Almost Nothing – Knocking on Heavens Door – Teil 1

Mats Jorgensen

Ich hasste mein Leben, so wie es gerade im Moment verlief. Vor drei Tagen hatte mich der Sicherheitsbeamte im Jobcenter regelrecht zur Tür hinaus gestoßen, nachdem ich wegen diesem Job hier halb ausgerastet war. Wütend rechte ich das vertrocknete Laub vom Rasen des Paul-Ernst-Parks, bevor ich mir unter einem Baum, an den rauen Stamm gelehnt, eine Zigarettenpause gönnte. Nur wenige hundert Meter hinter mir war das fröhliche Planschen am Schlachtensee deutlich zu hören. 

Das Arschloch – ich konnte mir den Namen des Vorarbeiters nicht merken – beobachtete mich argwöhnisch. Aber das interessierte mich nicht, für den einen Euro Stundenlohn wollte ich die Anforderungen nicht übererfüllen und die kleine Pause stand mir zu.

Die aufkeimende Sommerhitze machte mir sehr zu schaffen. Es war nicht mal Juli und das Thermometer kletterte bereits auf über 30 Grad und die Arbeit strengte an. Ich wischte mir mit den erdigen Händen den Schweiß von der Stirn und genoss mit geschlossenen Augen den brennenden Qualm in meinen Lungen.

„Geh da weg, Princess! Du bekommst Flöhe von diesem Kerl.“

Irritiert sah ich mich nach der Quelle dieser schrillen Stimme um und erblickte eine aufgedonnerte Tussi, die auf ihren schwarzen Nuttenstiefeln in meine Richtung tippelte. Zu meinen Füßen kläffte mich plötzlich etwas an, eine Yorkshire-Töle mit pinkfarbenem Umhang.

Die überschminkte Blondine im Kostümchen kam näher und schnappte sich die Leine, die ‚Princess’ hinter sich hergezogen hatte. Ihre Augen hefteten sich auf mein dreckverschmiertes Gesicht und sie verzog angewidert ihren Mund. Ohne ein weiteres Wort lief sie ein paar Meter weiter, wo Princess einen sehr unköniglichen und stinkenden Haufen auf dem Rasen hinterließ. Die blonde Sirene störte sich nicht weiter daran und ging einfach weiter.

„Hey Puppe, dein Köter hat einen Haufen gemacht, ein Mensch mit Manieren hebt so was auf und wirft es weg“, rief ich ihr hinterher.

Blondie blieb abrupt stehen, fuhr auf den Absätzen herum und stierte mich giftig an. „Ein Mensch mit Manieren wäscht sich und läuft nicht wie ein Penner herum. Mach das doch selber weg. Das gehört doch bestimmt zu deinem Job hier.“

Ich wurde sauer und sie machte sich wieder auf den Weg. „Wenigstens muss ich nicht mit ‘nem Kerl vögeln, um sein Geld zu bekommen, ich mache es nur aus Spaß. Anders kommt so eine aufgedonnerte Zicke wie du doch nicht an Geld“, brüllte ich betont laut durch den Park und setzte ein sehr leises „Vielleicht sollte ich das doch mal als Möglichkeit in Betracht ziehen“ nach.

„Das solltest du vielleicht wirklich tun, Jorgensen“, zischte es gefährlich leise hinter mir. „Diesen Job hier kannst du vergessen, für die Firma bist du nicht tragbar.“

Es war das Arschloch. Und mit diesen Worten hatte ich nicht nur den Job hier verloren, sondern ich hatte mir auch eine empfindliche Sperre meiner Stütze eingehandelt. Meine Fallmanagerin im Jobcenter hatte mich bereits vorgewarnt.

„Ach leck mich doch!“, knurrte ich ihn an und machte mich auf den Weg zum Ausgang, der Tussi hinterher.

„Hey, die Weste will ich zurück“, brüllte mein ehemaliger Vorgesetzter. Direkt vor dem Haufen der Töle blieb ich stehen.

„Aber sicher doch“, antwortete ich und zog das geforderte Teil aus, ließ es auf den Haufen fallen und drehte den Dreck mit meinem Schuh hinein, bevor ich aus dem Park rannte. Das Arschloch gab die Verfolgung schnell und laut keuchend auf.

Nach einer Stunde Fußweg und einem Besuch beim Kiosk, wo ich mich mit einem Sixpack Bier versorgt hatte, kam ich vor der Tür des Hauses an, in dem sich mein kleines Ein-Zimmer-Wohnklo befand. Der Briefkasten versorgte mich mit einem Schwung neuer Rechnungen und Mahnungen.

In meinem Reich angekommen, feuerte ich die Post auf den kleinen Couchtisch, wo sie zwischen den leeren Schachteln diverser Fertiggerichte verschwand und öffnete eine der Bierflaschen.

„Scheiße“, fluchte ich. Mit der kommenden Sperre hätte ich kein Geld für die Miete und der Hausherr wartete nur auf eine Gelegenheit, mir eine fristlose Kündigung auszusprechen.

Die Bierflasche fand noch ein kleines Eckchen auf dem Tisch und ich ging in das winzige Bad, wo ich meinen Blaumann und das Shirt auszog und riskierte einen Blick in den Spiegel.

Ich passte in diese versiffte Wohnung. Nicht das ich unbedingt hässlich war, eigentlich eher im Gegenteil, aber ich wirkte irgendwie ziemlich verwahrlost. Dicke Ringe unter den Augen, das dunkelblonde Haar war stumpf und strähnig, der Dreck aus dem Park hing an mir wie eine zweite Hautschicht. Im Moment fühlte ich mich und sah eher aus wie fast dreißig und nicht wie neunzehn.

Seufzend stieg ich unter die Dusche und wusch mir den Schweiß vom Körper. Das Rauschen der Toilette in der Nebenwohnung, hörte ich einen Moment zu spät und der Schwall heißen Wassers, welcher sich für einen Moment über mich ergoss, brachte mich zum Aufschreien. Ich musste raus aus diesem Loch. Ein bitteres Lachen folgte, denn dafür würde der Vermieter bald schon sorgen.

In der Bettecke fischte ich noch tragbare Klamotten aus einem Berg Wäsche. Meine Waschmaschine war hin und sie war der eigentliche Grund für meinen Besuch bei der staatlichen Fürsorge. Doch dazu kam es ja nicht mehr.

Kurz darauf klingelte mein Telefon.

„Jo, Kev, was geht?“, meldete ich mich bemüht locker, als ich die Nummer erkannte. Kevin war ungefähr in meiner Situation, mein bester Freund und ein ehemaliger Schulkollege, der mit mir, nach der mittleren Reife, die Schule verlassen hatte.

Nun, bester Freund reichte nicht ganz, er war meine Familie, mein Bruder und mehr als das. Zu meinen alkoholkranken Erzeugern hatte ich keinen Kontakt, so blieb er mir als einziger Rückhalt.

Schwul waren wir beide und nicht selten landeten wir zusammen in der Kiste. Meine Erfahrungen mit anderen waren begrenzt und unterschieden sich grundlegend von den wirklich schönen Erlebnissen mit ihm. Leider fühlte er sich in der Taschengeldszene zunehmend wohler und hatte außerdem noch einen guten Draht zu seinem Sachbearbeiter. Da musste sogar ich grinsen, denn den hatte mein Kumpel in der Hand, schließlich war der Typ verheiratet.

„Hey, Mats, Party heute Abend. Ich lade dich ein.“ Über meinen chronischen Geldmangel wusste er Bescheid, aber ich war nicht ganz überzeugt.

„Komm lieber her, ich will mich nur noch besaufen!“, antwortete ich deshalb. Ein Abend zu zweit mit ihm war mehr nach meinem Sinn.

„Ne Alter, nicht in deiner Siffbude. Heute ist KulturBrauerei angesagt, mir egal was es kostet, dich abzufüllen. Hatte ne gute Woche“, lachte Kevin in den Hörer.

„Okay, du alter Stricher, wann soll ich da sein?“ Den zickigen Unterton schloss ich mühsam aus meiner Stimme.

„Neidisch? Ich hol dich um neun Uhr ab. Hoffentlich findest du noch meinen Zweithelm in deinem Dreck.“

„Als ob es bei dir besser aussieht“, versuchte ich einen schwachen Konter. Ich war wirklich die größere Schlampe von uns. Aber mal ehrlich, bei dem Loch fehlte mir jede Lust Ordnung zu halten.

„Viel besser, ich hab jetzt ne Putze, kostet nur ‘nen Blowjob pro Durchgang und mein Schweigen. Es ist der Michels.“

Soviel zum Thema ‚Sachbearbeiter bei der ARGE’. „Du bist wahnsinnig.“

Das Gespräch war beendet und ich entschloss mich zum Aufräumen, ein wenig zumindest. Mit einer weiteren Flasche Bier gestärkt, schnappte ich mir einen Müllsack und fegte den Couchtisch leer, samt Post. Rechnungen und Mahnungen kamen, früher oder später, sowieso wieder. Hinter der Couch war noch genug Pfand für eine weitere Schachtel Zigaretten und ich stellte den ganzen Kram in den Flur. Den Müllsack entsorgte ich durch das Wohnzimmerfenster, unter dem sich der übervolle Container befand. Die Tüte blieb zielgenau auf den anderen liegen.

Das Chaos war nun halbwegs beseitigt, jetzt war es einfach nur noch erbärmlich dreckig.

Bis zu Kevins Ankunft blieben noch ein paar Stunden, deshalb kratzte ich noch etwas Geld zusammen und verschwand, nach dem dritten Bier, in Richtung Waschsalon. Auf der Suche nach alternativen Verdienstmöglichkeiten waren saubere Sachen vielleicht von Vorteil.

Die ganze Aktion war nach drei Stunden beendet und ich runter mit den Nerven. Der Salon platzte fast aus den Nähten und es dauerte allein ein halbe Stunde, bis ich endlich an eine freie Maschine kam. Da drin kam ich mir wie auf einem türkischen Volksfest vor und hatte nicht ein Wort von dem verstanden, was sich die alten Klatschweiber mit den Kopftüchern zu erzählen hatten. Kurz gesagt: Es war schreiend langweilig dort.

Insgeheim freute ich mich bereits auf den Abend mit Kev, nicht nur wegen der Einladung. Vielleicht hatte ich ja Glück und er fand heute keinen spendablen Gönner. Sex mit ihm war für mich nämlich immer eine besondere Freude, kam aber in letzter Zeit sehr selten vor. Meistens wurde er ja gut versorgt, bevor es ihm besorgt wurde und vielleicht war ich wirklich ein wenig eifersüchtig.

Etwas frustriert schaltete ich daheim meinen uralten PC ein und hoffte, dass der WLAN-Stick, den ich vor ein paar Monaten im Fachmarkt geklaut hatte, heute wieder ein kostenloses Nachbarnetzwerk fand. Diesmal hatte ich Glück und ‚entspannte’ mich noch auf einer Pornoseite.

Die Sauerei auf meinem Oberkörper spülte ich mir bei einem weiteren Duschbad vom Leib, allmählich wurde es auch Zeit, die Zeiger rückten langsam, aber sicher in Richtung 21 Uhr.

Meine frische Wäsche lag mittlerweile auf einem großen Haufen im Bett und ich suchte mir etwas Passendes heraus. Auf mein enges weißes Tanktop, mit einer schwarzen Buddha-Figur auf der Brust, fuhr Kevin eigentlich ziemlich ab. Anschließend zwängte ich mich in eine besonders enge Jeans, deren Beine ein Stück oberhalb des Knies endeten. Sie war so eng, dass ich auf Unterwäsche verzichten musste. Das brachte im Gegenzug mein Paket besonders gut zur Geltung. Die nackten Füße verschwanden in flachen Sneakers, die früher mal weiß und jetzt eher grau waren. Mein Spiegelbild gefiel mir deutlich besser als noch am Mittag, die Ringe unter den Augen waren fast weg und die Haare fahrtwindtauglich gegelt, der Helm blieb auch nach dem Aufräumen verschwunden.

Endlich klingelte es an der Tür. Ich drückte auf den Summer und kurz darauf stand mein Kumpel vor der Tür. Braungebrannt, ein schlichtes schwarzes Muscle-Shirt und weiße Shorts. Die Goldkette wirkte etwas protzig, aber er war trotzdem zum Anbeißen.

„Gut siehst du aus“, grinste er mich an, nach einer schnellen Musterung von Kopf bis Fuß. „Willst du zur Party oder am Bahnhof arbeiten?“

„Blowjob ein Fuffi“, grinste ich zurück.

„Hmmm, billig, so mag ich es am liebsten.“ Kevin lachte laut und setzte zu unserer üblichen Begrüßung an, eine dicke Umarmung und ein intensiver Kuss. Er roch geil, nach einem neuen Aftershave.

„Ich bin nicht billig. War ein Freundschaftspreis.“ Wir standen noch immer in inniger Umarmung.

„Dass es heute mit dir nicht billig wird, glaube ich auch“, flüsterte er mir direkt ins Ohr. „Darfst du dann gerne abarbeiten.“ Seine Zunge leckte kurz durch meine Ohrmuschel und meine Jeans zeigte sofort wieder etwas mehr vom Paket.

Kevin klopfte mir kurz auf den Hintern, wohl wissend, was er mir mit seiner Zunge angetan hatte, aber er drängte auch gleich zur Eile und wir gingen ins Treppenhaus.

„Kein Helm?“

Ich schüttelte den Kopf. „Der liegt noch irgendwo, hab noch nicht überall aufgeräumt.“

Seufzend brachte er seinen Helm, der vor der Wohnung lag, in meinen Flur und wir nahmen die U-Bahn. Offen betrachtete ich ihn während der Fahrt und Kevin lächelte mich an.

„Was ist los, Mats?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Darf ich dich nicht mehr anglotzen?“ Bei meiner Zickigkeit verzog er das Gesicht ein wenig. Ich wäre halt wirklich lieber mit ihm allein geblieben, aber Kevin spürte das nicht. Früher war er sensibler für meine Stimmungen.

„Hab dich lieb, Kleiner“, flüsterte er mir zu und zauberte damit doch wieder ein kleines Lächeln auf meine Lippen.

Die Bahn wurde langsamer voller und ich hockte mich direkt neben ihn und schloss die Augen für einen Moment, genoss die Illusion von uns beiden allein. Kevin legte seinen Arm um mich. Es dauerte nicht mehr lange und wir waren am Ziel. Natürlich war es schon rappelvoll und wir standen noch in einer kleinen Warteschlange.

„Kevin, mir ist heute echt nicht nach Party.“ Endlich war es raus.

„Und was dann?“

„Ach, ich hätte nichts dagegen, wenn wir heute einfach mal allein wären. Hatten wir schon eine Weile nicht mehr.“

„Aber das können wir doch immer, du musst halt mal was sagen.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Das habe ich in den vergangenen zwei Wochen bestimmt sechs oder sieben Mal probiert, du warst immer beschäftigt.“

„Dann lass uns den Abend hier zusammenbleiben, okay?“ Nicht ganz das, was ich mir wünschte, aber ein Kompromiss.

Nun, ganz so blieb es dann doch nicht. Für eine kleine Weile tanzten wir zusammen und Kevin blieb nah an mir dran, wollte eine gute Show für die anderen liefern. Zugegeben, die Art, wie er mit mir über die Tanzfläche wirbelte, war heiß, weckte den Wunsch nach mehr. Aber beinahe hektisch wechselte er ständig die Position. Gerade genoss ich noch das Reiben seines Hinterns an meinem Schritt, schon stand er hinter mir und streichelte meine Vorderseite.

Für meine Kuschelstimmung wurde das zu viel und ich beendete dieses kleine Fiasko. „Sorry Kev, bleib ruhig hier, ich hau mich hier irgendwo hin.“

Er guckte zwar nicht gerade begeistert, ließ mich aber ziehen. Direkt neben der Tanzfläche fand ich eine kleine Sitzgruppe und flegelte mich hinein. Bei der Bedienung, die kurz darauf vorbei kam, bestellte ich ein Bier und ließ es auf seiner Getränkekarte eintragen. Zumindest hatte er mir die noch schnell zugesteckt.

Missmutig beobachtete ich ihn und es dauerte nicht lang, bis sich jemand an ihn herantanzte. Kevin stieg natürlich gleich drauf ein. Zusammenbleiben stellte ich mir anders vor. Ich revanchierte mich durch den regen Gebrauch seiner Zahlkarte und spürte irgendwann die wohltuend bleierne Leichtigkeit des Alkohols. Mittlerweile saß ich seit fast zwei Stunden hier und wartete vergeblich auf ein wenig Aufmerksamkeit.

„Hey.“ Jemand rüttelte mich wach. „Mats, mit dir ist heute wirklich nicht viel los, oder?“

„Ach, der Herr hat sich wieder an mich erinnert.“ Ich verließ meine halb liegende Position und setzte mich wieder aufrecht hin. „Wie spät ist es überhaupt?“

„Gleich zwei Uhr“, antwortete er etwas zerknirscht. „Sorry, Kleiner.“

„Macht doch nichts. Ich sitze hier nur seit 4 Stunden rum. War ja ein toller Abend zusammen.“

Kevin griff nach meiner Hand und sah mich seltsam an. „Vielleicht täusche ich mich ja, aber möchtest du mir etwas sagen?“

„Klar. Ich will nach Hause.“ Dem Gesichtsausdruck nach, war es nicht das was er hören wollte. Aber was erwartete er auch. ‚Danke, für den schönen Abend’?

„Hey, es tut mir leid, echt. Warum bist du heute so mies drauf?“

„Schön, dass du das jetzt schon fragst. Mein Tag war beschissen. Hab diesen dämlichen Job im Park verloren. In Kürze wird’s also richtig eng bei mir.“

„Fuck. Kommst du mit zu mir? Ich hab voll das schlechte Gewissen, lass es mich wieder gut machen.“

Obwohl ich mich über die Aussicht freute, dämpfte mein Mund seine Stimmung wieder ab. „Klar, schlimmer wird’s dadurch sicher nicht.“ Kevin wirkte tatsächlich ein wenig verletzt, dabei hatte er mich doch im Stich gelassen.

Ohne zu murren, zahlte er den ordentlichen Batzen auf seiner Karte und wir verließen die KulturBrauerei in Richtung Bahn. Alles drehte sich ein wenig, ich hatte ganz ordentlich einen sitzen. Kev zog mich zu sich heran, den Arm um meine Hüfte gelegt und hielt mich so auf einem einigermaßen graden Kurs. Leider schmolz mein Ärger in seiner Nähe wieder zusammen, zumindest für einen sehr kurzen Moment.

„Warum hast du mir nichts von deinem Freund erzählt?“

Wir drehten uns um und der Antänzer stand vor uns. „Mats, das ist Colin. Wir haben uns vorhin kennengelernt.“

„Ach, sag bloß. Ihr seid mir gar nicht aufgefallen. Und ich bin nicht sein Freund“, giftete ich den Störenfried an.

Dieser Colin grinste nur. „Sicher? Aber umso besser. Kann ich mitkommen? Ich würde gerne da weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben.“

Der Typ langte Kevin in den Schritt und küsste ihn dreist vor meinen Augen. Sichtlich bemüht schob dieser den anderen von sich weg. „Heute nicht, ich muss mich unbedingt mal um ihn kümmern, war nicht so ganz sein Tag.“

„Also, wir können uns auch zusammen um ihn kümmern. Er ist ja ganz süß, solange er mich nur mit seinem Blick umbringen will.“

Fassungslos beobachtete ich das Geplänkel der beiden. „Es ist mir scheißegal was ihr miteinander treiben wollt. Ich bin einfach nur müde. Ich kann auch auf der Couch pennen.“

„Nix da. Du gehst nicht auf die Couch. Wir verschieben das, Colin, versprochen.“

Es musste am Bier liegen, oder ich war einfach nur bescheuert, doch Kevin schien fast ein wenig traurig. Den kommenden Satz würde ich sicher noch bereuen. „Nimm ihn halt mit, vielleicht bringt es mich ja auf andere Gedanken.“ Ja, ich wollte heute um jeden Preis bei meinem Freund sein.

***

Die Wohnungstür fiel hinter uns ins Schloss. Die beiden waren so gnädig und verhielten sich auf der Fahrt anständig. Die Angst vor Übergriffen in unserem Transportsystem hatte also auch positive Nebeneffekte.

Natürlich änderte sich das jetzt, nachdem wir das kleine und wirklich überraschend saubere Reich von Kevin betreten hatten. Mein bester Freund hielt mich in seinem Arm umklammert und so wurde ich fast zwischen Colin und ihm eingequetscht. Ich mochte die tiefen Zungenküsse zwar, aber hier handelte es sich um eine widerliche Mandelpolitur.

Auf dem Weg zum Bett verloren die Zwei bereits die wenigen Klamotten. Um mich kümmerte Kevin sich persönlich und er entkleidete mich langsam, beinahe zärtlich unter vielen Küssen. Fast hätte ich es sogar schön gefunden, wenn Colin sich nicht hinter ihn gestellt hätte und mich nun ebenfalls betatschte. Die Wirkung des Biers ließ langsam nach und die Fluchtgedanken nahmen zu. Das hier war so falsch.

Kurze Zeit später lag ich beinahe unbeteiligt neben ihnen im Bett und wieder war es Kevin, der den Kontakt zu mir suchte. War ihm der andere nicht genug?

Leider gewannen beide den Eindruck, es würde mir Spaß machen, denn egal was in meinem Kopf vorging, mein Körper sah nur zwei extrem geile Typen und wurde zum Verräter. Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem Treiben, welches irgendwann kurz unterbrochen wurde. Das Öffnen einer Kondompackung war zu hören und ich erblickte Kevin, der sich in Colin versenkte.

„Bitte küss mich, Mats“, flüsterte er. Mein Körper gehorchte automatisch.

Ich wusste nicht, wie ich mich gerade fühlen sollte. Traurige Gedanken und ein willenloser Körper, das passte doch nicht zusammen. Wir unterbrachen den Kuss auch nicht, als Colin nun an meiner Latte rumfingerte, sich in Position brachte und an mir lutschte. Mein Kopf entschied sich nun zu einer Abschaltung, es wurde zuviel.

Kevins Keuchen in meinen Mund wurde rasselnder, sein Körper stand aufgrund unserer Position unter starker Anspannung, die Muskeln traten scharf und hart hervor.

Colin ließ meinen Harten aus dem Mund frei. „Fuck, Kevin, lass deinen Kleinen mal ran, der rammt mir sonst noch ein Loch in den Hinterkopf.“ Meine Stöße waren mittlerweile wirklich deutlich aggressiver.

Mein Kumpel hielt überrascht inne. „Mats, willst du überhaupt?“

„Her mit dem Gummi!“, bellte ich ihn heiser an. „Der Schlampe wird Hören und Sehen vergehen.“

„Oh… okay.“ Kev war offensichtlich geschockt. Meine Traurigkeit hatte sich in wütende Gier verwandelt. Colin hatte mir den Abend versaut, das sollte er nun zu spüren bekommen.

„Hmm, du machst mich neugierig, Kleiner. Mal sehen ob du das Versprechen auch halten kannst.“

„Red nur, solange du kannst“, zischte ich zurück. „Du wirst gleich nur noch nach deiner Mama schreien!“

„Mats, komm wieder runter, was ist mit dir los?“ Die blauen Augen meines Freundes sahen mich unsicher an.

„Halt dich da raus!“ Das Tütchen riss ich ihm aus der Hand und dann rollte ich mir die Latexmütze über.

„Ich hoffe, du bist bereit!“ Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als ich Colin mein Teil reinrammte. Das überraschte Keuchen quittierte ich mit einem fiesen Grinsen. Er bekam keine Zeit zu verschnaufen, ich nahm ihn mit voller Härte, erbarmungslos bis mir die Lenden wehtaten. Beinahe zwanzig Minuten hielt ich dieses Tempo aus, Colin war schon längst gekommen, als ich mich schreiend entlud.

„Wow, die Aggronummer hätte ich dir nicht zugetraut. Hammer.“ Das kleine Bückstück rang noch nach Luft.

„Schön. Und jetzt verzieh dich. Hast ja was du wolltest.“

„Ach komm, sei wieder lieb, wir hatten doch nur unseren Spaß.“

„Mats hat Recht, Colin. Ich glaub es wäre besser, wenn du gehst.“

„Dein erster vernünftiger Satz, seit wir hier sind“, pflichtete ich Kevin bei.

Unser Gast lachte. „Du magst mich nicht besonders.“

„Du bist ja sooo schlau.“

„Na gut, ich will ja nicht so sein. Kevin, treffen wir uns mal allein?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Denke nicht. Komm gut heim.“

Schweigend warteten wir die wenigen Minuten ab, bis sich die Tür endlich ein weiteres Mal schloss. Kevin sah mir in die Augen und versuchte die Situation einzuordnen.

„Ich hab Scheiße gebaut, oder?“

„Schön, du denkst wieder mit dem Gehirn. Apropos, du bist nicht zum Abschuss gekommen, wollen wir das noch schnell fertig machen?“ Meine Wut war nicht mehr so groß, aber es reichte noch aus, um ihn ein wenig leiden zu lassen. Mit sichtbarem Erfolg, denn sein Schwanz war nicht nur schlaff, er schien sogar kleiner werden zu wollen.

„Nein, ich möchte nur noch mit dir kuscheln, wenn du magst“, antwortete er beinahe schon unterwürfig.

Ich sammelte unsere beiden Kondome auf und warf sie in den Müll. „Lass mich eben duschen, ich will diesen Kerl von meiner Haut waschen.“

Unter dem warmen Wasser schmolz nun auch der Rest des Ärgers, Kevin tat mir sogar wieder etwas Leid. Zu gern hätte ich gewusst, was in seinem Kopf vorging. Manchmal glaubte ich, er würde mich lieben, aber dann versetzte er mich wieder für einen Stecher. Das mit Colin setzte der ganzen Sache die Krone auf. Er wusste doch, dass ich allein mit ihm sein wollte.

Im Schlafzimmer wartete mein Freund bereits angespannt im Bett, er hatte sogar eine Short angezogen, was absolut untypisch war, wenn wir zusammen schliefen.

„Runter mit dem Fetzen“, befahl ich deshalb.

„Mats, bitte, ich kann das jetzt nicht.“ Täuschte ich mich, oder klang seine Stimme weinerlich?

„Hey, du weißt doch, dass ich beim Kuscheln deine Haut spüren will“, antwortete ich sanft. Wenn er traurig war, dann konnte ich ihn nicht hassen.

Kurz darauf schmiegte er seine maskuline Brust an meinen Rücken und hielt mich mit den warmen Armen umklammert. Sein Herz schlug noch ungewöhnlich schnell. „Ich hab dich unglaublich lieb“, seufzte er. „Ist wieder alles gut?“

War es das? Ganz sicher konnte ich das noch nicht sagen. „Vielleicht, Kev.“

Am nächsten Morgen merkte ich, wie wenig gut es wirklich war. Die schöne, kuschelige Nacht konnte nicht über den emotionalen und körperlichen Kater hinwegtäuschen. Für die Sache mit Colin schämte ich mich und auch für den ganzen Verlauf des Abends.

Kevin hätte den Typen trotzdem wegschicken können.

Entgegen meiner Gewohnheiten quälte ich mich sehr früh aus dem Bett, schlängelte mich vorsichtig aus der engen Umarmung. Im Schlaf sah er so friedlich aus und nicht wie der Idiot, der er im Moment war. Auf eine weitere Dusche verzichtete ich und stahl mich lautlos aus seiner Wohnung, wahrscheinlich so, wie er es bei anderen Typen machte, wenn sie es in deren Behausung trieben.

In den kommenden Tagen versuchte Kevin mehrfach mich zu erreichen, doch ich drückte die Gespräche alle weg. Ich war beinahe froh, dass meine Prepaid Karte leer war, so kam ich nicht auf den dummen Gedanken, ihn zurückzurufen. Einige Male kam er auch vorbei und ich ignorierte es.

Es dauerte nicht lang und das Amt hatte seine Drohung wahr gemacht, die nächste Zahlung blieb aus. Trotz der strengen Rationierung meiner Lebensmittel und Zigaretten stand ich vor dem großen Loch.

Mir blieb nichts anderes übrig, ich fing wieder mit etwas an, was mich ins Gefängnis bringen konnte. Es gab genügend Leute, die ihre Geldbeutel bemitleidenswert dämlich im Kinderwagen liegen ließen oder in offenen Handtaschen, die locker um die Schulter hingen. Meist lohnte es sich kaum, oft fand ich nur sehr kleine Beträge. Es reichte, um nicht verhungern zu müssen, aber leider nicht, um mich ständig mit Alkohol wegzuballern.

Ein paar weitere Tage später, nach einer mittelmäßigen Beutetour, überraschte mich Kevin im Treppenhaus meiner Wohnung.

„Hau ab“, rief ich ihm zu, doch er folgte mir in meine Bruchbude. Mir fehlte auch die Kraft mich zu wehren.

„Mats, lass uns bitte reden.“

„Ich hab keine Zeit, muss gleich wieder los.“ Demonstrativ legte ich zwei erbeutete Brieftaschen auf den Tisch.

„Du tust es wieder? Man, die buchten dich ein!“ Er versuchte seine Arme um mich zu legen, doch ich stieß ihn unwirsch zur Seite.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Die beschissene Nacht hat wohl alles kaputt gemacht.“ Er seufzte tief. „Okay, ich seh, dass du mich nicht an dich ranlassen willst. Ist in Ordnung, ich hab es verdient. Aber wenn du Geld brauchst, dann lass mich dir helfen. Alles ist besser als klauen. Du hättest… gute Chancen als Escort.“

„Sollte ich je auf diese irre Idee kommen, dann melde ich mich bei dir.“

„Empfindest du eigentlich gar nichts mehr für mich?“ Der traurige Hundeblick verfehlte im Moment völlig seine Wirkung.

„Die Frage stell ich mir bei dir auch öfter. Bleib einfach weiter auf Abstand, okay?“

„Wie du willst. Melde dich, wenn wir wieder normal reden können. Bitte…“

„Bis dann.“ Kaum war er zur Tür raus, fehlte er mir auch wieder ein wenig. So eine lange Zeit waren wir noch nie voneinander ‚getrennt’.

Am folgenden Donnerstag verließ mich das Glück. Mittlerweile wurden Warnmeldungen herausgegeben, dass Taschendiebe in der Gegend ihr Unwesen treiben würden. Die Leute bewachten ihre Habseligkeiten immer besser. Mehr als frustriert schlenderte ich durch die Straßen, bis mein geübtes Auge eine Gelegenheit erkannte. Ein Geldbeutel lächelte mich aus einer ausgeleierten Gesäßtasche an. Ein leichtes, diesen mit einer kleinen Ablenkung zu entwenden.

Leise näherte ich mich meinem Opfer und schluckte einen Moment mit klopfendem Herzen. Der Typ war heiß. Konzentriert wuchtete er ein paar Obstkisten herum und lächelte dabei. Bis auf die Tasche war die Jeans eng, spannte sich über einen knackigen Hintern. Das knappe Shirt ließ über den muskulösen Körper keine Fragen offen. Widerwillig riss ich mich zusammen und schlich hinter ihn.

„Habt ihr auch Äpfel?“

Tag 1788

Es war der 24. Juni 2013, die letzte Juniwoche war angebrochen. Ein letztes Mal zog ich die Matratze meiner Pritsche glatt, der Bettbezug lag bereits im vorgesehenen Wäschebeutel, als es klopfte. Ein Schlüssel rappelte in der Tür, die kurz darauf nach außen schwang.

Vor mir stand Oberwachtmeister im Justizvollzugsdienst Meppe und sah mich mit bedeutungsschwerer Miene an.

„Thomas Ingenberg, folgen Sie mir.“

Unser Weg führte uns durch diverse Schleusen immer weiter zum Ausgang. An der Effektenkammer machten wir halt und ein weiterer Wachtmeister erschien. Kommentarlos legte mir dieser ein Blatt vor, eine Auflistung all meiner persönlichen Gegenstände und dazu eine Plastikbox, die eben diese Gegenstände enthielt. Da alles vollständig war, zeichnete ich ab und folgte Meppe zur nächsten Tür. Die Freiheit war nun nahe.

„Ingenberg, normalerweise wünsche ich allen, die uns durch diese Tür verlassen, dass wir uns niemals wiedersehen.“

In mein Gesicht schlich sich ein leichtes Grinsen.

Meppe umarmte mich und grinste nun auch. „Mach meiner Frau keinen Ärger, Tommy, bis heute Abend.“

„Danke, Rainer, ich werde mich benehmen.“

Drei Jahre sollte ich für die Entführung von Jakob Raller (Almost nothing – Fast nichts) einsitzen, hatte aber nach dem Grundsatz ‚ehrlich sitzt am Längsten’ – einer Redensart in der JVA Tegel – eine vollständige ‚Beichte’ all meiner Taten abgelegt. Für manche mochte das wenig nachvollziehbar sein, aber ich wollte einen richtigen Neuanfang. Die Quittung kam in Form eines zusätzlichen Urteils, sechs Jahre Gesamtstrafe.

Doch nach vier Jahren wurde bereits Bewährung für die Reststrafe in Aussicht gestellt, ich hatte gute Prognosen der psychologischen Betreuer. Für mich begann eine stressige Zeit: Bewerbungen schreiben, Wohnungssuche und mich um die finanzielle Absicherung kümmern. Alles andere als einfach. Trotz meiner zusätzlichen Lehre zum Holzmechaniker, die ich im Knast abgeschlossen hatte, wollte kein Arbeitgeber etwas mit einem Knacki zu tun haben. Ohne Job keine Wohnung, ohne Wohnung keine Stütze. Es war zum Verrücktwerden, mir drohte beinahe schon eine Entlassung auf die Straße.

Mit Rainer hatte ich mich von Anfang an gut verstanden und er half mir, wo er konnte. Seine Frau stimmte schließlich zu, dass ich in der kleinen Einliegerwohnung seines Hauses wohnen konnte. Mit einem Mietvertrag bewaffnet, bekam ich dann auch bei einem der letzten Freigänge die Grundsicherung durch die ARGE bewilligt.

Und so wurde ich nun in die Freiheit entlassen, nach insgesamt vier Jahren, elf Monaten und vierundzwanzig Tagen.

Draußen nahm ich eine Nase voll Freiheit und rümpfte sie gleich, der Juli war nah und eine schwüle Dunstglocke lag über der Hauptstadt, von den Abgasen der nahen Hauptstraße durchzogen.

Evelyn Meppe, die Besitzerin einer kleinen Galerie für freie Künstler, wartete bereits vor ihrem schwarzen Flitzer.

„Hallo, Thomas, herzlichen Glückwunsch zur Freiheit.“ Evelyn lächelte leicht, aber insgeheim spürte ich noch einen Rest Unsicherheit bei ihr. Bis heute hatten wir uns auf meinen Freigängen nur dreimal relativ kurz gesehen, ihre Einwilligung hatte ich erstmal nur Rainers Zuspruch zu verdanken. Aber ich wollte ihr zeigen, dass man sich auf mich verlassen konnte.

Kurz musterte ich mich in der verzerrten Spiegelung der Autoscheibe, in den fast 5 Jahren hatte ich mich kaum verändert, lediglich der Muskelumfang hatte etwas zugenommen. Im Gefängnis hatte ich, insbesondere nach der Lehre, mehr Zeit und die verbrachte ich, neben der Arbeit, gerne im Fitnessraum, ein Privileg für Gefangene, die sich anständig verhielten und allgemein positiv auffielen.

„Danke, ich bin euch echt was schuldig.“

Sie winkte ab und stieg auf der anderen Seite in den Wagen ein. Sie auf meine Seite zu bekommen schien noch einiges an Arbeit zu erfordern, zumal ich Angst hatte, die Beziehung der beiden zu belasten, wenn ich zwischen ihnen stünde.

„Mach dir bitte keine Sorgen, dass ich euch Ärger machen werde, wirklich. Das hier wird ein Neustart, es gibt keine offenen Angelegenheiten mehr. Für alles was ich angestellt habe, habe ich mich aus dem Gefängnis heraus selber angezeigt. Ich brauche nur eine Chance.“

Evelyn sah weiterhin konzentriert nach vorne. „Das möchte ich gerne glauben, aber ich kenne auch die Statistik über Rückfälle. Alles was du tust, fällt auf uns zurück.“

Also ging es ihr um ihren Ruf, mehr oder weniger. Dem hatte ich im Moment wenig entgegen zu setzen, außer meinen künftigen Taten. Auf solche Situationen wurde ich in den vielen Entlassungsgesprächen durch meinen Bewährungshelfer vorbereitet. Viele Menschen würden mich durch die Vorgeschichte ablehnen und es galt sich nicht entmutigen zu lassen. ‚Die Freiheit wird deine größte Prüfung’, hatte er gesagt.

Mit Worten war hier kein Blumentopf zu gewinnen und so verbrachten wir die Fahrt schweigend. Die Klimaanlage ihres Autos kühlte den Innenraum auf eine angenehme Temperatur, während wir uns in den kriechenden Blechlawinen auf den flimmernden Straßen vorwärts bewegten.

Das Haus meiner neuen Vermieter, in der Nähe des Steglitzer Stadtparks, lag zwar nur knappe 20 Kilometer vom Gefängnis entfernt, aber im morgendlichen Berufsverkehr benötigten wir dennoch eine gute Stunde, die durch diese schweigsame Stille noch viel länger wirkte. Ich fasste den Entschluss, mir bald eine neue Wohnung zu suchen.

„Ich werde euch nicht lange zur Last fallen. Sobald ich etwas finde, ziehe ich wieder aus.“ Wir fuhren gerade auf die kurze Hofeinfahrt, als ich die Stille durchbrach. „Es ist nur für den Übergang.“

Evelyn seufzte leise. „Danke. Es ist nichts Persönliches gegen dich, nur…“

„Schon okay, ich bin ein Knacki, ein Verbrecher und schade eurem Ruf. Nun, aller Anfang ist schwer und ein Neuanfang erst recht. Besser ich gewöhne mich schnell daran.“

Meine Gastgeberin schwieg betreten und deutete mir auszusteigen. Ich bekam den Schlüssel für mein Heim auf Zeit in die Hand gedrückt und sie wies auf die etwas abseitige Nebentür.

„Ich komme gleich zu dir, falls du noch etwas brauchst. Richte dich erstmal ein. Mein Mann vertraut dir sicher nicht grundlos, irgendwie werden wir uns schon arrangieren.“

Evelyn ließ mich stehen und öffnete die große Doppelgarage. Aus dem Augenwinkel erblickte ich ein paar ramponierte Holzmöbel, Stühle, einen Tisch und Werkzeuge. Dann schloss ich die Tür zu meinem Reich auf, eine kleine Zweizimmerwohnung, eine Kochnische im Wohnzimmer und ein kleines Schlafzimmer, gerade groß genug für ein schmales Bett und einen mittleren Schrank. Dazu ein kleines Bad mit WC und Dusche. Alles sauber und gut gepflegt, für mich war es ein kleines Paradies. Alles in allem bestimmt drei bis viermal so groß wie meine alte Zelle.

Meine Tasche verblieb im Schlafzimmer und ich inspizierte den Kühlschrank unter der Arbeitsplatte neben dem Herd. Rainer hatte bereits ein wenig vorgesorgt und ihn mit ein paar Lebensmitteln, Wasser, ein paar Flaschen Bier und Sekt gefüllt, der wohl zum späteren Anstoßen gedacht war. Ich schnappte mir eine Flasche Wasser und einen Apfel aus der Obstschale auf dem Wohnzimmertisch.

Das kleine Frühstück genießend, setzte ich mich auf die Couch und lehnte mich entspannt zurück, als es leise an der Tür klopfte.

„Komm rein“, rief ich und Evelyn steckte den Kopf zur Tür rein.

„Hier ist die Zeitung von Samstag mit dem Stellenmarkt, vielleicht ist ja was dabei.“

Dankbar nahm ich sie entgegen und legte den Anzeiger auf den Tisch.

„Brauchst du sonst noch etwas?“

Ich überlegte kurz. „Vielleicht könnt ihr mir noch mit Handtüchern und Duschgel aushelfen. Mit den paar Kröten aus dem Knast bekomme ich höchstens noch Lebensmittel, bis die ARGE zahlt.“

Das stimmte allerdings nicht so ganz, denn noch erwartete ich mein Überbrückungsgeld auf dem relativ frisch angelegten Konto. Ich konnte nur hoffen, dass es noch vor Juli gezahlt wurde, sonst würde ich von der ARGE erst im Folgemonat Geld bekommen. Mein Bewährungshelfer hatte mich umfassend aufgeklärt und ich konnte nur den Kopf schütteln.

Evelyn nickte. „Kein Problem. Sonst noch was?“

„Nicht direkt. Ich würde mich gerne bei euch nützlich machen“, versuchte ich ein Friedensangebot.

„Es gibt nichts für dich zu tun.“

„Ihr habt da ein paar ziemlich ramponierte Möbel in der Garage, vielleicht kann ich sie für euch reparieren?“

„Wir wollen sie wegwerfen, es macht keinen Sinn daran noch Zeit zu verschwenden.“

Ein leises Seufzen entwich mir. Diese Ablehnung setzte mir mehr zu, als ich mir eingestehen wollte.

„Okay, ein Vorschlag: Ich rede mit Rainer, aber meinetwegen kannst du die Möbel haben und damit machen was du willst. Repariere und behalte sie, oder verkaufe den Kram.“

Es war nicht ganz das, was ich erhofft hatte, aber der Vorschlag war gut, Geld würde ich in nächster Zeit sicher brauchen können. Kurz darauf brachte Evelyn die gewünschten Sachen und verabschiedete sich, da sie noch in der Galerie zu tun hatte, und ich kümmerte mich um meine Tasche. Zwischen den Klamotten befand sich mein Notizbuch, welches mich an den Termin im Steglitzer Jobcenter erinnerte. Noch hatte ich gute zwei Stunden Zeit und für den knappen Kilometer würde ich nicht lange brauchen.

Mein nächster Gang führte mich in die Dusche. Warmes Wasser, für mich ganz allein, floss mir über den Körper. „Freiheitswasser“, kicherte ich leise. Dieses Gefühl, ganz unbeobachtet zu sein, ohne lüsterne Blicke, weckte ein ganz besonderes Bedürfnis und somit auch meinen kleinen Freund. Es dauerte nicht lang und ich stützte mich keuchend gegen die gekachelte Rückwand. Das Wasser beseitigte sofort alle Spuren.

Noch immer die Freiheit genießend, stolzierte ich nach dem Abtrocknen nackt in das Schlafzimmer und schlüpfte in meine besten Klamotten, in dem Fall eine fast nicht zerrissene  hellblaue Jeans, ein beinahe nicht ausgeleiertes dunkelblaues T-Shirt und schmutzige weiße Turnschuhe, welche zumindest unbeschädigt waren. Auch hier war dringend Ersatz von Nöten.

Mit dem Notizbuch bewaffnet setzte ich mich wieder auf die Couch und stellte einen kleinen Wirtschaftsplan auf, bis es Zeit war zu gehen. Auf dem Weg kam ich an meiner Bank vorbei und zog den verlangten Kontoauszug, noch prangte dort eine schmucklose Null. Sogar einen Secondhand Shop für Bekleidung fand ich, in unmittelbarer Nähe des Jobcenters, an dessen Eingang mich ein grimmiger Securitytyp abschätzend taxierte. Ich sah ihm kurz in die Augen, lächelte freundlich und ging unbehelligt an ihm vorbei.

Nach dem Ziehen einer Nummer setzte ich mich in den Wartebereich und beobachtete, wie ein junger Typ wütend und schreiend aus einem der Büros rannte. Offenbar hatte man ihm das Geld gestrichen.

Dreißig Minuten später wurde dann endlich meine Nummer aufgerufen und ich nahm gegenüber einer jungen Sachbearbeiterin, sie sich mir als Frau Meschner vorstellte, Platz.

„Also, Herr Ingenberg, es gibt keine Probleme mit dem Antrag, sie bekommen dann in Kürze das Geld überwiesen.“

„Kann ich denn einen Vorschuss haben? Ich brauche dringend neue Klamotten, mehr als das hier habe ich nicht und würde lieber heute als morgen auf Jobsuche gehen.“

Natürlich ging das nicht mehr, Frau Meschner verlor sich in einem Schwall aus Worten über Zahlungsläufe und anderen Dingen, die mich herzlich wenig interessierten. Allerdings bekam ich einen Zuschuss bewilligt, den ich dann auch nach kurzer Wartezeit an der Kasse als Barauszahlung bekam.

Im Shop erstand ich im Anschluss ein paar sehr gut erhaltene Hosen, Hemden und Shirts, sogar zwei leichte Sommerjacken. Und es blieb noch einiges an Geld übrig.

Dann lief ich auf direktem Weg nach Hause und wollte die Stellenanzeigen bearbeiten, stellte dann aber fest, dass ich weder ein Telefon, noch genügend Ortskenntnis besaß, um die Inserenten zu kontaktieren.

Rainer überließ mir am Abend, nach dem feierlichen Anstoßen, ein mobiles Telefon, mit dem ich dann vorerst über seinen Anschluss telefonieren konnte.

Und so vergingen dann auch die nächsten Tage. Ein nicht geringer Teil meiner Einkünfte ging für Busfahrten zu verschiedenen Firmen drauf, denn auf schriftliche Bewerbungen konnte ich mich, bei meinem Lebenslauf, nicht verlassen. Leider ohne Erfolg.

Bald war es Zeit für meinen ersten Termin bei meinem Bewährungshelfer, der natürlich über den Stand der Dinge informiert werden wollte.

„Hallo, Richard“, begrüßte ich ihn. Bei einem Kaffee schilderte ich meine fruchtlosen Bemühungen.

„Na das hab ich dir ja vorher gesagt, es wird nicht leicht. Kommst du denn über die Runden?“

„Ja, aber mich nervt das mit der Stütze. Rainers Frau macht mir auch Probleme, sie hat Angst um ihren Ruf. Ich suche also nach einer neuen Wohnung.“

„Verstehe, tut mir leid für dich. Du hast eine Chance echt verdient, ich hab selten so ein gutes Gefühl gehabt wie bei dir. Und wie vertreibst du dir die Zeit?“

„Meistens bin ich unterwegs und versuche einen Job zu bekommen. Aber ich restauriere auch ein paar Möbelstücke aus Rainers Garage, um in Übung zu bleiben. Damit bekommt man ein Wochenende ganz gut rum.“

„Gefällt mir. Aber du solltest auch mal wieder unter Leute gehen, am normalen Leben teilnehmen. Freunde finden. All das wird dir helfen. Du warst fünf Jahre von der Gesellschaft isoliert. Und wegen einer Wohnung halte ich mal die Ohren offen, versprechen kann ich aber nichts.“

„Danke, vielleicht bringt es ja was.“

„Na gerne doch. Vielleicht hab ich ja noch eine gute Nachricht für dich. Ich weiß zufällig, wo dringend eine Aushilfe benötigt wird, hier ganz in der Nähe. Es ist nur was Kleines, zehn Stunden die Woche für 450 Euro.“

„Ich nehm alles, wirklich. Hauptsache ein wenig eigenes Geld.“

Richard gab mir die Adresse von einem kleinen Laden um die Ecke. „Nichts anderes hab ich von dir erwartet. Die Bankows sind Rentner und können nicht mehr so, wie sie gerne würden. Eigentlich brauchen sie nur etwas von deinen Muckis – Lagerarbeiten, Zeugs schleppen. Leider nicht ganz das, was du suchst.“

„Das ist egal, wirklich. Danke, ich schulde dir was.“

„Natürlich“, lachte er. „Nämlich das du sauber bleibst. Ich will mich nicht umsonst für dich krumm gemacht haben müssen.“

Keine Stunde später hatte ich den Job in der Tasche. Das alte Ehepaar war wirklich nett und sehr dankbar. Am nächsten Tag durfte ich schon anfangen. Meine Vorgeschichte interessierte die beiden kaum.

„Morgen ist wichtig, wer du heute bist und nicht, wer du gestern warst“, hatte mir die alte Frau mit auf den Weg gegeben.

Nachdem ich meine Arbeitsstelle dem Amt gemeldet hatte, stürzte ich mich voller Elan auf die Möbel. Rainer besaß zwar einige Werkzeuge, doch ich vermisste die Profimaschinen aus der Gefängniswerkstatt. Der Traum, irgendwann wieder mit solchen Geräten arbeiten zu können, lag noch in weiter Ferne.

„Hätte nicht gedacht, dass du die Teile so gut hinbekommst.“

„Hey, Rainer, dass ist doch noch gar nichts. Die alte Kommode wird wahrscheinlich bald fertig, aber mit den Stühlen dauert es noch eine Weile. Hier guck mal, das Holz ist an einigen Stellen total morsch, ich werde noch ein paar Euro in neues Material investieren müssen, damit ich es in Form bringen kann. Dann sehen die Stühle wie neu aus. Passenden Lack hab ich hier auch schon gesehen, wäre cool, wenn ich den benutzen darf.“

„Da hat aber jemand gute Laune“, lachte er. „Logisch, nimm was du findest, ich brauch das Zeug nicht mehr.“

„Super, danke. Ja, meine Laune ist auch gut, ich hab einen Job gefunden, für den Anfang.“

„Dann dusch dich mal und komm in den Garten. Wir haben ein paar Kollegen zum Grillen eingeladen, die Meisten kennst du bestimmt noch. Dann kannst du gerne mehr erzählen, okay?“

„Oh ja, ein Garten voller Schließer, genau das, worauf ich den ganzen Tag gewartet hab.“

„Eben, also benimm dich.“

Eine halbe Stunde später stellte ich mich den Herren und natürlich Evelyn, die nicht so begeistert zu sein schien. Aber das ignorierte ich geflissentlich.

„Na Ingenberg, noch keine Sehnsucht nach deiner Zelle?“ Diese Frage konnte nur von Ricardo Zulke kommen, dem der Fitnessraum unterstellt war.

„Wieso, vermisst du es etwa schon, mir beim Schwitzen zuschauen zu können?“

„Blödmann“, bölkte er zurück. Die Lacher lagen auf meiner Seite.

„Hört mal, Thomas hat Arbeit gefunden, lasst uns auf ihn anstoßen.“

Einige Bierflaschen erhoben sich auf mein Wohl und ich bedankte mich für die Glückwünsche.

„Es ist nichts Großes“, erklärte ich. „Ich helfe ein wenig im alten Krämerladen aus. Lager und so was.“

„Lageraushilfe…“ Evelyn spuckte es fast verächtlich aus.

„Schatz, bitte! Es ist nicht leicht für ihn.“ Erst jetzt fiel mir die Anspannung zwischen den Eheleuten auf. Ihr Problem mit mir schien wirklich sehr tief zu sitzen.

„Ist okay, Rainer. Evelyn, ich weiß nicht, was ich dir getan habe, aber ich sehe das ich unerwünscht bin.“ Mein Hunger war eh zum Teufel. „Lasst euch nicht von mir stören, feiert noch schön. War nett, euch mal hier draußen zu sehen.“

Betretenes Schweigen begleitete meinen Abgang, lediglich der peinlich berührte Gatte der feinen Dame folgte mir.

„Thomas, sie meint es nicht so.“

„Doch, tut sie. Ich sehe auch, dass es euch belastet. Richard hält die Ohren offen, vielleicht seid ihr mich ja bald los. Ich brauch nur noch ein wenig mehr Geld für einen Umzug. Ich bin dir nicht böse, Rainer. Im Gegenteil, ohne deine Hilfe säße ich vielleicht tief in der Scheiße, ohne Wohnung. Vielleicht würde ich sogar noch einsitzen, bis sich irgendein Vermieter erbarmt hätte. Deine Frau… sie hat Vorurteile, wie viele andere auch und sie will mich erst gar nicht richtig kennenlernen. Das ist okay.“

„Es tut mir wirklich leid. Wenn du noch mehr Augen brauchst, dann sehe ich mich auch mal um.“

„Ich kann gar nicht genug Augen haben. Los, geh zu deinen Kollegen zurück, ich krieg die Zeit schon in der Garage rum.“

Schlimmer noch als die Ablehnung, traf mich die Einsamkeit. Ich stürzte mich in die Arbeit und die Tage vergingen schnell. Doch die Abende, bis zum Schlafen, zogen sich ständig weiter in die Länge. Oft dachte ich an Jakob zurück und meine Sehnsucht, nach einem Mann an meiner Seite, wuchs allmählich ins Unendliche.

Einerseits hatte Richard Recht, ich müsste unter Leute gehen, aber er kannte die Angst nicht, die Angst jemanden zu treffen, der einen dann wieder verlässt, wenn meine Vergangenheit ans Licht kommen würde. Nur wenige waren wie die Bankows. Das Leben in Berlin war schnell und die Stadt zu groß. Die Leute ließen sich nicht viel Zeit, um ein Urteil zu bilden.

Fast einen Monat nach meiner Entlassung begann eine Veränderung in meinem Leben. Wie so oft arbeitete ich vor dem Laden und füllte die Obstkisten auf. Hinter mir nahm ich eine Bewegung wahr.

„Habt ihr auch Äpfel?“

Ich spürte eine leichte Berührung an meinem Hintern und drehte mich um. Der Typ kam mir bekannt vor. Dunkelblonde Haare, blaue Augen, recht niedlich und er wirkte irgendwie ziemlich ausgezehrt, vielleicht ein Junkie?

„Direkt vor deiner Nase, sie beißen dich gleich“, gab ich zurück. Doch er hatte es sich offenbar anders überlegt und winkte ab.

„Ach ne, doch kein Hunger.“

In dem Moment dämmerte es mir, er war der Schreihals aus dem Jobcenter. Und aus einem Reflex heraus ergriff ich ihn gerade noch am Handgelenk, bevor er verschwinden konnte.

„Hey, lass mich los oder ich ruf die Bullen“, brüllte er mich gleich an.

„Das ist ne gute Idee, mach nur. Aber ich glaube du wirst Probleme haben denen zu erklären, warum du meinen Geldbeutel in der Tasche hast.“ Sein Griff war schnell, aber nur fast perfekt.

Nun grinste er mich unverschämt an.

„Beweis das mal.“

„Mein Perso ist drin. Und noch ein Passfoto. Sieht schlecht aus.“

„Ach Scheiße… hey komm, alles cool, ruf nicht die Bullen. Vielleicht können wir uns irgendwie einigen?“

„Und wie stellst du dir das vor?“

„Wenn du willst, dann kannst du alles haben, was du vor dir siehst.“

„Sorry Kleiner, ich denke du bist mir etwas jung. Hau einfach ab.“

Er seufzte kurz, warf nun doch noch einen kurzen Blick auf die Äpfel, drehte sich um und wollte verschwinden. Doch wieder hielt ich ihn fest.

„Hast du nicht was vergessen?“

Er zuckte verlegen mit der Schulter. „Es war den Versuch wert.“ Dann griff er in seine Tasche und gab mir mein Geld zurück.

Gerade als er weiter wollte, rief ich ihn nochmals zurück. „Hey Kleiner! Der geht auf mich.“

Er drehte sich um und fing den Apfel, den ich ihm zugeworfen hatte. „Danke, bist cool. Und ich heiße Mats, nicht Kleiner.“

Ein wenig erinnerte er mich an die Zeit vor dem Gefängnis. Kein Geld, die ersten Diebstähle und Einbrüche, bis ich keine Chance mehr sah und mich an dieser hirnrissigen Entführung beteiligt hatte. Fünf Jahre meines Lebens hatte mich das gekostet und eine unerfüllte Liebe zu meinem Opfer.

„Mats, wenn du Hunger hast, dann komm in einer Stunde vorbei. Ich hab dann Schluss, falls du ‘nen Burger und Fritten willst.“

Er blieb tatsächlich stehen und drehte sich um.

„Kein Scheiß?“

„Ehrenwort. Siehst aus, als ob du was vertragen könntest.“

Noch blieb er unschlüssig stehen und ich machte einen Schritt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Hi, ich bin Thomas. Und die Sache von eben ist vergessen.“

Mats nahm meine Hand und schüttelte sie, nur um sich dann gleich zu verabschieden, da er sich noch ein wenig frisch machen wollte, bevor wir essen gingen. Ein wenig war ich über mich erstaunt, denn eigentlich wollte ich mich von solchen Typen fernhalten. Er roch nach Ärger und den konnte ich, gerade wegen meiner Bewährung, nicht gebrauchen. Aber eine Art von Verantwortungsgefühl überwog die Vernunft.

Gegen Feierabend fegte ich noch das Lager und schlüpfte in ein frisches Shirt. Eigentlich hätte ich mich noch gerne gewaschen, denn die Hitze hatte die Stadt weiterhin im Griff. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass die Essenseinladung kein Date war.

Vor dem Laden wartete auch schon Mats, offenbar frisch geduscht und in sauberen Klamotten, aber mit düsterer Miene.

Mats

Noch immer hielt ich die Hand fest, die Thomas geschüttelt hatte. Wegen des missglückten Diebstahls fühlte ich mich mies. Also nicht, weil er missglückt war, sondern weil Tom so nett zu mir war. In seiner Nähe hatte ich mich irgendwie wohl gefühlt, er sah ziemlich geil aus und sein Geruch machte mich ganz kirre. Zum Glück hatte er nicht bemerkt, dass ich allein vom Händeschütteln einen Ständer bekommen hatte. Ich litt offensichtlich unter sexuellem Notstand.

Daheim suchte ich mir schnell frische Sachen und sprang unter die Dusche. Das kalte Wasser brachte nicht die erhoffte Abkühlung, also half ich mit der Hand nach.

Seine Einladung kam wie gerufen, richtig gegessen hatte ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr.

Die Klingel riss mich aus der Entspannungsphase und tropfnass begab ich mich zur Tür. Der Spion gab den Blick auf meinen Hausmeister frei und ich zurrte das Handtuch fest um die Hüfte.

„Hallo, Herr Jorgensen“, begrüßte er mich mit einem fiesen Grinsen. Der Mann hasste mich einfach und die fröhliche Visage konnte nichts Gutes bedeuten. „Ist Ihnen noch nichts aufgefallen?“

Angesäuert rümpfte ich die Nase. „Sie wissen seit einer Woche nicht mehr, wo die Dusche ist?“ Eigentlich wollte ich ihm damit das Grinsen aus der Fresse zaubern – gelogen war es aber nicht, er stank – doch seine Lippen zogen sich noch weiter in die Breite.

„Machen Sie sich mal keine Sorgen um meine Hygiene, ich habe hier was für Sie.“ Am liebsten hätte ich ihm die entblößten, tiefgelben, fast schon braunen Zähne ausgeschlagen, doch ein Blick auf den Zettel, den er mir in die Hand drückte, ließ erstmal alle Farbe aus meinem Gesicht weichen.

In schmucklosen Buchstaben stach mir das Wort ‚Sperrauftrag’ förmlich in die Augen. Darunter eine Aufstellung der ausstehenden Stromabschläge.

„Schönen Tag noch, Herr Jorgensen. Sie sehen schlecht aus, trinken Sie mal was Kaltes.“ Lachend ließ er mich zurück. Mit wenig Hoffnung öffnete ich den Kühlschrank und starrte auf die Pfütze am Boden, die stetig von Tropfen aus dem Eisfach genährt wurde. Eine lauwarme Flasche Bier stand noch im Seitenfach. „Scheiße!“

Das letzte Tiefkühlgericht nahm ich aus dem Fach, der Karton war von Wasser durchzogen, und wollte es kurz in der Mikrowelle garen. Allein für den dämlichen Gedanken lachte ich mich aus.

Kevin hatte mich, wie versprochen, nicht mehr mit diesen Jobangeboten behelligt und eigentlich hätte ich es auch nicht tun können. Der Gedanke, mich an irgendein Arschloch zu verkaufen, war mir unerträglich. Ich brauchte Gefühle dafür, wie mir dieser beschissene Dreier bewiesen hatte. Colin zu ficken war kein Spaß, es war Aggressionsabbau wie Holz hacken, nur mit Orgasmus. Aber keiner, der nur ansatzweise befriedigend war. Und das nur, weil mein Kumpel sich nicht zwischen Sex und einem Abend mit mir entscheiden konnte. Scheiß Stolz, ein teurer Luxus.

„Okay, Kevin“, sprach ich zu mir selbst. „Heute Abend muss ich wohl zu dir.“ Stolz konnte ich mir ab jetzt nicht mehr leisten.

Trotzdem machte ich mich zeitig auf den Weg, mein Magen knurrte.

Thomas

Mats war bei weitem nicht mehr so gesprächig, irgendwas ging in ihm vor. Schweigend folgte er mir in Richtung Forum, zur Burgerbude, wo ich ihm gleich zwei Menüs besorgte. Ich hatte nicht mal meine eigenen Pommes auf, da war er schon komplett mit allem fertig.

Mit hochgezogener Augenbraue beobachtete ich, wie er angestrengt die letzten Tropfen seiner Cola durch den Strohhalm zog.

„Ich hab nicht so viel Hunger, willst du meinen Burger?“

Mats schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“ Doch er schielte verstohlen auf das angebotene Fleischbrötchen. Also schob ich es ein wenig in seine Richtung. Es wirkte: Hungrig nahm er es und verschlang es wie die Vorherigen.

Auf die Frage, ob er ein Problem hätte, schüttelte er verneinend den Kopf, betrachtete mich aber nachdenklich.

„Sag mal, Thomas… ich würde mich echt gerne revanchieren. Wollen wir nicht noch zu dir?“ Der Stimmungswechsel kam plötzlich und das anzügliche Grinsen ließ keinen Zweifel daran, wie er das anstellen wollte.

„Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich schwul sein könnte?“

Er lachte. „Weil du mir das vorhin gesagt hast!“

„Na, das wüsste ich aber“, antwortete ich stirnrunzelnd. Angestrengt versuchte ich mich an das Gespräch zu erinnern, doch seine Antwort ließ nicht auf sich warten.

„Ich hab dir vorhin angeboten, dass du mich poppen kannst, wenn du die Polizei aus dem Spiel lässt.“ Wieder das Grinsen. „Du hast, gesagt ich wäre zu jung. Ne Hete hätte gesagt, dass er nicht auf Typen steht.“

Für einen Moment blieb mir die Sprache weg, Mats hatte natürlich Recht. Mein Schweigen trieb ein siegessicheres, stummes Lachen in sein Gesicht.

„Okay, Punkt für dich. Aber deshalb muss ich trotzdem nicht Bock auf diese Form der Revanche haben. Das du mir zu jung bist, war mein Ernst. Du bist doch höchstens 17“, riet ich drauf los. Eigentlich war er schwer einzuschätzen, sein aktueller Zustand war nicht der beste. Oberflächlich betrachtet attraktiv, aber es war etwas in seinen Augen, dass nicht zu der aufgesetzten Fröhlichkeit passte. Mein Instinkt sagte etwas sehr deutliches: Mats steckte knietief in der Scheiße.

„Ich bin 19“, grummelte er amüsiert zurück. „Seh ich aus wie so ein Baby?“

Nun, in dem Alter war eine kleine Fehlerquote erlaubt. Mein anderer Eindruck blieb aber aufrecht.

„Damit bin ich trotzdem noch 14 Jahre älter als du.“ Ungläubig sah er mich an.

Mein Herz klopfte, denn die Erinnerung an Jakob kam zurück. Damals war auch er 19. Der Unterschied zwischen den beiden konnte kaum größer sein, denn im Gegensatz zu dem jungen Studenten war Mats unreif und leichtfertig. Aber war der Vergleich gerecht? Er stammte sicher nicht aus einem reichen Elternhaus, hatte nicht dieselben Chancen. Doch konnte das den fehlenden Ehrgeiz entschuldigen? Ich war sicher nicht der Erste, den er bestehlen wollte, oder dem er sich so an den Hals warf.

„Machst du das eigentlich öfter? Ich meine klauen und… na du weißt schon.“

Seine Mimik machte deutlich, dass er diese Art von Fragen nicht leiden konnte.

„Das geht dich nichts an“, lautete dementsprechend auch seine Antwort. „Ich bin kein Stricher, oder so ein Scheiß.“

„Hey, ich habe nichts von Stricher gesagt. Mir kommt es trotzdem komisch vor, dass du mit mir in die Kiste willst, weil ich nicht die Polizei gerufen habe.“

Mats stand einfach auf. „Danke für das Essen, man sieht sich.“

Möglicherweise täuschte ich mich, aber er schien mit seiner Fassung zu kämpfen. Zwar versteckt, aber ich kannte solche Reaktionen nur zu gut.

„Mats, warte, bleib hier! Ich will dir nicht ans Bein pissen, nur helfen, wirklich.“

Mit dem Rücken zu mir blieb er stehen. Auch wenn er noch nichts sagte, oder sich umdrehte, war das schon mal ein kleiner Anfang. Er hatte ja auch ein wenig Recht, Misstrauen kann sehr gesund sein, wenn ein Fremder helfen will.

Wer Vertrauen will, muss Vertrauen geben, so lautete ein kleines Sprichwort, welches nicht nur im Knast wichtig war. „Vielleicht kann ich dir helfen zu vermeiden, was mich ein paar Jahre meines Lebens gekostet hat.“

Der Köder war ausgeworfen und Mats biss an. „Was meinst du?“

„Knast“, lautete die knappe Antwort. Mehr brauchte es nicht, denn er setzte sich wieder zu mir. „Ich werde dir ein wenig darüber erzählen, aber sicher nicht hier. Ist kein Thema für eine Gaststätte. Du wolltest doch mit zu mir?“

Nur wenige Minuten später lief er neben mir her. „Wie lange?“

„Beinahe fünf Jahre. Eigentlich sechs, aber ich bin auf Bewährung. Ein Grund, warum es für mich nicht gut ist mit dir rumzuhängen. Denn du kannst sagen, was du willst, so kaltschnäuzig wie du vorhin warst, war das nicht dein erster Diebstahl.“

„Stimmt“, seufzte er. „Ich bin auch auf Bewährung… 10 Monate, Bewährungszeit drei Jahre.“

Weit war es nicht mehr bis zur Wohnung und ich machte ihm klar, dass ihn bald ein Donnerwetter erwarten würde. Und das kam, kaum das die Tür hinter uns ins Schloss fiel.

„Bist du eigentlich wahnsinnig? Wenn du jetzt erwischt wirst, dann ist das mit der Bewährung vorbei! Wegen dem Mist kannst du sogar ein paar Jahre bekommen. Und das schwöre ich dir, du wirst im Knast nicht glücklich. Du bist jung, ganz hübsch und nicht stark genug, um dich wehren zu können.“ Es war nicht nötig, noch deutlicher zu werden, die Anspielung kam an. Doch eins musste ich dennoch nachsetzen.

„Schau mich an, ich bin nicht schwach, aber selbst ich hatte kaum eine Chance.“

Mats sah nun wirklich geschockt aus und ich bot ihm erstmal ein Bier an.

„Du hast dich nicht gewehrt?“

„Doch“, lachte ich bitter. „Hab einen von denen grün und blau geschlagen, als er mir unter der Dusche zu nah kam. Das hat auch super funktioniert. Am nächsten Tag kamen gleich vier von ihnen. Einen habe ich umgehauen, danach lag ich drei Wochen auf der Krankenstation.“

„Ha-haben sie dich…“ Er stotterte ein wenig, aber seine Aussichten waren wirklich nicht rosig.

„Sie haben mir den Arsch aufgerissen, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber nicht nur deswegen war ich auf der Station. Danach haben sie mich weichgeprügelt. Leider bin ich erst dabei bewusstlos geworden. Mats, Knast ist kein Spaß.“

„Aber… es hat nicht aufgehört?“ Mittlerweile hatte er nach meiner Hand gegriffen. Auch wenn es tröstend wirken sollte, hielt ich eher ihn als er mich.

„Nicht so wie du denkst. Klar es wurde besser. Aber die wichtigste Lektion war, dass ich mich nicht zu sehr wehren durfte. Mein Zellengenosse hat irgendwann auf mich aufgepasst, ihn ließ man in Ruhe. Dafür musste ich ihm dann ab und an einen Gefallen tun. Das war ganz okay, er hatte kein Interesse, mir weh zu tun.“

Die selbstsichere Fassade bei meinem Gegenüber lag in Trümmern zu seinen Füßen, Mats hatte jetzt richtig Schiss. Es war Zeit zum Vorstoß.

„Also, was ist mit dir?“

Mats fing an zu erzählen, anfangs noch mit zittriger Stimme. Vieles von dem hatte ich vermutet. Das meiste war seine Schuld, insgesamt eine Mischung aus Faulheit und Pech. Er war richtig pleite und derzeit bestand kaum eine Chance auf Unterstützung von Vater Staat. Das hatte er richtig versaut.

„Und was hast du jetzt vor?“, fragte ich ihn, als er mir das gröbste Leid gebeichtet hatte.

„Anschaffen?“ Die Antwort war nur noch halbherzig, offenbar hatte er wirklich darüber nachgedacht.

„Bist du dafür nicht ein wenig zu alt? Dann werde lieber Knastschlampe, da wird wenigstens nicht wegen Gummis gefeilscht, keiner ist scharf auf HIV.“ Die harten Worte fielen mir nicht leicht, denn langsam bekam ich wirklich großes Mitleid, doch das sollte er noch nicht spüren.

„Aber was soll ich denn tun? Ich hab kaum noch was fürs Essen übrig, keine Ahnung wie lange die noch Miete zahlen. Ich bin am Arsch, Thomas! Die letzten Euros hab ich ein paar Passanten abgezockt, aber kaum einer hat noch richtig Asche dabei.“

„Die Arschbacken zusammenkneifen und dir ernsthaft einen Job suchen, das kannst du tun. Es klingt ja fast so, als ob die anderen Schuld hätten, weil die nicht genug Geld haben, wenn du sie beklaust.“

„So meine ich das doch nicht. Und Jobs? Was denn, es gibt doch nix für mich.“

„Glaubst du, es ist mein Traumjob für 450 Euro im Monat in dem kleinen Krämerladen zu arbeiten? Ich bin vorbestraft, wenn jemand jammern darf, dass er keinen Job findet, dann bin ich das. Aber ich jammere nicht, sondern mache, was möglich ist, bis mir irgendjemand ‘ne Chance gibt und ich diese verdammte Stütze loswerde.“

Volltreffer. Mats fiel dazu nichts mehr ein, er blickte lediglich resignierend zu Boden. „Hätte ich das gewusst, dann hätte ich es bei dir nicht versucht oder mich zum Essen einladen lassen. Es tut mir leid, wenn ich dir zur Last falle.“

„Tust du nicht. Ich komme ganz gut klar im Moment und außerdem wollte ich dir ja helfen. Doch eins noch: die anderen, die du beklaut hast, was ist denn, wenn du denen das gesamte Geld für den restlichen Monat genommen hast? Mal daran gedacht? Denkst du, du bist die einzige arme Sau, die da draußen rumrennt? Würdest du dich jetzt auch nur einen feuchten Dreck um mich scheren, wenn ich dich nicht bemerkt hätte?“

Verzweifelt sah er mich an und schien den Tränen nahe. Es war offensichtlich, dass er sich darüber bisher nie Gedanken gemacht hatte.

„Du bist nicht dumm, das steht fest. So wie du mich heute reingelegt hast, um zu erfahren, ob ich schwul bin. Aber du bist ansonsten ein gedankenloser Egoist.“

Es war nicht mein Ziel, ihn zum Weinen zu bringen, aber ich hatte es getan. Er mochte 19 Jahre alt sein, aber innerlich war er fast noch ein Kind. Die Vermutung lag nahe, dass er schon eine Weile auf sich gestellt war und niemanden hatte, der ihn auf den richtigen Weg brachte. Etwas hilflos versuchte ich ihn in den Arm zu nehmen, doch er stieß mich wütend zur Seite und rannte aus meiner Wohnung.

Mats

Panik und Wut, mehr fühlte ich nicht in diesem Moment, bis er seinen Arm um mich legen wollte. Ich fing an mich für den ganzen Scheiß zu schämen, den ich verzapft hatte, für meine dämliche Naivität. Natürlich war ich zu alt für einen ‚erfolgreichen’ Stricher und meine Diebstähle kamen mir jetzt richtig falsch vor. Seine Worte glitten durch mich durch wie ein Messer durch warme Butter. Ich bemerkte nicht mal mehr, dass ich kurz vor dem Haus stehen blieb und mir die verfluchte Seele aus dem Körper heulte. Was machte er nur so anders? Gegen Beleidigungen und Spott war ich immun, aber das?

Den Schatten vor mir bemerkte ich erst, als sich zwei Arme um mich schlossen. Thomas war mir gefolgt und ich versuchte mich zu befreien, doch mein Körper reagierte nicht. „Lass mich los, ich hasse dich!“ Eigentlich wollte ich es ihm entgegen schreien, doch es kam nur ein ersticktes Krächzen.

„Wenn du das musst, dann tu es, hasse mich. Aber es wird dir nicht helfen.“ Im Gegensatz zu vorhin war nun keine Härte mehr in der Stimme. „Komm rein und trink noch was mit mir. Ich hab keinen Grund dich weiter zu bedrängen, du hast verstanden, was ich dir sagen wollte.“

Wortlos ließ ich mich zurück in die Wohnung schieben. Thomas bugsierte mich auf die Couch und brachte noch zwei kalte Bierflaschen mit.

„Was hast du für die sechs Jahre angestellt?“

Thomas wirkte unschlüssig, ob er mir davon erzählen sollte.

„Anfangs waren es drei Jahre. Freiheitsberaubung und räuberische Erpressung, allerdings mit mildernden Umständen. Im Gefängnis habe ich mich für diverse Diebstähle und Einbrüche angezeigt. Ich wollte reinen Tisch machen, mit allem abschließen. Dafür gab es dann drei weitere Jahre. Ebenfalls ein sehr mildes Urteil.“

„Du hast jemanden entführt?“ Das hätte ich ihm nicht zugetraut.

„Nicht allein“, wich er mir erst aus. Sein Gesicht war voller Emotionen. „Er war in deinem Alter, Jakob. Mein Partner und ich hatten ihn aus seinem Haus geschleppt, seinen Freund dabei niedergeschlagen. Doch ich hatte mich in Jakob verliebt.“

Stumm dachte ich nach, vor einigen Jahren kam etwas über das spektakuläre Ende einer Entführung in den Nachrichten.

„Ich hab alles getan, damit er es so gut wie möglich hatte, doch gegen meinen damaligen Partner war ich machtlos. Alles eskalierte und am Ende sollte ich Jakob erschießen, doch ich weigerte mich. Mac, mein Partner ging auf uns los und ich schoss. Doch er war nicht tot. Als ich Jacky befreien wollte, stach Mac mich nieder. Fast hätte ich das nicht überlebt. Jakob erschoss Mac. Damals hab ich mir oft gewünscht, dass das Messer seine Arbeit vollendet hätte.“

Nun hatte auch Thomas mit Tränen zu kämpfen. Ich konnte kaum glauben, dass er das alles ausgerechnet mir erzählt hatte. Es war der Fall aus den Nachrichten, durch seine Erzählung kam die Erinnerung wieder und auch die Kommentare meiner Eltern, sie hätten das viel besser und überhaupt richtig gemacht.

„Guck nicht so, ich hab‘s ganz gut überstanden. Ich hoffe, dass er wieder mit seinem Freddy zusammen ist.“ Dann lachte er leise. „Als Verbrecher bin ich ein ziemlicher Versager, findest du nicht auch?“

„Vielleicht, aber nicht als Mensch.“ Und das meinte ich wirklich ehrlich. Niemals zuvor fühlte ich mich so verstanden. Er redete nicht einfach nur daher, er hatte Recht und wusste das auch.

„Ich war damals in einer ähnlichen Situation. Hatte nichts und ließ mich viel zu leicht locken. Aber niemand hat was zu verschenken. Und die bösen Jungs verlangen bald viel für ihre Dienste. Mich hielt aber niemand auf. Den Fehler musst du nicht wiederholen.“

„Aber wie soll es denn weitergehen? Ich kann mir ja nicht mal ‘ne Zeitung für Stellenanzeigen leisten.“

Thomas kam zum Sofa und griff in ein Regal über mir. „Hier, ich bin damit durch. Versuchs einfach. Und rede mit der ARGE, ich kann dir was für Bewerbungen leihen, du nimmst die Quittungen, lässt dir das Geld dafür geben und gibst es mir dann zurück.“

„Danke. Darf ich morgen wieder zu dir kommen?“ Es konnte nicht schaden, noch weiter mit ihm zu reden. Vielleicht hatte ich mich sogar ein wenig in ihn verknallt. Und die 14 Jahre mehr sah man ihm echt nicht an.

„Klar, aber jetzt mach dich erstmal frisch, dann gehen wir noch eine Kleinigkeit für dich einkaufen.“

Die Freude darüber wich schnell der Ernüchterung und ich schüttelte den Kopf. „Danke fürs Angebot, aber es macht keinen Sinn. Hab seit heute keinen Strom mehr.“

„Heute kommt‘s für dich aber echt ganz dicke“, seufzte er. „Da kümmern wir uns morgen drum. Du bleibst heute hier, kannst die Couch haben.“

Ein halbherziges Widerwort von mir, es war nur der Form halber, akzeptierte er nicht. Und ich konnte mir wirklich schlimmeres vorstellen, als bei diesem Kerl zu übernachten, wenn auch nur auf der Couch. Hier fühlte ich mich irgendwie sicher.

Mit der Aufforderung, „Komm, du kannst dich mal ein wenig nützlich machen“, bescherte er mir noch einen arbeitsreichen Nachmittag. Tom führte mich zur Garage, wo er dann eine ganze Weile an ein paar gammeligen Möbeln arbeitete. Ich durfte ab und an ein paar Sachen anhalten und Werkzeuge reichen. Nach und nach zerlegte er einen Stuhl, schliff das Holz ab und baute anderes wieder zusammen. Mit ihm machte es sogar ein wenig Spaß, trotz der fleißigen Schweigsamkeit. Er hatte es drauf. Und seine Nähe würde für mich immer anstrengender, je mehr er bei der Arbeit schwitzte, sein Geruch machte mich irre scharf.

Im Laufe des Tages erzählte er mir, dass er das im Knast gelernt hatte, im Rahmen einer Ausbildung. Meine eigene, zum KFZ-Mechaniker, hatte ich nach einem Jahr geschmissen.

Der Abend kam schneller als gedacht und nach einem schnellen Abendessen, sowie einer lauwarmen Dusche – ohne extreme Temperaturschwankungen – zogen wir uns auf unsere Schlafgelegenheiten zurück. Es fiel mir schwer, ihm nicht ins Bett zu folgen, doch viel Zeit zum Bedauern blieb mir nicht, der anstrengende Tag brachte schnell den Schlaf.

Thomas

Noch lange lag ich wach im Bett und dachte darüber nach, was ich mir mit Mats eingebrockt hatte. Aber es half alles nichts, ich war einen Schritt zu weit gegangen und jetzt konnte ich es nicht mehr rückgängig machen, beziehungsweise wollte es nicht. Meine größte Sorge war, dass ich mich mit dem Hilfsangebot übernehmen könnte. Es musste eine möglichst einfache Lösung her.

Eine ganze Zeit später stand ich noch einmal auf und ging ins Bad, um im Anschluss einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer zu riskieren. Der Anblick ließ mich schmunzeln, Mats hatte mir den blanken Hintern zugewandt und die dünne Decke hielt er mit Armen und Beinen umklammert.

Hübsch war er wirklich und ein gnadenloser Langschläfer, wie ich am nächsten Morgen feststellen durfte. Mittlerweile war es 8 Uhr durch und ich rumorte schon frisch geduscht durch die Küchenecke. Mein Übernachtungsgast blieb völlig unbeeindruckt weiter liegen und schnarchte leise vor sich hin. Auch das Klingeln an der Tür, eine weitere Stunde später, änderte nichts. Der Paketbote übergab mir meine Bestellung, ein gebrauchtes und sehr günstiges Buch über Holzbearbeitung und ich entschloss mich Mats zu wecken, immerhin hatten wir noch etwas zu erledigen.

Eine Tasse mit besonders starkem Kaffee stellte ich auf dem Wohnzimmertisch ab und beugte mich über ihn. Mit diesem entspannten Gesichtsausdruck wirkte er noch viel jünger, als mit der durchtriebenen Maske, die er gestern noch trug. Vorsichtig rüttelte ich an seiner Schulter.

„Hey, aufwachen, du Schlafmütze!“

Langsam – und ich meine wirklich sehr langsam – wachte er auf. Für einen Moment wirkte er irritiert und lächelte mich dann an. „Morgen, Tom.“

„Nix da, es ist bald Mittag. Komm in die Gänge und trink deinen Kaffee.“ Etwas zu schnell entfernte ich mich von der Couch, bevor mein Wunsch, mich dazu zu kuscheln, noch größer wurde. Immerhin war es eine Weile her, dass ich so eine intime Situation ohne Zwang erlebt hatte. Im Endeffekt war ich halt auch nur ein Mann und Mats mochte ich irgendwie, was es mir nicht einfacher machte.

Ihm schien es nicht anders zu gehen, denn er wirkte etwas enttäuscht. „Keine Sorge, wenn das mit dem Strom klappt, dann bist du mich ja schnell wieder los.“

„Ich will dich doch gar nicht loswerden“, seufzte ich. „Ich will im Moment nur nicht darüber reden. Trink jetzt bitte deinen Kaffee und lass uns losgehen! Wir unterhalten uns später darüber.“

Mats schüttete sich den Kaffee regelrecht in den Hals und marschierte extra langsam nackt und mit prachtvoller Morgenlatte an mir vorbei ins Bad, als wolle er deutlich zeigen, was ich seit gestern ständig ablehnte. Wenn ich behaupten würde, dass mir nicht das Wasser im Mund zusammenlief, dann hätte ich gelogen. Gleichzeitig hatte ich aber auch Angst, dass der junge Kerl sich in mich verknallen könnte, denn irgendwas musste ihn an mir ja reizen, das er es immer wieder darauf anlegte.

Der Besuch bei den Versorgerbetrieben war ein Reinfall. Ohne eine Zahlung von mehr als 200 Euro wollten die nicht mal daran denken, den Strom wieder einzuschalten. Ich bot der Sachbearbeiterin sofort die Hälfte aus eigener Tasche und den Rest im Folgemonat an, doch hier war es Mats, der sich weigerte.

„So dicke hast du es bestimmt auch nicht und ich kann dir das garantiert nicht sofort zurückzahlen.“

„Dann machst du es später.“

„Nein. Dann bleib ich lieber im Dunklen.“ Er blieb stur und die Dame von den Stadtwerken zuckte mit den Schultern. Sie wäre auf meinen Deal sonst eingegangen.

Auf dem Rückweg zu mir, beschlich mich ein mulmiges Gefühl und ich drehte mich mehrmals um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

„Es tut mir Leid, Tom, aber ich will das wirklich nicht. Am Ende setz ich es in den Sand und du wartest vergeblich auf das Geld. Bei jedem anderen wäre mir das wahrscheinlich scheißegal. Sorry, aber ich geh besser heim.“

Wortlos hielt ich ihn am Arm fest und sah ihn einfach nur an. „Es ist kein Problem, wenn du ein paar Tage bei mir bleibst, vielleicht findet sich ja eine Lösung.“

„Für dich ist es vielleicht keins“, antwortete er leise. „Mach dir keine Umstände! Ich kann vielleicht bei einem Freund unterkommen. Trotzdem danke.“

Ich konnte ihn ja kaum zwingen und ließ ihn ziehen, mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend. „Mach keine Dummheiten und wenn was ist, dann komm zu mir, versprochen?“

Er nickte und trottete über die Straße. Ich sah im nach, bis er um die nächste Straßenecke verschwand.

Pünktlich zur 12-Uhr-Lieferung kam ich am Laden der Eheleute Bankow an und kümmerte mich um das Ausladen der Getränkekisten. Bei der Hitze konnte es nie genug Nachschub geben. Natürlich erkundigte ich mich, ob sie noch eine Aushilfe gebrauchen konnten, doch die Antwort war leider ein ‚Nein’. Rajko, mein kroatischer Kollege, und ich reichten den Rentnern aus. ‚Wenn ich nur endlich richtige Arbeit finden würde’, dachte ich nach, ‚dann wäre hier vielleicht was für Mats frei’.

Nach der Schicht machte ich mich auf den Weg zu meinem Stammlokal, das ‚Pub-Lissy-T.’ (gesprochen Publicity), im Herzen von Steglitz.

Dieser Laden war wirklich etwas Besonderes. Die Besitzerin, Elisabeth Teuber, oder einfach nur Lissy, gehörte vor einigen Jahrzehnten zu den bekanntesten Prostituierten West-Berlins. Gerne erzählte sie alte Geschichten, teilweise nicht ganz jugendfrei. Bei den Amerikanern war sie besonders beliebt, von denen bekam sie dann auch ihren Spitznamen ‚Lissy T.’

Auf alten Fotos konnte man sehen, wie hübsch sie damals war. Heute war sie eine herzliche und leicht mollige alte Frau.

Ihr Laden bot bodenständiges Essen für wenig Geld und hatte auch sonst ein paar Besonderheiten. Jeder Wochentag stand unter einem Motto, nach einem Zeitungsteil benannt. Der Montag war zum Beispiel „Das Feuilleton“. Nachwuchskünstler führten auf der kleinen Bühne eigene Theaterstücke vor, oder es gab handgemachte Musik. Das Speise- und Getränkeangebot richtete sich immer ein wenig nach dem Motto. An Freitagen, wie heute, gab es „Der Stellenmarkt“, eine richtige kleine Jobbörse.

Das Essen schmeckte, wie immer, aber die Arbeitssuche blieb erfolglos. Die Stellenangebote waren derart mies, dass es keinen Sinn gemacht hätte, den Job bei den Bankows aufzugeben.

Am frühen Nachmittag werkelte ich bereits wieder in der Garage und musste feststellen, dass mir die Gesellschaft meines Sorgenkinds ein wenig fehlte.

Mats

Kaum war Tom außer Sicht, rannte ich los bis die Lungen brannten. Merkte er nicht, dass ich in ihn verschossen war, oder wollte er es nicht merken? Ich kannte so was nicht, dass mir jemand so großzügig helfen wollte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Dabei hatte er doch selber kaum was.

Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg zu Kevin. Was war eigentlich mein Problem mit ihm. Eifersucht? Wenn wir ein Paar wären, dann könnte ich es ja verstehen. Aber wir waren es nicht, nur Freunde, kein ewiges Treuversprechen. Doch warum tat es dann so weh, wenn er mit anderen vögelte?

Es dauerte ewig, bis mein Kumpel zur Tür kam, total verpennt.

„Man, Mats, was soll die Hektik so früh am Morgen?“ Sein Tonfall ähnelte dem vom Ende unseres letzten Treffens.

„Es ist Mittag. Darf ich reinkommen?“ Ohne auf die Antwort zu warten, drängte ich mich an ihm vorbei und warf auch einen Blick durch die offene Schlafzimmertür. Das Bett war leer.

„Sorry, ich hatte noch … so was wie Besuch, der ging erst heute Morgen wieder.“ Eilig räumte Kev ein paar Hunderter vom Schuhschrank.

„Besuch, verstehe.“ Da war es wieder, dieses kleine Stechen.

„Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass du so schnell wieder auftauchst.“ Erst jetzt sah er mich richtig an. „Man, du siehst scheiße aus. Hast du geheult?“

Bevor ich antworten konnte, zerrte er mich in seine Kochnische und setzte Kaffee auf.

„Ist ‘ne lange Geschichte, grad läuft alles irgendwie drunter und drüber. Willst du schnell duschen? Dann können wir reden, okay?“

Kevin erfrischte sich in neuer Rekordzeit und kam kurz darauf etwas mehr bekleidet zurück. Ich erzählte ihm alles über den gestrigen Tag und auch über heute.

„Aber du bist nicht zu alt“, war das Erste, was ihm dazu einfiel. „Ein paar Escort-Jobs kann ich dir garantiert vermitteln.“

„Sag mal, ist das alles was dir dazu einfällt?“, brüllte ich ihn an. „Lies mal zwischen den Zeilen, ich hab mich wahrscheinlich in Tom verknallt! Und du schlägst mir vor, mich von ein paar Typen gegen Kohle ficken zu lassen. Tolle Wurst. Nein, toller Freund!“ Ich war wieder den Tränen nah, etwas mehr Sensibilität hatte ich von meinem besten Freund irgendwie erwartet.

„Tut mir leid, ich bin ein Idiot.“ Kev kam zu mir und nahm mich in den Arm. Genau das, was ich jetzt brauchte. Auch wenn er mir langsam fremd wurde, sein Geruch war noch vertraut.

„Kann ich ein paar Tage hier bleiben?“

Er sah mich traurig an. „Heute Nacht ist kein Problem. Aber morgen… ich hab Kundschaft. Vielleicht kann ich da noch absagen…“

„Ne, lass. Ist okay. Ich such mir morgen was anderes.“

„Mats?“, fragte er leise.

„Ja?“

„Irgendwas ist komplett anders zwischen uns. Seit Wochen weichst du mir aus, schreist mich an und beschimpfst mich. Ich weiß nicht, ob es dir auch so geht, aber ich vermisse dich. Du fehlst mir so unglaublich.“

‚Ja verdammt, du bist zum Edelstricher geworden’, dachte ich frustriert. „Und was vermisst du? Unsere Gespräche?“

„Auch.“ Seine Stimme wurde zu einem Raunen. Wortlos zog er mich an der Hand vom Stuhl und schob mich zum Schlafzimmer. Seine Hand griff in meinen Schritt. „Den hab ich auch vermisst.“ Er legte sich auf den Rücken und zog mich auf sich. „Und das“, presste er zwischen einer Vielzahl an kleinen Küssen hervor.

Ich ließ es zu, dass er mich auszog und ich half ihm ebenfalls aus seinen Klamotten. Für einen Moment war es wie früher, wir hielten uns in den Armen und streichelten uns gegenseitig. Er zog mich auf die Matratze und dann lagen wir beide in seinem Bett, inmitten von seinem und dem Schweiß des ‚Kunden’. In dieser Sekunde änderte sich wieder alles, die Abscheu kroch in meinen Verstand und vergiftete das zärtliche Gefühl von eben. Kevin bemerkte es nicht.

Er bettete seinen Kopf in meinen Schoß und schloss seine Lippen um meine Erektion. Mein Freund lutschte mich gnadenlos hart und rollte mir das Kondom über. Meine Wut verwandelte sich, kochte in mir hoch, so wie bei Colin. Wie ein Besessener stieß ich in ihn hinein und fickte mir den Frust aus der Seele. Es dauerte auch nur ein paar Minuten, bis ich schreiend in ihm kam. Nach kurzer Zeit bekam ich ein schlechtes Gewissen. Er hatte zwar abgespritzt, sah mich aber komisch an. Der glühende Zorn verflog und ich schämte mich wieder etwas.

„Sorry, ich weiß nicht was über mich gekommen ist“, entschuldigte ich mich deshalb.

„Naja, nicht ganz die erhoffte Kuschelnummer, aber das war auch okay, glaube ich.“

„Später“, nuschelte ich und kuschelte mich an seinen Rücken. Ich hatte ihn auch ziemlich vermisst, wie mir jetzt bewusst wurde. Kurz darauf schlief ich ein. Am Nachmittag lagen wir noch immer in seinem Bett, Kevin hatte sich auch noch nicht wieder angezogen.

„Bist du sauer?“, fragte ich ihn, da er sehr nachdenklich wirkend durch meine Haare streichelte.

Er schüttelte den Kopf. „Aber du bist seit der Nacht mit Colin so anders. Jetzt weiß ich, wie er sich gefühlt haben musste, als du ihn rangenommen hast. Es war überwältigend, fast schon ein wenig brutal. Aber so was kann mir jeder geben. Bei dir war es bisher immer so anders, liebevoller. Vorhin hatte ich nicht das Gefühl, dass du mich sonderlich magst. Dafür hast du ja jetzt deinen Tom, oder?“ Die Art und Weise, wie er die Frage aussprach, hatte einen seltsamen Unterton.

Kevin hatte Recht. Ich hatte ihn wie den Stricher genommen, den er mir mittlerweile so oft zeigte.

„Ich weiß nicht, was mit Thomas ist. Dass er mich auch so mag, ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber er ist nicht unser Problem. Eine Weile gab es immer nur uns und ich fand es schön so. Doch was ist jetzt? Das mit Colin war nur noch der letzte Tropfen. Ich hab es nicht eine Sekunde genossen, ihn zu ficken.“

„Das hab ich sehen können, Mats. Dein Gesicht dabei hat mich erschreckt.“ Er machte eine kurze Pause, um sich wieder zu sammeln. „Dir gefällt nicht was ich tue, dass sehe ich ein. Aber ich bin immer noch derselbe. Dein Kevin, dein bester Freund seit scheißvielen Jahren. Und ich weiß grad nicht, was sich schlimmer anfühlt, dein Rückzug von mir, oder das du jetzt auch mich zum Abreagieren benutzt hast.“

Mein bester Freund fing nun auch an zu heulen und mein Herz schmerzte. In Tom war ich verknallt, aber auch mit Kevin verband mich mehr als Freundschaft. Er war meine Familie solange ich denken konnte. „Es tut mir leid, Kev.“ Natürlich mochte ich ihn. Nur dieser verdammte ‚Job’ zerstörte etwas zwischen uns.

„Lass uns die Nummer heute Mittag einfach vergessen, okay? Du hattest bestimmt deine Gründe“, schlug er nun vor und kuschelte sich dichter heran. Er verzieh mir den Ausraster, einfach so? „Ich möchte nicht den einzigen Menschen verlieren, der es ehrlich mit mir meint. Wenigstens einer, für den ich nicht nur Fleisch bin.“

Die kurze Zeit mit Thomas schien bereits auf mich abzufärben, was Kevin sofort zu spüren bekam. „Du machst dich selber zu dem Stück Fleisch. Weißt du noch… am Anfang hast du halt ein paar Knacker um etwas Kohle erleichtert, ihr habt ein wenig gefummelt und gut war‘s. Mittlerweile störe ich dich doch fast nur noch nach oder vor deiner Kundschaft. Und dann ficken wir in einem Bett, dass nach einem Fremden stinkt.“

„Aber ich brauch das Geld. Sonst reicht es hinten und vorne nicht.“

„Und wenn dich irgendwann keiner mehr kaufen will?“ Wie Thomas, benutzte auch ich absichtlich harte Worte.

„Keine Ahnung… Was soll ich denn machen?“

„Wir müssen es einfach wieder versuchen, ‘nen richtigen Job halt. Man, Kev, du bist viel zu wertvoll für die Typen.“ Mit dem letzten Satz brachte ich sein Lächeln zurück in sein Gesicht.

„Ich denk drüber nach. Und tut mir leid, dass ich dir im Moment ein schlechter Freund bin. Für das Wochenende bringt es dir vielleicht nicht viel, aber Montag zahl ich deine Schulden, dann kannst du wieder in deine Bude. Ich schenk es dir, als Entschuldigung dafür, dass ich dich überreden wollte.“

„Lass es. Thomas wollte das heute auch schon. Das läuft nicht.“

Kevin seufzte, denn er wusste, dass mein Dickkopf nicht mehr umzustimmen war. Unsere Laune war wieder im Keller und wir verbrachten den restlichen Abend einfach bei ihm daheim im Bett, in dem – außer Kuscheln – nichts mehr lief.

Thomas

Die Sonne stand mittlerweile ziemlich tief und lange Schatten fielen in das erhitzte Innere der Garage. Der Geruch von Holzspänen vermengte sich mit einer Spur von Benzindämpfen und meinem Schweiß. Das klatschnasse Shirt lag irgendwo in der Ecke und mein verschwitzter Oberkörper war über und über mit feinem Staub bedeckt.

Zögerliche Schritte auf harten Sohlen kündigten einen Besucher an. Rainer kam gerade vom Dienst und hatte offensichtlich etwas zu besprechen.

„Thomas, können wir kurz reden?“ Sein entschuldigender Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

„Schieß los.“

„Eve meint, du hattest letzte Nacht Besuch.“ Daher wehte also der Wind. Ich nickte leicht. „Sie denkt… also, ich soll mit dir reden, weil…“

„Man, Rainer, hör bitte auf rumzustottern. Ja, ich hatte Besuch. Ein junger Kerl, der übrigens über 18 ist. Er ist kein Date, sondern nur ein Typ mit einigen Problemen. Es ist nicht verboten, jemandem für ein Weile ein Dach überm Kopf zu geben.“

Damit waren alle eventuellen Fragen seiner Frau beantwortet. Nicht, dass es sie was anginge, denn noch zahlte ich Miete und damit war es meine Wohnung. Rainer wirkte nicht besonders glücklich im Moment.

„Schlimm genug, dass ich ein Knacki bin, aber womit will sie denn noch alles Probleme haben? Ich bin halt schwul, na und?“

„Thomas, du weißt ich mag dich, aber sie ist meine Frau und ich will nicht noch mehr mit ihr streiten müssen, ich halte es einfach nicht mehr aus.“

„Ich suche ja schon längst, wie du weißt“, antwortete ich kühl. „Aber wenn Mats, der Typ von letzter Nacht, bei mir pennen muss, dann werde ich ihn nicht euch zum Gefallen wegschicken. Klar?“

„Okay, es ist ja deine Wohnung. Und danke. Such bitte in Ruhe, ich weiß ja, dass es schwer ist, hier was Vernünftiges zu finden in deiner Preisklasse. Ich bedauere es wirklich sehr, dass Evelyn damit nicht fertig wird.“

Und ich bedauerte, dass Rainer keine Eier hatte. Im Gefängnis war er eben ganz anders drauf. Nachdem ich nicht mehr geantwortet hatte, verschwand mein ‚Vermieter’ wie ein geprügelter Hund im Haus. Mit dem Arm verrieb ich den Holzstaub auf meiner Stirn und griff nach einer sehr alten Polaroidkamera, um ein weiteres Bild für meine ‚Vorher-Nachher’ Wand zu schießen. Ich hatte die Hoffnung, dass mir dieses irgendwann Chancen bei einem Betrieb verschaffen würde. Schätzungsweise eine Woche würde ich noch benötigen, um die Gartenmöbel in einen Wie-Neu-Zustand zu versetzen, da ich hier ja fast nur mit der Hand arbeiten konnte.

Für heute war ich mit der Arbeit fertig und machte mich auf den Weg in meine Dusche. Es war eine Wohltat, als der feine Dreck von mir floss. Ich setzte mich auf meinen Sessel, direkt am Wohnzimmerfenster, und genoss die etwas kühlere Luft aus dem Garten, während ich in meinem neuen Buch las.

Die Nacht verbrachte ich mit ein paar unruhigen Träumen, welche mich aufweckten und kaum in Erinnerung blieben. Es blieb nur das Gefühl, verfolgt zu werden. Diese Gedanken hielten mir auch am Morgen die Treue, ich schob es auf eine Art von Knastparanoia, vor der mich auch mein Bewährungshelfer gewarnt hatte. Zugegeben, die Freiheit konnte nach den fünf Jahren manchmal etwas erschrecken.

Rainer und Evelyn waren unterwegs auf Shoppingtour, die samstags schon sehr ausgedehnt ausfallen konnte und nach einem mittelprächtigen Frühstück begab ich mich wieder in die Garage. Sonst gab es ja nichts für mich zu tun.

Sorgfältig kontrollierte ich die frisch verleimten Rahmen zweier Stühle, bis jemand von unten gegen das Garagentor klopfte.

Ich drehte mich um und schloss nur mit sehr viel Mühe wieder meinen Mund, der sich selbstständig spontan geöffnet hatte. Ein ziemlich großer Mittzwanziger stand vor mir und bereitete mir leichtes Herzklopfen. Ein bildhübscher und – dank der Sommerbekleidung gut erkennbar – athletischer Kerl mit einem traumhaften Lächeln.

„Ja, kann ich was für dich tun?“, fragte ich deshalb ein wenig nervös.

„Nur wenn du dieser T. Ingenberg bist“, lächelte er freundlich zurück.

„Dann bist du richtig.“

Er reichte mir die Hand. „Ich bin René. René Wobrecht. Du hast eine rustikale Kommode zum Verkauf angeboten.“ In der linken Hand erkannte ich den Kleinanzeiger. Endlich Kundschaft.

„Thomas. Ja, die steht draußen ums Eck, wegen des Staubs hier. Willst du sie mal sehen?“

„Deswegen bin ich hier“, lachte er. Hoffentlich sah er mir meine Nervosität nicht so deutlich an.

Die Kommode betrachtete er eingehend von allen Seiten, zog an den Schubladen und öffnete die kleinen Türchen. Alles hatte ich in mühevoller Kleinarbeit bearbeitet und abschließend lackiert. Dieser René schien zufrieden zu sein. Merkwürdigerweise kam mir sein Name irgendwie bekannt vor.

„Sieht gut aus, meine Tante sucht genau so was. Aber was anderes, sind das Gartenstühle in der Garage?“

„Ja“, antwortete ich. „Aber ich bin noch nicht fertig. Die waren in einem schlimmeren Zustand als die Kommode. Ich hab ein paar Bilder, wenn du schauen willst.“

Er ließ sich nicht lange bitten und folgte mir an die Fotowand. „Das sind die Teile hier? Wow, super gearbeitet.“

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass René ein wenig mehr Ahnung hatte. Umso mehr wunderte es mich, dass er ausgerechnet zu einem Garagenverkauf ging.

„Mein Onkel könnte einen wie dich ganz gut gebrauchen, du suchst nicht zufällig nach ‘nem neuen Job, oder?“

Nun hatte er mich endgültig aus der Fassung gebracht. „Doch, eigentlich schon. Ehrlich gesagt, sogar wirklich dringend.“

„Cool! Meinem Onkel gehört die Gustav Wobrecht GmbH und er sucht schon seit Monaten nach einem Mitarbeiter.“

Und damit fiel mein Traumkartenhaus auch wieder in sich zusammen. Natürlich hatte ich von der Firma schon gehört, schlimmer noch, auf meine Bewerbung kam relativ schnell eine Absage. Auch deswegen kam mir Renés Name gleich so vertraut vor.

„Sorry, aber dann wird das nichts. Ich hab mich vor ein paar Wochen dort beworben. Angeblich hatten sie schon jemanden eingestellt.“

René sah mich erstaunt an. „Nein, also nicht das ich wüsste. Das Inserat hat er Anfang der Woche wieder in die Zeitung setzen lassen.“

„Schon gut, ich glaub ihm passte der letzte Punkt im Lebenslauf nicht. Vergiss es einfach. Ex-Knackis will niemand, der was auf sich hält.“

„Oh“, kam es dann wenig einfallsreich von ihm. „Lass mich das machen, du hast es drauf und das zählt. Folgendes, ich kaufe die Kommode und du gibst mir das Bild mit. Wenn er das sieht MUSS er dir einfach eine Chance geben.“

„Dich scheint das mit dem Knast nicht zu stören.“

„Sollte es denn? Du bist draußen, also ist die Strafe, wofür auch immer, abgesessen. Ich bin ja nicht päpstlicher als der Papst. Außerdem, für einen Mörder, der entlassen wurde, bist du zu jung.“ Dass er den letzten Teil nicht ernst meinte, zeigte er durch ein kurzes, aber amüsiertes Zwinkern.

„Und du meinst das funktioniert?“ Überzeugt war ich nicht. Aber es wäre zu schön, Wobrecht hatte ein fantastisches Renommee.

„Vertrau mir. Also, was willst du haben?“

„50 Euro“, fragte ich mehr, als das ich es sagte.

René schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaub da ist noch ein wenig Platz zum Handeln.“

„Dann mach einen Vorschlag“, seufzte ich enttäuscht. Doch er grinste nur freudig.

„Also, 50 Euro für den einen Stuhl, ist auch eine gute Arbeitsprobe. Bitte mit Bild. Ich will aber eine Reservierung für den Rest, die Stühle passen super auf die Terrasse. Für die Kommode bekommst du 200 Euro. Ist eigentlich noch zu wenig, wenn man die Zeit bedenkt, die du hier mit dem Werkzeug gearbeitet haben musst. Mit der richtigen Ausstattung würde das schneller gehen. Also, was meinst du?“

Er lachte über den bescheuerten Gesichtsausdruck, den ich in dem Moment gemacht haben musste.

„Sorry, du kannst gut mit dem Kram hier umgehen, aber als Geschäftsmann bist du ne Niete. Also, haben wir einen Deal?“

Mehr als nicken konnte ich erstmal nicht. Zu meiner Sprachlosigkeit kam nun auch noch heftiges Herzklopfen, René war mehr als nur mein Typ. Leider sprach er über nichts anderes mehr als das Geschäft und wie sehr es seinen Onkel begeistern würde. Gemeinsam schleppten wir meine zwei Werke zur Straße, wo er passenderweise einen Transporter geparkt hatte. Nach dem Verladen bekam ich die versprochenen 250 Euro.

„Könntest du eventuell nächste Woche zum Probearbeiten kommen? Darauf wird er wahrscheinlich bestehen.“

„Vielleicht. Ich helfe in einem kleinen Laden aus, zwei Stunden am Tag. Vielleicht kann ich das tauschen. Aber ich habe kein Auto.“

„Kein Problem, wenn mein Onkel ja sagt, dann hole ich dich gerne persönlich ab. Vielleicht ist es dir ja auch lieber, wenn ein bekanntes Gesicht dabei ist. Onkel Karl wirkt zuweilen etwas mürrisch.“ Renés Art überforderte mich emotional in dem Moment total. Als er mir gegenüber stand und meine Hand zum Abschied schüttelte, stieg mir sein angenehmer Geruch in die Nase.

Mit einem „Bis nächste Woche, ich melde mich!“ überspielte er meine plötzliche Mundfaulheit und fuhr los.

„Super, Thomas!“, schalt ich mich, „Da kommt eine extrem sympathische Schnitte und du machst dich zum Affen. Ganz toll.“

Meinen Blick lenkte ich zurück auf das feste Papier in meiner Hand. Das war mehr Geld als ich zu träumen gehofft hatte. Und noch fünf weitere Stühle warteten auf ihn, vielleicht sogar der Tisch. Damit war ich einer möglichen Kaution für eine neue Wohnung ein Stück näher. Oder eigenen Möbeln. Mit dem Job wäre ich sogar richtig abgesichert. Doch mein Sinn für die Realität ließ mich erstmal abwarten.

Am späten Abend zog ein recht starker Sommerregen über die Stadt und ich begab mich zurück in die Wohnung. Rainer und seine Frau waren mittlerweile wieder da, doch es blieb gespenstisch still im gesamten Haus, lediglich der Regen trommelte leise gegen die Fenster. Ich starrte hinaus und beobachtete das entfernte Leuchten einiger Blitze, gefolgt vom leisen Grollen des Donners. Die bedrückende Atmosphäre entlud sich in einem starken Gewitter. Beinahe hätte ich das zögerliche Klopfen an meiner Tür überhört.

Mats

Der späte Samstagmorgen begann mit Schmerzen in der Schulter und einem starken Taubheitsgefühl im linken Arm. Kevins muskulöser Körper lag halb auf mir und er sabberte mir leise schnarchend auf die Brust. Für einen Moment war es wie früher, unsere Vertrautheit kehrte für einen Augenblick zurück. Sein friedliches Gesicht erinnerte mich an die vielen Gespräche über unsere Zukunftspläne, die wir vor einiger Zeit noch geführt hatten. Kindliche und naive Pläne waren es, aber es waren unsere.

Vielleicht liebten wir einander sogar, bevor wir mehr und mehr so was wie Fuck-Buddies wurden. Ja, früher war mir alles egal, wenn wir zusammen waren; ich brauchte nur ihn. Dass er es irgendwann anders sah, hatte geschmerzt. Kev wusste nicht, dass er mein erster und beinahe einziger Lover war. Dass er mir die vielen kleinen, zusätzlich erfundenen Abenteuer geglaubt hatte – ich wollte ja bei seinen Eroberungen mithalten – wunderte mich manchmal ein wenig. Es zeigte, wie oberflächlich unsere Beziehung geworden war, meistens jedenfalls.

Der geile Stecher Mats war eben lange Zeit einfach nur eine kleine, romantische Schwuchtel mit einem großen Maul, die für einen harten Kerl gehalten werden wollte. Und dann kam Thomas. Bei ihm fiel es mir leicht, ihn anzugraben und meinen Sprüchen Taten folgen zu lassen, wenn er mich gelassen hätte.

Aber was machte ich mir da vor, verglichen mit Tom war ich fast schon Dreck. Er war stark und keiner konnte ihm mehr was, er wusste was zu tun war. Und ich?

Ich lag hier im Bett und hing traurig den letzten Jahren nach, ohne Plan und meinen besten Freund betrachtend. Gedankenverloren streichelte ich durch sein wuscheliges Haar.

„Hey, guten Morgen“, hörte ich seine verschlafene Stimme. Seine Stoppeln kratzten beim Sprechen über meine Haut, bis er sich aufrichtete. „Sorry, hoffe dir tut nichts weh. Mats? Warum weinst du?“

Es war mir nicht aufgefallen, aber jetzt, nachdem er das sagte, spürte ich die einzelnen Tränen übers Gesicht laufen. Sofort zog er mich in seine Arme, die Lippen versuchten das Salzwasser wegzuküssen. „Hey, ich bin da, alles ist gut.“

Ein weiteres Mal stieß ich ihn von mir weg.

„Ja, jetzt bist du es. Und heute Abend? Ich kann das nicht mehr.“

„Mats, was ist los? Was kannst du nicht?“ Er sah mich an, als ob ich ihm gerade zwischen die Beine getreten hätte.

„Das hier, mit dir. Lass uns einfach Freunde sein.“

„Aber wir sind doch Freunde!“ Kevin schien nicht begreifen zu wollen.

„Nur noch Freunde. Ohne Sex und das Drumherum. Es geht nicht mehr. Entweder du akzeptierst es oder wir können uns nicht mehr sehen.“

„Mats, bitte nicht, wir können es auch so weiter hinbekommen. Hast du vergessen, was ich gestern gesagt habe?“ Beinahe schon panisch legte er seine Arme um mich und presste sich gegen meinen Körper.

Natürlich hatte ich das nicht, aber entweder war er dumm, ignorant oder beides. „Wenn du geliebt werden willst, dann entscheide dich für jemanden. Ich glaub kaum, dass dein Fickjob in einer Beziehung gut ankommen wird, egal bei wem. Und wenn du wirklich mein Freund bist, dann akzeptierst du das besser und lässt mich jetzt los. Ich komm damit nicht klar, okay?“

Kevin nickte und ich konnte sehen, wie er sich hinter einer Maske verkroch. „Du hast Recht. Vielleicht sollten wir uns eine Weile nicht mehr sehen.“

„Warum können wir nicht ohne Sex befreundet sein, Kev? Warum muss es jetzt soweit kommen?“ Ich startete noch einen letzten Rettungsversuch.

„Weil ich… ach vergiss es. Du kannst es vielleicht, aber ich nicht. Dann geh, lass mich einfach allein.“

„Wie du willst.“ Ich kletterte aus seinem Bett und raffte meine Klamotten zusammen. Nach einer schnellen Dusche stand ich wieder angezogen im Flur und sah ihn noch einmal an. Er starrte mit unbewegter Miene zurück. „Bis dann, Kev, machs gut.“

Etwas ratlos lief ich durch die Stadt. Es fühlte sich an, als ob wir gerade Schluss gemacht hatten, was an sich bescheuert war, da wir nie ein Paar gewesen sind. Oder? Warum nur hielt er so sehr an dem Sex fest? War ich die Kuschelnummer, die er brauchte, um einen nicht ganz so netten Kunden zu vergessen? Er hätte ja damit aufhören können. Ohne die beschissenen Freier hätte ich kein Problem mit ihm zu schlafen. Aber dieser hübsche Körper, den er an die Typen verkaufte, ekelte mich im Moment einfach nur an. Das hätte er nach unserer letzten Nummer selber merken müssen.

In meiner Wohnung hielt ich es nicht lange aus, das einsame Fertiggericht hatte bereits Schimmel angesetzt und stank ekelerregend. Überhaupt roch es hier wie in einem Bahnhofsklo. Ich nahm mir vor, nächste Woche sauber zu machen. Mit einem Rucksack, in den ich die nötigsten Dinge packte, verließ ich mein Reich.

Alles zog mich nun zu Thomas, aber noch kämpfte ich dagegen an, versuchte meinen chaotischen Kopf zu sortieren. Was sollte er denn von mir halten, nachdem ich gestern so groß erzählt hatte, dass ich zu ‘nem Freund könne? Scheiß Leben, ohne Geld und mein bester Freund war es nicht mehr. Dass ich ein wenig verknallt war, half mir auch nicht, denn ihm ging es wahrscheinlich nicht so.

Mein Geldmangel zog mich erstmal zur Schloßstraße. Langsam schlenderte ich an den vielen Geschäften vorbei. Auf der Höhe vom Forum erinnerte ich mich wieder an Toms Einladung zum Essen. Es könnte alles so einfach sein, aber ihn wollte ich nicht ausnutzen. Irgendwann stand ich vor dem neusten Einkaufszentrum, im Boulevard war die Hölle los. Viele Geldbeutel, viel Gewühl und Gerempel, hier würde ich kaum auffallen.

Doch in den Massen tauchten immer wieder Uniformierte auf, die ihre Augen offenhielten. Etwas gefrustet setzte ich mich neben eine Bank, nah bei den Rolltreppen und starrte an den Emporen vorbei, auf eine günstige Gelegenheit wartend. Eine Viertelstunde später hatte ich ein Portemonnaie ‚erobert’ und ließ es gleich wieder unter der Bank verschwinden, Bargeld Fehlanzeige – und einen weiteren Versuch wagte ich nicht.

Ich presste ein leises, ironisches Lachen hervor. ‚Einen richtigen Job suchen’, wie sollte Kevin daran glauben, wenn selbst ich das nicht konnte. Mein Leben war versaut, wer sollte Typen wie uns denn noch eine Chance geben? Mein ehemals bester Freund hatte sich schon längst an die Kohle gewöhnt, die er durch sein Arschhinhalten bekam.

Und ich hatte doch eigentlich keinen Bock auf Arbeit, jeden Tag stundenlang irgendwo eingesperrt sein, mich vor irgendeinem Arsch zum Affen zu machen. Okay, die Sache mit Tom hatte Spaß gemacht, zu sehen, wie er mit seinen Händen aus Holzschrott etwas schuf. Er konnte das und bekam trotzdem keinen Job, wegen dem Knast. Mein Führungszeugnis sah auch nicht toll aus, niemand stellt gerne Diebe ein.

Als ich das nächste Mal durch die großen Türen nach draußen sah, war es unnatürlich dunkel. Ich stand auf und hatte eine Entscheidung getroffen, Thomas würde mich vielleicht trotz meines Auftrittes gestern aufnehmen. Kaum hatte ich das Zentrum verlassen, schlug das Wetter endgültig um. Ein schweres Sommergewitter lag über Berlin. Mit schweren Schritten lief ich los, der neue Mut brach schnell wieder in sich zusammen.

Thomas

Mats stand in meinem Flur, nass bis auf die Haut und zitternd, die Arme fest um mich gelegt. Der orkanartige Wind brachte eine kurzfristige Abkühlung. Zu unseren Füßen bildete das Regenwasser bereits eine große Pfütze.

„Du musst aus den Klamotten raus, sonst holst du dir was weg.“

„Kann ich heute bei dir bleiben? Ich weiß nicht mehr wohin…“ Er ließ mich los und mit schwerfälligen Bewegungen zog er sich das Shirt über den Kopf.

„Was ist denn mit deinem Freund?“

Deutlich hoben sich nun seine Tränen von den anderen Wassertropfen ab. „Kevin und ich… wir sind nicht mehr…“

Etwas unbeholfen legte ich meinen Arm um den weinenden Jungen. Kein Wunder, dass Evelyn so ausgerastet war, Mats wirkte in dem Zustand eher wie 15 und nicht wie beinahe 20.

„Ist okay, bleib solange wie du musst. Wir kriegen das wieder hin. Du gehst jetzt erstmal heiß duschen und dann reden wir weiter, versprochen?“

Da er im Moment nur langsam reagierte, schob ich ihn ins Bad und half ihm sich zu entkleiden. Erst jetzt betrachtete ich ihn ausgiebig und bemerkte, wie abgemagert er wirklich war.

„Ich bin so ein Versager, Tom… du kannst mir nicht helfen.“

„Erst duschen, dann reden. Du musst dich aufwärmen.“

Mats nickte und ich gab ihm ein Handtuch, bevor ich Teewasser aufsetzte. Stumm sah ich den kleinen Wasserkocher an und lauschte der rauschenden Dusche. Etwas war anders an dem Kleinen, sein lockeres Auftreten, diese Fassade, war völlig hinüber. Er war voller Resignation und Mutlosigkeit und ich tippte dabei auf seinen Freund Kevin, mit ihm hatte das bestimmt was zu tun.

Das Wasser war heiß und ich bereitete eine Tasse für meinen Gast vor, stellte sie auf dem Couchtisch ab und legte mich auf das Sofa, nachdem ich mein Shirt abgestreift hatte. Es hatte eine Menge Regen bei seiner Umarmung aufgesogen.

Von mir unbemerkt betrat er das kleine Wohnzimmer, bis auf das Handtuch nackt, und setzte sich vorsichtig auf die vordere Kante meiner Couch.

„Ist der für mich?“, fragte er, auf die Tasse deutend.

„Ja, aber Vorsicht, er ist noch zu heiß.“

Schweigend sah ich ihm zu, er kauerte sich mehr und mehr zusammen, noch leicht zitternd und ich vermutete stark, dass ihm nicht nur kalt war.

„Mats, was ist los mit dir? Und was ist zwischen deinem Freund und dir passiert?“

„Nichts ist los“, antwortete er mit einem aggressiven Unterton. „Seine beschissenen Freier sind ihm wichtiger als ich.“

Wieder mischte sich das leise Schluchzen unter die Worte und ich forderte ihn auf, sich neben mich zu legen. Widerstandslos ließ er sich in den Arm nehmen und gegen meinen Willen empfand ich es als angenehm, ihn so zu spüren. Aber die offensichtliche Intimität der Situation schien ihn zu beruhigen.

„Dein Freund geht auf den Strich?“

„Nein, er hat da irgendwo ein Escort-Profil. Und jetzt hat er ständig irgendwen daheim. Letzte Nacht durfte ich gnädigerweise bleiben.“

Nach und nach erzählte er mir alles und ich war doch etwas überrascht. Es hörte sich nicht so an, als ob sie nur Freunde waren. Unterbewusst fing ich an, den Kleinen am Bauch zu streicheln und Mats wurde immer ruhiger, bis er irgendwann verstummte und leise atmete. Das Zittern hatte mittlerweile ganz aufgehört und ich drückte den warmen, irgendwie süßlich duftenden Körper an mich.

Ich genoss das lang vermisste Gefühl, einem Mann so nah zu sein und nickte irgendwann ebenfalls ein. Doch ein eigenartiges Gefühl weckte mich, mitten in der Nacht. Nur langsam realisierte ich, dass sich ein Paar Lippen an meine eigenen schmiegten, einen nackten Körper, der sich an meinem rieb. Mats Erregung drückte gegen meine Hüfte und seine Hand, die er in meine Schlafshort geschoben hatte, sorgte dafür, dass auch der kleine Thomas sich kräftig streckte.

Diese Feststellungen dauerten nur einen kleinen Augenblick und ich riss die Augen auf.

„Mats, hör auf damit, bitte!“ Ich schob ihn etwas von mir weg, allerdings sehr widerwillig, denn seine Berührungen fühlten sich gut an.

„Gefällt es dir denn nicht? Man, Tom, ich wünsche mir das schon seit deiner Einladung zum Essen.“

„Doch, es fühlt sich gut an. Aber Sex löst keine Probleme.“ Es fiel mir schwer, dass weinende Bündel von vorhin zu vergessen. Und leider spukte mir das Gesicht von René durch den Kopf, dabei kannten wir uns nicht und es war unwahrscheinlich, dass ich mit dem hünenhaften Blondschopf irgendwann im Bett landen würde.

„Vermisst du es denn nicht? Ich will es nicht aus Dankbarkeit mit dir tun, falls du das denkst. Du gefällst mir wirklich, deine Nähe tut mir gut. Aber wenn du sagst, dass du dich hierbei“, er griff wieder in meine Hose und streichelte zärtlich über mein hartes Fleisch, „nicht wohl fühlst, dann akzeptiere ich das und lass dich in Ruhe.“

„Mats, ich… doch ich vermisse es. Aber…“ Er stoppte meinen Satz durch einen Kuss. Seine Hand streichelte über meinen Rücken und mein Widerstand, der mehr als nur halbherzig war, schmolz weiter dahin.

„Magst du mich denn ein kleines bisschen?“, fragte er nach einigen Minuten beinahe zärtlicher Küsse.

„Du wärst nicht hier, wenn nicht“, antwortete ich deshalb. „Auch wenn du Ärger für mich bedeutest.“

Mats seufzte. „Darüber lass uns lieber morgen reden. Den schönen Moment sollten wir nicht zerstören. Schlaf mit mir, bitte.“

Allein der Gedanke daran, ließ es in meiner Hose erwartungsfroh pochen. Meinem Gast war das nicht entgangen und er grinste frech, was ihn wieder etwas älter und auch noch hübscher wirken ließ. Es war Zeit, auch diesen Teil des Lebens wieder zu genießen.

„Was bekomme ich denn, wenn ich jetzt ja sagen würde?“

Als Antwort drehte er mich auf den Rücken und legte sich auf mich. Sein Gewicht war kaum spürbar. Mit den Lippen erforschte er meinen Hals und rieb seinen Körper wieder an mir. All die Gedanken, die mir bis eben noch durch den Kopf schossen, verblassten zusehends. Mats wusste, was er tat und wie er seine Wirkung verstärken konnte. Die 14 Jahre Unterschied waren im Moment das Unwichtigste auf der Welt.

Natürlich wollte ich mich revanchieren und fing an, ihn ebenfalls zu streicheln.

„Genieß es einfach, Tom. Bleib ruhig liegen und tu nichts, okay? Du darfst dich schon früh genug anstrengen“, lachte er. Etwas unwillig stimmte ich zu und der Kleine legte richtig los. Meine Brustwarzen bekamen seine Zähne zu spüren, als er sanft an ihnen knabberte. Mit geschlossenen Augen verfolgte ich seinen weiteren Weg, die Zunge an meinem Nabel und den leicht borstigen Flaum an seinem Kinn, der dabei meinen Bauch kitzelte und mir ein leises Lachen entlockte.

Zwei Hände tasteten sich zu meiner Short vor und zogen langsam, aber bestimmt, den Bund nach unten. „Der sieht lecker aus.“ Seine gnadenlos saugenden Lippen schlossen sich um mein bestes Stück. Dieses Gefühl durfte ich im Knast nur sehr selten genießen und es war bei weitem nicht so lustvoll wie das, was Mats nun mit mir anstellte. Wenn ich noch Zweifel daran gehabt hätte, dass er es wirklich wollte, spätestens jetzt wären sie verschwunden gewesen.

Mein hektisches Stöhnen warnte ihn rechtzeitig aufzuhören, damit es nicht zu einem vorschnellen Ende gekommen wäre.

„Du bist ganz schön lecker, Tom.“ Er angelte sich noch einen letzten Tropfen von meiner Spitze und sog ihn in sich auf. „Jetzt geh auf die Knie und beug dich zurück, ich bin sofort wieder da“, wies er mich an. Willenlos gehorchte ich ihm und wartete auf seine Rückkehr. Im Flur hörte ich den Reißverschluss seiner Tasche und Mats kam zurück. Seine Hand schmierte meinen Stab mit flutschigem Gel ein und er hockte sich breitbeinig über mich. Er sah mir tief in die Augen und senkte sein Becken ab. Für einen Moment verzerrte sich sein Gesicht durch den kleinen Schmerz beim Eindringen. Doch dann lehnte er seine Brust an meine und ritt mich leidenschaftlich. Lang hielt ich diese Behandlung nicht aus, spürte die aufsteigende Wärme in der Leistengegend. Mats feuerte mich an, bevor er mich küsste. Der Orgasmus riss mich fast um. Schwer atmend verharrte ich einen Moment regungslos, bevor ich mir nun auch seinen Schwanz griff. Noch war ich in ihm und er presste sich hart gegen mich. Nur wenige Handstriche benötigte er noch, bis er sich unter lautem Stöhnen gegen meine Brust entlud.

„Wow“, flüsterte er. „Am liebsten würde ich ewig so sitzen, mit dir in mir.“

„Dann bleib doch noch so, es fühlt sich gut an.“

Trotz der intensiven Massage seiner Darmmuskeln, hielt mein kleiner Freund seine Härte nicht ewig und zog sich von allein zurück. Etwas erschrocken zuckte ich zusammen.

„Du hast kein Kondom benutzt?“

„Ja, tut mir leid, ich hatte keins mehr. Aber mach dir keine Sorgen, es war mein erstes Mal ohne. Und du hast doch auch gesagt, dass es im Knast nicht ohne lief?“

Beruhigt atmete ich auf. „Gut. Aber das war nicht okay, im Schlafzimmer hätte ich welche gehabt.“ Ich strich seine Haare aus der Stirn und gab ihm einen Kuss auf sein Kinn, da ich diesen schuldbewussten Ausdruck in seinem Gesicht nicht sehen wollte. Schließlich hatte auch ich nicht aufgepasst und es bestand ja kein Risiko mehr.

„Bist du wirklich nicht böse?“

„Nein, es hat sich ja auch richtig schön angefühlt. Der beste Sex seit vielen Jahren.“

Nun lächelte der Kleine stolz und gähnte im Anschluss herzhaft. „Muss ich jetzt wieder auf der Couch schlafen, oder darf ich zu dir ins Bett?“

„Komm mit. Die Couch sollte ja das hier eigentlich verhindern, damit wäre das jetzt überflüssig.“

Mats nickte und stand auf. Mit dem Handtuch, welches schon seit meinem Aufwachen auf dem Boden lag, wischte er sich meinen Saft weg, der bereits aus ihm heraus floss. Ohne Umwege gingen wir ins Schlafzimmer und kuschelten uns dicht in mein enges Bett. Der eine Meter Breite war nicht viel, aber dass stellte jetzt erstmal kein Problem dar.

In meinen Armen schlief Mats schnell ein. ‚Hoffentlich hat das keine weiteren Konsequenzen’, dachte ich noch und folgte ihm ins Reich der Träume. Doch dass meine Wünsche sich selten erfüllten, erlebte ich schneller als mir lieb war.

Fortsetzung folgt…

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2 Kommentare

  1. Hallo Chris,

    auch wenn es schon ein Weilchen her ist, danke für den Kommentar.
    Falls du die anderen Teile noch nicht gefunden hast, sie sind hier in meinem Autorenprofil zu finden.

    Lg Gaius

    P.S.: an alle, ja, ich lebe noch 😉

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  2. Hallo zäme!
    Mir gefällt der 1. Teil sehr gut. Wie komme ich zu den anderen Teilen der Geschichte? Besten Dank für eine kurze Rückantwort.
    Grüsse aus Zürich
    Chris

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