Zoogeschichten I – Teil 2

2. Das Findelkind

Aus dem Augenwinkel heraus sah ich Sabine, wie sie sich langsam dem Käfig näherte. Sie löste eine Entriegelung und schon knallte der Schieber herunter, der meinen und des Bären Käfig verband.

Der Knall schreckte den Bär auf, der nun sehr schnell das Weite suchte und nach draußen verschwand. Nun schloss Sabine auch diesen Schieber und ich atmete tief durch.

„Erste Regel Dennis, immer schauen, dass alle Schieber zu sind!“

Ich stolperte fast aus dem Käfig und setzte mich auf den Boden, ich zitterte am ganzen Leib.

„Sorry, ich wollte dich nicht anschreien – aber als ich den Bären sah und den offenen Schieber – du hättest es nicht gemerkt, wenn er sich an dich rangeschlichen hätte.“

Ich konnte nicht antworten. Mein Herz schlug mir hoch bis in den Kopf. Ich lehnte mich an die Wand.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Geht gleich wieder, ich habe mich nur so erschrocken.“

„Und das am ersten Tag. Ich denke, du wirst in Zukunft immer schauen, ob alles sicher ist.“

„Darauf kannst du dich verlassen!“, meinte ich.

Sie lächelte.

„Einen Kaffee?“, fragte sie.

Ich nickte, denn der Schrecken, steckte mir immer noch in den Gliedern.

„Dann komm mal mit.“

Ich folgte ihr wieder zurück zum Aufenthaltsraum, wo meine Sachen lagen. Sie zeigte auf einen Stuhl und ich setzte mich.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie mich.

„Siebzehn, werde in einem halben Jahr volljährig. Aber noch so eine Aktion, und ich zweifle daran.“

Sabine lachte laut und stellte mir den Kaffee hin.

„So schnell stirbt es sich nicht.“

„Ah, Kaffeepause“, sagte ein junger Mann, der auch den Raum betrat.

„Ja Michael, aber eher eine Nervenpause“, meinte Sabine.

„Wieso?“, fragte Michael, während er sich auch einen Kaffe einschenkte und mich gar nicht wahrnahm.

„Das ist Dennis hier, er fängt heute seine Lehre bei uns an. Er hat grad einen Bärenkäfig gefegt, aber es stand noch ein Schieber offen. Tamara hat ihn besucht.“

Michael rührte in seiner Tasse herum.

„Och das alte Mädchen, die hätte ihn schon nicht gefressen.“

„Typisch Michael, immer alles herunterspielen.“

Da hatte Sabine völlig Recht. Also ich hatte den Typ jetzt gefressen, so arrogant wie er rüber kam.

„Kommt ihr nachher rüber zum Gazellengehege?“, fragte Michael und steckte sich eine Zigarette an.

„Warum denn?“, fragte Sabine.

„Du weißt doch, wir bekommen heute die neuen Antilopen, da ist jede hilfreiche Hand willkommen.“

„Okay und wann?“

„In einer Stunde ungefähr soll der Transport da sein.“

„Gut, bis dahin sollte ich mit Dennis hier fertig sein.“

„Kannst ihn ja mit einem Bären antreiben!“, meinte Michael und fing wieder an zu lachen, was ich nicht Besonders lustig fand.

„Also bis gleich“, und schon war er wieder verschwunden.

Sabine schien in meinem Gesicht lesen zu können.

„He, so hat er das nicht gemeint Dennis. Michael ist bekannt für seine lockeren Sprüche, den darfst du nicht ernst nehmen.“

„Tu ich bestimmt nicht“, meinte ich leicht ärgerlich.

Dennoch, seine dunkelbraunen Augen waren mir sofort aufgefallen, die mit jedem Lächeln genauso strahlten. Ich verdrängte diesen Gedanken recht schnell. Ich wollte nicht, dass hier gleich jeder erfuhr, dass ich auf Jungs stand. Musste es überhaupt jemand wissen?

*-*-*

Es dauerte noch eine Weile, bis wir alles sauber hatten. Ich hätte nie gedacht, dass Bären beim Schlafen soviel Dreck verursachen können. Bevor wir das Bärenhaus verließen, schaute ich noch mal kurz bei dem kleinen Klammerbären vorbei.

Er lag fest schlafend und eingerollt auf seiner Decke, man konnte nur ein leises Murren hören.

„Schlaf schön weiter“, sagte ich leise und kraulte ihn am Kopf.

Ich schloss sachte den Deckel wieder, um ihn nicht zu wecken. Dann folgte ich Sabine nach draußen. Frische Luft kam mir entgegen. Stimmt, wenn man eine Weile in so einem Haus war, nimmt man die Gerüche nicht mehr wahr und empfindet sie als normal.

Sabine und ich durchliefen das Gelände. Einige Besucher drehten sich nach uns um und irgendwie war ich jetzt stolz, ein Shirt mit dem Zoologo und den Schriftzug >Tierpfleger< zu haben.

Mir fiel auf, dass ich jetzt auch wieder mehr nach den Tieren schaute, denn ab und zu blieb sogar Sabine stehen, um etwas anzuschauen.

„Kriegt ihr öfter neue Tiere?“, fragte ich.

„Das kommt schon oft vor. Zwischen den Zoos herrscht ein großes Hin und Her.“

„Und warum das?“

„Es kommt vor, dass sich Tiere nicht vertragen, dann sucht man einen Platz in einem anderen Zoo, damit sie da unterkommen. Zudem versuchen wir ja auch immer, Tiere nachzuzüchten, weil viele Arten in der freien Natur doch sehr im Bestand minimiert sind.“

„Also ist der kleine Bär auch eine Nachzucht.“

„Ja und wir haben uns wahnsinnig über ihn gefreut, weil es bisher nicht klappte.“

Wir kamen an das Savannengehege. Er war recht groß, aber die Tiere brauchten ja auch viel Auslauf. Neben Zebras und Giraffen sollten nun auch neue Antilopen ins Gehege kommen. Sabine führte mich auf einem schmalen Pfad hinter die Stallungen.

Dort waren schon jede Menge Leute versammelt und gerade schien auch der Transporter angekommen zu sein. Es war ein normaler LKW mit der Beschriftung >Tiertransport<. Es wurden Rampen herbei geschafft und hinter dem Wagen aufgebaut,

Da konnte ich Michael erkennen, umringt von Leuten, die lachten. Anscheinend war er hier so etwas wie der Clown der Truppe. Der Fahrer des Wagens öffnete die zwei hinteren Türen. Ein Blick hinein ließ mich etwas enttäuscht sein, denn ich konnte nur große Kisten sehen.

„So Leute, mal an die Arbeit, raus mit den Kisten!“, hörte ich Michael rufen.

Ich folgte Sabine zur Rampe. Drinnen befanden sich bereits sechs Leute, die die Kiste nach vorne zogen.

„Da sind die Antilopen drin?“, fragte ich Sabine.

„Ja, die einzigste sichere Transportmöglichkeit, damit sie sich nicht verletzten. Würdest du sie wie ein Pferd frei im Hänger stehen lassen, würden sie stürzen. Zudem sind sie auch ruhiggestellt.“

Mittlerweile war die erste Kiste an der Rampe angelangt. Sabine, ich und einige andere Pfleger stemmten uns gegen die Kiste, damit sie nicht einfach herunter rutschten konnte. Als sie endlich den Boden erreicht hatte, wurde sie dann bis zum Gatter geschoben, wo die Antilopen rein mussten.

Michael stieg auf die Kiste und zog den Holzschieber nach oben. Alle standen um die Kiste herum, schauten nach vorne, wo gleich eine Antilope herauskommen musste. Aber anscheinend wollte sie nicht.

Michael klopfte mit den Schuh gegen die Decke der Kiste.

„Michael, hör auf, du erschreckst sie ja noch mehr“, hörte ich jemanden sagen.

„Wenn sie Michael sieht, rennt sie eh weg“, kam es aus einer anderen Richtung.

Nun musste ich ebenso lachen, wie die Anderen und Michael verzog das Gesicht, bevor er einstimmte. In der Kiste polterte es kurz und schon sah man den Kopf der Antilope. Auch hier musste ich feststellen, dass ich noch nie so nah an den Tieren dran gewesen war.

Die zwei Hörner waren beeindruckend, ich wollte bestimmt nie in deren Nähe kommen. Endlich lief die Antilope heraus und Michael schloss den Schieber wieder.

„Geht ja leichter, als ich dachte. Kommt, die nächste Kiste“, rief er und sprang von der Kiste herunter.

Wir schoben die Kiste zur Seite, bevor wir wieder an den LKW zurückgingen. Noch Drei, dachte ich, dass kann ja heiter werden. Aber es lief so wie bei der ersten Kiste und schnell waren die Antilopen in ihrem Gehege.

Als die leeren Kisten im LKW verladen waren, folgte ich Sabine in die Stallungen, wo schon die anderen vor dem Gatter standen. Dicht aneinandergedrängt standen die Antilopen in der Ecke.

Es waren sehr schöne Tiere.

„Heute lassen wir sie vorerst in Ruhe, morgen untersuchen wir sie dann!“, hörte ich einen älteren Mann sagen.

„Das ist Doktor Reinhard, er ist für alle Tiere hier zuständig“, sagte Sabine leise neben mir.

„Für alle?“

„Ja, aber er hat noch eine Kollegin und zudem sind wir ja auch noch da, um zu helfen.“

„Wir?“

„Ja, klar!“

Na hoffentlich musste ich nicht zuschauen, wenn er Spritzen gab. Dabei wurde mir eigentlich immer schlecht.

„Hast du Hunger?“, fragte Sabine mich plötzlich.

„Schon“, antworte ich und schaute auf meine Uhr.

Mann, war die Zeit schnell vergangen. Es war schon Mittag und ich hatte mich gewundert, warum meine Magen ständig knurrte.

„Gut, dann schauen wir noch schnell bei dem Kleinen vorbei.“

Der Gedanke gefiel mir, denn den Kleinen hatte ich schon in mein Herz geschlossen. So liefen wir zurück zum Bärengehege. Sabine blieb davor, auf einer Aussichtsplattform, oberhalb des Geheges stehen.

Von hier aus konnte man alle Abteilungen gut einsehen. Aber es war nicht viel los, die Tiere dösten in der Sonne. So ging ich mit Sabine um das Gehege herum, bis wir das Bärenhaus erreicht hatten.

„Willst du den Kleinen in die Kantine mitnehmen?“, fragte mich Sabine.

„Geht das denn?“

„Na klar, der Kleine braucht erstens noch seine nächste Flasche und zweitens jede Menge Zuwendung.“

Als wir den Raum betraten, hörte ich den Kleinen schon brummen. Was man so etwas Brummen nennen kann – es war eine Mischung zwischen Fiepen und heiserem Fauchen. Sabine öffnete den Deckel und schon sah er uns mit seinen schwarzen großen Augen an.

„Nimmst du ihn heraus? Ich mach mal schnell noch die Flasche fertig“, meinte Sabine und ohne auf eine Antwort von mir zu warten, verschwand sie.

Also bückte ich mich hinunter und streckte meine Hände aus, worauf das Bärchen gleich danach griff. Ich hob ihn heraus und nahm ihn in den Arm. Er knabberte an meinen Fingern herum.

Seine Zähne waren schon ganz schön spitz, aber es tat nicht weh.

„Na du kleiner Racker, hast du gut geschlafen? Sabine macht dir deine Flasche fertig, dann bekommst du von mir was zu essen.“

Er gab einen für mich undefinierbaren Ton von sich und schmiegte sich dichter an mich heran.

„Ist dir kalt, mein Kleiner?“

Ich schaute mich im Zimmer um und konnte eine kleine Decke sehen. Ich nahm sie und wickelte sie um das Tier. Dann ging ich nach draußen zu den Käfigen, um zu Sabine zu gehen. Sie stand mit Anderen in der Küche und unterhielt sich über die neuen Antilopen.

Irgend ein Gerät gab einen Ton von sich und Sabine reagierte, trotz ihres Gesprächs. Sie nahm eine Flasche heraus, zog einen Sauger darüber. Sie ließ ein paar Tropfen auf ihr Handgelenk tropfen, bevor sie mir die Flasche gab.

„So kannst du sehen, ob die Milch nicht zu heiß ist. Oh, du hast eine Decke um ihn gewickelt! Super Dennis, du denkst mit, dann können wir sorglos nach draußen gehen.“

Ich lächelte sie an und nahm die Flasche.

„Dennis und ich melden uns ab, wir gehen etwas essen.“

Ein mehrstimmiges >Okay< war zu hören und so folgte ich Sabine wieder. Natürlich gab es Aufsehen, besonders unter den Kindern, dass ich mit einem Babybären durch den Zoo lief. Mehr als einmal musste ich anhalten und zeigen, was ich da auf dem Arm trug.

Sabine gab auf jede Frage eine Antwort. Der Kleine ließ sich aber davon nicht aus der Ruhe bringen und nuckelte eifrig an seiner Flasche. Wir hatten nach einer Weile das Hauptgebäude erreicht, in dem sich auch die Kantine befand.

„Willst du auch das Tagesmenü?“, fragte Sabine.

Ich schaute auf die Tafel. Es gab Fleisch mit Nudeln und Salat. Ich nickte ihr zu. Doch die Frage kam in mir auf, wie sollte ich essen, mit dem Bären auf dem Arm.

„Cola?“, fragte Sabine.

„Nein, lieber Apfelsaftschorle.“

Sie wies mir einen freien Tisch, wohin ich mich dann auch mit dem Kleinen begab. Kaum saß ich, da wurde die Tür zur Kantine aufgestoßen. Michael. Er hatte noch ein paar Kollegen um sich.

Der Kleine hatte mittlerweile seine Flasche leer, die ich dann auf den Tisch stellte.

„Ach guckt doch mal unser Neuer, der spielt in dem Alter noch mit Bärchen.“

Irgendwie wurde ich jetzt richtig sauer auf ihn und warf ihm einen dementsprechenden Blick zu. Alle lachten natürlich, wie er auch, aber als er meinen Blick sah, verstummte er.

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