Angelo reckte sich mir ein bisschen entgegen und in dem Moment, wo sich unsere Lippen berührten, durchfloss mich ein ungeheurer Strom. Ich wurde auf der Stelle federleicht, die riesige Anspannung der letzten Wochen und Tage begann sich auf der Stelle zu legen.
Denn, dieser Kuss war echt. Nichts gekünsteltes, gespieltes, kein mal-eben-so. Schon die Dauer sprach gegen so eine Vermutung und er küsste mich sogar fester als je zuvor.
Ich spürte Angelos Hände auf meinem Rücken, wie sie langsam auf und abfuhren; und versank in diesem Kuss, genoss jede Sekunde, so lange er dauerte. Unsere Zungen begangen das Wiedersehen mit einem wahren Freudentanz, aber gleichzeitig wurden auch meine verpennten Hormone wieder lebendig. Auf einen Schlag eigentlich. Ich hatte einfach Lust, den Rest des Tages genau so zu verbringen. In seinem Bett von mir aus, Hitze hin oder her und die machte sich jetzt durch Schweißperlen auf unserer Stirn bemerkbar. Trotzdem, gab es was Schöneres? Nein, nichts. Alles was sonst noch so im Raum stand um mich herum versank in Bedeutungslosigkeit.
Irgendwann lösten sich unsere Lippen und meine Hände hatten inzwischen längst Angelos Haare strubbeliger gemacht als sie es eh immer sind. Ich hatte ihn wieder. Nicht für diesen Augenblick, nein, diesmal würde ich ihn nicht wieder loslassen. Egal, wie wir das anstellen wollten.
»Angel… « Irgendwie hätte ich da gern was gesagt, aber mir fiel einfach nichts passendes ein.
»Sag mal, wo habt ihr denn das Auto geparkt? Ronald kommt gar nicht wieder.«
War mir echt nicht aufgefallen. In so einer Situation hat man ja alles, bloß kein Zeitbegriff. Aber das war tatsächlich etwas merkwürdig. Gut, ich mutmaßte ja eh, dass er sich nur deswegen verdrückt hatte weil er uns alleine lassen wollte. Allerdings.. »Ich schau mal nach.« Von hier oben konnte man nicht auf die Straße sehen, der Balkon lag rückseitig am Haus.
Ich ging zur Wohnungstür und als ich sie öffnete, saß Ronald auf der letzten Stufe. Er spielte irgendwie mit seinem Handy.
»Ach, wir wollten schon eine Vermisstenmeldung abgeben«, lachte ich. »Warum sitzt du denn da draußen?«
Ronald schaltete das Spiel aus und grinste mich an. »Ich dachte mir, was ihr euch zu sagen habt geht mich nichts an..«
Ach, er war ja wirklich allerliebst. »Komm rein, hier ist’s nicht sonderlich gemütlich.«
Unter der Tür hielt er mich am Arm fest. »Ralf, wie ist’s gelaufen?«
»Kann dich beruhigen. Alles wieder im Lot. Ähm, also war der Wagen gar nicht offen?«, grinste ich.
Und er zurück. »Nö, aber sowas passiert schon mal. Kontrolle ist besser..«
Wir traten zu Angelo auf den Balkon. Er sah noch immer ziemlich strubbelig aus und Ronald musste nicht erst Eins und Eins zusammenzählen. Wie der sich gefühlt hat, ich mein, er würde sich ja bestimmt Gedanken gemacht haben..
Nun saßen wir zu dritt da draußen. Streng genommen war meine Mission irgendwie beendet, aber ich wollte auf keinen Fall schon gehen. Immerhin hatte ich diesen und den nächsten Tag noch zur Verfügung. Schön blöd, wenn ich das verschenkt hätte.
»Ich meld mich mal bei meinen Eltern..«, sagte ich und begab mich in die Wohnung. Also, in die Räumlichkeiten, die einmal wohnlich werden sollten.
»Hallo Mam. Ich.. ja, also das mit Angelo und mir dauert noch ein bisschen… Wie? Ja, die Nacht war ok. Ein bisschen kurz, aber.. Wann? Ja, also ich denk ich werde morgen Abend fahren.. Ja, ich hab noch Geld.. Sicher, sonst geht’s mir gut. Sag Paps einen Gruß. Ich meld mich wieder. Ciao.«
So, damit waren die beruhigt und ich konnte versuchen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ah, die beiden unterhielten sich da draußen..
Ich hörte Angelo sprechen.. ».. ich werde es versuchen.. Aber wie.. werde ich die denn los?«
Ronald antwortete ihm. »Ganz einfach: Du stellst dich hin und sagst nein. Basta.«
Wenn’s da mal nicht um Willard ging.. So wie ich es einschätzte, wollte Angelo der Sache ein Ende bereiten. Nun gut, ich würde ihn dabei unterstützen, sofern da was in meiner Macht stand.
Kaum hatte ich den letzten Satz zu Ende gedacht, klingelte es an der Tür. Gefahr bestand eigentlich nicht, noch immer prangte ja da unten das falsche Namensschild.
Angelo war bereits aufgestanden und wollte an mir vorbei. Ich hielt ihn auf. »Angel, das könnten.. die wieder sein.«
Er sah mich mit großen Augen an. »Und.. was soll ich dann machen? Lass mal, irgendwann muss ich mit ihnen reden.«
»Du, wirst also nicht zusagen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Mir fiel ein ganzer Steinbruch vom Herzen. Hüpf, hüpf. Sieg auf er ganzen Linie.
Angelo nuschelte etwas in die Sprechanlage und ich lauschte gespannt auf die Antwort von unten. Verständlicherweise wurde ich von einer unsäglichen Neugier geplagt. Leider verstand ich kein Wort. »Wer ist es denn?«, fragte ich deshalb, nachdem Angelo auf den Knopf zum Türöffnen gedrückt hatte.
»Sebastian.«
»Bitte?« Das sollte verstehen wer will. »Aber.. der arbeitet doch.«
»Scheinbar nicht. Zumindest jetzt nicht.«
Kurz darauf stand Sebastian so quasi atemlos unter der Tür. »Hallo zusammen. Angelo, du musst mitkommen. Mach dich bitte schnell fertig. Aber keine alten Klamotten.«
Angelo sah mich an, dann Sebastian. »Ist etwas passiert?«
»Ja und nein. Ich erklär dir das unterwegs. Mach hin.«
Au, das schien wirklich zu brennen. Als Angelo im Bad verschwunden war, musste ich meine Neugier befriedigen. »Sebi, wasn los?«
»Ähm.. ich.. also es ist alles in Ordnung. Mehr kann ich dir im Augenblick auch nicht sagen. Du erfährst es noch früh genug.«
Das war dann aber echt geheimnisvoll. Nun, mir war klar dass ich zumindest zu dem Zeitpunkt nicht mehr erfahren würde und unterließ weitere Fragen. »Dauert’s lange? Ich mein, sollen Ronald und ich hier warten?«
»Ja, tut das. Länger als Nachmittag irgendwann wird’s nicht dauern.«
Sebastian wusste, um was es ging und dass er während seiner Arbeitszeit Angelo so drängte, dürfte schon einen dringenden Grund haben.
Ronald kam zu uns. Ich erklärte ihm kurz, dass wir hier auf Angelo warten würden.
Nach kurzer Zeit kam mein Hase aus den Bad. Wie konnte man sich in so kurzer Zeit so schick rausmachen? Ich würde Stunden dafür brauchen. So wie Angelo jetzt aussah, hätten Scharen von Reportern da unten ihre helle Freude. Ja, kein Zweifel. Willard wusste, warum er Angelo auf den Fersen blieb. Aber nun war er zunächst mal in sicheren Händen.
Eilig verließen die beiden die Wohnung und mir schien, als käme es auf jede Sekunde an.
Nach einer Minute oder so klopfte es plötzlich wie wild an der Tür. »Ich bin’s noch mal, Sebastian«, hörte ich es von draußen.
Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, stürzte er in das Wohnzimmer. »Wo ist denn bloß..?« Aufgeregt räumte er ein paar Kisten beiseite.
Mir dämmerte es aber recht schnell. Ich ging in die Ecke, wo ich das Corpus Delicti zuletzt gesehen hatte. »Suchst du.. das hier?« Dabei hob ich den schwarzen Kasten hoch.
»Ja, meine Güte. Margie, das Wichtigste überhaupt. Du bist ein Schatz..« und damit kassierte ich einen Kuss – mitten auf den Mund. Das war nicht notwendig, so direkt. Sebastian hatte bestimmt die Gunst der Sekunde genutzt.. Nun gut, es brachte mich am Ende ja nicht um. »Warum.. hat sie Angelo nicht geholt?«, rief ich Sebastian hinterher.
»Der kann sich jetzt keine Schwitzflecken leisten«, rief er zurück und eilte, drei Treppenabsätze gleichzeitig nehmend, hinunter.
Logisch eigentlich.. was war denn da bloß so dringend?
»Was fangen wir denn an mit dem Tag?« fragte ich Ronald neben mir, er hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
»Keine Ahnung.«
Ich sah mich um, aber in der Wohnung konnte man definitiv nichts machen. Viel zu chaotisch alles. Ein fauler Tag einlegen, so richtig mit Nichtstun?
»Ronald, ich geh mal runter und wechsle das Namensschild wieder aus.«
»Warum das denn?«
»Weiß nicht.. aber so lassen kann man’s auch nicht.«
Damit verließ ich die Wohnung und taperte nach unten. Schön gemächlich, ich hatte viel, viel Zeit. Man soll sich bei der Hitze ja auch nicht schnell bewegen. So etwa im 3. Stock klingelte mein Handy.
»Hallo Ralf.«
»Hallo Werner.« Ich muss doch ziemlich verdutzt ausgesehen haben.
»Wie läuft’s?«
„Pass auf was du sagst. Kann alles gegen dich verwendet werden.“ Nanu, was wollte mir meine innere Stimme denn damit sagen?
»Hallo? Alles klar bei dir?«
Zu lange nachgedacht. »Ähm, na ja, es geht so einigermaßen.«
»Das klingt, als hättest du noch keinen richtigen Erfolg gehabt? Was macht Angelo?«
Der wollte es genau wissen. Nun, sein gutes Recht irgendwie. Er war ja mein Aufpasser, so ungefähr. „Erzähl im nichts von Friede und Freude!“ Ja, besser war das. Denn wenn jetzt noch etwas dazwischenkommen sollte, hatte ich die Arschkarte in der Hand. »Ich.. bin dran, ja. Aber es ist nicht ganz so einfach, weißt du..«
Pause.
»Du klingst nicht besonders glücklich..«
Oh, das hatte er dann wohl missverstanden. Sollte ich ihm sagen, dass ich absolut keinen Bock darauf hatte, bei dieser Wüstenhitze arbeiten zu gehen? Nein, bloß nicht so direkt. Das könnte als Arbeitsverweigerung angesehen werden.
»Hör zu, Ralf. Die vom Wetterbericht meinten, dass die kommenden Tage über 35 Grad zu erwarten sind.«
»Ja, ich hab’s mitbekommen. Sauheiß.«
»Unser Cheffe hat seine soziale Ader rausgehängt. Er hat uns bis Montag freigegeben, es ist Mord jetzt da oben – meinte er.«
Oh, welch glückseligen Verknüpfungen. »Aha. Da hat er ja aber nicht unrecht. Und.. nun?«
»Ja, also wenn du da in Frankfurt noch Zeit brauchst.. es liegt an dir. Vor Montag musst du nicht herkommen.«
»Jep, und Montag fängt die Schule wieder an.«
»Eben. Also, du weißt Bescheid. Im übrigen soll ich dich von deinem Onkel grüßen.. er drückt dir die Daumen..«
Auch recht. »Danke, kann’s brauchen.«
»Aber es ist alles okay mit dir?«
»Ja, Werner, bestimmt. Vielen Dank für deinen Anruf und Grüße zurück.«
Zack. Da stand ich im Treppenhaus und starrte auf mein Handy. Abgesehen davon, dass meine Bitte erhört worden war, blieb mir tatsächlich noch Zeit. Jede Minute, die ich mit Angelo zusammensein konnte, wollte ich auskosten.
Langes Überlegen konnte schadhaft sein, somit rief ich rasch die Nummer meiner Mutter auf.
»Hallo Mam. Es.. also ich muss vor Sonntagabend nicht zurück. Wir haben frei..«
»Ja, ich weiß, Onkel Herbert hat uns Bescheid gesagt. Bleibst du jetzt oben.. oder wie?«