You are not alone – letzter Teil

Ich war gerade dabei, Zwiebel für den Salat zu schneiden, als mein Mann mit einem Bündel Post herein kam.

„Du Schatz, kennst du einen Tom Miller?“, fragte Michael.

„Nicht dass ich wüsste.“

Er hob mir einen Brief unter die Nase.

„Aus Australien.“

„Australien?“

Ich legte das Messer zur Seite, wusch schnell meine Hände ab und zog ihm den Brief aus der Hand. Er dagegen lächelte und setzte sich mit dem Rest der Post an die Küchentheke. Schnell war der Brief geöffnet.

Hallo Christopher,

ich heiße Tom Miller stamme aus den Staaten, genauer aus San Fransisco und durch familiäre Umstände hat es mich nach Australien verschlagen. Warum ich dir schreibe, liegt daran, dass ich vor einiger Zeit ein Schreiben einer Kanzlei Louis & Armstrong ( die dir sicher bekannt sein dürfte)  aus New York bekommen habe, die mir mitteilten, dass ich noch Familienangehörige hätte, die mir meine Schule und auch mein Studium finanzieren.

Da erfuhr ich auch von dir. Leider habe ich nur diese Postfachadresse bekommen, so schreibe ich dir eben einen Brief. Unsere Großväter müssen wohl eng miteinander verwandt gewesen sein.

Zur mir selbst kann ich noch sagen, ich bin jetzt siebzehn Jahre alt, wohne bei meinem Onkel Bob, seiner Frau Abby und deren Tochter Molly. Sie heißen auch Miller wie ich, sind also auch mit dir verwandt.

„Du ich habe Verwandtschaft in Australien“, sagte ich und schaute auf.

„Und ich wieder eine Absage für ein Praktikum.“

Michael ließ seinen Brief sinken. Ich legte meinen Brief auf die Theke ab, setzte mich zu ihm und nahm ihn zärtlich in den Arm.

„Komm, lass die Löffel nicht hängen. Irgendwer, wird schon zu sagen.“

„Und wenn nicht?“

„Micha…, du hast ein super Studium hingelegt, hast super Referenzen vom Amt bekommen, da sollte einer doch bestimmt eine kleine Praktikantenstelle für dich frei haben.“

Er seufzte kurz.

„Im Amt möchte ich sie halt nicht machen, dass sieht so nach Vetternwirtschaft aus. Aber ich brauchte dieses Praktikum, um diesen Fortbildungskurs zu schaffen.“

Er räumte die restliche Post auf einen Stapel und schaute zu mir.

„Auch einen Kaffee?“

Ich nickte. 

„Was hat es mit deinem Verwandten da auf sich?“, wechselte er das Thema.

Den hatte ich jetzt irgendwie vergessen, ich nahm den Brief wieder auf und lass laut vor.

Da Mr. Lukas mir mitgeteilt hat, ich könne dir ruhig alles schreiben, werde ich dir einfach alles erzählen, was die familiären Umstände betrifft. In Kurzfassung: Meine Mutter hat uns, als ich klein war, verlassen und ich wurde von meinem Vater groß gezogen.

Als er seinen Job verlor, begann er zu trinken und gab mir die Schuld, dass meine Mutter weg war. Aber als er mitbekam, dass ich schwul bin, kam es zu einem großen Streit.

„Habt ihr ein schwules Gen in der Familie?“, fragte Michael grinsend und stellte mir den Kaffee vor die Nase.

„Danke! Wenn zwei in der Familie schwul sind?“

Ich musste selbst grinsen und nahm einen Schluck Kaffee.

„Lies weiter, der Kleine scheint ja nicht viel Glück gehabt zuhaben.“

Betrunken wie er war, wollte er mich schlagen, verfehlte mich und stürzte schwer. Er musste dann ins Krankenhaus und lag im Koma und das blieb auch eine Weile so. Meine Großeltern konnten mich nicht aufnehmen, so entschied das Jugendamt, den nächsten Verwandten zu kontaktieren, dass war dann mein Onkel Bob in Australien, der dort hin ausgewandert war.

Nach langen hin und her entschloss ich mich dann zu meinen Verwandten in Australien zu gehen, denn zu meinem Vater zurück wollte und konnte ich nicht mehr. Nach ein paar Startschwierigkeiten habe ich mich hier dann eingelebt.

Mein Vater ist mittlerweile an den Folgen seines Unfalls gestorben.

„Das ist schlimm, oder? Erst die Mutter weg, dann der Vater tot.“

Ich nickte Micha zu und lass weiter.

Zu meiner Überraschung habe ich hier in Australien meine Mutter  gefunden, die wieder verheiratet ist und zwei Kinder hat. Du siehst, auch wenn es anfänglich nach Unglück aussieht, habe ich jetzt eine tolle Familie.

Aber ich habe von Mr. Lukas erfahren, dass du auch nicht viel Glück hattest und ebenfalls deine Eltern verloren hast und mit Patrick bist du wohl der dritte in der Familie, dem das widerfahren ist.

Scheint an dieser Familie zu liegen. Auf alle Fälle würde ich mich freuen, dich nach Australien einzuladen, damit wir uns kennen lernen können. Falls du eine Freundin hast, bring sie ruhig mit.

Michael fing laut an zu lachen.

„Da hat wohl Mr. Lukas nicht alles erzählt oder?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Aber eine Reise nach Australien, hm… würde uns beide gut tun, wenn wir beide mal heraus kommen.“

„Ich weiß nicht…, ob ich das hier alleine lassen kann.“

Michael umrundete die Theke, nahm mir den Brief ab und zog mich in seine Arme.

„Michael, du bist nur am schuften, hast kaum frei, es wird Zeit, dass du mal Urlaub machst. Das wird jeder verstehen und auch meiner Meinung sein.“

„Meinst du?“

Michael ließ mich los und griff nach dem Telefon.

„Was hast du vor?“, fragte ich.

„Erst meinen Vater anrufen, Urlaub für dich beantragen und dann gehe ich ins Internet und klicke mich beim Flughafen ein.“

Ich lächelte.

*-*-*

Der Morgen war herrlich, aber es war noch frisch, obwohl die Sonne schon kräftig schien. Ich betrat das Amt und begrüßte Clemens an der Pforte. Nach dem er mich eingelassen hatte, führte mich mein Weg direkt zu Carsten.

Ich klopfte und trat ein.

„Morgen Christopher, so früh habe ich dich gar nicht erwartet.“

„Morgen Carsten…, ich kann auch wieder gehen.“

Ich musste grinsen.

„Nein, wenn du schon mal da bist…, du Weltenreisender.“

Aha, das Geheimnis war kein Geheimnis mehr.

„Wer hat dir das denn erzählt?“

„Das ging durchs ganze Haus…“

„Hier?“

„Ja auch.“

„Themawechsel, warum wolltest du mich sehen?“

Ich setzte mich auf dem Stuhl an seinem Tisch.

„Ich habe hier eventuell Neuzugänge.“

„Ähm du weißt schon, dass alle Wohnungen belegt sind.“

„Ja weiß ich, aber du weißt nicht, dass Kerstin und Dennis eine Wohnung in der Nähe gefunden haben und ausziehen werden, sogar Ende des Monats schon. Wenn der Nachwuchs da ist, wollen sie die neue Wohnung schon bezogen haben. Doreens Austausch endet auch diesen Monat. Sie geht zurück in die Staaten, so wären gleich zwei Wohnungen frei.“

„Da weißt du mehr als ich und es steht uns noch eine Taufe ins Haus.“

„Bis dorthin ist es aber ein Problem, wo wir sie unterbringen sollen.“

„Um wen handelt es sich denn überhaupt.“

„Einmal habe ich hier einen Sebastian. Seit zwei Jahren krankheitsbedingt taub, vor vier Jahren seinen Freund durch Autounfall verloren…“

„Boah, heftiger geht das ja nicht, der arme Kerl. Wie alt?“

„Zwanzig?“

Mein Hirn ratterte.

„Er hat mit sechszehn seinen Freund verloren und dann noch taub und schwul? Scheiße!“

„Dachte ich auch.“

„Und was haben wir mit ihm zu tun…, entschuldige, aber er ist schon über achtzehn…“

„Er will einen Beruf lernen. Hier in der Stadt hätte er die Möglichkeit, aber er findet keine Bleibe. Für ein Heim zu alt und hier gibt es kein Internat, dass für taube Menschen geeignet wäre.“

Ich schaute traurig. Waren wir geeignet?

„Der zweite, Stephan sein Name“, Carsten seufzte kurz, „sein Vater hat die Familie recht früh  verlassen, Mutter wurde zur Trinkerin, er kam in eine Pflegefamilie, von der ab recht schnell davon lief.“

„Und ist dann abgerutscht?“

„Ein paar Mal stock besoffen von der Polizei aufgegriffen, zog aber dann zu seinem Vater, der aber zwei Jahre später plötzlich verstarb.“

Ich schaute Carsten fassungslos an.

„Jetzt ist er zwar wieder bei der Mutter, aber es ist vorprogrammiert, dass er da nicht lange bleiben kann.“

„Alter?“

„Siebzehn.“

Ich fuhr mir durchs Haar und schüttelte den Kopf. Jetzt war ich schon so lange dabei, aber die Schicksale dieser Jungen oder Mädchen die zu uns kamen, nahmen mich immer noch gehörig mit.

„Da wäre dann nur noch das Wohnungsproblem, oder?“, fragte ich.

Carsten lächelte mich an, weil ich praktisch schon ja gesagt hatte.

„Ich habe mich entschlossen endgültig zu Joe zu ziehen, wohne ja eh schon halb bei ihm.“

Dieses Mal war ich dran mit lächeln.

„Das wird auch langsam Zeit!“, meinte ich, „meine Meinung!“

„Ich weiß, ich bin dem Kleinen hilflos verfallen, auch wenn er ab und zu eine richtige Kratzbürste sein kann. Aber bisher habe ich meinen Freiraum in meiner Wohnung geliebt.“

„Joeys Wohnung ist groß genug, damit du deinen Freiraum hast.“

Carsten nickte.

„Dann werde ich wohl alle zusammen trommeln und einen Umzug und eine Renovierung in Auftrag geben.“

*-*-*

Michael war nicht zu Hause, als ich zurückkehrte. Nico schien wieder bei Bernd zu sein. Die zwei waren mittlerweile wie Brüder und Nico fast nur noch bei Bernd. Karl Franzen und seine Frau, Bernds Eltern, hatten auch alles Nötige dazu getan, damit die Zwei sich jederzeit treffen konnten.

Eigentlich genoss ich die Ruhe zusammen mit Michael, aber mir fehlte auch Nico ab und wann. Ich stand im Wohnzimmer und legte meine Jacke über die Couch. Seit wir das Wohnzimmer durch einen Wintergarten ergänzt hatten, war es richtig groß geworden.

Aber auch nötig, denn da wir das mit den am Mittwoch abgehaltenen Familienabend bei behielten und unsere beider Häuser voll waren, brauchten wir dementsprechend auch Platz. So lief ich in den Wintergarten und ließ mich in einen der Korbsessel fallen.

„Hallo Christoph.“

Ich drehte mich erschreckt um und sah Nico die Treppe herunter kommen.

„Hallo! Ich dachte du bist bei Bernd.“

„Nein. Der hat einen Zahnarzttermin, da geh ich nun wirklich nicht mit.“

„Feigling! Du hättest ihm wenigstens die Hand halten können.“

„Bernd ist selber groß.“

Nico beugte sich herunter, umarmte mich kurz, drückte einen Kuss auf meine Wange und ließ sich auf meinen Schoss fallen.

„Uffz…, du wirst auch immer schwerer.“

Nico kicherte.

„Du wirst doch wohl noch deinen kleinen Bruder ertragen können.“

Ich zog die Augenbrauen nach oben und sah Nico lange an.

„WAS?“, sagte Nico leicht genervt.

„Ich musste gerade daran denken, wie du vor fast drei Jahren nur mit einem Köfferchen vor mir standst. Jetzt bist du siebzehn, mittlerweile mein Bruder…“

„Ich find das nach wie vor alles cool und auch wenn ich älter werde, ich bleib dein kleiner Bruder.“

Nico hatte wieder dieses entwaffnende Lächeln auf den Lippen, als würde er etwas aushecken.

„Warum beschleicht mich das Gefühl, dass du irgendetwas auf dem Herzen hast.“

„Weil du mich zu gut kennst?“

Sein Lächeln wandelte sich in ein freches Grinsen.

„Was für einen Wunsch soll ich dir dieses Mal erfüllen?“

„Micha hat erzählt, dass du eine Einladung nach Australien hast und…“

„Du möchtest mitfahren…“

„Ja klar, aber…“

„Aber was?“

„Meinst du…, ich könnte Bernd mitnehmen?“

„Bernd?“

„Ja, er war noch nie in Australien.“

„Also Nico ich weiß nicht. Mal davon abgesehen, ob Bernd überhaupt mit darf, es wird schon schwierig genug dich zwei oder drei Wochen von der Schule befreien zu lassen, aber Bernd auch noch?“

„Das dreht Karl schon irgendwie drehen, außerdem sind bald Ferien, da kann man doch sicher irgendetwas tun.“

„Dein Vertrauen in Karl ist groß!“

„Ja“, grinste Nico.

„Dieser Tom hat übrigens mich eingeladen, etwas von einer Freundin erwähnt…“

„Michaela… ich weiß.“

Fragend schaute ich Nico an, während er laut anfing zu lachen.

„Lass das mal nicht deinen Schwager hören…“

„Was soll ich nicht hören.“

Ich drehte den Kopf ruckartig herum und sah Michael auf uns zu kommen.

„Hallo Schatz“, begrüßte ich ihn.

 

Er beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss.

„Hallo Großer“, begrüßte er mich und lächelte.

Nico sah ihn fordernd an.

„Hallo Kleiner“, meinte Micha und gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder aufrecht hinstellte.

Nicos Brust schob sich stolz nach vorne und er grinste von einem Ohrläppchen zum anderen. Mein Bein hingegen machte bald einen Abgang. Nicos Gewicht wurde langsam zur Last.

„So und was sollte ich nicht hören?“, fragte Micha noch einmal.

„Das Bernd und ich eine Gouvernante brauchen.“

„Eine Gouvernante?“

„Ja, jemand, der auf uns beiden in Australien aufpasst.“

„Wer sagt denn, dass wir dich und auch noch Bernd mitnehmen und überhaupt, für was braucht ihr eine Aufpasserin?“

Ich musste grinsen.

„Nico meinte, ich solle doch meine Freundin Michaela mitnehmen…“

Michaels Augen wurden erst groß, dann begannen sie zu funkeln. Nico stand langsam auf.

„Ich wollte noch etwas in Geschichte machen“, sagte er und versuchte unbehelligt um Michael herum zu kommen.

Aber da hatte er die Rechnung ohne Micha gemacht. Michael schnappte ihn hob ihn hoch und begann durch zu kitzeln.

„Wie ist mein Name?“

Nico schrie vor Lachen.

„Mich… Micha… Michaela…“

Mittlerweile von Nicos Lachen angesteckt war ich auf gestanden um dem Schauspiel besser folgen zu können.

„Micha… bitt… bitte hör auf.“

„Wie heiß ich?“

„Michael.“

Schlagartig hörte mein Schatz auf und ließ Nico ab, der sich auf den Boden purzeln ließ.

„Ich hoffe dir ist das eine Lehre junger Mann.“

Nico, der immer noch vor Michas Füßen auf den Boden lag, grinste frech. Dann stand er auf und rannte seine Wendeltreppe hinauf.

Ich werde es mir merken… Michaela…!“

„Boah, dieses kleine Miststück“, kam es von Micha und wollte schon Anlauf nehmen Nico zu folgen.

Doch ich griff nach seiner Hand. Ruckartig blieb er stehen und schaute mich an. Ich zog ihn zu mir und nahm ihn in den Arm. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren umarmte ich ihn zärtlich und überschüttete ihn mit Küssen.

*-*-*

Es klopfte zaghaft an der Schlafzimmertür. Michael lag in meinen Armen und schlief.

„Ja?“

Die Tür ging auf und Nico streckte seinen Kopf herein.

„Was ist?“, fragte ich leise.

„Ich wollte nur wissen, ob ihr noch mal aufsteht, oder ob ich mir wo anders im Haus ein Abendessen suchen muss.“

Ich musste grinsen.

„Wie wäre es, wenn du das Abendessen richtest und wir kommen dann runter.“

Nico nickte und verschwand wieder. Michael dagegen brummte in meinem Armen und fing an sich zu bewegen.

„Hallo Schatz, wieder wach?“

„Hm…?“

 

„Es ist kurz vor sieben…“

„So… früh…, da kann ich noch bisschen liegenbleiben“, nuschelte er, aber öffnete die Augen nicht dabei.

„Ähm… Schatz, es ist Abend.“

Michaels Kopf fuhr hoch.

„Abend?“

„Ja und Nico macht Abendessen.“

Nico und Küchendienst? Was haben wir uns eingeworfen, oder warum lieg ich…“, erschaute an sich herunter, „nackt abends mit dir im Bett…“

Ich beantwortete seine Frage nicht, denn ein Aufhellen seines Gesichtes sagte mir, dass ihm eingefallen war, warum wir so im Bett lagen.

„So etwas sollten wir wieder viel öfter machen“, brummte mein Mann und legte seinen Kopf wieder auf meine Brust.

Er hatte Recht, für uns war irgendwie immer wenig Zeit und wenn wir abends ins Bett gingen, waren mindestens einer von uns viel zu müde, als etwas noch zu unternehmen.

*-*-*

Nico und ich waren gerade mit dem Abwasch fertig, als die Türglocke ging.

„Ist offen!“

Normalerweise rief ich das, aber Nico war schneller.

„Halt hier lang…“

Ich hörte Carstens Stimme und lief in den Flur. Da war auch Carsten, aber auch ein Junge, der ziemlich einen in der Krone hatte. Carsten hatte ganz schön zu tun, um ihn gerade laufen zu lassen.

„Wer ist das?“

„Stephan.“

„Scheiße.“

„Ja!“

„Dicht bis oben hin! Wo hast du ihn gefunden?“

„Gefunden habe ich ihn nicht, ein Sozialbetreuer aus dem Jugendhaus hat mich angerufen, dass ein Jugendlicher Stock besoffen im Park randaliert.“

„Ich frag mal lieber nicht, wie er an den Alkohol gekommen ist.“

„Das wird dir sicher keiner sagen.“

„Halllloooooooooooo“, lallte mir Stephan entgegen und fiel direkt in meine Arme.

„Hallo…“, erwiderte ich und mir schlug eine ordentliche Alkoholfahne entgegen.

„Was… bissen du… fürn… geilaaa… Mann.“

Carsten hatte Mühe ernst zu bleiben.

„Ich bin Christopher und du.“

„…ich… bin der… schüüüßße… Stephaaaaaaaaaaaaaaan.“

Oh mein Gott! Ich war sicher auch schon manchmal angetrunken, aber so dicht, wie dieser Junge bestimmt nicht. Nochmal wehte mir eine Alkoholfahne zum Abgewöhnen entgegen.

„Was machen wir mit ihm?“, fragte Carsten.

„Ins Bett bringen und ausnüchtern.“

„In welches Bett?“

Nico kam aus der Küche und mich wunderte, dass er nicht schon früher erschienen war.

„Ohhhhhh… hier… rennen lautaaa… schööneee…Schnuggggel rum…, ich glaub… isch bin im Himmel!“

Carsten biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen und auch ich hatte Mühe nicht anzufangen.

„Du erlaubst?“, fragte Nico.

Verwundert schaute ich ihn an. Er nahm mir Stephan aus dem Arm.

„Na, zu viel gesoffen?“, fuhr er Stephan an und zog ihn Richtung Wendeltreppe.

„Nur… kleines Schlü…ckchen!“

„Ach und dann riecht man so eklig wie du?“

Ich wollte etwas sagen, aber Carsten hielt mich zurück.

„Lass ihn mal machen.“

„Meinst du?“

„Ja. Wir sind doch in der Nähe.“

Mein Schatz betrat die Wohnung.

„Nanu, Tag der offenen Tür? Öhm…, was riecht hier so komisch?“

Carsten und ich traten zur Seite und gaben Michael den Blick auf Nico und Stephan frei.

„Oh…!“

„Ja… oh!“, kommentierte ich seine Einsilbigkeit.

„Wer ist das?“

„Stephan.“

„Halllooooooooooo“, rief Stephan, als er Micha sah.

„Komm jetzt!“, meinte Nico und zog ihn am Arm.

„Weiß einer von euch, warum Nico sich so ins Zeug legt?“, fragte Carsten verwundert.

Micha und ich schüttelten den Kopf. Zu dritt beobachten wir die beiden, besser gesagt, wir beobachten Nico, wie er Stephan die Treppe hinaufschob.

„Und der junge Herr schläft heute hier?“, fragte mein Mann.

„Sieht wohl so aus“, antwortete ich.

„Und wer hat das entschieden?“

„Nico“, drang es gleichzeitig aus Carstens und meinem Mund.

*-*-*

Nun war ich doch etwas neugierig geworden und folgte den beiden nach oben.

„Du willsch… mir nur… an die… Wäsche“, hörte ich Stephan schon im Flur sagen.

„Ach halt die Klappe, so gehst du auf alle Fälle nicht ins Bett!“

Ich wunderte mich doch sehr, was für eine Tonart Nico angeschlagen hatte. Ich erreichte die Tür von Nicos Zimmer und wurde Zeuge, wie er Stephan die Klamotten vom Laib zog.

„Soll ich dir helfen?“

Nico zuckte zusammen.

„Entschuldige…“, sagte ich nur, denn ich war der Meinung er hatte mich bemerkt.

Er hob die Hände und schüttelte den Kopf.

„Nein schon gut… ich kenne das schon.“

Ich bemerkte Nicos traurigen Gesichtsausdruck. Er kämpfte mit Stephans Shirt, so gesellte ich mich neben ihn.

„Könnte es sein, dass ich etwas verpasst habe?“, fragte ich.

Stephan lag vor uns auf dem Bett und kicherte.

„Was sollst du verpasst haben?“

Nico begann an Stephans Hose herum zu ziehen.

„Nico, ich spür doch, irgendetwas stimmt nicht.“

„Könnten wir hier das erst beenden und dann reden?“

Der Ton war giftig. So hatte ich Nico noch nie erlebt. So half ich ihm Stephan die Hose auszuziehen und dessen Socken.

„Meinst du, wir können seine Sachen waschen? Die stinken erbärmlich.“

„Kein Problem, gib her, ich bring sie runter.“

„Ich komme auch gleich runter, wenn der Herr hier sich entschließt, endlich liegen zubleiben.“

„Okay.“

Ich nahm den Bündel Klamotten entgegen und begab mich wieder hinunter. Carsten und Micha saßen in der Küche und tranken Kaffee.

„Könnt ihr mir auch einen einschenken?“

„Klar und was machst du?“, fragte Michael.

„Stephans Klamotten in die Waschmaschine stecken.“

Michael nickte und zog eine weitere Tasse aus dem Regal.

Ich ging zum Bad und stopfte alles an Wäsche auf einmal hinein. Es war mir egal, ob man das alles nun zusammen waschen würde oder nicht. Mein Kampf mit dieser Waschmaschine war seit meinem Einzug in diese Wohnung nicht anders geworden.

Ich gab reichlich Weichspüler hinzu, stellte das Ganze auf Dreißig grad und schloss die Tür.

„Christoph kommst du, oder soll ich dir helfen?“

„Nein bin gleich fertig!“

Michael wusste wie gerne ich an die Waschmaschine ging und übernahm diesen Part meist. Ich drückte den Anknopf und das Gerät blubberte los. So lief ich zurück in die Küche, wo mein dampfender Kaffee schon wartete.

„Alles klar bei dir?“, lächelte Micha mich an.

Ich nickte und setzte mich zu Carsten.

„Was war da oben los?“, fragte er.

„Stephan dachte, Nico will ihm an die Wäsche“, grinste ich.

Carsten und Michael sahen mich fragend an.

„Er hat ihn ausgezogen und ins Bett gesteckt.“

„Hallo ihr Drei!“

Nico kam in die Küche und setzte sich neben Micha.

„Und, schläft er?“, fragte ich.

„So halb…“

„So und nun erzähl mir mal, was mit dir los ist. So kenne ich dich überhaupt nicht.“

Michas Gesicht zeigte Fragezeichen.

„Ich weiß… Ich habe auch nie viel über meine Eltern erzählt.“

„Nein, hast du nicht.“

„Mein Vater… er war ein lieber Mensch… er hat ab und zu viel getrunken… und ich habe ihn dann ins Bett gebracht weil meine Mutter da meistens arbeiten war…“

Das hatte ich nicht gewusst. Micha nahm ihn in den Arm und drückte ihn an sich.

„Warum hast du das nie erzählt?“, fragte ich leise.

„Mit so etwas geht man nicht hausieren oder?“

„Nein, aber wir würden dann besser verstehen, warum du so handelst, wie du eben gehandelt hast.“

„Tut mir Leid, aber wenn jemand so besoffen ist, brennt bei mir die Sicherung durch.“

„Trinkst du deswegen nie Alkohol?“, fragte Micha.

Nico nickte.

„Hallooooo isch…da jemand…. Ich muss ufs Kloooo.“

Nils verdrehte die Augen und wir grinsten.

„Bin gleich wieder da“, meinte Nico und löste sich aus Michas Armen.

„Oben ist doch ein Klo… los…, nach oben!“, hörten wir Nico sagen.

„Das ist krass, oder?“, sagte Carsten leise.

Ich nickte.

Er hat damals mit vierzehn schon soviel mitgemacht…“

„Aber er ist damit gewachsen“, warf Micha ein und trank einen Schluck von seinem Kaffee.

„Ja, es hat ihn geprägt, wie uns alle unsere Vergangenheit geprägt hat.“

*-*-*

Die Nacht war überraschend ruhig gewesen. Unser Gast hatte sich nicht einmal mehr gemeldet. Ich verließ gerade das Bad, als Micha aus Nicos Zimmer kam.

„Alles klar?“, fragte ich.

„Ja. Stephan schläft friedlich.“

„Dann lassen wir ihn schlafen, er wird noch genug mit seinen Kopfschmerzen später zu tun haben.“

„Bringst du Nico noch in die Schule?“

„Nein, Karl wollte heute fahren. Nico ist schon weg.“

„Dann können wir ja mal richtig miteinander frühstücken.“

„Wenn niemand stört, ja!“

„Gut, ich flitze noch schnell ins Bad, bin gleich bei dir.“

Ich hangelte mich die Wendeltreppe hinunter, als das Telefon losging. Genervt und mit rollenden Augen lief ich ans Telefon.

„Miller.“

„Tröger hier.“

„Hallo Christian.“

„Morgen Christopher.“

„Was gibt es, etwas passiert, dass du anrufst?“

„Ja und nein. Passiert ist nichts, ich hätte da nur eine Frage an dich.“

„Und die wäre.“

„Gestern hat uns ein Sozialarbeiter vom Jugendhaus erzählt, jemand aus deinem Haus hätte einen Stephan Fels abgeholt.“

„Ja, das war Carsten und Stephan liegt oben im Nicos Zimmer und schläft seinen Rausch aus.“

Ich hörte Christian seufzen.

„Dann ist er wenigstens gut aufgehoben.“

„Sucht ihr ihn?“

„Ja, seine Mutter hat bei uns angerufen, er wäre mal wieder nicht zu Hause erschienen.“

„Mal wieder?“

„Ja, sie ruft uns öfter an.“

„Nein Stephan ist hier, wie gesagt. Aber ich denke, da muss man eh etwas ändern…, aber darüber kann ich erst mit dir reden, wenn ich einiges erledigt habe.“

„Okay…, du meldest dich bitte aber bei mir, wenn Stephan Schwierigkeiten macht.“

„Versprochen!“

„Gut, man hört oder sieht sich, bis dann!“

„Tschüss Christian, bis dann!“

Ich drückte das Gespräch weg.

„Christian? Was wollte er denn?“

Micha kam die Treppe herunter.

„Sie suchen Stephan. Aber ich habe ihn beruhigt und ihm erzählt, dass er friedlich schläft.“

„Fehlinformation, der sitzt auf der Toilette und jammert.“

„Er ist wach?“

„Ja und im vollen Genuss einen Katers.“

Ich konnte nicht anderes und musste grinsen.

„Selbst Schuld!“

„Und wie geht es jetzt weiter?“

„Ich werde mir nach dem Frühstück mit dir, diesen Kerl schnappen und ins Amt mit ihm fahren.“

„Könntest du vielleicht auf dem Rückweg beim Supermarkt vorbeifahren?“, Micha lief an den Kühlschrank und zog einen Zettel ab.

„Ich habe einen Zettel geschrieben, mit allem was fehlt und nötig ist.“

Ich nahm den Zettel entgegen und überflog ihn kurz.

„Das ist alles nötig?“

Michael nickte.

„Okay, das übernehme ich gerne. Wann bist du wieder zu Hause?“

„Ich weiß es noch nicht, ich wollte heute Mittag kurz bei meiner Mutter vorbei schauen, du weißt ja, ich weiß nie wie lange es geht.“

„Kein Problem, wenn etwas wäre, ich habe ja mein Handy bei mir.“

„Willst du auch ein Frühstücksei?“

„Gerne“, lächelte ich.

Ich legte den Einkaufszettel zu meiner Geldbörse. Michael war im Kühlschrank tätig, als unser Gast plötzlich in der Küche erschien.

„Ähm… Morgen…“

„Morgen Stephan.“

Sein Anblick war für Götter, denn er stand nur mit Shorts bekleidet vor uns, tippelte von einem Fuß auf den Anderen. Durchtrainiert, als würde er irgendeinen Sportart betreiben, verdeckte er mit seinen Armen und Hände hilflos Brust und Bauch.

„Ihr wisst meinen Namen?“, fragte er erstaunt.

„Klar.“

Er stand da und sah mich an fragend an. Anscheinend wusste er nichts mehr.

„Deine Klamotten sind noch nicht ganz trocken, aber ich denke Nico hätte nichts dagegen, wenn wir etwas von ihm ausleihen.“

„Wer ist Nico… und wo bin ich hier?“

Er hatte wirklich alles vergessen. Michael sah zu mir herüber und grinste. Als ich etwas auf Stephan zuging, wich er zurück.

„Ich würde sagen, wir gehen kurz in Nicos Zimmer zurück und dann reden wir. Du scheinst nicht zu wissen was gestern war, oder?“

„Ähm… nein.“

„Vielleicht solltest du deinen Alkoholkonsum etwas drosseln!“

*-*-*

Wir saßen zu dritt an der Küchentheke. Nach dem mit Stephan alles geklärt war, saß er erst einmal schweigend da und nippte an seiner Tasse.

„Du willst wirklich nichts essen?“, fragte Michael zum dritten Mal.

Stephan schüttelt den Kopf.

„Ihr wollt mich wirklich aufnehmen?“

„Ja?“

„Warum macht ihr das?“

Die Frage der Fragen, die wir in den letzten Jahren so oft zu hören bekamen. Ich seufzte. Michael sah mich an und lächelte aufmunternd.

„Weil wir es gerne machen“, antwortete ich und machte es mir damit sehr einfach.

„Und was wird dann aus mir?“

„Hm, überlegen“, begann Michael.

Ich sah seine funkelnden Augen und wusste, dass er jetzt irgendeine Frechheit loswerden würde.

„…, du müsstest natürlich hier in der Wohnung als billige Putzkraft deine Miete ab arbeiten, Botengänge für Christopher machen, Wünsche im ganzen Haus erfüllen…“

Stephan Gesicht wurde immer länger und Michaels Grinsen immer breiter. Bevor unser Gast aber Panik bekam, bremste ich meinen Mann aus.

„Quatsch Stephan, dass musst du nicht. Michael hat dich auf den Arm genommen.“

„Das… das hat er aber überzeugend getan.“

„Ja, mein Schatz ist darin sehr gut.“

Stephan schaute zwischen Micha und mir hin und her.

„Ihr… ihr seid schwul?“

Das verstand ich jetzt nicht recht, gestern diese großen Reden über süße Schnuggels und jetzt den Entsetzen spielen.

„Nicht nur das! Christopher und ich sind sogar verheiratet“, sagte Micha und hob, als wolle er es beweisen, seine Hand mit dem Ehering hoch.

„Verheiratet… wow!“

„Ja, sagte ich auch als mich Michael damals fragte, ob ich sein Mann werden will.“

„Du tust so überrascht, Stephan. Ich dachte du bist auch schwul.“

Sein Gesicht wurde tief rot und er fiel ein wenig in sich zusammen.

„Da… da habe ich gestern wohl viel über mich erzählt…“, sagte er leise.

„Überhaupt nichts. Du hast meinen Mann nur heftig angebaggert!“

„Michael, hör auf! Du siehst doch, dass ihm das alles zu schaffen macht.“

„Lass mich doch Christopher! Mein Rache an jemand, der zu viel trinkt…“

Dabei schaute er Stephan durchdringend an.

„… und dabei meinen Mann eine geile Schnitte nennt.“

„Ich habe Christopher eine geile Schnitte genannt?“, fragte Stephan fassungslos.

Michael fing an zu lachen.

„Nein hast du nicht“, sagte ich.

Michael beugte sich ein wenig vor.

„Aber ich kann dir verraten, er ist eine!“

Ich fragte mich, ob irgendetwas im Kaffee war. Michael war so ausgelassen, wie schon lange nicht mehr. Michaels Kompliment trieb mir das Blut in die Wangen.

„Aber Spaß beiseite Stephan“, redete Micha weiter, „mal Klartext. Du kannst hier einziehen und mit Hilfe meines Mannes oder auch den anderen, deine Zukunft in die Hand nehmen. Ich weiß zwar nicht was dir vorschwebt, du machen möchtest, denn eins sollte dir klar sein, hier sind lauter Menschen die für dich da sind, dir vertrauen und dir auch helfen werden. Das einzige was du machen musst, ist dich dieses Vertrauen würdig zu erweisen! Sprich, für die nächste Zeit keinen Alkohol mehr! So etwas wie gestern Abend möchte ich nicht mehr erleben, dass das von vornerein klar gestellt ist.“

Ich schaute Micha an, er redete sich in rage.

„Mein Christopher hat genug Arbeit am Hals und ich möchte nicht, dass er seine Kraft darauf verschwendet, hoffnungslosen Fällen nachzulaufen.“

„Micha!“

„Sorry…, Schatz dass musste ich loswerden.“

Stephan saß total eingeschüchtert auf seinem Stuhl. Micha stand auf.

„Ich schau, ob seine Sachen trocken sind“, meinte er und verschwand aus der Küche.

Stephan sah mich mit großen Augen an.

„Ist… ist der immer so?“

„Eigentlich nicht, er ist der ruhende Pol im Haus. Aber ich finde er hat Recht, Stephan. Wenn du hier einziehen willst, musst du Einiges an dir ändern. Ich schlage vor, wenn deine Klamotten trocken sind, fahren wir zwei ins Amt und schauen bei Carsten und Julius vorbei.

„Carsten… Julius?“

„Carsten war der junge Mann, der dich gestern herbrachte und Julius ist derjenige, der mir damals die Hand reichte um mir zu helfen!“

*-*-*

Die Autofahrt verlief schweigend. Ich hatte etwas das Fenster herunter gedreht, denn die Meeresbrise, die von Stephan duftend ausging, war etwas… heftig. Ich hatte wohl zu viel Weichspüler in die Maschine getan.

Ich fuhr auf den Parkplatz und stellte den Motor ab. Stephan sah starr nach vorne, rührte sich aber sonst nicht.

„Was ist?“

Er schaute zu mir und ich sah die glasigen Augen.

„Ich müsste wirklich nicht zu meiner Mutter zurück?“

 

Ich schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte wieder nach vorne.

„Ich… ich würde gerne bei euch einziehen…“

„Aber?“

„Ich habe Angst, dass ich das nicht erfüllen kann, was ihr von mir erwartet…“

Ich griff nach seiner Hand und drückte sie fest.

„Micha hat dir vorhin mit seiner Ansprache sicher sehr zu gesetzt.“

Er nickte.

„Es ist so Stephan. In den letzten sieben Jahren, in denen ich jetzt mit Michael zusammen bin, haben wir gemeinsam viel durchgemacht. Wir haben viel Leid gesehen, aber auch viel Schönes erlebt. Die anderen die auch in unser beiden Häusern leben sind dabei eine Gemeinschaft geworden, so etwas wie eine richtige Familie.“

„Familie…“, Stephan zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen aus den Augen, „Familie gab es für mich nie.“

„Ich weiß, Stephan. Aber dies hier ist jetzt für dich die Chance, so etwas wie eine neue Familie zu bekommen. Nutze sie, solang du es kannst!“

Mit diesen Worten öffnete ich meine Wagentür und verließ den Wagen. Stephan blieb noch kurz sitzen, starrte auf das Armaturenbrett vor sich. Ich blieb auf dem Gehsteig stehen und wartete.

Abermals wischte er sich die Tränen aus den Augen und stieg ebenfalls aus. Er sah mich kurz an und nickte. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und betrat mit ihm das Amt.

*-*-*

Ich hatte Stephan bei Carsten gelassen und war auf dem Weg zu Julius. Dort angekommen klopfte ich an seine Tür. Ich hörte keine Antwort von drinnen, so trat ich einfach ein. Ich musste lächeln, den Julius schien zu schlafen.

Hatte er mal wieder zu viel gearbeitet. Zusammengesunken und den Kopf auf den verschränkten Armen liegend, hatte er mich nicht wahr genommen. Ich umrundete leise den Tisch und blies sanft über seinen Nacken. Es gab keine Reaktion.

Einen festen Schlaf hatte der gute Mann. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und rüttelte ich sanft an ihr. Doch statt des erwarteten Aufwachens, rollte sein Kopf nur zur Seite.

„Julius?“

Ich rüttelte ihn nochmal.

„Julius… wach auf!“

Ich nahm seine Hand und fühlte den Puls. Mir wurde richtig übel, welchen Gedanke ich gerade hegte. Er hatte Puls. Ich griff nach dem Telefon und wählte die Notfallnummer. Nur wenige Sekunden später hatte ich jemand an der Strippe.

„Christopher Miller hier, Ich bin im Jugendamt und habe meinen Kollegen bewusstlos vorgefunden…“

*-*-*

Susanne saß neben mir und hatte den Arm um mich gelegt. Die Tür zum Flur flog auf und Michael kam angerannt.

„Wo ist er?“, rief er mir entgegen.

Ich stand auf und fiel ihm in die Arme. Ich konnte nicht anders und fing an zu weinen.

„Scchht mein Großer“, hörte ich Michaels Worte.

„Sie untersuchen… ihn noch“, hörte ich Susanne hinter mir sagen.

Michael umfasste mein Gesicht und schaute mich an.

„Was ist eigentlich passiert?“

„Ich… ich wollte ihn kurz besuchen und fand ihn schlafend vor…“, ich wischte mir die Tränen weg, „dachte ich wenigstens, bis ich merkte er ist bewusstlos.“

„Michael?“

Das war Julias Stimme.

„Mum!“

Sie nahm Micha in den Arm und drückte ihn kurz. Auch ich wurde in den Arm genommen. Susanne war inzwischen aufgestanden und begrüßte die beiden.

„Weiß man schon etwas?“, fragte Julia im ruhigen Ton, was mich sehr wunderte.

„Christopher hat ihn bewusstlos gefunden und hat das Krankenhaus verständigt. Sie haben Julius hier hergebracht und seitdem warten wir“, erklärte Susanne.

„Geht’s wieder?“, fragte mich Micha.

Ich nickte. Wieder ging die Tür auf und Monika kam ins Sichtfeld.

„Hallo, ich war auf dem Gericht…, als Carsten mir die Mitteilung zukommen ließ. Was ist passiert?“

„Hallo Monika. Wissen wir nicht“, meinte Michael.

Monika legte einen Arm um Julia und so standen wir nun da, mitten im Flur.

„Soll ich einen Kaffee holen?“, fragte Susanne plötzlich.

Wir nickten.

„Warte, ich helfe dir“, meinte Micha und ließ mich los.

Ich wunderte mich, warum Micha so eine Ruhe weg hatte. Beide verschwanden wieder zur Tür hinaus. Monika zog Julia zu den Stühlen und gemeinsam setzten wir uns hin.

„Ich wusste…, dass so etwas kommen würde… ich habe es die ganze Zeit gesagt, er soll kürzer treten…“

Julia hatte gesprochen und dabei die ganze Zeit auf den Boden gestarrt.

„Ja, war ihm denn schlecht oder so etwas?“, fragte Monika.

Julia atmete tief durch und löste sich aus ihrer Starre. Sie schaute erst zu mir, dann zu Monika.

„Das nicht gerade. Aber die letzte Zeit war so erschöpft, schlief im sitzen oft ein, kam morgens schlecht aus dem Bett.

„Wann hat Julius das letzte Mal Urlaub gemacht.“

Julia lachte kurz auf.

„Daran kann ich mich schon fast gar nicht mehr erinnern.“

„Jetzt ist es erst mal wichtig, dass er wieder gesund wird!“

„Wir wissen doch gar nicht was er hat“, sagte ich leise und meine Tränen liefen wieder ungehindert weiter.

Julia legte ihre Hand auf meine und schaute mich an.

„Christopher…, ich habe dir das nie gesagt.“

Verwundert schaute ich auf.

„Für Julius warst du schon immer wie ein zweiter Sohn und als du und Michael damals zusammen kamen bist du mir ans Herz gewachsen, ebenfalls wie ein Sohn.“

Ich wusste jetzt nicht auf was sie hinaus wollte.

„Durch deine Heirat mit Micha gehörst du fest zu unsere Familie und ich bin froh dass du ihn gefunden hast und so schnell reagiert hast… und egal was kommen mag… wir schaffen dass zusammen… gemeinsam!“

Ich nickte und fiel ihr um den Hals. Die Tür ging wieder auf und Michael mit Susanne kamen zurück, beladen mit Kaffebecher, die sie nun verteilten. Stumm setzten sie sich zu uns. Jetzt hieß es warten.

*-*-*

Ich weiß nicht, wie lange wir da gesessen waren. Monika unterhielt sich leise mit Susanne, während Michael in meinem Arm lehnte. Julia stand am Fenster und schaute nach draußen. Plötzlich wurde die Tür zur Station aufgestoßen und eine Ärztin kam auf uns zu.

„Frau Brecht?“, fragte sie in die Runde.

„Ja“, sagte Julia und ging zu ihr.

„Hallo Frau Brecht, ich bin Doktor Hirbel – Mannig und habe ihren Mann untersucht.“

Sie schüttelte Julia die Hand.

„… ihrem Mann geht es den Umständen entsprechend gut, sein Kreislauf ist stabil, der Blutdruck wieder normal.“

Julia atmete durch, wie wir alle auch. Ich spürte wie Michael sich in meinem Arm etwas entspannte.

„Aber… das war haarscharf an einem Herzanfall vorbei. Dieser Schwächeanfall war nur ein Warnschuss vor den Bug.“

Julia nickte.

„Wir werden im Laufe des Tages, noch einige Test mit ihm machen, aber ich bin guter Dinge. Wenn ihr Mann nicht kürzer tritt, sehe ich allerdings schwarz für ihn, ich will da ganz ehrlich sein.“

Ich wusste nicht, ob die Ärztin Julius kannte und wusste was er arbeitete, aber sie wusste wohl wovon sie sprach.

„Kann ich zu ihm?“

Die Ärztin schaute kurz in unsere Runde dann wieder zu Julia.

„Aber nur kurz und auch nur sie, ich möchte nicht dass ihr Mann sich irgendwie unnötig anstrengt.“

„Das ist kein Problem. Mein Sohn und sein Mann können auch später zu ihm, wenn es geht.“

Die Ärztin schaute Michael und mich kurz an und lächelte. Julia hatte das gesagt, als wäre es das Normalste der Welt und eigentlich hatte sie auch Recht, es war normal. Unnormal war nur, was andere daraus machten.

*-*-*

Michael war im Krankenhaus geblieben, während ich nach Hause fuhr, da Nico sicher schon auf uns wartete. Er wusste ja nicht was geschehen war. Ich stellte den Wagen vor dem Haus ab.

Noch während ich das Grundstück betrat, wurde schon die Haustür aufgerissen. Nico kam heraus und rannte mich fast um.

„Wie geht es Julius?“

Auch er schien geweint zu haben. Hinter ihm versammelte sich plötzlich der Rest des Hauses und Carsten trat ebenfalls ins Blickfeld. So wusste ich auch, wie es Nico erfahren hat.

„Soweit gut Nico. Er ist bei Bewusstsein und seine Werte sind stabil.“

Alle waren irgendwie sichtlich erleichtert.

„Er hatte einen Schwächeanfall…, meinte die Ärztin“, sprach ich weiter, „aber wieso seid ihr eigentlich alle hier?“

Normalerweise waren doch alle auf der Arbeit, oder zumindest mit etwas beschäftigt.

„Carsten hat mich angerufen“, meinte Thomas, „ich habe sofort gefragt ob ich frei bekommen würde und so bin ich hier. Ich habe Julius viel zu verdanken…“

So war es bei den anderen auch. Ich konnte noch jemand erblicken.

„Stephan?“, fragte ich und er trat etwas hervor.

„Ich habe ihn mitgenommen“, sagte Carsten und legte die Hand auf seine Schulter, „und bevor wir uns gegenseitig verrückt gemacht hätten, haben wir gemeinsam meinen Krempel in Joeys Wohnung herunter getragen.“

So waren alle abgelenkt.

„Können wir hinein gehen?“, fragte ich.

Alle nickten.

*-*-*

Ich sah an meinem Schreibtisch, hatte Emails abgerufen, aber so richtig konzentrieren konnte ich mich nicht. Meine Gedanken hingen bei Julius und ich starrte fortwährend auf mein Handy.

Nico war in seinem Zimmer und ich hörte leise seine Musik. Bernd war gekommen und ich war froh, dass Nico so Ablenkung hatte. Ich atmete tief durch und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

„Alles klar mit dir?“

Ich schaute auf und Klara stand in der Tür. Ich war ehrlich und schüttelte den Kopf. Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich in die Rückenlehne fallen.

„Dich nimmt das ganz schön mit, oder?“

„Ja…“, meinte ich und schon wieder fingen die Tränen an zufließen.

Klara setzte sich zu mir und nahm meine Hand.

„Weißt du“, begann ich zu erzählen, „Julius war damals der erste, der sich nach dem Unfall mir annahm. Ich werde das nie vergessen. Mittags nach der Schule, war ich bei meinem Freund Samuel zu spielen, als die Polizei bei denen auftauchte.

Eine Nachbarin hatte denen erzählt, dass ich dort sei. Es war auch Julius dabei, da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen.“

„Wie alt warst du da?“

„Elf.“

„Shit. Ich bin jetzt einundzwanzig und meine Eltern fehlen mir wahnsinnig, obwohl alles so mies gelaufen ist, wie konntest du das mit elf Jahren ertragen?“

„Sehr schwer nur. Ich hatte ganz liebe Eltern und ich erinnere mich viel an meinen Vater. Er hat trotz viel Arbeit immer sich die Zeit genommen mit mir zu spielen, am Wochenende Ausflüge zu machen.“

„Bemühst du dich deshalb so um Nico?“

Ich nickte.

„Ich möchte nicht, dass er je das Gefühl erleben muss, allein gelassen geworden zu sein und ich denke, ich habe es sehr gut hinbekommen.“

„Stimmt, aus Nico ist ein fescher Teenager geworden.“

Ich musste lächeln, aber es verging wieder, als ich an Julius denken musste.

„Mit dem Schwächeanfall von Julius wurde mir nur bewusst, wie schnell so eine Beziehung enden kann. Ich hänge sehr an Julius und er war auch die ganze Zeit wie ein Vater für mich.“

„Jetzt sowieso, seit du mit Micha verheiratet bist.“

„Ja, das hat den Bund dieser tiefen Freundschaft nur noch verstärkt.“

Ich wischte mir über die Augen.

„Möchtest du einen Kaffee?“, fragte ich und stand auf.

„Wenn du einen übrig hast, gerne.“

Ich ging in die Küche, befüllte einen Becher mit Kaffee, bevor ich zurück zu Clara lief.

„Hat es einen bestimmten Grund, warum du gekommen bist?“

„Öhm… ja. Gunther.“

„Was ist mit Gunther?“

„Wenn ich dass wüsste, wäre ich jetzt nicht hier. Ich komm nicht mehr an ihn heran. Wenn er nicht arbeiten ist, vergräbt er sich in seinem Zimmer und sitzt die ganze Zeit vor dem PC, oder er ist abends lange weg. Nur zum Essen bekommen ich ihn zu Gesicht und da ist er auch wenig gesprächig.“

„Du möchtest, dass ich mal mit ihm rede?“

„Ich weiß nicht, im Augenblick bin ich total ratlos, was ich noch machen könnte.“

„Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, werde ich mit ihm reden. So ganz unscheinbar und rein zufällig.“

Clara lächelte.

„Hallo, ich bin wieder zu Hause…“

Michaels Stimme.

„Bin mit Clara hier im Büro“, rief ich zurück.

Wenige Sekunden später erschien Micha, er kam zu mir und begrüßte mich mit einem Kuss.

„Hallo Schatz… hallo Clara.“

„Wie geht es deinem Vater?“, fragte Clara.

„Er scheucht die Schwestern, gibt Susanne pausenlos Anweisungen und ärgert meine Mutter.“

„Hört sich wie Julius an“, meinte ich lächelnd.

Michael nippte kurz an meinem Kaffee.

„Soll ich dir nicht eine Tasse herauslassen?“

„Nein keine Zeit, ich muss noch ins Amt, denn selbst ich wurde von meinem über alles geliebten Vater mit Arbeit bedacht.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Mir ist nicht mehr zu helfen“, sagte Micha im hinausgehen und lachte.

„Wieso?“, rief Clara grinsend hinterher.

„Weil ich meinem Mann hoffnungslos verfallen bin“, dröhnte es aus dem Flur.

*-*-*

Carstens Wohnung war leer und so konnten wir mit dem renovieren beginnen. Thomas und Gunther strichen die restlichen Wände während Clara, Bastian und Dominic halfen, die von mir besorgten Möbel aufzubauen.

„Hallo, wir sind wieder da“, hörte ich aus dem Flur.

In der Küche, wo wir gerade zu Gange waren, tauchten Carsten und Stephan auf.

„Wow, seid ihr weit gekommen, ist ja nichts wieder zu erkennen.“

Stephan hatte eine Tasche geschultert, die er gerade zu Boden gleiten ließ. Er war mit Carsten zu sich nach Hause gefahren und hatte den Rest seiner Sachen abgeholt. Dass die Situation nicht so glücklich war, konnte ich an seinen Augen sehen.

Er schien geweint zu haben.

„Seine Mutter hat den Aufstand geprobt“, flüsterte Carsten mir zu und sprach laut weiter: „hier sieht es ja wieder richtig wohnlich aus.“

„Hier kann ich wohnen? Das alles ist für mich?“, fragte Stephan ungläubig.

„Bald!“, antwortete ich, „du wirst am Anfang noch einen Mitbewohner bekommen, bis eine der anderen Wohnungen frei wird.“

„Wir bekommen noch mehr Nachwuchs?“

Typisch Thomas, immer wenn jemand Neues dazu kam, sprach er von Nachwuchs.

„Ja! Er heißt Sebastian und sucht eine Bleibe, weil er einen Beruf erlernen will.“

Thomas sah mich fragend an.

„Warum kommt er dann zu uns?“

„Weil er taub ist und somit keine andere Möglichkeit hat, wo anders unter zu kommen.“

„Und wie bitte schön, sollen wir uns mit Sebastian dann unterhalten?“

Stephan stand die ganze Zeit stumm bei uns und hörte zu.

„Du könntest die Gebärdensprache lernen, dann haben wir einen, der Sebastian alles erklären kann“, grinste ich frech.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Hallo…, wo seid ihr denn alle?“, war vom Flur her zu hören.

„Andreas, wir sind hier“, rief Thomas.

Wenig später kam Andreas ins Blickfeld.

„Wow, was ist hier passiert. Ich wusste gar nicht, dass Carsten renovieren wollte.“

„Hi Andreas“, sagte ich.

„Hi Schatz“, begrüßte ihn Thomas, ein Kuss folgte, „nein, wir haben einen Neuzugang, das hier ist Stephan.“

„Ach so… öhm… hallo Stephan“, sagte Andreas und streckte ihm die Hand entgegen.

„… ähm… hallo, wohnen hier nur Schwule?“

Die Frage hörte sich nicht negativ an.

„Nein Stephan…, ein paar, aber es gibt wie du siehst auch Mädels und Jungs die sich nur für Mädchen interessieren.“

„Aha…“

„Hast du etwas gegen Schwule“, fragte Andreas direkt und wurde gleich darauf hin von Thomas in den Arm genommen.

Stephan riss die Augen auf und schüttelte energisch den Kopf.

„Ich… ich hab es nur noch nie erlebt…, dass, so wie hier alles so normal… so ruhig zu geht.“

„Ruhig…“, kam es sarkastisch von Gunther und verließ das Zimmer.

„Was hat er denn?“, fragte Thomas.

*-*-*

Ich fand Gunther draußen im Garten sitzend.

„Hi“, meinte ich und setzte mich zu ihm.

Er schaute mich kurz an, dann wieder auf den Rasen. Während ich mir überlegte, wie ich das Gespräch anfangen sollte, fing er einfach an zu erzählen.

„Mir geht das Getue so auf den Wecker…“

„Welches Getue?“

„Ach, dieses Friede, Freude, Eierkuchen gehabe.“

„Was ist daran falsch?“

„Es ist nicht richtig, weil jeder hier weiß was mit dem anderen los ist.“

„Ich versteh gerade nicht, was du meinst.“

Er sah wieder zu mir.

„Man hat überhaupt keine Privatsphäre…“

„Möchtest du ausziehen…?“, fragte ich direkt.

„Ja… nein…, ach ich weiß nicht.“

„Du kannst jederzeit ausziehen, womit hast du ein Problem?“

Ich legte vorsichtig meine Hand auf seine Schulter.

„Gunther, du weißt, du kannst über alles jederzeit mit mir reden. Bis jetzt haben wir immer eine Lösung gefunden.“

Er schaute mich immer noch nicht an.

„Ich…, ich habe da jemand kennen gelernt…“

„Das ist doch toll!“

Er drehte sich zu mir.

„Sie will meine Eltern kennen lernen…“

„Ja, hast du ihr nicht erzählt…?“

Noch während ich fragte, schüttelte er schon den Kopf.

Etwas schockiert schaute ich ihn an.

„Aber… warum?“

Sein Blick senkte sich.

„Sie erzählt immer, wie toll ihre Eltern sind, was für eine coole Familie sie hat. Wenn ich jetzt damit komme, mit dem… was…“

Er seufzte tief und ich sah Gunther das erste Mal weinen.

„Schämst du dich deswegen?“

Er nickte.

„Gunther, du hast keinen Grund dich zu schämen! Das was passiert ist, daran sind alleine deine Eltern schuld. Du kannst stolz auf dich sein, dass du es so weit gebracht hast.“

„Ich kann dich auch nicht als meinen Bruder ausgeben?“, fragte er leise.

Ich konnte nicht anders und fing an zu lachen.

„Gunther, das ehrt mich zwar, dass du mich als deinen Bruder in Erwägung ziehst, aber findest du nicht, dass man in einer Beziehung ehrlich zueinander sein sollte, nicht mit einer Lüge beginnt?“

Er zuckte mit der Schulter.

„Gunther, wenn dir an dem Mädchen…“

„Vanessa… heißt sie.“

„Also gut, wenn dir an Vanessa wirklich etwas liegt und sie dich auch mag, wird sie sicher nicht negativ reagieren, wenn du ihr von deiner Vergangenheit erzählst und falls doch…, dann hat sie dich nicht verdient.“

Er schaute mich mit seinen verweinten Augen an.

„Aber was ist mit Clara…?“

„Was soll mit der sein? Die wird sich für dich freuen und ich bin mir sicher, dass Clara auch irgendwann jemanden kennen lernt.“

„Glaubst du wirklich, ich soll es ihr sagen?“

„Ruf sie am besten gleich an, oder besser noch, lade sie hier her ein.“

Er schaute mich zweifelnd an.

„Sie kann ruhig sehen, wo du lebst und eins noch…, hier hast du eine genauso coole Familie um dich, oder hast du nicht das Gefühl, das hier ist deine Familie?“

Den Rest des Satzes hatte ich etwas lauter und etwas angesäuert betont, obwohl ich es nicht wollte.

„Es… es tut mir Leid! Ich wollte dich nicht verärgern.“

Ich wuschelte ihm über den Kopf und nahm ihn in den Arm.

„Mir ist bewusst, Gunther, dass dir hier niemand den Vater oder die Mutter ersetzten kann.“

Ich drückte ihn sanft von mir weg und sah ihm in die Augen.

„Aber trotzdem sind wir eine große Familie, die für einander da sind.“

Er nickte.

„So und nun ruf deine Vanessa an!“

„… okay.“

Er pfriemelte umständlich sein Handy aus der Hosentasche und lief in einen anderen Teil des Gartens. Ich sah, wie Clara um die Ecke lief und zu mir kam.

„Danke…“, meinte sie.

Ich lächelte sie an.

„Nichts zu danken!“

*-*-*

Ich hatte mich in die Wohnung zurück gezogen und saß in meinem Büro, als Michael die Wohnung betrat.

„Hi Schatz“, meinte er und entledigte sich seiner Jacke.

Ich schaute auf.

„Hallo Micha.“

Er kam zu mir, umschlang mich mit seinem Armen und gab mir einen zärtlichen Kuss.

„Soll dich von Papa schön grüßen.“

„Danke, du warst bei ihm?“

„Ja, kurz. Ich wusste einige Sachen nicht, da war eine Absprache fällig.“

„Du weißt, er soll sich schonen!“

Michael lehnte sich gegen den Schreibtisch.

„Klar, aber du weißt auch, dass die Fälle, die mein Vater in Bearbeitung hat, auch nicht warten können.“

„Ja, schon klar.“

„Ist alles in Ordnung mit dir…, irgendetwas vorgefallen?“

„Nein…, ich bin nur total müde und geschafft. Die Wohnung ist grob fertig und Carsten hat Stephan schon gebracht.“

„Hoffentlich legen wir uns da nicht ein Kuckucksei.“

Ich sah meinen Mann an.

„Du weißt, jeder verdient eine Chance.“

„Weiß ich mein Schatz! Und du kommst jetzt mit mir“, er zog mich an meinen Händen vom Stuhl, „in die Küche und trinkst mit mir ein Kaffee.“

Irgendwie hatte ich keine Gegenwehr mehr und ließ mich in die Küche ziehen.

„Weißt du was, da Nico ja bei Bernd ist und du und ich alleine heute Abend sind, koche ich uns etwas Feines.“

„Sollten wir nicht zu Carsten und schauen, ob wir noch etwas helfen können?“

„Nein! Du hast jetzt Feierabend!“, sagte mein Schatz und drückte mich auf einen der Stühle.

„Feierabend… Was ist das?“

„Ein Wort mit zehn Buchstaben, das für dich ein Fremdwort zu sein scheint.“

Ich musste grinsen.

„So gefällst du mir schon besser.“

Er zog einen Rotwein aus der Flaschenhalterung und stellte ihn vor mir auf den Tisch. Dann besorgte er zwei Gläser, einen Öffner und wenige Minuten später war mein Glas gefüllt.“

„Nach was steht dir der Sinn?“

„Hm…?“

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“

Ich rieb mir über das Gesicht, dann durchfuhr ich meine Haare.

„Überall und nirgendwo.“

„Lässt du mich daran teilhaben?“

Ich atmete tief durch.

„Es ist so… viel. Sonst hatte ich immer deinen Vater zum Reden…, aber jetzt…“

Mir fingen an die Tränen zu laufen.

„Ich dachte ich verlier ihn…“

Micha stand auf und nahm mich in den Arm. Auch er hatte Tränen in den Augen.

„Hallo, seid ihr da?“, konnte ich Thomas Stimme aus dem Flur hören.

Micha stand auf und lief in den Flur. Ich konnte hören, dass er leise in einem energischen Ton etwas sagte, verstand aber den Wortlaut nicht. Wenig später vernahm ich die Wohnungstür und Michael gesellte sich wieder zu mir.

Ich wollte etwas sagen, aber er legte den Finger auf meinen Mund.

„Ich habe gesagt, wir machen uns einen schönen Abend und du lässt die Welt jetzt mal vor der Wohnungstür.“

„Aber…“

„Nichts aber!“, sagte er und gab mir einen Kuss.

*-*-*

Wir saßen eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa. Auf dem Wohnzimmertisch brannte eine Kerze und sonst lief nur leise Musik.

„Warum lächelst du?“, fragte ich Micha.

„Ich musste gerade an unser kennen lernen denken.“

Nun grinste ich selbst.

„Warum?“

„Ich weiß nicht, mir fiel das gerade wieder ein, wie ich damals in die Wohnung kam und du dachtest, ich wäre mein Vater.“

„Ja und dann bin ich in das größte Fettnäpfchen aller Zeiten gehüpft.“

„He, so etwas kann doch jedem passieren.“

„Dafür bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.“

„Ja, das habe ich gemerkt, wie du dich dem erst besten an den Hals geworfen hast!“

„Thomas…, das war meine erste Erfahrung mit einem Jungen.“

„Bereust du es?“

„Nein…, wieso? So konnte ich doch üben, für den Mann meiner Träume“, antwortete ich und strich ihm zärtlich mit dem Daumen über seinen Handrücken.

„Und nun bist du mein Mann auf Ewig!“, sagte er und hob meine Hand an, dass man unsere Eheringe sehen konnte, „und ich bereue keine Sekunde davon!

*-*-*

Ich hatte einen Krankenhausbesuch hinter mir, war schon auf einem Amt und nun suchte ich die kleine Pension, wo Sebastian untergekommen war. Als ich dort ankam, musste ich erst einmal nach einem Parkplatz suchen.

Nach einer viertel Stunde und einigen Flüchen später fand ich endlich einen, parkte ein und verließ das Auto. Ich musste schon ein Stück laufen, bis ich die Pension wieder erreichte. Die Gegend gefiel mir nicht so.

Alles sehr verbaut und fast kein Grün. Ich betrat das Grundstück und befand mich wenige Sekunden später vor der offenen Haustür. Einfach hineingehen wollte ich nicht, so klingelte ich.

Es dauerte etwas, doch dann kam jemand aus einer Tür heraus.

„Guten Tag, kann ich etwas für sie tun?“

„Guten Tag, ich möchte Sebastian Resch besuchen, bin ich hier richtig?“

„Ja, sind sie und sie haben Glück, er ist sogar da. Einfach die Treppe hinauf, die zweite Tür links.“

Ich bedanke mich freundlich und lief den beschriebenen Weg die Treppe hinauf. Vor der Tür angekommen, klopfte ich. Es rührte sich nichts. Ich schüttelte den Kopf, als mir einfiel, Sebastian war taub, wie sollte er mich hören.

Jetzt war guter Rat teuer. Sollte ich einfach hinein gehen, oder die nette freundliche Dame unten fragen, wie sie sich sonst bei so etwas verhielt. Ich entschloss mich für die erste Variante meiner Gedanken und drückte die Klinke hinunter.

Die Tür ließ sich leicht öffnen und vor mir tat sich ein kleines Zimmer auf. Ein Bett, ein Schrank und ein Tisch mit zwei Stühlen. Dahinter ein Fenster, auf dessen Fenstersims ein junger Mann saß. Ich nahm an, dass es Sebastian sein musste, denn er reagierte immer noch nicht.

Während ich noch überlegte, wie ich mich bemerkbar machen konnte, ohne ihn zu erschrecken, drehte Sebastian seinen Kopf, sah mich und zuckte mächtig zusammen. Dabei wäre er fast aus dem Fenster gefallen.

Genauso erschrocken, rannte ich auf ihn zu und griff nach ihm.

„Wer bist du?“, fragte er mich.

„Ich bin Christopher…“, Mist, wie sollte er mich verstehen.

„Warte…“, meinte er und humpelte zum Tisch, nahm einen Block und Stift, was er mir dann reichte.

„Ich schrieb also auf wer ich war und warum ich ihn besuchte.“

Ich gab es ihm und er lass es. Dann schaute er wieder auf.

„Hallo Christopher, ich bin Sebastian.“

Ich nahm den Block wieder und schreib.

(Um es zu vereinfachen, steht das Geschriebene nun und auch später als wörtliche Rede.)

„Das dachte ich mir schon, entschuldige, dass ich dich so erschreckt habe.“

„Passiert mir öfter, keine Sorge. Die vom Amt haben mir gesagt, du wüsstest vielleicht eine Lösung für mein Wohnungsproblem?“

„Ja, ich biete dir eine Wohnung an, mit Familienanschluss!“

„Echt, wow und was kostet mich das? Meine Mittel sind begrenzt!“

„Keine Sorge, da wird das Amt schon regeln und dich unterstützen. Carsten, ein Mitarbeiter vom Amt sagte mir, dass du eine passende Wohnung suchst und so bin ich hier. Hast du Lust sie dir anzuschauen?“

„Klar!“, lächelte mich Sebastian an.

„Es gäbe nur eins, deine Wohnung wird erst Ende des Monats leer und so würdest du solange mit jemandem anderen zusammen wohnen, bis deine Wohnung frei wird. Oder du bleibst noch so lange hier.“

„Nein, hier möchte ich nicht bleiben, die Gegend gefällt mir nicht so und wenn es diesem Jemand nicht stört, dass ich schwul bin, würde ich gerne bei euch einziehen.“

„Ich denke. Da hat niemand im Haus Probleme damit.“

„Wieso?“

„Mein Mann und ich sind beide schwul und es gibt auch noch mehrere Einwohner im Haus die diese Gesinnung teilen.“

„Das hört sich interessant an, es gibt nicht zufällig jemand der solo ist und einen Freund sucht?“, sagte er immer noch lächelnd.

Ich war verblüfft, wie offen Sebastian mit mir umging, obwohl er mich doch erst kurz kannte. Und trotz seiner Handicaps so fröhlich war.

„Wenn du nichts weiter vorhast, können wir gleich fahren und du kannst dir alles ansehen.“

„Wenn du kurz wartest, ich muss nur kurz auf die Toilette noch. Und du bist wirklich schwul?“

Ich nickte und lächelte ihn an. Kurz darauf verschwand er kurz. Ich sah mich weiter im Zimmer um. Auf dem Boden stand ein offener Koffer, der noch mit Klamotten beladen war. Mein Blick wanderte weiter und ich sah ein Bild auf dem Tischchen neben dem Bett stehen.

Von der Neugierde getrieben ging ich hin und sah es mir an. Darauf war Sebastian, etwas jünger und ein goldiger Kerl abgebildet.

„Das ist Josh…, mein Freund, den ich durch einen Unfall verloren habe…“

Ich hatte ihn nicht kommen hören und schrak etwas zusammen. Schnell stellte ich das Bild wieder ab und griff nach dem Block.

„Carsten hat mir das erzählt, es tut mir sehr Leid.“

„Ja… danke… Josh war schon etwas Besonderes“, meinte er und schaute traurig zum Bild.

*-*-*

Die Fahrt verlief ruhig, da ich mich nicht mit ihm unterhalten konnte. Es dauerte etwas, bis wir zu Hause ankamen. Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und zeigte auf das Haus.

„Das ist es?“

Ich nickte.

„Schön! Gefällt mir viel besser!“

Gemeinsam stiegen wir aus. Ich griff noch nach dem Block und Stift, den er mitgenommen hatte. Ich begann zu schreiben.

„Eigentlich gehören beide Häuser zusammen, du würdest im Linken wohnen.“

„Klasse, der Vorgarten gefällt mir sehr. Was ist das hier?“

„Etwas anstrengend zu erklären, aber ich versuch es mit kurzen Worten.“

Er nickte.

„Das hier ist im groben Sinne mit betreuten Wohnen gleich zusetzten, nur das keine alten Leute hier wohnen, sondern Jugendliche oder junge Erwachsene, deren Vergangenheit nicht so rosig war.  Ich bin so etwas wie der Aufpasser, aber eher der Helfer, wenn jemand Hilfe braucht.“

„Aha und du selbst? Wie bist du dazu gekommen, oder ist das dein Job?“

„Es ist mein Job, aber ich selbst war der erste Einwohner hier im Haus. Ich bin Vollweise, lebte im Heim und musste mir mit achtzehn eine neue Bleibe suchen. So bot mir das Amt diese Wohnung an, mit dieser kleinen Nebentätigkeit.“

„Das hört sich alles sehr interessant an.“

„Wollen wir hinein gehen?“

Er nickte. Ich schrieb weiter.

„Ich habe gesehen, dass du Probleme mit dem Gehen hast.“

„Ja, ich habe leichte Schäden an meine Knochen, von Kind an, aber mit den Stützen“, er zog sein Hosenbein etwas hoch und eine Metallschiene kam zum Vorschein, „geht es!“

„Deine Wohnung würde im dritten Stock liegen.“

„Geht schon, dass ist dann wie Training für mich. So lange niemand erwartet, dass ich die Treppe hinauf sprinte, ist es kein Problem.“

„Okay, lass uns kurz in meine Wohnung gehen.“

„Gut.“

Ich ging voraus und schloss die Haustür auf, während mir Sebastian langsam folgte. Wartend hielt ich ihm die Tür auf, bis er das Haus betrat.

„Danke!“, meinte er lächelnd.

Ich lief weiter und wie üblich stand unsere Wohnungstür offen.

„Michael? Ich bin wieder zu Hause…“, rief ich in meinen Flur.

„Hallo Christopher…, warum schreist du so?“, kam es vom meinem Schatz, als er aus der Küche kam und legte seine Hand auf meine Schulter.

Ich musste grinsen.

„Ich möchte dir Sebastian vorstellen“, der mittlerweile an meiner Wohnungstür angekommen war.

„Hallo Sebastian!“, sagte Micha, ging zu ihm und streckte die Hand entgegen.

„Moment“, meinte ich und schrieb wieder etwas auf den Block.

„Michael? Hallo!“, kam es von Sebastian und schüttelte meinem Mann die Hand.

Erstaunt sah ich Sebastian an, der darauf zu lachen anfing.

„Was ist jetzt?“, fragte Micha.

Bevor ich antworten konnte, kam die Antwort von Sebastian.

„Ich kann etwas Lippen lesen und an der Tür stehen Christopher und Michael, da ging ich einfach davon aus, dass es Michael ist.“

Schlaues Kerlchen dachte ich und hielt den Block hoch.

„Das ist mein Mann Michael.“

Mein Schatz lachte.

*-*-*

„Da hat uns Bernd wohl ausgestochen“, meinte Micha grinsend.

„Du, ich finde es gut, wenn Nico mit Bernds Familie nach Amerika fliegt. Er kann vielleicht dann endgültig mit seiner Vergangenheit abschließen, wenn er noch mal an die Orte zurück kehrt, wo er seine Eltern verloren hat.“

Ich hatte Michael erzählt, dass sich Nico entschlossen hatte, in den Ferien lieber mit Bernd und seinen Eltern nach Amerika fliegen würde, als mit uns nach Australien. Einerseits war es mir Recht, da ich so ein paar Tage alleine mit Micha verbringen konnte, aber ich wusste jetzt schon, dass Nico mir fehlen würde.

„Weißt du jetzt Näheres wegen Tom?“, riss mich mein Mann aus den Gedanken.

„Ja, er befindet sich im Augenblick noch in Sydney, auf einer Schülerfahrt, so dass er am siebzehnten, wenn wir ankommen, auch wieder zurück ist.“

„Ich hätte nie gedacht, dass ich so schnell mal nach Australien komme“, meinte Micha und spülte seine Kaffeetasse aus.

„So langsam sollte ich mir Gedanken machen, was ich alles mitnehme.“

„Stimmt, meinst du es reicht ein Koffer für uns beide?“

„Für vierzehn Tage? Ich weiß nicht.“

„Hm, ich werde meine Mum mal fragen, was die so an Koffer auf Lager haben.“

„Wo du davon sprichst, wie geht es Julius?“

„Soweit so gut, er darf voraussichtlich die nächste Woche die Klinik verlassen, danach geht es vier Wochen in Kur.“

„Ich hoffe er nutzt die Zeit gut.“

„Keine Sorge! Mum hat sich für die gleiche Zeit dort ein Zimmer gebucht, sie wird schon auf ihn aufpassen.“

Ich schaute Michael lange an.

„Was ist?“

„Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll…, die ganze Zeit, als dass mit deinem Vater passierte und die ganze Zeit danach, warst du so ruhig… im Gegensatz zu mir.“

„Du meinst, warum ich nicht verrückt wurde, weil mein Vater zusammen geklappt ist?“

Ich nickte. Michael atmete tief durch und sein Blick wurde leer.

„Ich kann es dir nicht sagen, warum ich nicht geweint habe, oder total entkräftet in mich zusammen gesunken bin. Ja, es ist mein Vater…, aber irgendwie merkte ich, es bringt meinem Vater und den anderen nichts, wenn ich zum Trauerklos werde.“

Ich hob die Augenbraun.

„Sorry, Christopher, damit will ich dich nicht beleidigen. Du hast Menschen, die du liebst, bereits verloren, ein Gefühl, dass ich nicht kennen lernen möchte. Ich dachte nur, wenn ich für dich und auch Mum da bin, euch meine Ruhe schenke, ist jedem geholfen.“

„Verdrängst du dann aber nicht etwas…, die Traurigkeit über diesen Vorfall? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich das alles kalt gelassen hat.“

„Christopher, ich weiß, nach außen mag das wohl alles etwas kalt erscheinen, aber ich habe in meinem Studium auch gelernt, vieles nicht an mich heran zu lassen.“

„Aber es ist Julius, dein Vater.“

„Eben drum. Die ganze Sache nüchtern zu sehen, hilft mehr, als wenn ich mich verrückt mache. Klar gab es auch Momente, wo ich die Tränen nicht unterdrücken konnte, aber wem ist damit geholfen?“

„Dir Schatz! Wenn ich deine Worte so höre, bekomme ich Angst.“

„Warum?“

„Dass du mir irgendwann zusammen brichst, weil eine Lawine von Gefühlen dich überrollt. Es mag sein, in Fällen die im Amt schlimm sind, sich eine dicke Haut zuzulegen, dass habe ich schon selbst gemerkt, aber in eigener Sache… Julius ist dein Vater, gehört zu deiner Familie, da denke ich ist es nicht angebracht, diesen Panzer anzulegen, damit alles abprallt.“

Michael lächelte mich an.

„Manchmal frage ich mich wirklich, wer von uns beiden studiert“, sagte er und drückte mich fest an sich.

„Eindeutig du!“, flüsterte ich und küsste ihn auf die Wange.

Wenig später saß ich neben Michael im Wagen. Wir waren auf dem Weg zu seiner Mutter.

„Weißt du, was für ein Wetter in der Gegend wo Tom herkommt gerade herrscht?“, fragte ich.

„Wenn wir hier Richtung Herbst gehen, dann ist es bei denen da unten Frühling.“

„Du kennst dich gut aus.“

„Der Schein trügt, mein Schatz. Als feststand, dass wir beide nach Australien fliegen, habe ich mich im Internet über Australien und auch die Gegend, wo wir hinmöchten etwas eingelesen. Man will ja nicht total unvorbereitet da unten eintreffen.“

Ich starrte zum Fenster hinaus.

„Lässt du mich bitte an deinen Gedanken teilhaben?“

Ich schaute zu ihm und lächelte.

„Es ist irgendwie alles verrückt.“

„Warum?“

„Als ich damals mit elf Jahren meine Eltern verlor, war ich alleine, keine Verwandten nichts. Und nun tauchen plötzlich immer mehr aus meiner Familie auf, die ich nicht kenne.“

„Gut oder schlecht?“

„Gut natürlich, aber… es ändert sich soviel… alles wird so…“

„Global?“

„Nicht das richtige Wort, aber es trifft es wenigstens.“

„Miller ist eben kein Deutscher Name, da kann es schon passieren, dass bei so einem Allerweltsname irgendwo doch noch Verwandte gibt. Und sei mal ehrlich, es ist irgendwie cool, oder? Durch Patrick sind wir nach Amerika gekommen, jetzt durch Tom nach Australien…, vielleicht gibt es ja noch ein Miller in Asien oder wo anders.“

Ich musste kichern.

„So, da sind wir!“, meinte Michael und stellte den Wagen in der Einfahrt ab.

Ich stieg aus und schaute mir den Vorgarten an.

„Man müsste mal wieder mähen“, meinte ich.

Michael schaute mich schief an, während er den Wagen verschloss.

„Hast du dich mit meiner Mutter kurz geschlossen?“

„Wieso?“

„Sie meinte, ob ich vor unserem Abflug noch Zeit hätte, den Rasen ums Haus zu mähen.“

„Das geht doch schnell, wenn ich dir helfe…“, grinste ich.

*-*-*

Etwas verschwitzt saß ich an Julias Küchentisch und trank meine Cola. Der Garten hatte doch mehr Zeit in Anspruch genommen.

„Das ist wirklich lieb von euch, dass ihr mir das abgenommen hat“, meinte Julia, als sie mit zwei großen Taschen die Küche betrat.

„Kein Problem!“, meinte ich und winkte ab.

„Die sind genau richtig“, meinte Michael und nahm ihr einer der Taschen ab, „oder was meinst du Schatz?“

„Ja, da geht einiges hinein.“

„Gut, dann nehmt die Teile mit, ich brauch sie eh nicht.“

„Woher haben wir die Teile überhaupt?“, fragte Micha.

„Die stammen noch aus der Zeit, als du und dein Vater zu diesen Volleyballspielen gefahren seid, wenn du Turnier hattest.“

„Daran kann ich mich gar nicht mehr so erinnern, also wo wir unsere Sachen drin hatten.“

„Kunststück, darum hat sich auch immer dein Vater gekümmert.“

Er schaute sich die Taschen genauer an, während mein Blick auf Julia fiel.

„Habt ihr schon ausgemacht, wer euch zum Flughafen bringt?“

„Nein, aber ich denke es gibt genug, die fahren würden.“

„Dann würde ich das gerne übernehmen“, meinte Julia und schenkte sich einen Kaffee ein.

„Hast du auch einen für mich?“, fragte Micha und setzte sich zu mir.

Sie befüllte eine weitere Tasse und stellte sie Michael vor die Nase, bevor sie sich ebenso zu uns setzte.

„Gut abgemacht, dann brauchen wir schon niemanden von den anderen fragen.“

Ich nickte und legte meine Hand auf die Ihrige.

„Alles sonst klar bei dir?“

Sie atmete tief durch.

„Ja geht schon. Mittlerweile komme ich mit der ganzen Situation klar und es hat auch etwas Gutes für sich. Mein Man hat mehr Zeit für mich.“

Stimmt, Julius war auch mit seinem Job verheiratet und Julia musste oft zurück stecken, wenn es um einen Fall im Amt ging. Aber, so dachte ich wenigstens, durch meine Wenigkeit, wurde sie mehr mit einbezogen.

„Steht heute noch etwas an?“, fragte mich Micha und riss mich somit aus meinem Gedanken.

„Öhm…, nicht dass ich wüsste, warum?“

„Was hältst du von dem Vorschlag zusammen mit meiner Mutter, mal wieder richtig schön essen zu gehen?“

„Du willst mich dabei haben? Brauchst du einen Anstandswauwau, ich dachte aus dem Alter bist du heraus“, meinte Julia grinsend.

„Ja klar, mit dir, warum auch nicht. Was meinst du, Christopher?“

„Ich hätte nichts dagegen, wäre mal etwas anderes.“

*-*-*

Irgendwie war ich überzeugt, das Julia und ihr Sohn dass eingefädelt hatten, wo sonst bekommt man am gleichen Tag, in einem gut besuchten Restaurant einen Tisch, wo man lange vorbestellen muss.

Überhaupt bekam ich das Gefühl. Dass sich mein Mann plötzlich extrem fiel Zeit für mich nahm, gut ich hatte da nichts dagegen, es gefiel mir und tat gut, aber auffällig war es schon. Ich beschloss dieses Thema nicht anzuschneiden und genoss dafür die liebevollen Zuwendungen meines Mannes.

Die Woche, bis zu unsere Abreise verging wie im Flug. Mit Sebastian bekamen wir eine weitere Frohnatur ins Haus und zu meiner Überraschung verstand er sich mit Stephan gleich vom ersten Augenblick.

Stephan selbst hielt sich an die Regel mit dem Alkohol. Wenn wir zusammen saßen, trank er meistens Cola oder Kaffee. Bier wie die anderen rührte er nicht an. Am Vorabend unserer Abreise brachten wir Nico an den Flughafen, wo wir uns mit Bernds Familie trafen.

Am nächsten Morgen holte uns wie versprochen Julia ab. Als wir unsere Taschen zum Auto trugen, versammelte sich die ganze Mannschaft im Vorgarten.

„Ihr wisst schon, dass wir nur zwei Wochen weg sind?“, fragte Micha, als er seine Tasche in den Kofferraum wuchtete.

„Klar“, meinte Thomas, „aber so gesehen, ist es euer erster gemeinsamer Urlaub und das ist doch etwas Besonderes, oder?“

Alle nickten. So verabschiedeten wir uns von der ganzen Bande. Die Umarmungen brauchten doch tatsächlich eine ganze Viertelstunde und Julia mahnte zum Aufbruch. Ich selbst wischte mir die Tränen aus den Augen, denn irgendwie war ich von dem Ganzen gerührt.

„Okay, dann machen wir uns mal auf den Weg und ihr haltet uns das haus sauber!“, meinte ich.

„Viel Spaß und meldet euch mal!“, rief Andreas, der seinen Thomas im Arm hatte.

Ich stieg zu Julia nach vorne, während Micha hinten Platz nahm. Julia startete den Wagen und ließ ihn anrollen. Auf dem Grundstück begann es wild zu grölen und mit einem Blick zurück sah ich wie sie uns alle hinter her winkten.

„Verrückte Bande…“, meinte ich.

„Eure verrückte Bande!“, kam es von Julia und ich konnte ihr nur zustimmen.

*-*-*

So, dass war es nun endlich. Hier schließt You are not alone. Ich hoffe, euch hat die Geschichte bis hier her gefallen. Lange genug hat es ja auch gedauert. Klar wird jetzt jeder fragen, warum schreibt er nicht über den Besuch in Australien und wie es weiter geht?

Keine Sorge, das wird kommen! Das könnt ihr dann im letzten Teil von Welcome to Australia mit Tom und Berry lesen. Ich wollte noch einmal Danke sagen, für die vielen Emails, die ich während des Schreibens dieser Geschichte bekommen habe.

Viele meinten, es wäre schön, wenn es wirklich solche Häuser gäben würde, wo Jugendliche, oder junge Erwachsene einen Start ins Leben wagen könnten. Ich selbst weiß es nicht, ob es so etwas gibt, aber toll wäre es schon.

Liebe Grüße euer Pit

 

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2 Kommentare

  1. Hallo Pit
    danke für „You are not alone“
    Sehr schön geschrieben. Ich hatte immer wieder Tränen in den Augen und habe vor lauter Spannung immer weiterlesen müssen!
    dank und liebe Grüße
    Ralph

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  2. Hallo Pit,

    Danke für den „leider“letzten Teil, der vieeeeelll zu kurz war, grins
    Viel Erfolg bei der Fortsetzung und den anderen Geschichten.
    Viele grüße aus Berlin
    Ralf

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