Welcome Kapstadt – Teil 8

Shaun schüttelte den Kopf. » Nein, sie würde durchdrehen. «
Das verstand ich. So wie ich dann überhaupt alles verstand. Warum Shaun oft so nachdenklich war. Warum er keinen Sex haben wollte, noch nicht jedenfalls. Konnte er denn das überhaupt je wieder? Nach so einem Erlebnis? Meine kleine, heile Welt begann zu zerbröckeln. Mein Shaun war missbraucht worden als er so alt war wie ich. Konnte man so etwas überhaupt in seinem Leben vergessen? Ohne Hilfe sicherlich nicht. Aber ich konnte diese Hilfe nicht sein.
Fragen, ich hatte plötzlich so viele Fragen. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt. Mit Sicherheit war es für Shaun eh eine unheimliche Überwindung gewesen es mir zu sagen.
Sein Schluchzen ließ langsam nach und ich wischte ihm mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht. Seine rot unterlaufenen Augen sahen mich an. Wie, ich konnte es nicht deuten. Er hatte ein furchtbares Geheimnis mit sich herumgetragen, vier lange Jahre.
» Und nachdem.. das passiert war? «
» Er hat meine Sachen neben das Auto gestellt und ist weggefahren. Damit meine Mutter nichts merkt hab ich über mein Handy ein Taxi gerufen. Sie hätte ja sofort Verdacht geschöpft .«
» Und der Fahrer hat sich nicht gewundert? Ein Junge mit einem Koffer im Wald? «
» Ich hab ihm erzählt, meine Freundin hätte mich rausgeschmissen aus dem Wagen nach einem Streit.. Der Fahrer hat dann von seiner Trennung erzählt. Ihm ist nichts aufgefallen. «
» Hast du.. ich meine.. das Kennzeichen von dem Auto.. irgend etwas.. ? «
» Ich kenn es auswendig.. hab es nie vergessen. «
» Mensch, Shaun, warum hast du ihn nicht angezeigt? «
» Ich hätte es nie beweisen können. Wer glaubt schon einem 16jährigen? «
Ich schluckte, fürchtete zu tief zu gehen mit meinen Fragen. Trotzdem, ich wollte ihm helfen, ich musste es. Ich selbst wollte Rache an dem Mann.
» Hat er dich.. verletzt? «
Shaun schnäuzte in sein Taschentuch. » Es hat furchtbar weh getan, aber es ist nichts passiert.. Sein.. sein Ding war nicht.. groß. Und der Mann hat mir gedroht, mich umzubringen wenn ich jemandem etwas sagen würde. Er wusste aus unseren Gesprächen wer ich war und es deshalb kein Problem für ihn gewesen wäre mich zu finden. Und er war kräftig, er hätte mich mit einer Hand erwürgen können. Das hat er auch deutlich gemacht. «
» Er hat dich.. gewürgt? «
Die Sache wurde immer schlimmer. Ich dachte immer wieder an einen schlechten Traum.
» Ja, aber er hat nicht fest zugedrückt. Nur, ich wusste, wenn er es tut habe ich keine Chance. So hab ich es über mich ergehen lassen. «
» Hat er… « Ich wusste nicht ob ich weiter Fragen sollte. Aber er musste reden, dieses Erlebnis rausschreien wenn es sein musste. Und ich sah es als meine Pflicht, ihm dabei zu helfen.
» ..hat er ein Kondom benutzt? «
» Nein.. «
Wie schlimm konnte dieses Gespräch noch werden?
» Ich bin nicht HIV – infiziert, falls du darauf hinauswillst. Doc Case macht routinemäßig alle halbe Jahre einen Generalcheck, bei der ganzen Familie. Und der hätte das entdeckt. Aber bis es soweit war bin ich bald gestorben. «
» Du hast also das Kennzeichen noch im Kopf? «
» Ja, sagte ich bereits. «
» Gut, dann gehen wir noch heute zur Polizei. « Noch wie war ich so entschlossen wie an diesem Tag.
» Spinnst du, nach vier Jahren? Die lachen mich doch aus. Du kennst die Polizei hier nicht. Der Mann war ein Weißer, da passiert nichts wenn du keine Beweise hast. «
» Mir egal. Ich hab auch schon eine Idee. «
Shaun zitterte. » Dario, mach keinen Unsinn. «
» Nee, ich nicht, bestimmt nicht. «
Irgendwie stand für mich fest, dass wir beide uns nie so lieben könnten wie das unter Schwulen mehr oder weniger üblich ist. Aber es war mir egal. Seine Nähe, das Gefühl ihn zu spüren, ihn zu riechen und zu schmecken – das alleine war schon viel, aber ich wollte, dass Shaun dieses Erlebnis vergisst. Dass wir vielleicht doch ein ganz normales Leben führen konnten, so wie alle anderen auch.
Ich ließ ihn langsam aus meiner Umklammerung.
» Entschuldige…ich hab dich jetzt bestimmt verwirrt « sagte er leise.
» Du hast mich nicht verwirrt. Danke dass du es mir gesagt hast und du musst dich für überhaupt nichts entschuldigen. Nie wieder will ich das von dir hören. «
» Was wirst du jetzt machen? « fragte er mich fast ängstlich.
» Du wolltest doch mit mir ans Cape Point. Was immer da auch passieren sollte, ich möchte dass wir dahin fahren. So schnell wie möglich. »
» Warum? «
» Frag nicht. Komm, geh ans Telefon und buche um, bitte. »
» Schön, ich kann’s versuchen. «
Er ging aus dem Zimmer und ich blieb zurück mit tausend Gedanken. Wollte er mit mir dort wirklich nur hin, um eine erste Nacht mit mir zu verbringen? Mit mehr oder weniger Gewalt seine Vergangenheit vergessen? Oder war das gar nicht seine Absicht? Er wollte auf jeden Fall mit mir zusammen sein. Allein, ohne gestört zu werden. Vielleicht wollte er mir aber dort nur das sagen, was er gerade vor ein paar Minuten getan hatte? Meine Gedanken rotierten.
» Okay, wir können morgen Früh losfahren « sagte er, während er kurz darauf ins Zimmer kam. Sein Gesicht war wieder ansehnlich und ich konnte es nicht abwarten. Wir hatten uns bestimmt noch so viel zu sagen.
Er stellte sich vor mich und sah mir in die Augen. Ich hätte heulen können, nur bei dem Gedanken was er durchgemacht hatte. Ich wusste nicht was er in dem Moment dachte, was er fühlte. Aber ich spürte seinen Körper, seine Ausstrahlung. Wir gehörten zusammen, das wurde immer deutlicher. Ich nahm ihn in meine Arme und drückte ihn.
» Shaun, ich freu mich so auf diese Fahrt. Nur du und ich, das Meer, der Himmel, der Strand, die Sonne. « Verflucht, warum war das alles so kompliziert? Warum nur? Tränen hatte ich keine mehr. Stumm standen wir so da, jeder hing seinen Gedanken nach.
Nach ewigen Minuten schob ich ihn von mir.
» Okay, dann probier ich jetzt die anderen Sachen aus, die du mir mitgebracht hast « sagte ich dann.
» Gut. Und ich geh mal in den Keller, nachsehen ob man mich da braucht. «
Er wurde nicht gebraucht, das wusste ich und er auch. Er wollte nicht dabei sein wenn ich mich auszog. Er fürchtete sich davor, mich irgendwann einmal nackt zu sehen, denn dann würden die Erinnerungen hochkommen. Könnten wir je ein normales Leben führen? Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten. Denn zu all dem gesellte sich das Abschied nehmen. Bald schon musste ich ihn zurücklassen. Und es gab niemanden dem er sich anvertrauen konnte.
» Ja, ich komm nach wenn ich fertig bin « rief ich ihm hinterher, während er das Zimmer verließ.
Ich zog mich nackt aus. Shaun hatte einen Spiegel in seinem Zimmer und ich betrachtete mich darin. Würde er mich je so sehen können? Sehen wollen? Mein Hass wurde unbeschreiblich. Aber all das nützte mir nichts, er musste selbst darüber entscheiden. Es war ein Scheißgefühl und ich wurde damit nicht klar. Ich probierte die Boxer aus, die er mir mitgebracht hatte. Wieso schenkte er mir neue Klamotten? Ich hatte schließlich keine alten Lumpen am Leib. Liebte er mich viel mehr, als ich dachte? Diese verfluchten Fragen ohne Antworten machten mich richtig fertig.
Die Boxer passten wie angegossen, Shaun hatte offenbar einen Blick für Körpergrößen und ich überlegte, wie lange die Hosen halten würden. Eigentlich müssten sie das mein Leben lang. So, dass ich immer eine Erinnerung an ihn hatte.
Wieder durchfuhr es mich. Nein, ich würde ihn nie vergessen müssen. Weil ich bei ihm bleiben würde. Jetzt erst recht.
Es wurde langsam dunkel und ich knipste das Licht an, sah mich wieder um in Shauns Zimmer. Vier Jahre lebte er hier, vielleicht mit den schlimmsten Träumen die man sich vorstellen kann. Was musste in den ersten Tagen und Wochen in ihm vorgegangen sein? Es war so ungeheuerlich, dass ich schlucken musste. Wie lange würde ich selbst das aushalten können? Ich brauchte jemanden zum reden, alleine damit fertig zu werden würde unmöglich sein.
Mein Handy klingelte.
» Hallo Dario, Nadine hier. Was geht ab, alles in Ordnung? « Sie schien einen siebten Sinn zu haben.
Nichts war in Ordnung und ich musste meine Last loswerden, irgendwie.
Ich setzte mich auf das Bett und starrte nach draußen in die Dämmerung.
» Nadine, ich möchte hier bleiben. Ich will und ich kann nicht mehr fort. «
Schweigen am anderen Ende. Erst nach, wie mir schien, ewigen Minuten antwortete sie.
» Naja, wir haben das geahnt. Aber daneben ist doch noch was anderes. Die Liebe hat manchmal zwei Gesichter. Das, was jeder sieht und kennt. Und etwas, das meist verdeckt ist. Das scheint mir wohl der Fall zu sein. Ich denke, Wolfgang und ich kommen euch noch heute besuchen, Passt das? «
» Ja, bitte kommt, ich werd.. nicht alleine damit fertig. «
» Ja, ich weiß das. Man muss dich nur hören, Brüderchen. Bis nachher. «
Sie legte ohne ein weiteres Wort auf.
Wolfgang, der musste mir helfen. Wenn es einer konnte, dann er.
Ich ging hinunter in den Keller. Kühl wurde es mit jeder Stufe, die ich hinabstieg.
Ich hörte Stimmen.
» Du magst Dario ziemlich gern, stimmst? «
Onkel Roberts sonore Stimme dröhnte nicht laut, aber deutlich an mein Ohr. Was wurde das? Kalt lief es mir den Rücken herunter. Ich blieb in dem dunklen Korridor stehen und lauschte.
» Nein, Onkel, ich mag ich ihn nicht nur gern. Ich liebe diesen Jungen. Und ich weiß nicht was ich machen soll wenn er geht. «
» Wieso muss er gehen? «
» Du bist gut. Er geht noch zur Schule und da sind ja auch noch seine Eltern, die ein Wort mitzureden haben. Und dann, ich weiß ja gar nicht ob er das will. «
» Er will, das spürt man doch. Ich werd mich mal darum kümmern. «
Ich sah verstohlen um die Ecke. Es war düster da unten in dieser Ecke und man konnte mich nicht auf Anhieb sehen. Aber Shauns Blick brauchte für mich kein helles Sonnenlicht.
Ich sah, wie groß seine Augen wurden.
» Was willst du tun? « Seine Stimme zitterte.
» Ein großes Problem wird das nicht. Er hat Verwandte hier. Und der Onkel seines Freundes hat so ziemlich die besten Beziehungen die man dafür braucht. «
Shauns Augen blieben groß, er stand vor seinem grinsenden Onkel wie angewurzelt.
» Onkel Robert…willst du ihn nicht wenigstens fragen? «
Ich trat in den Raum. Das heimelige Kerzenlicht, die ansonsten völlige Stille sorgten für eine besondere Atmosphäre.
Plötzlich trat Maureen hinter mich. Und nun wurde mir mulmig. Es ging um uns, um Shauns und meine Zukunft. Ich starrte meinen Freund an.
» Ich bleibe « sagte ich kurz und knapp. Shaun sah mir in die Augen und in mir tobten die Gefühle.
Er kam langsam auf mich zu und legte seine Hände auf meine Schultern.
» Und das ist dein ernst? Du willst.. in Deutschland alles zurücklassen? «
» Natürlich. Ich hab das längst beschlossen. Wolfgang und Nadine kommen gleich, ich hab sie darum gebeten « stammelte ich verlegen.
» Na bitte. Und ich wette, das hat nichts damit zu tun dass du sie nur sehen willst « mischte sich Robert ein.
Noch einer, der Gedanken lesen konnte?
» Nein, eigentlich nicht « antwortete ich mit einem leichten Beben in der Stimme.
» Nun komm mal her « sagte Robert und nahm mich in den Arm.
Er sah auf seine Uhr. » Shaun, es ist spät genug für einen… «
Mein Stern lächelte verhalten. » Ja, ich kenn deine Marke um diese Zeit « sagte er nur und ging in das Kellergewölbe.
» Komm, setz dich her « forderte Robert mich auf.
Ich nahm neben ihm am Tresen Platz. Genau dort, wo mich die Spinne gebissen hatte. Aber ich langte diesmal nicht unter die Stange aber komischerweise geriet ich auch nicht in Panik. Andere wären noch nicht mal mehr in die Nähe dieses Weinguts gekommen. Trotzdem sah ich meinen Verband genauer an.
» Wie du sicher schon weißt – Shaun hat sich bei uns geoutet. Wir haben das akzeptiert und er bleibt was er schon immer für uns war, ohne Einschränkungen. Aber seit du hier bist ist er anders. So fröhlich und ausgelassen haben wir ihn seit vier Jahren nicht mehr erlebt. «
Ich war drum und dran zu sagen was vor vier Jahren passiert war. Es nagte in mir und quälte mich.
Nadine kam in den kleinen Kellerraum, gefolgt von Wolfgang.
» Hallo zusammen « hörte ich sie, aber ihrer Stimme fehlte die übliche Fröhlichkeit.
Sie gaben Robert und Maureen die Hand und stellten sich gegenseitig vor.
» Na, dann nehmen Sie mal Platz. Shaun müsste gleich.. ah, da ist er ja. «
Shaun kam in den Raum, in der Hand eine Flasche Rotwein.
» Holst du ein paar Gläser mehr? « fragte Robert, » wir haben Gäste «.
Shaun lächelte ein bisschen und er schien sich zu freuen, die beiden wiederzusehen.
» Ja klar, «
» So, ohne langes herumgerede. Sie wissen dass Dario hier bleiben möchte? «
Robert war einer von der direkten Sorte, was mir irgendwie gefiel und ohne Umschweife kam er zum Thema.
» Ja, « antwortete Nadine, » er hat es am Telefon angedeutet. « Dabei schielte sie zu mir und ich war sicher, sie würde alles daransetzen um mir das zu ermöglichen. Wolfgang zwinkerte mir zu und mir wurde plötzlich ganz anders.
» Und, was meinen Sie dazu? « fragte Robert.
Nadine sah zu Wolfgang. » Also wir, mein Mann und ich, haben uns unterwegs ausgesprochen. Probleme gibt es mit Sicherheit nicht. Wir sind uns einig. Wenn er hier bleiben will, dann ist das okay . «
Ich verstand irgendwie nicht was da geredet wurde. Dass es um mich ging, dass ich hier bleiben könnte, dass ich mit Shaun zusammenbleiben durfte – mein Kopf begann zu dröhnen. Wieder so ein Traum, den ich dieser verdammten Spinne zu verdanken hatte? Glauben wollte und konnte ich es nicht, alles kam so plötzlich.
Shaun kam an den Tisch und stellte die Gläser darauf. Es war eine Augenweide, wie er das machte. Noch nie hatte ich jemanden beobachtet wie er Gläser hinstellt oder eine Flasche Wein kredenzt. Shaun war ein perfekter Meister darin. Elegant und anmutig. Seine doch zarten Hände handelten geschickt, jeder Griff saß. Wie sehr sehnte ich mich danach, dass mich diese Hände streichelten.
» Tja, Dario, das letzte Wort hast du « sagte Wolfgang. Mir wurde plötzlich klar, dass es nur noch an mir hing. Ich musste mich entscheiden.
» Darf ich.. ? « Mir war nach etwas zu trinken und ich deutete auf ein leeres Glas.
» Natürlich « antwortete Robert, » es geht ja um dich. Niemand wird dich zu etwas zwingen. Überleg dir, was tu tun willst. « Robert schenkte mir von dem Rotwein ein.
Was gab es zu überlegen? Shauns Blicke.. hätte ich sie nur deuten können.
Ich nahm einen großen Schluck, auch wenn mir klar war dass das wieder komisch aussah.
» Shaun, kommst du mal? « fragte ich danach.
Er nickte und folgte mir, hinunter in den Keller.
Wir gingen hin zu der vom heimeligen Kerzenlicht erhellten Ecke, in der wir schon einmal gestanden hatten. Und ich merkte, dass ich zitterte wie noch nie in meinem Leben zuvor.
Ich packte ihn an den Schultern.
» Shaun, du musst es ihnen sagen. Bitte, ich kann nicht alleine mit dem leben was du mir gesagt hast. Wir werden erst zur Ruhe kommen, wenn dieser Kerl geschnappt ist. «
Seine Augen glitzerten wieder und er wurde nervös. » Nein, ich kann das nicht. «
» Und warum nicht? Was soll passieren? Jeder dort oben wird dir helfen, ich inklusive. «
Es war noch nie meine Art, jemanden eine Pistole auf die Brust zu setzen, aber in diesem Augenblick wusste ich, dass ich es tun musste. Shaun war jetzt mein bester Freund, meine große Liebe.
» Zwing mich nicht dazu, « sagte er leise, » bitte. «
» Nein, das tue ich nicht. Ich habe die Möglichkeit bei dir zu bleiben, du hast es gehört. Aber ich kann das nur, wenn du deinen Frieden gefunden hast. «
Das schien er verstanden zu haben.
» Verdammt, ich helfe dir dabei. Du bist mein Freund und genauso werde ich mich dir gegenüber verhalten. Nur, den Anfang musst du machen. Wir kriegen dieses Schwein, egal wie. «
Meine Worte waren offensichtlich so deutlich, dass er keinen Widerspruch einlegte.
» Komm mit hoch, die Situation ist günstig. Und wenn du willst, ich kann das Wort für dich übernehmen. Bitte tu es, meinetwegen. «
Er nahm mich in die Arme. » Dario, ich habe Angst es ihnen zu sagen.. Die Erinnerung, sie ist so schrecklich deutlich geworden. «
» Ja, das glaube ich dir. Aber sie werden verstehen warum du es nicht gesagt hast. Nur, wenn du redest.. Shaun, du musst es tun. Dein Leben geht vor die Hunde wenn du deine Seele nicht befreist. «
» Aber du bist doch hier… jetzt.. «
» Ja, aber ich kann diese Last nicht alleine tragen, du musst mir helfen. Und zusammen mit den anderen da oben kriegen wir das hin. «
» Meinst du? «
Ich zog seinen Kopf zu mir und gab ihm einen Kuss. » Ich meine nicht, ich weiß es. Ich liebe dich und ich will hier bei dir bleiben. Bitte, Shaun, sag es. Mir und dir zuliebe. «
Ich vergrub meine Hände unter seinem T-Shirt auf seinem Rücken und streichelte seine warme, weiche Haut. Ihn zu spüren, zu fühlen, das war so großartig, ich wusste in diesem Moment dass ich meine Eltern nur wiedersehen würde, um mich von ihnen zu verabschieden. Daggi – sie konnte mich ja besuchen wenn sie wollte. Alles andere war ohne Bedeutung. Vielleicht war da noch Fritz, mein Banknachbar seit ewigen Zeiten. Aber Tränen würde mich das alles nicht kosten.
Nach diesen nachdenklichen Sekunden nahm ich Shaun am Arm. » Komm, ich bin bei dir. «
Obwohl Shaun größer ist als ich, kam er mir winzig vor.
Wir gingen nach oben und wir stellten uns an den Tresen. Alle Augen waren auf uns gerichtet, sie mussten geahnt haben dass wir etwas zu sagen hatten.
» Was habt ihr auf dem Herzen? « fragte Maureen folgerichtig.
Ich merkte, dass Shaun kein Wort heraus bringen würde und so lag es an mir. Ich war ihm nicht böse, aber es fiel mir nicht leicht.
Ich setzte mich, Shaun nahm neben mir Platz. Wieso kam ich mir eigentlich vor wie vor Gericht? Niemand hier würde uns verurteilen. Ich hob mein Glas und trank den Rest auf einen Zug leer. Dass ich dabei wieder ungläubige Blicke erntete war mir egal. Und ich erkannte jetzt den Geschmack jenes Rotweins wieder, den ich im Flugzeug getrunken hatte. Da, wo alles angefangen hatte. Und es durfte kein Ende nehmen. Niemals.
Dann begann ich zu reden. Wie ein Automat tat ich das. Ich ließ keine Kleinigkeit aus, musste nicht stottern, keine Worte suchen oder mich wiederholen.
Ich spürte wie mir der Schweiß die Stirn und an den Achselhöhlen herabtropfte, aber der Wein lockerte meine Zunge.
Als ich fertig war, fühlte ich mich elend und ausgebrannt. War es richtig, was ich getan hatte?
Ich sah auf. Sah diese Augen, die nun alle entsetzt auf Shaun gerichtet waren. Maureen hielt sich die Hände vor das Gesicht, Robert schien wie versteinert und Nadines Blick heftete an Wolfgang.
Die Stille war mörderisch. Ab und an knisterte eine Kerze, mehr war nicht zu hören.
Ich hatte meinen Arm um Shaun gelegt und zog ihn zu mir. Wieder war da dieses Beben in seinem Körper zu spüren. Ich fuhr mit einer Hand über sein Gesicht.
Tränen liefen Maureen über die Wangen, dabei blieb sie stumm, starrte nur auf ihren Sohn.
» Dieses Schwein. Noch heute werde ich es ihm heimzahlen. Shaun, du gibst mir sofort das Kennzeichen von diesem Auto. «
Robert war aufgebracht und ihm dann zu widersprechen schien nicht klug zu sein. Das wusste auch Shaun und kritzelte die Nummer auf einen Glasuntersetzer. Robert nahm ihn und stand sofort auf, gefolgt von Wolfgang.
» Geben Sie mir die Nummer, ich hab Beziehungen zum Amt. Alles andere hat keinen Sinn. Machen Sie sich nicht unglücklich. «
» Unglücklich? Ich? Mich? Nein, ich gehe freiwillig in den Knast. Was dieses Monster meinem Neffen angetan hat – das kann nicht ungesühnt bleiben. «
»Seien sie vernünftig « sagte Wolfgang, während sie die Treppe nach oben gingen.
Ich hielt Shaun weiter in meinem Arm.
» Junge, warum hast du nie etwas gesagt? «
» Mutter, ich hab so Angst gehabt er würde mir was antun.. «
Sie stand auf und ich ließ Shaun los. Sie umarmten sich und ich drehte mich weg. Welche Emotionen hatte ich ausgelöst? Egal, es war passiert und es war nötig.
Ich ließ die beiden alleine und ging nach oben.
» Dario? « Nadine war mir gefolgt.
» Ja? «
Sie lächelte mich an. » Es war richtig was du getan hast. Und du weißt, dass wir hinter euch stehen. Wolfgang wird in bald wissen wer dieses Auto gefahren hat und dann werden wir ja sehen was mit dem passiert. Mach dir keine Sorgen. Und wenn du wirklich hier bleiben willst – das ist alles kein Problem. «
Dieser Abend war so heftig, dass ich außer meinem Freund nichts und niemanden mehr sehen wollte. Nachdem Nadine, Wolfgang und Robert gegangen waren, zog ich mich mit Shaun in sein Zimmer zurück.
Im Bad sah ich in den Spiegel. Wirklich gut ging es mir nicht. Alles in mir war völlig aus den Fugen, ich konnte einfach keine klaren Gedanken fassen. Zwei Ereignisse verdrängten alle anderen Gedanken. Shauns schreckliches Erlebnis und dass ich hier bleiben würde.
Plötzlich stand Shaun hinter mir, wir betrachteten uns im Spiegel. Ich hatte einen kompletten Schlafanzug an, es war mir zu kühl in den Räumen. Wahrscheinlich wäre mein Schnucki nicht ins Bad gekommen wenn ich nackt gewesen wäre.
Ich drehte mich langsam zu ihm um. Seine Augen waren traurig, aber auch wieder nicht. Ich wollte etwas klarstellen zwischen uns, auch wenn er es vielleicht nicht so sah.
» Shaun, du weißt dass du immer noch der selbe für mich bist. Seit du mir dein Geheimnis anvertraut hast bist du so anders. Warum nur? Glaubst du, du bist nun jemand anderes? Warum distanzierst du dich so? «
Ich schien genau getroffen zu haben, seine Augen sprachen nun ganze Bände.
Ich näherte mich seinem Kopf – und er wich zurück.
Tränen kullerten aus seinen Augen. » Ich komm mir so schmutzig vor, so… «
Genau das hatte ich erwartet.
» Du… Shaun, ich will nicht dass du so denkst. Nicht über dich und nicht über mich. « Jetzt die richtigen Worte zu finden war schwer.
» Es tut verdammt weh wenn du so etwas sagst. Du bist mein Schnucki, vorher, jetzt, immer. Also hör auf dir darüber Gedanken zu machen, okay? «
Er schluchzte. » Ich.. versuchs. «
Wortlos legten wir uns auf sein Bett, jeder in sein Revier.
Die Spannung zwischen uns war zu spüren, sie lag förmlich in der Luft.
Im Zimmer war es nun Stockdunkel, aber ich spürte Shaun deutlich neben mir. Und wäre das alles nicht gewesen, wäre ich zu ich zu ihm gekrochen und hätte mich an ihn gekuschelt. Ich sehnte mich sosehr danach, aber nachdem was da passiert war traute ich mich nicht. Ich hatte Angst, er würde mich ablehnen. Ahnte ich doch was gerade in ihm vorging.
» Dario?«
» Ja?«
» Was werden sie jetzt tun, Onkel Robert und Wolfgang? «
» Ich weiß es nicht. Nur soviel, dass sie so lange keine Ruhe geben bis man das Schwein gefasst hat. Und aufhalten, denke ich, kann sie dabei niemand. Bitte, Shaun, lass uns abwarten. Wir fahren morgen weg, egal was passiert. «
Ich musste ihm Zeit geben. Und das beste was uns passieren konnte war wegzufahren. Wohin war eigentlich egal.
» Aber wenn die beiden zur Polizei gehen, dann wird man mich anhören wollen. Und ich bin dann nicht da. Findest du das richtig? «
Er hatte recht. Wenn wir wegfuhren, war alles umsonst.
Ich setzte mich auf. » Egal was da kommt, sie müssen warten bis wir zurück sind. « Ich war wild entschlossen, mit Shaun wegzufahren.
Aber es ließ mir keine Ruhe. Es war kurz vor elf als ich Wolfgang anrief.
» Hallo, hier ist Dario. Wolfgang, warst du schon bei der Polizei? «
» Ah, ich dachte nicht dass du noch auf bist, sonst hätte ich mich schon gemeldet. Ja. Herr Rustenburg und ich waren bei der Polizei. «
Ich sah unseren Ausflug wie eine Sternschnuppe abstürzen. Ich verfluchte mich, denn ich musste ja keine Ruhe geben.
» Und, was sagen die?«
» Tja, Shauns Peiniger hat das wohl schon öfter getan. Sechs mal genau. Aber bei seinem letzten Versuch, einen Jungen zu missbrauchen, ist er vor etwa einem Jahr an den Falschen geraten. «
Ich spürte mein Herz plötzlich am Hals klopfen, mein Mund wurde trocken und Schweiß trat trotz der Kühle aus meinen Poren.
» Ja und? « Meine Stimme zitterte.
» Der Junge hat in Notwehr mit einem Messer – naja, er hat ihm das abgeschnitten, was ihn irgendwann zum Tier hat werden lassen. «
Ich dachte eine Weile über Wolfgangs Worte nach, dann wurde mir klar was da passiert war. So furchtbar der Gedanke daran auch war, so erleichtert fühlte ich mich. Die Bestie hatte ihre gerechte Strafe bekommen.
» Er ist verblutet. Qualvoll muss sein Tod gewesen sein. Der Junge hatte nur ein paar Schrammen von dem Kampf abbekommen, aber sonst ist ihm nichts passiert « setzte Wolfgang fort.
Ich ahnte welche Beziehungen er und Robert haben mussten. Kein Mensch würde sonst solche Details jemals erfahren.
Ich holte tief Luft. » Danke, Wolfgang. Übrigens, Shaun und ich wollen morgen früh zum Cape Point. Zwei, vielleicht drei Tage… «
Er unterbrach mich. » Ja, Robert hat es mir gesagt. Hey, ihr beiden, macht euch eine schöne Zeit am Point. Es ist wunderschön dort. Lass mal was von euch hören und grüß mir Shaun. «
» Mach ich. Gute Nacht und ein Kuss an Nadine. «
Ich legte nachdenklich auf und sah zu Shaun, der das Gespräch nur von meiner Seite hatte hören können.
Ich beugte mich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er wich dabei nicht zurück was mich in dem Augenblick unheimlich glücklich machte.
» Was hat er gesagt? « fragte er leise und ängstlich.
» Man weiß, wo das Schwein ist « log ich, mehr oder weniger.

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