mitmachen? Das wäre was“, und grinste. Peter musste auch lachen.

„Frank, hast du einen Vorschlag?“ Die Klasse drehte sich nach hinten, sah aber nur noch teilnahmslose Gesichter. „Nein, ich weiß nichts“, nuschelte Frank, dem es unangenehm war, im Mittelpunkt zu stehen.

Fräulein Gutknecht schaute durch die Reihen. Es wurden einige Vorschläge gemacht, die aber allesamt nicht auf viel Gegenliebe stießen. Es wurde streckenweise hoch her diskutiert, aber man konnte sich auf nichts einigen. „Also“, schloss die Lehrerin die Stunde, „ich möchte, dass ihr noch einmal darüber nachdenkt. In der nächsten Woche sprechen wir noch einmal darüber.“

Die Klingel erlöste sie. Sie hatte wieder einmal das Gefühl, versagt zu haben. Aber ihr fiel auch nichts ein, was man der Klasse vorschlagen konnte. Und Anregungen, wie sie erhofft hatte, waren auch nicht bei den Schülern der Klasse dabei.

Frank und Peter gingen wie immer zusammen nach Haus. „Meintest du das ehrlich, vorhin?“ „Nein, sollte nur ein Spaß sein“, sagte Frank und Peter grinste. „Und ich dachte schon.“ „Das machen nur wir zwei. Morgen, wenn es klappt. Ich hab die Axt schon versteckt, dass die Witwe sie nicht findet“, Frank musste bei seinen Worten grinsen. Am liebsten hätte er schon allein angefangen, aber er wollte auf Peter warten.

Frank zupfte das Unkraut und dachte immer wieder an sein Vorhaben. Der letzte Sturm hatte am Kanal einen Baum umgeworfen. Nur eine dicke Wurzel hielt ihn noch. Er entdeckte ihn, als er mit Peter am Kanal nach Krebsen suchte. Die Baumkrone schaute zur Hälfte hinaus. Diese Äste wollten sie abschlagen, die unter Wasser sollten als Kiel dienen. So hätten sie ein vorzügliches Floß. Nur Paddel mussten sie noch besorgen.

Da hatte er einen Einfall. Er ließ die Hacke fallen und lief in den Schuppen. Dort hinten in der Ecke waren noch die alten Bretter. Zwei davon sollten nun den Dienst als Paddel antreten. „Bist du schon fertig?“, keifte die Witwe. Frank war begeistert von seinem Fund.

Grinsend ging er an der Gartenbank vorbei zum Beet. Die Witwe sah seinen Blick und grübelte, was er nun wieder ausfressen würde. Aber der nächste Schluck Bohnenkaffee ließ sie wieder vergessen.

Am nächsten Tag erzählte Frank aufgeregt von seinem Fund. Peter war begeistert. Er hatte heut keine Arbeit, also konnte ihr Vorhaben starten. Sie fieberten dem Ende entgegen. Die Klingel erlöste sie und so schnell sie konnten rannten sie zum Kanal.

Hier lag er. Er war nicht besonders groß, aber wenn sie erst mal die Äste ab hatten, würde er vielleicht für vier bis fünf Mann reichen. Sie machten sich an die Arbeit. Ast für Ast trennten sie vom Stamm. Die Arbeit war schweißtreibend, aber sie freuten sich über das geschaffte.

Als sie den Weg nach Haus einschlugen waren sie voller Ideen. Wohin könnten sie damit paddeln? Der Kanal hatte keine große Strömung, würden sie dagegen ankommen flussaufwärts?  „Was machen wir eigentlich, wenn wir den Baum loshaben? Wir müssen ihn wieder verstecken.“ Peters Frage war berechtigt. Frank hatte sich darüber auch schon den Kopf zerbrochen.

„Wir machen ihn erst mal los, dann lassen wir uns ein wenig mit der Strömung treiben und suchen einen sicheren Platz. Wir brauchen noch ein starkes Seil, damit wir ihn festbinden können. Hast du eins, Peter?“

Peter überlegte. Im Schuppen lagen genug, was aber, wenn der Vater herausbekäme, dass er eins mitgenommen hat? „Ich bringe morgen eins mit“, und fegte seine Bedenken beiseite. „Gut, ich bring die Paddel mit“, und beide waren freudig erregt.

Frank träumte in der Nacht von einem riesigen Floß, mit einer Hütte darauf. Er sah sich am Steuer stehen und Peter saß an der Spitze und ließ die Füße im Wasser treiben. Das heftige Klopfen an der Tür ließ seinen Traum verblassen. Wieder begann ein Tag und die Schule wollte kein Ende nehmen.

Endlich standen sie vor ihrem Baum. Peter bezog an der Krone Stellung. Er schob seine Beine durch zwei Äste unter dem Wasser. Frank stand hinten an der Wurzel. Sein Paddel lag griffbereit. „Fertig?“

„Fertig“, kam es von Peter. Frank begann mit der Axt die Wurzel zu durchtrennen. Er spürte es, dass es nicht mehr lange dauern würde. Dann riss sich der Baum vom Rest der Wurzel und alles geschah gleichzeitig.

Der Stamm drehte sich zuerst leicht, Frank verlor das Gleichgewicht. Er schmiss im Fallen die Axt noch an Land, dann tauchte er unter. Der Baum neigte sich immer mehr, auch Peter konnte sich nicht mehr halten und wurde abgeschmissen. Die Paddel lagen beide im Wasser und drohten von der Strömung mitgerissen zu werden.

„Das Paddel“, rief Frank, als Peter den Kopf wieder über Wasser hatte. Der schaute sich erst benommen um, dann sah er sein Brett wegtreiben. Mit einigen schnellen Schwimmbewegungen hatte er es wieder. Dann sah er Franks Paddel kommen. „Ich hab es, schwimm du zum Baum.“ Frank ließ es sich nicht zwei Mal sagen. Der Baum hatte sich inzwischen in die Strömung gedreht, die Krone war hinten, auf die Frank zuhielt. Er zog sich hoch und setzte sich rittlings auf den Stamm.

Peter war inzwischen auf seiner Höhe und reichte Frank das Paddel nach oben. Er hangelte sich am Stamm entlang und schwang sich ebenfalls rauf. Die Strömung trieb den Baum etwas an. Frank versuchte von hinten zu steuern. Er rief Peter zu, an welcher Seite er paddeln sollte. Bald hatte er den Bogen heraus.

Er wurde immer sicherer. Auch Peter, der sich an die Anweisungen von Frank hielt, bemerkte die Sicherheit, mit der Frank steuerte. Schließlich steuerte Frank den Baum ans Ufer. Peter hat den Strick um die Wurzel gebunden, das andere Seil warf er Frank hinüber.

Es dauerte nicht lange und der Baum lag fest vertäut am Ufer. „Mann, war das Klasse“, Peter war immer noch ganz aus dem Häuschen. „Morgen machen wir weiter“, freute sich Frank. Sie liefen lachend und Pläneschmiedend auf den Weg zurück.

Als sie die Stelle erreicht hatten, wo der Baum vorher vom Sturm umgekippt wurde, schlugen sie sich durch das Unterholz und holten die Axt von Frank. Dass die beiden beobachtet wurden bemerkten sie nicht. Noch ahnten sie nicht, dass das der Beginn einer Zeit war, die alles ändern sollte.

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1 Kommentar

    • micha834 auf 4. November 2012 bei 00:23
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    Hallo danke für die schöne Geschichte
    aber ich komme manchmal nicht mit was ist mit Jan ?
    jetzt bist du schon bei Jans Kinder ?
    oder sehe ich das falsch ?

    MfG

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