Nicht zum ersten Mal in letzter Zeit erwachte ich mit hämmernden Kopfschmerzen und steifen Gliedern. Ich lag bäuchlings ausgestreckt auf dem Waldboden und konnte mich kaum rühren. Mühselig blickte ich zur Seite, wo meine Klassenkameraden knieten und nach vorn schauten. War ich wieder mal der Letzte, der auf der Matte stand?
Grummelnd richtete ich mich umständlich in die gleiche Position auf und folgte ihren Blicken. Wir waren in den Wald auf eine kleine Lichtung verschleppt worden. Es war schon dunkel und nur ein kleines Lagerfeuer in der Mitte spendete etwas Licht. Dennoch konnte ich gut erkennen, was sich vor mir abspielte.
In ein paar Meter Entfernung lag, auf einer Decke gebettet, mein Laidarer und zwei Weitere beugten sich über ihn. Der Eine schien ihn zu untersuchen, schüttelte aber ständig den Kopf mit einem hilflosen Gesichtsausdruck. Der Andere wurde daraufhin immer wütender.
„Stümper! Wenn die so weiter machen, bringen die ihn noch um“, maulte Phil neben mir und handelte sich damit eine Kopfnuss von dem Soldaten ein, der uns bewachen sollte.
„Hey!“, rief auf einmal Shawn laut, dem das alles genauso wie mir gegen den Strich ging, und setzte noch was auf laidarisch nach.
War der eine Typ vorher schon wütend gewesen, sprühte er nun vor Zorn. Mit weiten Schritten stapfte er auf uns zu und brüllte unverständliche Worte. Hätte ich doch nur besser beim Sprachenunterricht vom Spitzensportler aufgepasst. Der bekam nicht mal die Möglichkeit, etwas zu erwidern, da der eine Soldat abermals auf ihn einschlug.
Daraufhin tickte Juli komplett aus. Keine Ahnung wie sie es geschafft hatte, ihre Fesseln zu durchtrennen, doch plötzlich ging sie auf den Soldaten los und schlug ihn nieder. Wir Anderen reagierten einfach mit. Einen knappen Zauberspruch später war ich, genau wie meine Klassenkameraden, frei.
Ohne uns abzusprechen stürmten wir in die gleiche Richtung, nach vorn, direkt zu unserem Laidarer. Unsere Gegner waren dermaßen überrascht, dass sie sich ganz leicht beiseite stoßen ließen. Kaum am Ziel angekommen, baute Shawn um uns herum ein Schutzschild auf, dass jeden anderen auf Abstand hielt. Phil ließ seine Hände über unseren Freund gleiten, um sich einen Überblick über dessen Zustand zu machen. Seufzend sah er zu mir auf.
„Das Gift hat ganze Arbeit geleistet.“
Leichte Panik breitete sich in mir aus.
„Aber du packst das doch, oder?“, fragte ich fast schon zu ängstlich.
„Nicht ohne Hilfe. Ich muss in jede auch noch so kleinste Ader eindringen und das Gift aussaugen, wie bei einer Spritze, die man aufzieht. Allerdings besitze ich nicht genügend magische Kraft, um das allein zu bewerkstelligen.“
Ich setzte mich neben ihm ab.
„Und was wäre, wenn ich dir meine abgebe? Ich meine, ich kann’s zwar nicht kontrollieren, aber…“ Mitten im Satz brach ich ab. Lange hatte ich mich nicht mehr so hilflos gefühlt. Phil grinste nur schief.
„Leg deine Hand auf meine Schulter und konzentriere dich auf mich und zwar nur auf mich. Den Rest mach ich.“
Ich nickte aufgeregt, setzte mich in eine halbwegs bequeme Position und tat wie mir geheißen. Tief atmete ich durch und versuchte alles um mich herum auszublenden. Shawn, der Julis Kraft anzapfte, um das Schutzschild so lange wie nur möglich aufrecht zu erhalten, die Soldaten, die immer energischer mit ihren Waffen dagegen schlugen und diesen einen Typen, der sich blind vor Wut brüllen gegen das Schild warf und wilde Verwünschungen auf laidarisch uns entgegen schrie.
Ganz langsam breitete sich die gewünschte Ruhe in mir aus. Nur noch Phil beherrschte mein Denken und seine leichte, magische Berührung. Es fühlte sich fast so an, als würde ich Blut spenden. Ich spürte regelrecht, wie die Magie aus mir heraus sickerte langsam, stetig, unaufhaltsam, bis mir immer wärmer und ich immer schläfriger wurde. Und ohne es zu wollen, beziehungsweise ohne es richtig zu bemerken, triftete ich ab in ruhige gemütliche Dunkelheit.
Es war ein nerviges Gerüttel, was mich aus meinen süßen Träumen riss. Dabei hatte sich doch gerade mein Laidarer so wohlig halbnackt unter mir gewunden. Missmutig öffnete ich langsam meine Augen und fand mich auf einen mit etwas Heu ausgelegten Pferdekarren wieder, was mir nervig ins Gesicht stach.
„Na Schlafmütze, wieder unter den Lebenden?“, lächelte mich Juliana liebevoll von oben herab an.
Ich grummelte nur und versuchte mich in die gleiche, sitzende Position wie sie aufzurichten, was mit auf den Rücken gebundenen Händen gar nicht so einfach war. Nebenbei rumpelte der Karren hart über den Waldboden, dass das Holz nur so knarzte.
„Die Anderen?“, fragte ich immer noch nicht richtig wach.
„Einen Wagen weiter vor uns. Denen geht es gut. Beide halten Augen und Ohren offen. Leider erzählen die Kameraden nicht viel.“
Juli deutete auf die Soldaten, die flankierend neben uns her ritten. Neugierig sah ich mich um und entdeckte etwas weiter vorn meinen Laidarer. Er saß auf einem Pferd zusammen mit dem Typen, der letzte Nacht so wild getobt und uns beschimpft hatte.
Es war schon seltsam, wie sehr es mich störte, dass er einem anderen Mann so nahe war, seinen Kopf an den breiten Rücken des Vordermannes geschmiegt, die Augen geschlossen, mit einem entspannten Gesichtsausdruck. Als hätte er bemerkt, dass ich ihn beobachtete, hob er seinen Kopf und schaute mich direkt an.
Fast wie beim ersten Mal kribbelte mein gesamter Körper, wie in einem Bienenstock. Und als der Laidarer noch die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln verzog, machte mein Herz riesige Schläge. Allerdings passte das dem Typen vor ihm gar nicht.
Als dieser nämlich merkte, dass der Kleine zu mir schaute, verzog er verärgert das Gesicht und gab seinem Pferd die Sporen. Das Tier machte wiehernd einen Satz nach vorne, worauf mein Laidarer sich erschrocken am Vordermann festklammerte. Als der Typ mit ihm sich vor zwei anderen Soldaten einreihte und ich beide somit aus dem Blick verlor, schwirrte nur ein Wort durch meinen Kopf: „Wichser!“ Juliana stupste mit ihrem Fuß an meinen und unterbrach damit meine bösen Gedanken.
„Ruhig Blut, Lucian. Sein Onkel will für ihn nur das Beste“, sagte sie beschwichtigend und lächelte mich lieb an.
Sein Onkel also… gut zu wissen. Mal davon abgesehen beruhigte es mich ungemein, dass es meinem Laidarer gut zu gehen schien. Der restliche Tag verlief so dermaßen ereignislos, dass es einem nach den ganzen Vorfällen richtig Angst machte. Und es war sau unbequem. Ein Königreich für ein Landrover Evouque.
Die Sonne war fast ganz untergegangen, als wir bei einem kleinen Bauernhof Halt machten. Samt der beiden Karren wurden meine Klassenkameraden und ich in eine große Scheune gebracht und jeder in eine andere Ecke verfrachtet. Als würde uns diese Maßnahme davon abhalten, miteinander zu kommunizieren, schließlich hatten wir unseren coolen MMS-Trick per Magie auf Lager.
So warteten wir also die späte Nacht ab, bis unsere Wachen müde und nachlässig wurden, überwältigten diese und trafen uns in der Mitte der Scheune, wo am Rand in einer Pferdebox haufenweise Stroh gelagert wurde. In unseren Gesichtern stand dieselbe Frage: Was nun? Shawn schnaufte kurz und gab dann zum Besten, was er bisher rausbekommen hatte.
„Unsere ‚Gastgeber‘ sind Laidarer, die den äußersten Wachposten des Landes von hier aus mit Nahrungsmitteln und allem Nötigen versorgen. Der Anführer der Grenztruppen von diesem Landesabschnitt ist Tarin und der Onkel unseres Freundes. Er war wohl die ganze Zeit übel agro drauf, seit der Kleine vermisst wurde, weil dieser bei einer Lieferung unter seinem persönlichen Kommando ausgebüxt ist. Dieser Typ traut niemandem, außer seiner eigenen Familie.“
Wahnsinn. Das waren ja mal gute Aussichten.
„Und wo wollen die nun mit uns hin?“ Diese Frage brannte mir am meisten auf der Zunge. Allein die Vorstellung, wieder irgendwo eingesperrt zu werden, passte mir gar nicht.
„Zwei lange Tagesmärsche von hier gibt es eine kleine Stadt. Dann redeten die noch von einem Orakel oder Medium oder so etwas. Genau konnte ich es nicht übersetzen“, meinte Shawn zerknirscht und sah uns entschuldigend an.
„Klingt doch schon mal besser als Kerker“, sagte Juli aufmunternd und ließ sich der Länge nach ins Stroh fallen. „Von den Leuten hier spüre ich auf jeden Fall keine Gefahr ausgehen, also schlage ich vor, wir ruhen uns endlich mal etwas aus und lassen den Rest auf uns zu kommen. Mein neuer Spiderinstinkt wird uns schon früh genug vorwarnen.“
Philip zuckte mit den Schultern und machte es sich neben seiner Freundin bequem.
„Na so lange du mir nicht die Wände raufkrabbelst.“
„Heute nicht mehr“, antwortete sie müde und kuschelte sich an den Heiler ran.
Kurze Eifersucht durchzuckte mein Herz, als ich die Beiden so beisammen liegen sah, und dachte wieder an meinen Laidarer. Doch ein freundschaftlicher Klaps des Redners auf meinen Rücken und ein verstehendes Lächeln ließ mich schwer seufzen. Dann suchte ich mir gleichsam eine bequem aussehende Ecke und kuschelte mich ins Stroh. Wenige Minuten später glitt ich in einen ruhigen Schlaf, nicht ohne die verlockend süßen Lippen meines Retters ganz nah vor meinen Augen.
Selbst am nächsten Morgen glaubte ich noch, diese verführerisch nah an meinem Hals zu spüren. Ich reckte mich wohlig und schmiegte mich tiefer in die Arme des warmen Körpers neben mir. Dieser seufzte genüsslich auf und zog mich dichter zu sich. Der leckere Duft von frischem Brot und gutem Käse, welcher hauchzart in der Luft lag, rundete das Ganze perfekt ab.
„Na mein Kätzchen“, wisperte es neben mir, während eine freche Hand mutig über meine Hüfte glitt.
Augenblicklich hatte ich mich komplett versteift. Gleichzeitig rissen wir die Augen auf und starrten uns entsetzt an. Wild um uns schlagend, versuchten wir uns voneinander zu lösen und schubsten den jeweils Anderen weitmöglichst von einem weg.
„Alter, geht’s noch?! Lass deine verschwulten Hände gefälligst bei dir!“, motzte mich Shawn an, worauf ich natürlich genauso angepisst antwortete.
„Spinnst du?! Wer ist hier denn wem an den Arsch gegangen! Du hast dich doch regelrecht an mich ran gepresst! Will nur für dich hoffen, dass ich davon keine Ekelpickel bekomme!“
Angriffslustig funkelten wir uns an. Man, das Ganze war ja auch verdammt peinlich. Juli begann sich etwas zu regen und rüttelte mit geschlossenen Augen an Phils Schulter, der daraufhin mürrisch knurrte.
„Schatz… die Kinder sind wach…“, murmelte sie verschlafen.
Watt?!? Ein Blick zu Shawn reichte aus und wir waren uns einig. Der Redner nickte auf den Wassereimer neben mir, worauf ich genauso fies zu grinsen begann wie er. Dann wollen wir den Beiden ach so Erwachsenen zeigen, wie kindisch wir wirklich sein konnten! Vorsichtig schlich Shawn zu mir und gemeinsam hoben wir den Holzeimer hoch.
„Wagt es euch ja nicht!“, warnte Juliana, noch immer mit geschlossenen Augen.
Dabei waren wir doch so gut wie lautlos gewesen. Fragend sah ich zu meinem Klassenkameraden, doch der zuckte nur mit den Schultern. Also dann, bei drei. Eins… zwei… drei!!! Geräuschvoll landete das Wasser auf dem Stroh, ohne das Pärchen im geringsten berührt zu haben.
Diese hatten sich blitzschnell beiseite gerollt und bewarfen uns nun mit Stroh. Eine kleine Schlacht entbrannte. Gegenseitig versuchten wir uns, die groben Halme unter die Kleidung zu stopfen, die dort nervig juckten. Es tat dermaßen gut, sich unbeschwert wie ein kleines Kind zu balgen, dass ich aus dem Lachen nicht mehr rauskam.
Darüber hinaus packte ich es nicht mehr mich zu wehren, weshalb sich alle Drei auf Einmal auf mich stürzten. Ich versuchte nach hinten auszuweichen, rutschte allerdings auf einer Pfütze aus und landete mit rudernden Armen schmerzhaft auf meinem Hinterteil. Die Nummer war wohl filmreif, da sich meine Klassenkameraden vor Lachen überhaupt nicht mehr einkriegten. Stöhnend ließ ich mich nach hinten auf den Rücken fallen und konnte mir selbst ein Grinsen nicht verkneifen.
Doch kaum dass ich lag, blickte ich in zwei strahlende Augen. Mit schief gelegtem Kopf sah mein Laidarer mich an, seine Brauen leicht zusammengezogen. Als jemand von draußen rief, dreht er sich erschrocken weg, sprang auf und rannte aus der Scheune. Von diesem kurzen Augenblick war ich dermaßen gefesselt, dass ich erst ein paar Sekunden brauchte, bis ich mich wieder rühren konnte.
Schwerfällig wie ein gestrandeter Wal, drehte ich mich um, quälte mich auf die Füße und schaute meinem Laidarer hinterher, der am Eingang der Scheune stand. Tarin hatte sich vor ihm aufgebaut und schien ihm eine Moralpredigt zu halten. Doch irgendwas passte meinem Kleinen gar nicht, denn er entgegnete etwas knapp, ließ dann seinen Onkel einfach so stehen und stapfte davon. Tarin bemerkte, dass ich sie beobachtete und blickte mich finster an. Trotzig schaute ich zurück, bis er sich schlussendlich abwandte und verschwand.
„Na, wieder dabei, dir Freunde anzuschaffen?“, fragte Shawn grinsend, schlug mir freundschaftlich auf den Rücken und drückte mir dann ein Stück Käse und Brot in die Hand.
Grübelnd setzte ich mich zu den Anderen, die sich um das Tablett scharrten, auf denen sich lauter leckere Sachen stapelten. Unsere Wachen waren auch wieder munter und standen mit knurrenden Mägen in einiger Entfernung, um wenigstens den Anschein zu bewahren, dass sie ihrer Arbeit nachkamen.
Philips Gabe ließ sich einfach nicht unterdrücken. Also zweigten wir etwas von unserem Frühstück ab und reichten es den verblüfft dreinschauenden Soldaten. Nach kurzem Zögern und einen suchenden Blick in die Runde, dass sie auch nicht beobachtet wurden, nahmen die Männer das Essen dankend entgegen und stopften es sich hastig in den Mund. Tarin schien seine Leute mit straffer Hand zu führen.
Im Gegenzug zu der kleinen Spende erhielt Phil ein paar Informationen. Wir waren auf den Weg nach Bagkar, der ersten Stadt hinter der Grenze, in der angeblich eine wunderschöne Zauberin lebte. Ab und an sprachen die Götter zu ihr, weswegen viele dorthin pilgerten, um Antworten auf quälende Fragen zu erhalten.
Manch einer behauptete, dass sie ein direkter Nachkomme des mächtigen Magiers wäre, der damals dem alten König zur Seite stand, welcher einst über beide Länder herrschte. Viele taten es aber auch als simples Gerücht ab, um mehr Touristen nach Bagkar zu locken. Vorerst war uns das egal. Hauptsache wir kamen so weit wie nur möglich von Noraylia weg.
Tarin hatte wohl begriffen, dass man uns nicht so leicht fesseln konnte, weswegen wir vier zwei Pferde zugeteilt bekamen. Gut, es waren alte Klepper, die so aussahen, als würden sie jeden Augenblick unter dem Gewicht der Satteldecke zusammenbrechen. Aber immer noch besser als der unbequeme Holzwagen.
So ritten wir also Richtung Bagkar, gut gesichert von vier Soldaten, die uns flankierten, obwohl diese ahnten, dass sie gegen uns kaum ankämen, wenn wir es drauf anlegen würden. Wir spielten das Spiel vorerst mit und wechselten uns bei den Tieren mehrmals ab, um diese zu schonen.
Die Soldaten musterten uns verstohlen und in jeder Pause merkten wir, wie sie heimlich tuschelten. Doch kaum war ein Mann mal nett zu uns, sei es nur ein knappes Lächeln bei der Essenausgabe, ging Tarin sofort dazwischen und motzte seine Leute an. Selbst meinen Laidarer bekam ich kaum noch zu Gesicht und wenn, kribbelte mein Magen wie verrückt, als hätte ich zu viel Brausepulver genascht.
Bis Bagkar war es nicht mehr weit, wohl nur noch wenige Kilometer, was man an der Stimmung der Soldaten deutlich merkte. Sie wirkten erleichtert und waren irgendwie gelassener – und nicht mehr so aufmerksam. Wie ein paar Tage zuvor stellten sich mir die Nackenhaare auf und ich bekam eine kribbelnde Gänsehaut.
Nervös blickte ich zu meinen Klassenkameraden, die von den Pferden abstiegen und sich gleichsam beunruhigt umschauten. Trotz dass es helllichter Tag war, schien es mir so, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Alles wirkte mit einmal viel düsterer und kälter als zuvor.
„Ich gebe Tarin Bescheid“, sagte Shawn knapp und lief ein Stück voraus. Doch nach wenigen Minuten kam er kopfschüttelnd zurück. Eine Bunkerwand wäre zugänglicher gewesen, als dieser Sturkopf.
Dann brach es wie ein Wolkenbruch über uns herein. Seltsame Kreaturen sprangen aus den Büschen und von den Bäumen, umringten die kleine Gruppe und begannen, diese zu attackieren. Schnell presste Shawn seine flache Hand auf den Boden und errichtete ein großes Schutzschild, welches jeden Reiter mit einschloss.
Die hyänenartigen Figuren waren allerdings flinke Gefährten. Noch bevor der Kreis sich komplett schloss, packten die sich einen Soldaten und rissen ihn an sich. Während die anderen Männer vor Schreck erstarrten, schnappte sich Juli ein Schwert von denen und rannte brüllen auf die Kreaturen zu. Mit kurzen Sätzen erreichte sie den Soldaten, befreite ihn aus den Klauen der Wesen und schubste ihn Richtung Schutzschild.
Shawn indes begann zu stöhnen und ein leichter Schweißfilm bildete sich auf seine Stirn. Ohne groß zu fragen, langte er mir ans Bein und zapfte sich etwas von meiner Magie ab. Sofort atmete er erleichtert aus, als hätte er einen Energy-Drink zu sich genommen. Ich schaute genervt auf ihn herab, während er nur entschuldigend grinsend mit den Schultern zuckte.
Derweil stolperte Juli zu uns, den verwundeten Soldaten im Schlepptau. Kundig untersuchte Phil ihn rasch, doch man sah von Weitem, dass es nicht gut um ihn stand. Es sah fast so aus, als hätten die Viecher versucht, ihn aufzufressen. Überall klafften Bisswunden, aus denen stetig Blut floss. An anderen Stellen waren ganze Stücke Fleisch herausgerissen.
Auch Philip fragte nicht erst um Erlaubnis, sondern langte einfach nach meinem Bein und begann mit der Heilung. Verdammt noch mal, sah ich etwa aus wie ne Batterie oder was?! Das seltsame an der ganzen Sache war, dass es mich energietechnisch überhaupt nicht juckte. Zwar spürte ich, dass mir meine Klassenkameraden Kraft abzapften, aber es war so, als würde man aus einem tiefen Bergsee zwei Eimer Wasser schöpfen.
Tarin kam gerade dazu, als der Soldat wieder röchelnd Luft holte. Mit großen Augen half er dem Mann auf, besah sich dessen zerfetzte Kleidung und dann Phil. Keine Ahnung was er darauf sagte, aber es klang nach einem steifen Danke.
Während die Kreaturen immer aggressiver auf das Schutzschild einhämmerten und die Soldaten darin immer dichter zusammen rückten, diskutierten Shawn, Phil und Tarin, was nun zu tun sei. Selbst Juliana schien nicht jedes Wort zu verstehen, denn auch sie hatte genau wie ich ein riesiges Fragezeichen im Gesicht.
„Normal sind die Guhla harmlose Kreaturen, die vollkommen menschenscheu in den nordöstlichen Bergen wohnen. Deswegen waren alle so perplex, diese hier anzutreffen – und vor allem so angriffslustig. Irgendetwas stimmt da nicht, dessen sind wir uns einig“, begann Shawn kurz darauf zu erklären. „Keine Ahnung wie lange ich das Schild aufrechthalten kann, aber es ist eh zu gefährlich, die Kreaturen bis in die Stadt zu locken. Die äußeren Häuser wären komplett schutzlos.“
„Bekämpfen hingegen wird auch schwierig werden“, mischte sich Juli ein. „Als ich mit meinem Schwert auf die Viecher einschlug, hatte ich das Gefühl auf Stein zu schlagen.“
„Die Guhla haben eine schuppenartige Haut. Stell dir einfach eine Mischung aus Drachen und Hyäne vor. Rayka erzählte mal, dass die Zähne heißbegehrt sind, aus deren Splitter man die besten Nadeln fertigt“, fügte Philip hinzu.
„Toll, und was machen wir nun?“, fragte ich genervt, um einige Informationen reicher, aber nicht viel schlauer als vorher.
Ein einziger Laidarer nahm uns allen die Entscheidung ab. Mit zwei gezückten Langdolchen sprang mein Kleiner aus dem Schutzschild, direkt vor die Kreaturen und fauchte diese an. Wie eine gereizte Wildkatze, beleckte er die Zähne und schlich um sie herum, als wären die das Opfer und nicht er.
„Arcir!“ Tarins Ruf hallte über den Weg und Juli konnte ihn mit Phil gerade noch davon abhalten, seinen Neffen nachzulaufen. Auf mich achtete jedoch keiner.
Allein als so ein Vieh nach meinem Kleinen schnappte, sah ich rot. Wütend stieß ich die Kreaturen beiseite, bis ich Rücken an Rücken mit meinem Laidarer stand. Zwar wären mir andere Umstände lieber gewesen, trotzdem genoss ich seine Nähe, spürte, wie seine Schultern vor Aufregung auf und ab wippten. Und dann seine Stimme, die mein Innerstes zum vibrieren brachte.
„Du darfst sie nicht töten!“
Wahnsinn… ich darf sie nicht… Plötzlich wachte ich aus meinem Tagtraum auf.
„Was?!“, fragte ich entgeistert. Er wandte seinen Kopf ein kleines Stück, um mich eine Millisekunde anzuschauen.
„Nicht töten!“, wiederholte er nachdrücklich.
Ich konnte mich echt nicht entscheiden, ob ich ihn als komplett irre oder absolut heiß abstempeln sollte, bei diesem krassen Funkeln in seinen Augen. Allerdings stellte sich mir sofort eine neue Frage: Was machte der Typ hier draußen, wenn er die Viecher nicht killen wollte? Der Eindruck lag nahe, dass er es selbst nicht wusste.
Die Kreaturen versperrten von allen Seiten den Weg, weshalb unsere Leute nicht vom Fleck kamen. Sie weglocken funktionierte auch nicht. Langsam ging mir das Ganze echt auf den Keks. Die Schwachstellen der Guhla waren einfach herauszufinden. Kopf und Schwanz waren die einzigen Körperteile, die nicht mit steinharten Schuppen bedeckt waren. Also hämmerte ich wie blöde auf sie ein, ohne sie weiter zu verletzen.
Allerdings nahmen die Wesen weniger Rücksicht auf uns. Mein Hemd war schon komplett zerfetzt und ein paar größere Kratzer hatte ich mir auch eingefangen. Shawns Schutzschild begann zu flackern und auch Arcir schien langsamer zu werden. Diese Kreaturen rochen ihren Chance und legten an Tempo zu.
Sie waren unglaublich kräftig und schnell, weswegen wir selbst mit unserer kleinen Überzahl kaum etwas gegen sie ausrichten könnten. Dass mein Laidarer und ich die wenigen Minuten außerhalb des Schutzschildes überlebten, verdankten wir einer Megaportion Glück und Juliana, samt einigen Soldaten, die die Viecher mit Pfeilen so gut es ging im Schach hielten.
Ich überlegte weiterhin fieberhaft, was wir noch tun könnten, als Arcir von einem Guhla gepackt und zur Seite geschleudert wurde. Unwillkürlich drängte sich mir die Szene unserer ersten Begegnung auf, als der Drache kurz davor war, ihn aufzuschlitzen. Nur meinetwegen war er damals so schwer verletzt worden, dass schlussendlich die Noraylier ihn zu fassen bekamen.
„Nein!“
Brüllend vor Wut versuchte ich mich zu ihm durchzuschlagen, aber für mich allein ohne Rückendeckung waren es einfach zu viele. Dennoch kämpfte ich wie wild und vergaß darüber hinaus Arcirs Bitte. Der Krieger in mir übernahm. Wie bei einem einstudierten Tanz, drehte und wendete ich mich, packte das Heft des Langdolches fester und stach zu.
Das Wesen brach sofort zusammen, direkt in meine Arme. Angewidert holte ich mit einem Ruck meinen Dolch aus der Halsbeuge des Gegners heraus und wollte ihn achtlos von mir wegstoßen, als ich in dessen Augen blickte. Es war, als würde sich darin ein Nebel lösen. Die Mattheit verschwand und zurück blieben glänzende, schwarze Pupillen, die einen treu und fast schon erleichtert anschauten, als wären sie dankbar für diese Erlösung.
Mein Herz krampfte sich zusammen, wie unter dem Druck einer kalten Faust und auch das leichte Kribbeln in meinen Fingerspitzen entging mir nicht. Da war Magie im Spiel – und endlich begriff ich die Bitte meines Laidarers. Suchend blickte ich über den Weg und fand den Kleinen entwaffnet und arg in Bedrängnis geraten vor.
„Arcir!“
Gezielt warf ich ihm meinen Dolch zu, der knapp neben ihm im Boden stecken blieb. Natürlich erkannte er seine alte Waffe sofort und sah verblüfft zu mir.
„Ich glaube der gehört dir“, meinte ich grinsend, wobei mir vollkommen egal war, ob er meine Worte überhaupt verstand.
Zufrieden sah ich mit an, wie der Kleine sich befreite und die Kreaturen wieder auf Abstand hielt. Ich indes schaute mich um. Der Tod des einen Guhla schien die Anderen vorerst von mir abzuschrecken, was mir kostbare Zeit einbrachte. Ich musste das Innere dieser Wesen berühren, um den seltsamen Nebel zu vertreiben – und zwar schnell.
Mit weichen Knien setzte ich mich auf den Boden und schloss entgegen aller Vernunft die Augen. Sacht versuchte ich mich zu öffnen, ließ ganz langsam meinen Geist frei. Es war atemberaubend, was ich sah. Noch immer saß ich am Rande des Weges im Gras und doch sah alles anders aus.
Die Umgebung wirkte getrübt und die Leute erkannte ich nur schemenhaft. Ich sah lediglich deren Umrisse und ein Licht, welches jeder inne hatte. Meine Klassenkameraden leuchteten in einem grellen Goldton, die Soldaten in einem schlichten Weiß. Tarin hatte einen leichten Blaustich, während Arcir von den Guhla komplett überdeckt wurde.
Diese leuchteten Gelb, waren allerdings von schwarzen Fäden durchsetzt. Die Dunkelheit schmeckte ich fast auf der Zunge, bitter und eklig wie miese Medizin. Geprägt vom Grimms Märchen, stellte ich mir, wie bei Dornröschen, eine Spule von einer Spindel vor und ließ von ihr alle schwarzen Fäden aufwickeln.
Die Kreaturen spürten den Angriff auf der anderen Ebene und wandten sich wieder mir zu. Doch ich blieb verbissen und versuchte das Tempo zu erhöhen. Nur nebenher bekam ich mit, wie die Soldaten ihre letzten Pfeile verschossen, wie Juli selbst aus dem Schild sprang, um mir beizustehen. Wie Arcir jedes Vieh zur Seite stieß, welches mir zu nahe kam.
Schweiß lief mir in Bächen den Rücken hinunter, als ich es endlich geschafft hatte. Mit Mühe und Not wechselte ich wieder auf die „normale“ Ebene, sammelte einen Feuerball und schleuderte ihn gegen die Spule, welche mit einem lauten Knall explodierte. Dann war alles still.
Mit klopfendem Herzen sah ich mich um. Die Guhla standen ruhig da und sahen sich verwirrt um, als wären sie gerade eben erst aufgewacht. Arcir stand ganz dicht vor einem und hielt ihm seine Hand hin. Tatsächlich schnupperte die Kreatur wie ein scheuer Hund daran und ließ sich dann genüsslich hinterm Ohr kraulen.
Erst als Tarin rufend und mit weit ausgebreiteten Armen über den Weg lief, blickten die Wesen auf und rannten wie aufgescheuchte Rehe davon. Wütend schaute mein Kleiner seinen Onkel an, der aufgebracht auf ihn zu stapfte, eine wilde Standpauke vor sich herschiebend.
Ich beachtete die Beiden nicht weiter, sondern kniete mich vor den getöteten Guhla nieder und schloss dessen Lider. Wo war nur dieses tolle Gefühl, den Gegner besiegt zu haben, wie es immer in den Filmen dargestellt wurde? In Narnia töteten selbst Kinder ohne mit der Wimper zu zucken andere Lebewesen und hatten hinterher nicht mal ein schlechtes Gewissen. Ich dagegen fühlte mich beschissen. Jemand kampfunfähig zu machen war das eine, jemanden umzubringen etwas vollkommen anderes.
„Es tut mir so leid“, flüsterte ich erstickend.
Erst als jemand meine Schulter berührte, sah ich auf. Arcir schaute mich verständnisvoll an und deutete in den Wald, wo ein paar Soldaten ein Grab aushoben. Dankbar nickend hob ich den Leichnam auf und legte ihn vorsichtig in das Erdloch ab. Mein Laidarer flüsterte noch irgendetwas sehr rituell Klingendes, bevor er den Guhla mit einem Tuch abdeckte und die Soldaten das Grab zuschaufelten.
Die restlichen Stunden des Weges verliefen sehr ruhig. Eine drückende Stimmung hatte sich über die Gruppe gelegt. Jeder fragte sich, wer so niederträchtig gewesen war, diese scheuen und zurückgezogen lebenden Wesen zu verhexen und aus den Bergen, ihrer eigentlichen Heimat, so weit ins Flachland zu vertreiben.
Einige Soldaten waren dermaßen perplex, sie überhaupt zu Gesicht bekommen zu haben und dann noch so angriffslustig, dass sie sich vor Verwunderung überhaupt nicht rühren konnten. Nur eine extrem bösartige Kreatur würde diese Urwesen mit einem Fluch belegen, dessen waren sich alle sicher. Und genau das machte ihnen Angst.
Erst als die Bäume endgültig einem weiten Tal wichen und man aus der Ferne eine Stadt erkennen konnte, erhellten sich die Gemüter wieder. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter oder auf den Rücken und lächelte erleichtert. Das war also unser Ziel, Bagkar.
Im Gegensatz zu Ivara war diese eher klein. Aber schon von Weitem spürte man deren offene Freundlichkeit, die einen magisch anzog. Und je näher wir kamen, desto mehr verstärkte sich der Eindruck. Statt engen grauen Gassen gab es viele, überwiegend einzeln stehende Häuser mit sandfarbenem Anstrich. Manche besaßen sogar einen kleinen Gemüsegarten und hier und da waren selbst Bäume oder Buschgruppen mitten in der Stadt zu sehen.
Alles hatte einen orientalischen Touch, die Menschen, die Gebäude, als hätte man Aladins Bagdad in einer grünen Oase neu aufgebaut, nur mit milderem Klima. Selbst der Empfang war anders, irgendwie wärmer, als in Ivara. Meine Klassenkameraden und ich waren extra von den Pferden abgestiegen und versteckten uns zwischen ihnen, da wir etwas Angst hatten, wie in der letzten Hauptstadt „begrüßt“ zu werden.
Doch uns beachtete überhaupt niemand. Alle Aufmerksamkeit hatte sich auf Arcir gerichtet, der sichtlich verspannt ein Stück vor uns her ritt. Ungläubig ließen die Menschen ihre Arbeit liegen und starrten ihn an. Einige hatten sogar die Hände vor den Mund geschlagen und waren den Tränen nahe. Andere berührten ihn am Bein oder Fuß und murmelten Sachen wie:
„Den Göttern sei Dank“ oder „Die Götter seien gepriesen“, wie Shawn übersetzte.
In der Mitte der Stadt ragte eine gute drei Meter hohe Mauer empor, die sich kreisrund um eine Art Klostergebäude mit mehreren kleinen Häusern wand. Wir steuerten direkt auf den Eingang zu, zwei riesige Tore aus Holz, welche einladend für jeden offen standen.
Kurz davor hielt Arcir an, als würde ihn der Mut verlassen, den Weg weiterzugehen. Erst als Tarin ihm die Hand auf die Schulter legte und meinem Laidarer aufmunternd zunickte, ritt er langsam weiter. Ich ertappte mich dabei, mich an Tarins Stelle zu wünschen.
Ein warmes Kribbeln durchflutete meinen Bauch, als ich mir vorstellte, wie ich Arcir tröstend berührte, er mich mit seinen leuchtenden Augen anschaute und daraufhin neue Kraft schöpfte. Andererseits verkrampfte sich mein Magen, weil ich ganz genau wusste, dass wir von innerer Nähe und Verbundenheit Meilen entfernt waren. Ständig schwankte ich zwischen dem Verlangen, ihm so nahe wie möglich sein zu wollen und meinem stetig wachsenden, schlechten Gewissen, wegen dem, was er alles bisher durchleiden musste.
Gemächlich ritten wir durch die Tore, an den wenigen Wachen vorbei, dem Weg folgend auf einen kleinen Platz zu, in dessen Mitte ein schmales Podest stand. Oder war es doch ein Hügel? Zwischen den sandfarbenen Pflastersteinen sprießte saftiges Grün, was allem eine natürliche Note verlieh und ich unmöglich sagen konnte, was von Menschenhand erschaffen worden war und was nicht.
Menschen in ungebleichten Tuniken hatten sich um das Podest versammelt, auf dem eine Frau stand, deren hellbraune Locken ihr knapp über die Schulter fielen. Ohne meinen Geist in andere Sphären schicken zu müssen, erkannte ich ihre silberfarbene Aura, die leicht wie ein Seidenschal ihren Körper umgab. Ohne Zweifel, das war das Medium der Götter.
Mit einer nicht zu deutenden Miene schaute sie auf die kleine Gruppe hinab und schien auf irgendetwas zu warten. Die Soldaten indes stiegen von den Pferden ab, ließen diese ein Stück beiseite und knieten sich dann mit gesenktem Haupt vor der Frau nieder. Um nicht unhöflich zu erscheinen, machten das meine Klassenkameraden und ich erstmal nach. Dennoch wagte ich einen heimlichen Blick zwischen meinem langen Pony hindurch nach vorn.
Das Medium reckte erst herrisch ihr Kinn, doch als ihr Blick auf Arcir fiel, wirkte sie besorgt und erleichtert zugleich. Noch ehe sie irgendetwas sagen konnte, wurden hinter ihr Stimmen laut. Ein bulliger Typ quetschte sich zwischen die Menge und sprang so schwungvoll auf das Podest, dass das Medium erschrocken einen Satz nach hinten machte, um nicht runterzufallen.
Mit auf den Hüften gestemmten Händen schaute sie den Mann verärgert an, der sie wiederum komplett ignorierte. Die Augen weit aufgerissen, starrte er Arcir an, als könnte er kaum glauben, dass der Laidarer wirklich hier vor ihm kniete. Der Kleinere zitterte verhalten, doch als der Hüne dessen Namen flüsterte, konnte er nicht mehr an sich halten und sprang auf, direkt in die Arme des Anderen.
Jener schlang erleichtert seine Arme um meinen Laidarer und drückte ihn dermaßen fest an sich, dass man Angst bekam, er würde ihn zerbrechen. Das allein brachte schon meinen Magen zum Rebellieren. Aber als ich die Tränen auf Arcirs Wangen sah, die schwach durch sein langes Haar glitzerten, was zum Großteil sein Gesicht verbarg, zersprang mir fast das Herz.
Wütend und enttäuscht zugleich, wandte ich den Blick ab und biss mir so fest auf die Lippe, dass es kupfern schmeckte. Hauptsache das Brennen in meinen Augen gewann keine Überhand. Erst als das Medium begann zu sprechen, sah ich überrascht auf. Sie benutzte unsere Sprache und alle anderen schienen sie trotzdem zu verstehen.
„Willkommen zurück, Arcir. Es tut gut, dich weitestgehend unversehrt wieder in die Arme schließen zu können.“
Die Frau trat auf ihn zu, umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und lehnte ihre Stirn an die seine. Es war wohl eine Art Begrüßungsritual, denn kurz darauf tat sie das Gleiche bei Tarin.
„Auch euch heiße ich willkommen, Grenzführer. Nach dem Bericht eures Boten war ich um euer Wohl und das euer Soldaten sehr besorgt. Ihr solltet Kalen sofort aufsuchen. Er muss genauestens erfahren, was vorgefallen ist.“
Er deutete eine leichte Verbeugung an und gab seinen Männern ein knappes Zeichen, worauf diese aufstanden und die Pferde wegführten. Tarin selbst verschwand in einer der vielen, kleinen, runden Hütten, die scheinbar wahllos überall gebaut worden waren.
„Nun zu euch“, wandte sich das Medium an uns. Schnell senkte ich wieder meinen Blick, aus Angst etwas Unhöfliches getan zu haben. „Bitte steht auf. Als Gesandte der Götter solltet ihr vor niemandem knien müssen.“
„Trotzdem gebührt dem Mund der Götter eine gewisse Ehre, die wir gerne bezeugen“, antwortete Shawn darauf. Die Frau schaute ihn mit glitzernden Augen an und lächelte sacht.
„Wohl gewählte Worte, junger Redner. Ich bin Sahina, die Oberste dieses Tempels. Gewiss habt ihr viele Fragen, ich allerdings auch. Vorher solltet ihr jedoch etwas essen. Ihr seht abgekämpft aus. Und ihr benötigt dringend ein Bad“, setze sie noch hinzu und bedeutete uns dann ihr zu folgen.
Fragend sahen wir uns an. Phil roch kurz an seiner Kleidung und verzog die Nase. „Sie hat recht. Mit Allem“, sagte er schließlich.
„Schlimmer als bei unserem ersten Gastgeber kann‘s ja kaum werden“, meinte Shawn schulterzuckend, worauf wir uns in Bewegung setzten.
Sahina führte uns zu einem der größeren Häuser, aus dessen Schornstein es kräftig dampfte. Es war ein Waschhaus, wie wir feststellten, als wir drinnen waren. Mehrere Waschzuber standen neben- und hintereinander, lediglich getrennt durch weiße Laken, um etwas Privatsphäre zu schaffen.
„Diese hier haben wir für euch hergerichtet und frische Kleidung bereitgelegt. Ich hoffe, dass diese eurem Stand gerecht werden.“
Das Medium deutete auf vier Zuber, der erste für Juli und die restlichen drei für uns Männer. Trotz dass Sahina alles sehr freundlich sagte, schüttelte Shawn seufzend seinen Kopf.
„Bei allem nötigen Respekt, aber bitte, sprecht nicht so. Wir haben keinen Stand. Wir sind einfach nur vier Leute, die durch Zufall hier her geraten sind und nicht genau wissen, warum. Die Letzten, die irgendetwas Besonderes sind und deswegen anders behandelt werden müssen, sind wir.“
Das Medium sah von einem zum Anderen, dann wieder zurück zu Shawn.
„Ihr seid wirklich anders, als alle Anderen zuvor. Macht euch frisch. Vor dem Haus wird jemand warten, der euch zu mir führt.“
Damit schwebte sie aus dem Raum und ließ uns alleine zurück, mit mehr Fragen als uns lieb war. Aber da wir wirklich Antworten haben wollten und total heiß auf das warme Bad waren, verzogen wir uns in die Kabinen und gönnten uns etwas Entspannung. Wären nicht meine bescheuerten Gedanken gewesen, die sich nur um eine Person drehten, wäre ich sogar eingeschlafen.
Doch Shawn drängte uns zur Eile, weil wohl alles andere unhöflich wäre. Meiner Meinung nach gierte er einfach nach Informationen – so wie wir alle. Unsere neue Kleidung war sehr schlicht. Sie bestand aus einer Hose, samt Hemd und Weste, alles aus naturfarbenen Leinen. Knöchelhohe Schuhe rundeten das Outfit ab.
Juli trug anstatt der Hose einen bis zum Boden reichenden Rock, in dem sie sich nicht besonders wohl fühlte. Sie blubberte irgendetwas von eingeschränkter Bewegungsfreiheit vor sich hin, kurz bevor uns Shawn nach draußen scheuchte. Dort erwartete uns ein kleines Mädchen, dass mit ihren großen Augen und weiten Locken Sahina zum Verwechseln ähnlich sah.
„Hallo“, meinte sie schlicht und musterte uns neugierig, während sie auf den Füßen vor und zurück wippte.
Die Kleine war echt Zucker. Ich kniete mich ein Stück vor ihr ab und schaute sie lächelnd an.
„Hallo junge Lady. Wie heißt du denn, wenn ich fragen darf?“
Das Mädchen kicherte verlegen ob der schmeichelnden Anrede und strahlte danach förmlich.
„Ich bin Lydi. Mama hat gesagt, ich soll euch zu ihr bringen, wenn ihr fertig seid. Kommt!“ Auffordernd winkte die Kleine uns, ihr zu folgen, dem wir natürlich sofort nachkamen.
„Ich wusste gar nicht, dass du so gut mit Kindern umgehen kannst“, sagte Juli anerkennend, worauf Shawn natürlich einen passenden Spruch parat hatte.
„Warum nicht. Luci ist ein Homo. In ihm steckt mehr Frau als in vielen Weibern, die ich kenne.“
Ein kräftiger Stoß mit meinem Ellenbogen in seine Seite brachte ihn wieder zur Räson, ohne jedoch den Schalk aus seinen Augen zu vertreiben. Gott, wie so eine kleine Normalität gut tat. Lydi führte uns hüpfend einmal quer über den Platz zu dem größten Gebäude innerhalb der Mauer, einem Flachbau in U-Form, umsäumt von schmalen Säulen, die dem Ganzen einen griechischen Touch verliehen. Die Kleine lotste uns zu einem Seiteneingang, der direkt in einen gemütlich eingerichteten Raum führte.
„Mama, da sind wir!“, flötete das Mädchen fröhlich und holte sich bei Sahina ihren Belohnungskuss ab.
„Danke mein Schatz. Bitte, kommt rein und setzt euch. Ich dachte mir, dass ihr vielleicht Hunger habt.“
Sie deutete auf riesige Kissen am Boden, auf denen wir Platz nahmen. Jeweils links und rechts daneben standen kleine Hocker, beladen mit leckeren Früchten, frischem Brot, Käse und Wurst. Allein bei dem Anblick knurrte mir schon der Magen. Sahina lachte nur, während ich rot anlief.
„Nur zu, esst ruhig. So lässt es sich besser reden und zuhören.“
Sie setzte sich uns gegenüber, ihre Tochter an ihrer Seite, die schon heimlich zu naschen begonnen hatte. Das Medium schenkte ihr einen tadelnden Blick, ohne sich ein Grinsen verkneifen zu können.
„Sahina, gestattet ihr mir als Erstem eine Frage?“, begann Shawn.
„Natürlich“, antwortete sie freundlich.
„Wieso versteht ihr uns? Benutzt ihr einen Sprachenkristall?“
Lydi kicherte belustigt, als wäre das die blödeste Frage der Welt gewesen und fing sich gleich einen strengen Blick ihrer Mutter ein.
„Nein, so etwas brauchen wir nicht. Die Götter verstehen alles, egal welche Sprache benutzt wird. Es zählt nur der Wille, von jemand anderes verstanden zu werden.“
Phil schaute verwirrt auf.
„Wen meint ihr mit ‚wir‘?“
„Die, die von den Göttern berührt wurden. Sprich ihr vier als Gesandte, ich als Sprachrohr und Lydi als meine Nachfolgerin.“
Die Kleine reckte stolz ihre Brust und grinste uns breit an. Ohne Zweifel freute sie sich schon jetzt auf ihre zukünftige Aufgabe.
„Nur der Wille zählt?“, fragte Shawn weiter. „Also wenn ich zu Tarin gehe und dringend möchte, dass er das Wort ‚Gefahr‘ versteht, spreche ich es in meiner Sprache aus und er hört es in seiner?“
Sahina nickte.
„Genau. Es ist ganz einfach. Am Anfang müsst ihr euch etwas darauf konzentrieren, aber dann ist es wie laufen. Man denkt gar nicht mehr darüber nach, sondern tut es einfach.“
„Cool. Kann man das irgendwie trainieren?“, fragte Juliana begeistert.
„Mein Gemahl müsste jeden Augenblick von der Besprechung kommen. An ihm könnt ihr euch gerne prüfen.“
„Das ist wirklich sehr nett von euch. Wenn wir das irgendwie wieder wettmachen können, gebt bitte Bescheid. Und für das Essen und Bad kommen wir natürlich auch auf. Zwar haben wir nicht viele Münzen, aber harte Arbeit ist uns nicht unbekannt“, bedankte sich Phil, worauf uns beide Laidarerinnen seltsam anschauten.
Lydi blieb glatt der Mund offen stehen und vor lauter starren ließ sie ihre Traube fallen, die sie sich gerade in den Mund stopfen wollte. Nach endlosen Sekunden der Stille, begann Sahina zu lachen. Erst leise, verhalten und dann immer lauter. Selbst ihre Tochter schaute sie an, als wäre sie verrückt geworden.
„Tut mir leid“, brachte sie wenig später mühsam hervor. „Aber ihr seid wirklich komplett anders, als alle Anderen zuvor.“ Amüsiert wischte sie sich die Tränen aus den Augen. „Ganz Laidaron wartet seit jeher auf eure Rückkehr. Egal an welche Türe ihr klopft, ein jeder würde euch mit Freuden in sein Haus einladen, ohne die kleinste Münze zu verlangen. IHR seid die Auserwählten der Götter!“
„Und was ist, wenn wir auf diesen Titel keinen Wert legen?“, fragte Shawn genervt. Wie wir alle hatte auch er langsam die Nase voll, wie ein rohes Ei behandelt zu werden.
„Dann seid ihr sehr bescheiden und eures Titels umso mehr würdig“, antwortete das Medium und schaute dann zwischen Phil und Shawn neugierig hin und her. „Sagt mir bitte eins. Wer von euch beiden ist denn nun wirklich der Redner?“
Meine Klassenkameraden sahen sich grinsend an. Philip gab dem Anderen mit einem Nicken zu verstehen, dass er antworten solle.
„Naja, bei dieser ‚tollen‘ Zeremonie habe ich zwar die blaue Kugel gezogen, aber Phil hier ist fast noch ein Stück besser als ich.“
Verwirrt runzelte Sahina die Stirn.
„Zeremonie? Und was für eine blaue Kugel?“
Nun blickten wir uns wieder verwundert an.
„Bevor ihr alles doppelt erzählt und durcheinander, beginnt lieber von vorn. Und lasst nichts aus. Auch wenn es euch unwichtig erscheint oder eine Situation euch mit Scham erfüllt, die kleinste Nebensächlichkeit, der kleinste Gedanke, das geringste Gefühl – alles ist sehr wichtig und wird diesen Raum nicht verlassen.“
Besorgt schaute ich zu Lydi, da einige Szenen aus unserer Geschichte alles andere als jugendfrei waren. Natürlich blieb das nicht unbemerkt.
„Meine Tochter wird das nächste Medium von Laidaron. Je eher sie über alles Bescheid weiß, umso besser ist es. Außerdem ist sie sehr stark und verschwiegen.“
Abermals blickten meine Klassenkameraden und ich uns an. Viel mehr hatten wir nicht zu verlieren. Also begannen wir zu erzählen, immer im Wechsel, je nachdem wer mehr zu einer Szene beitragen konnte. Zwar versuchten die Anderen gewisse Abschnitte, die den König und mich betrafen, auszulassen, aber ich erzählte sie trotzdem.
Es war egal, dass mir die Wangen vor Scham brannten und ich am liebsten im Boden versunken wäre. Mein inneres Bauchgefühl drängte mich fast schmerzhaft alles raus zulassen, nur um ein Quäntchen Absolution zu erhaschen.
Trotzdem fühlte ich mich hinterher nicht besser. Im Gegenteil. Viel zu deutlich wurde mir bewusst, wie sehr ich Arcir verraten hatte. Er konnte mich nur hassen. Doch als wir endeten, war es Juliana, die es laut und deutlich aussprach.
„Sahina, wir wissen, dass es mit nichts wieder gut zu machen ist. Aber uns tut alles schrecklich leid. Erst riskiert Arcir sein Leben beim Kampf gegen den Drachen und dann wird er noch wegen uns gefasst. Und während wir im Luxus lebten und uns die Bäuche vollschlugen, litt er im dreckigen Kerker, allein. Ich… wir…“ Hilflos brach die Kriegerin ab. Betreten schauten wir zu Boden und warteten auf das „Urteil“ des Mediums.
„Arcir ist ein erwachsener Mann. Er kannte die Gefahren, bevor er sich von seiner Gruppe wegschlich. Ihr kanntet sie nicht. Ihr wurdet in unsere Welt gezogen, ohne selbst entscheiden zu dürfen, ohne zu wissen, was auf euch zukommt. Die Intrigen des noraylischen Königs und seines Hofstaates waren euch völlig unbekannt. Nein. Euch trifft keine Schuld. Ihr handeltet als es nötig war, als es euch überhaupt erst möglich war. Damit habt ihr sehr viel Mut bewiesen.“
„Ich betitel es lieber als grenzenlose Selbstüberschätzung mit ner guten Portion Dummheit“, meinte Juli erleichtert und grinste leicht. Sahina gluckste drauf hin und schüttelte leicht ihren Kopf.
„Mir ist selten so viel Bescheidenheit über den Weg gelaufen, wie bei euch.“
„Äh, Sahina“, merkte Shawn auf, als wäre ihm wieder etwas eingefallen. „Ihr sagtet schon ein paar Mal, dass wir anders wären, als alle Anderen zuvor. Wie meintet ihr das?“
Das Medium wurde komplett ernst und versteifte sich etwas. Sie atmete ein Mal tief durch, ehe sie antwortete.
„Genau so, wie ich es sagte. Alle sieben Jahre schicken uns die Götter Gesandte, um uns in der Not beizustehen. Zuerst waren es Menschen aus unseren Landen, aus Laidaron, Noraylia, aus den Inseln des weiten Meeres oder aus den fernen Wüstenregionen. Doch ehe diese ihre Ausbildung vollenden konnten, wurden sie ergriffen und brutal ermordet. Einige davon waren noch Kinder.
Die Götter erkannten, dass der noraylische König zu mächtig geworden war und sandten deshalb Menschen aus komplett anderen Welten, damit ihr Licht nicht gleich entdeckt wurde. Es kamen Männer, die von wundersamen Dingen sprachen, von seltsamen Kästen, aus denen Stimmen kamen und Kutschen, die schneller flogen, als jeder Vogel. Es kamen Frauen, die von riesigen Tieren aus Metall erzählten, auf denen sie bis zu den Sternen ritten und darüber hinaus.
Einige waren überheblich, wollten hier alles verändern, andere ängstigten sich selbst vor dem kleinsten Grillenruf. Doch egal ob sie sich großmäulig stellten oder feige davon liefen, keiner schaffte es bisher, seine Aufgabe zu erfüllen.“
„Und wie lange geht das jetzt schon?“, fragte Phil ungläubig nach.
„Seit 119 Jahren.“
„Das bedeutet ja, dass vor uns 17 Gruppen am Start waren. 68 Leute, die ihr Leben ließen für einen Kampf, der sie gar nichts anging!?“ Juli war komplett fassungslos.
„Die Taten der Götter sind nicht immer nachvollziehbar und nur selten schafft man es, diese zu beeinflussen. Fakt ist, dass das Land Hilfe braucht und zwar dringend. Und ich danke den Göttern, dass sie ihre Bemühungen bisher nicht aufgaben.“
„Ihr habt Unschuldige in den Tod geschickt!“, brauste die Kriegerin auf.
„Juliana.“ Beruhigend legte Phil die Hand auf die seiner Freundin. „Sahina und ihr Volk können nichts für die Taten der Götter. Sie haben nur gebetet, dass alles besser werden möge. Was dann daraus die Schlussfolgerung der Mächtigen war, darauf hatten sie doch gar keinen Einfluss mehr.“
Juli schüttelte ihren Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Überzeugt war sie noch lange nicht.
„Und was soll jetzt anders ein? Ich meine, als ich noch glaubte, so etwas wie einzigartig zu sein, hegte ich tatsächlich die geringe Hoffnung, die uns zugeteilten Aufgaben erfüllen zu können. Aber wenn so viele Menschen vor uns gescheitert sind… Was soll jetzt anders sein? Die Erkenntnis ist nicht gerade motivierend.“
Das Medium schaute sie verständnisvoll an.
„Euer Licht scheint viel heller, als das der Anderen.“
„Oh super, da brauch ich mir wenigstens im Dunkeln keine Sorgen machen“, meinte die Kriegerin sarkastisch, stand auf und lief nervös im Raum umher.
„Ihr habt jetzt schon mehr gelernt, mehr vollbracht, als alle Anderen zuvor. Ich habe vollstes Vertrauen in eurer Gelingen.“
„Na wenigstens Eine“, lächelte Juli schwach und ließ sich schwerfällig aufs Kissen plumpsen.
Keine Sekunde später wurde die Tür geöffnet und der bullige Typ von vorhin, der so dreist das Podest erklommen hatte, trat ein.
„Papa!“, freudig sprang Lydi auf und fiel dem Mann um den Hals, der sich extra tief gebückt hatte. Leicht wie eine Feder hob er sie hoch, ging dann zum Medium und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sahina lächelte voller Glück und strahlte den Anderen verliebt an.
„Darf ich euch vorstellen: Das ist Kalen, mein Ehegatte und Gefährte. Kalen, das sind unsere Auserwählten: Shawn der Redner, Juliana die Kriegerin, Philip der Heiler und Lucian der Magier“, stellte sie uns einander vor und Kalen nickte brav jedem zu.
Nur mich schaute er an, als wolle er in mich hineinkriechen und von innen heraus langsam töten. Nervös wandte ich den Blick ab. Keine Ahnung wie lange mein armes, kleines Herz dieses ständige auf und ab der Gefühle noch mitmachte. Okay, er war also nicht mit Arcir zusammen, aber trotzdem gingen sie sehr innig miteinander um. Ich stand so dermaßen neben mir, dass ich kaum die Gespräche im Raum wahrnahm.
„Kalen, verratet ihr mir, wie es Arcir geht? Zum Nachmittag sah er noch recht schwach aus“, fragte Phil besorgt. Ganz der Heiler halt. Der Hüne antwortete knapp, worauf mein Klassenkamerad erleichtert nickte. „Danke. Es tut gut zu hören, dass es eurem Bruder besser geht.“
Bruder… dieses Detail bekam ich gerade noch so mit. Jetzt wusste ich auch, warum er mich so seltsam angeschaut hatte. Beschützerinstinkt. Um diesen auszulösen, müsste allerdings Arcir etwas von mir erzählt haben. Nur was?
„Sag mal Phil, hast du verstanden, was Kalen gesagt hat?“, fragte Shawn verwundert. Der Heiler sah ihn verständnislos an, begann aber langsam zu begreifen. Mit großen Augen blickte er von einem zum Anderen.
„Ich wollte unbedingt wissen, wie es Arcir geht, schließlich war er mein Schützling, also mein Patient. Ist ja echt krass.“ Probeweise unterhielt sich der Heiler mit Kalen noch etwas, bis er schlussendlich komplett davon überzeugt war, dass er jedes Wort verstand.
„Erstaunlich“, freute sich Sahina. „Noch nie ist die Sprachbarriere so schnell überwunden worden und vor allem ohne Übung. Und das bei einem Heiler!“
Oh, da hätte wohl eher ich den Anfang machen sollen? Egal, momentan war mir eh nicht nach reden zumute. Deswegen war ich auch sehr froh darüber, als Lydi uns zu unseren Unterkünften führen sollte. Diese waren direkt gegenüber, im anderen Zipfel des u-förmigen Gebäudes.
Es waren kleine Kammern nebeneinander. Wenn man beide Arme zur Seite ausstreckte, berührten die Fingerspitzen gerade so die angrenzende Wand. Am Kopfende, unter einem kleinen Fenster, stand über die gesamte Breite ein Bett. Ich wünschte den Anderen eine gute Nacht, schloss die Tür hinter mir und ließ mich der Länge nach auf das Bett fallen. Was für ein beschissener Tag. Ich hoffte inbrünstig, dass der Morgige besser werden würde.
Warme Sonnenstrahlen und fröhliches Vogelgezwitscher holten mich langsam aus meiner Traumwelt. Und dieses Mal war ich noch nicht mal böse darüber. Ich verdrängte die letzten Erinnerungen an Chaos und Enttäuschung und genoss die sanfte Briese, die durch das offene Fenster über meine nackte Haut strich.
Im Schlaf hatte ich die Decke beiseite gekickt, weswegen ich komplett entblößt dalag. Zum ersten Mal nach langer Zeit störte es mich nicht weiter. Hier würde kein Diener einfach so reinplatzen, der mir nicht mehr von der Pelle rückte. So ein wenig Einsamkeit tat richtig gut. Wäre da nur nicht dieses lästige Hämmern an der Tür.
„Lucian, bist du schon wach?“, trällerte Juliana viel zu munter.
„Jetzt ja“, grummelte ich und kämpfte gegen den inneren Dämonen, endlich aufzustehen.
„Darf ich kurz reinkommen?“
Genervt atmete ich aus.
„Moment.“ Schwerfällig hievte ich mich hoch, zog Lendenschurz und Hose über und öffnete die Tür.
„Die Anderen sind schon drüben beim Frühstück und…“, plapperte Juli drauf los, hielt aber gleich wieder inne und betrachtete mich aus großen Augen.
„Ist alles okay?“, fragte ich skeptisch, worauf sie ihren Mund schloss und schluckte.
„Mensch Lucian, wann hast du dich das letzte Mal im Spiegel gesehen? Aus dem schlaksigen Neerd ist echt ein richtiger Mann geworden.“
Bitte? Bevor sie noch anfing zu sabbern, zog ich mir lieber mein Hemd über.
„Du hast ja nen Knall.“
Freundschaftlich boxte die Kriegerin mir in die Seite und lachte.
„Eigentlich wollte ich nur mal hören, wie es dir so geht nach dem ganzen Chaos von gestern. Du warst so ruhig.“
Ich zuckte lediglich mit den Schultern und band die Weste zu. Juli verdrehte genervt die Augen und packte mich am Arm, damit ich sie ansah.
„Du musst mit Arcir reden, bevor dich deine Gedanken komplett zerfressen.“
„Ach und was soll ich ihm sagen? ‚Hey, ich habe mit dem noraylischen König gevögelt, während du im Kerker verrottetest. Hast du Bock, mit mir auszugehen?‘ Das ist doch komplett bescheuert!“
„Wäre aber ein Anfang.“
Entgeistert schaute ich meine Klassenkameradin an.
„Hatte ich heute schon erwähnt, dass du nen Knall hast?“
Seufzend lehnte sich Juliana an den schmalen Waschtisch und reichte mir das Handtuch. Nebenher hatte ich mir die Zähne geputzt und kühles Nass ins Gesicht gespritzt.
„Lucian. Je eher ihr reinen Tisch macht, umso eher kann eventuell was zwischen euch werden. So wie Arcir dich mustert und ständig um dich herumscharwenzelt, hat er auf jeden Fall was für dich übrig.“
Ich spürte, wie meine Wangen warm kribbelten und sich ein seltsames Gefühl in meinem Magen breitmachte. Selbst ein dümmliches Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen.
„So gefällst du mir schon besser“, stellte Juli fest, ging zur Tür und öffnete diese. „Komm, die Anderen warten bestimmt schon.“
Man, diese Frau wusste es, einen aufzumuntern. Mit frischem Mut folgte ich ihr über den Platz zu dem Raum vom letzten Abend. Die Jungs hatten schon begonnen zu essen, was die Kriegerin mit Protest kommentierte. Beschwingter als Tags zuvor, ließ ich mich auf eines der Kissen fallen und redete mit meinen Freunden über Belangloses.
Wenig später gesellte sich Lydi zu uns und bot an, uns in der Stadt herumzuführen. Ihre Mutter hätte wohl noch etwas vorzubereiten und ließ sich entschuldigen. Gut gelaunt stimmten wir zu und liefen kurz darauf der Kleinen hinterher. Etwas seltsam war es schon, einfach durch das Tor zu gehen und die schützende Mauer hinter sich zu lassen, war das in Ivara das No go überhaupt.
Lydi stellte uns jede Person vor, die uns über den Weg lief. Da war der Bäcker, bei dem wir unbedingt den neuen Kuchen probieren mussten, der Metzger samt Familie, von dem wir eine Scheibe der frischesten Wurst in die Hände gedrückt bekamen, der Kräutergärtner mit Frau, bei dem sich Philip kaum mehr einkriegte.
Die Drei diskutierten ewig über seltsame Pflanzen und deren Wirkung, bis Shawn endlich dazwischen ging und sie ausmachten, dass der Heiler jederzeit wiederkommen dürfe. So verlief der gesamte Vormittag. Namen und Gesichter flogen an uns vorbei, wie die kleinen weißen Blütenblätter der Bäume. Es war unmöglich sich alle zu merken.
Trotzdem genoss ich den Rundgang unheimlich. Ich fühlte mich frei und entspannt, fast wie ein Tourist auf Tour. Alle waren höflich und nett zu uns, ohne sich zu verstellen oder extra ihren Buckel krumm zu machen. Klar waren auch einige neugierig, aber reagierten immer natürlich und nicht übertrieben, als wären wir simple Besucher und keine Auserwählten der Götter. Das war unsagbar angenehm.
Kurz bevor die Sonne im Zenit stand, kamen wir zu den Übungsplätzen, wo die Soldaten von Bagkar trainierten. Nun war es an Juli, komplett aus dem Häuschen zu sein. Die Männer und Frauen arbeiteten wohl an einer Technik, die der Kriegerin komplett unbekannt war, weswegen sie die ganze Zeit dem Ausbilder zuredete, um mit dran teilnehmen zu können.
Der allerdings weigerte sich strickt, einen Nicht-Laidarer einzuweisen, was Juliana fast zur Verzweiflung trieb. Sie regte sich dermaßen darüber auf, dass sie gar nicht merkte, wie es bei ihr „Klick“ machte und sich die Sprachbarriere löste. Als wäre es das natürlichste der Welt redete sie auf Deutsch, während er Laidarisch verstand.
Erst als Lydi mit ihren großen Kulleraugen und einem herzerwärmenden Wimpernaufschlag sich für die Kriegerin stark machte, sagte der Ausbilder zu, dass Juli beim Training still danebensitzen und zuschauen durfte. Genervt blickte ich zu Shawn, der schräg hinter mir stand.
„Sag mal, sind wir hier nicht die Magiebegabten? Müsste also nicht zuerst bei uns dieser Übersetzungszauber wirken?“
Der Redner zuckte die Schultern und winkte ab.
„Sahina meinte, dass es erst funktioniert, wenn wir verstanden werden wollen. Außerdem…“
Weiter hörte ich meinem Klassenkameraden nicht mehr zu. Stattdessen stierte ich über seine Schulter hinweg eine Person an, die abgelegen von den Anderen allein trainierte. Wie hypnotisiert ließ ich Shawn einfach so stehen und lief auf Arcir zu, dessen freier Oberkörper vor Schweiß in der Sonne schimmerte.
Der Kampf mit seinem imaginären Gegner sah aus wie ein wilder Tanz zu einer unhörbaren Musik, animalisch und mit einer Hingabe, die mir Gänsehaut bescherte. Der Stab, den Arcir um sich schwang, wirkte wie eine natürliche Verlängerung seines Körpers und schien komplett mit ihm eins zu sein. Er hatte seine Augen geschlossen, vollkommen vertieft in den Bewegungsabläufen, als wäre auch er in einer Art Trance.
Ohne dass ich es weiter kontrollieren konnte, trugen mich meine Beine so nah wie möglich zu Arcir heran, sodass ich jeden Windhauch seiner Bewegungen auf meiner Haut spürte und glaubte das Salz seiner Haut auf meinen Lippen zu schmecken. Erst als nach einer kräftigen Drehung der Stab direkt auf meinen Kopf zusteuerte, löste sich meine Benommenheit und ich ging automatisch in Abwehrstellung.
Das Holz traf hart auf meinen Unterarm, doch der aufkommende Schmerz war zweitrangig. Arcirs Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, sein Mund leicht geöffnet und so verführerisch nahe, dass ich alle Selbstbeherrschung aufbringen musste, um ihn nicht endgültig für mich einzufordern. Während ich noch in unkeuschen Tagträumen schwelgte, fiel die Starre von dem Laidarer ab.
Fluchend warf er den Stab beiseite, verpasste mir eine Kopfnuss und packte meinen Arm. Weder hatte ich die Zeit zu protestieren, noch hätte ich ein Wort aus mir heraus bekommen. Seine Berührung, egal wie grob diese auch war, brannte sich wie Lava durch den Stoff meines Hemdes, bis zu meiner Haut, die wohlig zu kribbeln begann.
Willenlos ließ ich mich bis zu einer Pferdetränke zerren. Dort stieß er mich auf die Knie und tauchte meinen Arm ins Wasser. Die Tränke musste frisch befüllt worden sein, denn das Nass war klar und angenehm kühl. Trotzdem glühte jene Stelle, die Arcir berührte.
Ich musste ihn wohl ziemlich bescheuert angeglotzt haben, denn nach einer Weile wandte er sich ab, spritzte mir noch einen Schwall Wasser ins Gesicht und stapfte dann aufgebracht davon. Seufzend wischte ich mir das feuchte Nass aus den Augen und blickte meinem Laidarer hinterher.
Ich wusste, dass ich mich wie der letzte Teeny benahm, aber allein der Blick auf den tiefsitzenden Bund seiner Hose, wie einzelne Schweißtropfen in tiefere Regionen verschwanden, brachte mein Blut zum Kochen und machte mich ganz kirre.
„Alter, du solltest echt aufhören zu sabbern“, meinte Shawn neben mir, worauf ich lediglich hilflos ausatmete.
Anscheinend konnte sich das mein Klassenkamerad nicht länger mit anschauen. Kurzerhand packte er meinen Hinterkopf und tauchte mein Gesicht kräftig unter Wasser. Prustend holte ich Luft, als der Redner endlich von mir abließ und sich über meinen bescheuerten Ausdruck halb totlachte.
Knurrend sprang ich ihn an und warf Shawn zu Boden. Natürlich versuchte ich mich für die reizende Aktion zu revanchieren, aber der Kerl wehrte sich dermaßen, dass ich ihn nicht mal in die Nähe der Tränke bekam. So kullerten wir also uns balgend über die Wiese, in der Hoffnung die Überhand über den jeweils Anderen zu erlangen. Erst Lydis Schrei ließ uns innehalten und erschrocken aufschauen.
„Hört AUF!“
Sofort ließen wir voneinander ab und rannten auf die Kleine zu, die mit Tränen in den Augen zu uns aufblickte.
„Was ist los, Prinzessin?“, fragte ich besorgt und ging vor ihr auf die Knie, um auf Augenhöhe zu sein.
„Ihr dürft euch nicht streiten!“, schniefte Lydi. „Ihr müsst zusammenhalten, eins sein! Sonst… sonst…“
Aus einem Gefühl heraus nahm ich die Kleine in meine Arme und drückte sie sanft an mich.
„Beruhige dich, Prinzessin. Wir haben uns doch nicht gestritten, sondern nur etwas Spaß gemacht.“
„Ihr habt miteinander gekämpft!“
„Nicht gekämpft, eher gebalgt. Das machen Freunde halt so.“
„Ich mache so etwas nicht“, behauptete Lydi schmollend und löste sich von mir.
„Na ja, eigentlich ist das auch eher so ein Jungsding“, erklärte Shawn und wuschelte ihr durchs Haar. Ablehnend verzog sie die Nase und versuchte vergebens, die große Hand des Älteren wegzuschieben. „Wie viel weißt du denn von den Anderen?“, fragte der Redner etwas ernster.
„An die Letzten kann ich mich kaum erinnern, schließlich war ich da erst drei Jahre. Aber es gibt Aufzeichnungen über jeden Auserwählten und dessen Weg in der Bibliothek“, antwortete sie schulterzuckend.
Somit stand für uns das nächste Ziel des Rundganges fest. Lydi führte uns Vier zurück zu dem Tempel innerhalb der Mauer. Rechts, nur wenige Türen von unserer Unterkunft entfernt, betraten wir den hohen, verwinkelten Raum, der über und über mit Büchern vollgestopft war, dass die länglichen Fenster kaum genügend Licht spendeten.
Aus einer hinteren Ecke trat eine junge Frau hervor, recht klein und zierlich, mit langen braunen Haaren, die selbst als geflochtener Zopf ihr bis zu den Hüften reichte.
„Das ist Etiri, unsere Schriftführerin“, stellte Lydi sie vor, worauf die Angesprochene schüchtern lächelte.
Sie war so zurückhaltend, dass sie sich kaum getraute, uns anzuschauen. Weil Etiri keinen Mucks von sich gab, übernahm Shawn das Wort und fragte nach den Aufzeichnungen der Auserwählten. Die Schriftführerin bedeutete uns stumm, ihr zu folgen und so gingen wir ein paar Regale weiter, bis sie vor einem stehen blieb und drauf zeigte. Nach kurzer Musterung der Auswahl, griff der Redner nach einem Buch, was relativ neu ausschaute. Als er es aufschlug, staunten wir nicht schlecht, dass darin unsere Geschichte geschrieben stand.
„Hast du das gezeichnet?“, fragte er Etiri, deren Wagen rot aufleuchteten. Ihr Nicken war kaum zu erkennen.
„Wann?“, bohrte der Redner weiter. Die Ähnlichkeit des Bildes war verblüffend. Die junge Frau antwortete etwas, worauf Shawn noch ungläubiger drein schaute.
„Was? Aber der kurze Empfang dauerte nicht mal zehn Minuten“, sagte er kopfschüttelnd und betrachtete die Zeichnung nochmals eingehender. „Du hast echtes Talent.“
So rot wie Etiri nun anlief war klar, dass sie den Redner klar und deutlich verstanden hatte. Als ich Shawn erklärte, dass das Buch in seinen Händen auf Laidarisch geschrieben war und er sich gerade super mit der Schriftführerin unterhalten hatte, guckte er mich zuerst verdutzt an. Dann schnaubte er, begann zu grinsen und schüttelte ein weiteres Mal seinen Kopf, lediglich ein ‚cool‘ vor sich hermurmelnd.
Toll. Der große, mächtige Magier, der ich angeblich sein sollte, brachte es bisher nicht auf die Reihe, die Sprachbarriere zu überwinden, aber alle Anderen schon. Sehr motivierend. Lydi erklärte, dass diese Bibliothek fast schon heilig sei, da hier unter anderem auch viele Chroniken gelagert wurden.
Deswegen hatte außer Sahina und Kalen nur Etiri einen Schlüssel zu diesem Raum, und selbst der war mit Zaubern belegt worden, damit ihn keiner einfach so stehlen konnte. Wenn wir also in die Bibliothek wollten, müssten wir zu der Schriftführerin gehen, die gleich links daneben wohnte.
Dass Lydi ein leckeres Mittagessen in Aussicht stellte, war der einzige Grund, warum Shawn von den vielen Büchern abließ und uns in den großen Hauptsaal des Gebäudes folgte. Dort waren längliche Bänke und Tische aufgebaut, an denen Leute saßen, sich fröhlich unterhielten und zusammen aßen. Als wäre sie eine ganz normale Person und nicht das Medium der Götter, saß Sahina an einem Tisch, Kalen ihr gegenüber, mit Tarin zu seiner Linken und Arcir daneben. Sofort wurde mir wieder warm und meine Beine zu Gummi.
Lydi winkte ihren Eltern fröhlich zu und dirigierte uns dann zu einer Art Essenausgabe. Wir bekamen eine dampfende Schüssel mit deftiger Suppe in die Hand gedrückt, samt einer dicken Scheibe Brot und ein Becher mit frischem Quellwasser. Ich überlegte zuerst, wo wir uns hinsetzen könnten, doch die einzigen Plätze, die frei waren, waren neben Sahina, da die Leute dort gerade aufstanden, um ihr leeres Geschirr wegzubringen.
Mir war deutlich bewusst, dass ich so nah bei Arcir kaum einen Bissen hinunterbekommen würde. Aber Shawn war unerbittlich und schubste mich grob Richtung Tisch, ohne sich ein fieses Grinsen verkneifen zu können. So saß ich also stocksteif zwischen Sahina und unserem Redner und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren, um nicht schon wieder meinen Laidarer mit offenem Mund anzustarren.
Irgendwie wirkte hier alles wie eine kleinere Kantine, nur freundlicher und wärmer. Auf den Tischen standen frische Blumen und es wurde viel gelacht. Es war auch egal, wo man sich hinsetzte beziehungsweise neben wen. Hier war es nebensächlich, welchen Stand man bekleidete, ob adlig oder geistlich. Hauptsache man ging höflich miteinander um. Für mich war es viel angenehmer, als die steife, höfische Etikette in Ivara.
„Lucian, geht es dir gut?“, fragte mich Sahina sanft und berührte sacht meinen Arm. Erst jetzt merkte ich, dass ich bisher nichts gegessen, sondern nur verträumt vor mich her gestarrt hatte.
„Ehm… nein, nein, alles okay. Ich war nur in Gedanken“, antwortete ich und löffelte hastig die Suppe.
„Die Frage bei wem und bei was stellt sich da ja wohl nicht“, raunte Shawn mir leise zu und trank unschuldig dreinblickend sein Wasser.
Sofort lief ich knallrot an. Dabei hatte ich zumindest dieses Mal keinen Grund, mich ertappt zu fühlen. Trotzdem kam leichte Panik auf, dass jemand anderes die Worte auch gehört haben könnte, weswegen ich wütend meine Hacke gegen das Schienbein meines Sitznachbarn stieß. Shawn schluckte hart, verkrampfte sich total und biss übel die Zähne zusammen, nur um keinen Laut von sich zu geben. Zufrieden und etwas lockerer löffelte ich gemütlich meine Suppe weiter, während der Redner mich böse anschaute.
„Also Leute, könntet ihr euch nicht wenigstens beim Essen einmal benehmen?“, seufzte Juliana anklagend, worauf Shawn und ich nur eine Antwort kannten:
„Nö Mama“, antworteten wir gleichzeitig und selbst Philip konnte sich darauf ein belustigtes Glucksen nicht verkneifen.
Irgendwann waren alle mit Essen soweit fertig und dermaßen in ihren Gesprächen vertieft, dass keiner groß auf mich achtete. Gemütlich standen sie auf, um ihr Geschirr wegzubringen, während ich eilig die letzten Bissen hinunterschlang und nebenher aufstand, damit ich den Anschluss nicht verlor. Allerdings langte ich zu hastig nach meinem leeren Wasserbecher und stieß ihn quer über den halben Tisch.
Arcir fing den Becher gerade noch auf und reichte ihn mir mit einem leicht genervten Ausdruck. Wie immer konnte ich mich zuerst überhaupt nicht rühren, sondern ihn einfach nur dämlich anstarren. Doch dann erinnerte ich mich an Julis Worte von heute Morgen. Wenn ich mich nicht endlich zusammenriss, würde das nie etwas werden.
Also schloss ich meinen Mund, bedankte mich bei Arcir mit einem leichten Lächeln, nahm ihm den Becher ab und lief zu den Anderen. Okay, meine Fingerspitzen kribbelten trotzdem wie verrückt, wo diese den Laidarer kurz berührt hatten, aber wenigstens hatte ich mich wie ein halbwegs normaler Mensch benommen.
Aus den Gesprächen meiner Klassenkameraden hörte ich heraus, dass für sie der Nachmittag gut verplant war. Lydi musste noch einige Wege erledigen, weswegen sie keine Zeit für uns hätte. Doch Shawn wollte eh in die Bibliothek zurück, um die Berichte der anderen Auserwählten zu studieren und Phil hatte vor, das Kräuterkunde-Ehepaar zwecks einer Pflanze auszuquetschen, die er bisher nicht kannte.
Juliana war längst zum Trainingsplatz gelaufen, als sie hörte, dass der höhere Meister eine neue Übungseinheit beginnen würde. Somit blieb nur noch ich übrig, was mich nicht weiter störte, da ich mir auch etwas in den Kopf gesetzt hatte.
„Sag mal Lydi“, sprach ich das Mädchen an, die schräg vor mir hinter ihrem Vater herlief. „Habt ihr einen Schmied?“
Überrascht sah mich die Kleine an.
„Klar. Wenn du die Mauer hinter dir lässt, die erste Seitenstraße nach links bis zum Ende folgst, kommst du direkt zum Haus von Garukt. Es liegt etwas außerhalb der Stadt, da er manchmal mitten in der Nacht anfängt zu arbeiten. So stört er mit seinem Gehämmer niemanden.“
„Ah, okay, danke“, sagte ich artig und wollte schon los, als mich Lydi am Arm zurückhielt.
„Ihr geht gerade alle verschiedene Wege. Warum teilt ihr euch auf? Ihr solltet doch zusammenbleiben, wie eine Einheit.“ Wieder sah die Kleine mich so skeptisch an, als hätte sie Angst, meine Klassenkameraden und ich würden uns trennen. Lächelnd schaute ich sie an.
„Lydi, es ist vollkommen egal, wo sich einer von uns gerade aufhält. Im Geist sind wir stetig vereint. Wenn jemand Hilfe bräuchte, wüssten wir das in dem Bruchteil einer Sekunde. Allerdings tut es jedem von uns gut, auch mal etwas alleine zu unternehmen. Zum Beispiel um sich selbst zu finden oder zur Ruhe zu kommen.“
Ganz schien ich das Mädchen nicht überzeugt zu haben, aber zumindest soweit, dass sie mich ohne weitere Fragen ziehen ließ. Ich nahm mir fest vor, Sahina drauf anzusprechen, warum ihre Tochter so dermaßen Angst hatte, dass wir uns zerstreiten könnten.
Vorerst folgte ich dem beschriebenen Weg zum Rande der Stadt. Es war wirklich leicht zu finden, denn die rhythmischen Hammerschläge hörte man schon von Weitem. Das einfach wirkende Haus sah irgendwie verloren aus und selbst die kleine umzäunte Koppel, die daran angrenzte, auf der lediglich ein Pferd graste, machte den Eindruck nicht wett.
Nach einem Eingang suchend, lief ich um das flache Gebäude herum und bekam das seltsame Gefühl nicht los, dass das Tier mich neugierig beobachtete. Die breite Tür stand weit offen und da nach einem kräftigen Klopfen niemand antwortete, trat ich vorsichtig ein.
Fasziniert betrachtete ich die vielen Waffen, welche kunstvoll an den Wänden verteilt hingen. Ein wenig schmunzeln musste ich schon, da ich dem spröden Gemäuer nicht so viel Tragkraft zugemutet hätte. Trotzdem war die Kunst, die mir entgegen funkelte, beeindruckend. Von der handlichen Kampfaxt, über reich verzierte Schwerter, bis hin zum kräftigen Speer war alles vertreten. Alles glänzte, als sei es frisch poliert worden.
Vor lauter Staunen bekam ich überhaupt nicht mit, wie das metallische Hämmern verstummte. Erst als sich meine Nackenhaare sträubten und ich spürte, wie sich jemand von hinten näherte, drehte ich mich ruckartig um und musste das überwältigende Bedürfnis in Kampfstellung zu gehen, stark unterdrücken.
Vor mir stand ein untersetzter Mann mit blanker Brust und gut gewölbtem Bauch. Wäre er nicht so haarlos gewesen, könnte er glatt als größerer Zwerg durchgehen. Seine kurzen Arme waren über und über mit Muskeln bepackt und der schwere Hammer in seiner schwieligen Hand passte überhaupt nicht zu dem breiten Lächeln in seinem Gesicht.
„Entschuldige. Ich wollte nicht einfach so eindringen, aber die Tür stand offen und ich habe geklopft und… du verstehst kein einziges Wort von dem was ich sage.“
Seufzend sah ich ihn hilflos an, der lediglich seinen Kopf leicht schief legte. Eine kleine Weile musterte Garukt mich so, bevor er mit den Schultern zuckte, auf einige Stücke an den Wänden deutete und mich dabei fragend anschaute. Was gäbe ich nicht alles für nen Samsung Galaxy inklusive Übersetzungs-App.
Also zeigte ich auf einen geschwungenen Langdolch, den Garukt sofort von der Wand nahm und mir reichte. Dann schlug er mir freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich ab, um seiner Arbeit wieder nachzugehen. Ich stand mit offenem Mund da und fühlte mich irgendwie verarscht.
„Hey, warte mal. Ich wollte doch nichts geschenkt!“ Schnell setzte ich Garukt nach und berührte ihn an der Schulter. Dieser war davon dermaßen überrascht, dass ich hastig einen Satz nach hinten machte, als der kräftige Mann sich ruckartig umdrehte, damit sein muskulöser Arm mich nicht in die nächste Ecke schleuderte.
Garukt blickte mich seltsam an, als würde er nicht verstehen, warum ich noch da war. Zwar war ich in Pantomime noch nie gut, trotzdem versuchte ich mein Glück. Mit Händen und Füßen probierte ich zu vermitteln, was ich genau von ihm wollte, bis sich endlich sein Gesicht aufhellte und er verstand.
Seit ich mit Arcirs Dolch trainierte, hatte ich Shawn und Juli regelrecht ausgequetscht, wie es mit der Tradition von Waffen stand, mit deren Blutzoll. Stetig wuchs dieses innere Verlangen, was, so kurz vor dem Ziel, meine Hände zum jucken brachte. Ich wollte eine Waffe selbst schmieden, mit eigener Kraft und Schweiß etwas schaffen, was direkt auf mich abgestimmt war, von mir, für mich.
Vielleicht war es der halbe Krieger in mir, der da durchkam. Vielleicht auch nur der einnehmende Geruch von Feuer und Eisen, der mich unnachgiebig anlockte, wie das Licht die Motte. Garukt jedenfalls strahlte über das ganze Gesicht und zeigte mir gleich verschiedene Arbeitsgeräte und Werkzeuge, die ich anfangs benötigen würde.
„Ich bin übrigens Lucian“, warf ich zwischendurch rein, da der Schmied in seinem Enthusiasmus kaum zu bremsen war. Er hielt kurz inne und blickte mich wieder so seltsam an.
„Lucian“, meinte ich abermals und deutete auf mich.
„Uia…“ Garukt nickte verstehend, hieb mir kräftig auf die Schulter und lachte laut. Dabei sah ich etwas, was mich kurz erstarren ließ. Der Schmied besaß keine Zunge. Jetzt verstand ich, warum der Mann bisher keinen Ton von sich gegeben hatte und stattdessen wilde Zeichen in die Luft malte. Das war Gebärdensprache.
Meine Fassungslosigkeit war mir wohl deutlich ins Gesicht geschrieben, weswegen sich Garukt genötigt fühlte, mir eine Erklärung abzugeben. Wenn ich alles richtig verstand, war er wohl bei der letzten großen Schlacht in Gefangenschaft geraten und nicht gerade gut behandelt worden. Seit dem konnte er weder richtig reden, noch hören. Der Lebensmut schien ihn trotz allem nicht verlassen zu haben, denn sein heiteres Gemüt steckte irgendwie an. Und ich ließ mich davon komplett einnehmen.
Garukt und ich waren auf einer Wellenlänge, ich glaube das spürten wir beide überdeutlich. Recht schnell benutzte auch ich die Zeichensprache, die, wie ich fand, recht einfach zu lernen war. Der Schmied zeigte mir indes, welche Bruchstücke an Stahl wir miteinander verbinden würden, um die optimale Mischung zwischen Härte und Leichtigkeit zu erzielen.
Alles in allem dauert die Herstellung des Dolches mehrere Tage bis Wochen, da viele verschiedene Arbeitsschritte nötig wären. Doch ich freute mich schon jetzt auf die Zeit in der kleinen Hütte, umgeben von dem stetig knisternden Feuer und dem aufregenden Geruch des Stahles.
Unter Aufsicht meines neuen Lehrmeisters legte ich die gebrochenen Stücke Metall zu einem Block und begoss diesen mit Asche und Schlamm, um Verunreinigungen herauszulösen. Ich war gerade dabei, das Ganze zu erhitzen, damit die Bruchstücke sich verbanden, als Garukt einen Besucher überschwänglich begrüßte.
Kurz linste ich zur Seite und erkannte Arcir, dessen Lächeln sich langsam in Verwunderung verwandelte, als er mich erblickte. Mein Magen zog sich seltsam zusammen, da ich seine komische Reaktion absolut nicht zu deuten wusste. Ich zwang mich zu einem knappen Nicken und wand mich wieder meiner Arbeit zu.
Ein paar Sekunden zu lange spürte ich seinen Blick auf mir ruhen und eine leise Stimme flüsterte mir ins Ohr, dass es am freien Oberkörper lag, den ich gerade vorteilhaft präsentierte. Mein Verstand hingegen wiegelte das als pure Einbildung ab, was dem süßen Kribbeln auf meiner Haut allerdings keinen Abbruch tat.
Ich stellte mich extra so hin, dass ich die Beiden möglichst unauffällig beobachten konnte, und sah heimlich dabei zu, wie Garukt meinem Laidarer eine in einem Tuch eingewickelte Waffe reichte. Bedächtig nahm er diese entgegen und wickelte sie langsam aus. Ich brauchte nicht mal genau hinschauen, um zu wissen, dass es sein Langdolch war.
Keine Ahnung ob der Schmied ein bestimmtes Reinigungsritual durchgeführt hatte, da ich im Tuch einige Kräuter entdecken konnte. Aber Arcir berührte so ehrfürchtig den blanken Stahl, als würde er seine Waffe zum ersten Mal sehen.
Vorerst legte ich meine Arbeit beiseite und ging zur Waschschüssel, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Es war schon fast beängstigend, wie durcheinander mich Arcirs pure Anwesenheit brachte. Und dann noch dabei zuzusehen, wie seine schlanken Finger sanft über den Dolch glitten, jede kleinste Erhebung des Schaftes genießend. Kein Wunder, dass ich eine Abkühlung brauchte.
Damit ich ein wenig beschäftigt ausschaute und um die warmen Gedanken loszuwerden, wusch ich mir gründlich die Hände und das Gesicht. Da ich auf Anhieb kein Handtuch fand, wischte ich mit meinem Unterarm über Augen und Stirn. Während dessen drehte ich mich um, da ich vorhatte, mich wieder an die Arbeit zu machen. Allerdings schien ich das Chaos nur so anzuziehen.
Weder hatte ich mitbekommen, dass Arcir im Begriff war zu gehen, noch hatte ich bedacht, wie zugestellt und eng die Hütte war. Mit voller Wucht prallte ich gegen den jungen Laidarer, der noch immer damit beschäftigt war, seinen Langdolch wie ein kostbares Gut vor sich herzutragen.
So wie ich mich erschrocken umdrehte, so sah ich auch die Waffe zu Boden fallen und griff instinktiv zu. Noch bevor sie aufschlug, hatte ich sie gefangen, jedoch an der scharfen Seite. Die Klinge verfärbte sich sofort rot und einzelnes Blut tropfte hinab. Zerknirscht schaute ich zu Arcir und nuschelte eine Entschuldigung, schließlich war sein Dolch gerade erst gereinigt worden, vielleicht sogar rituell.
Und in der nächsten Sekunde machte ich alles kaputt. Super Leistung, Lucian. Zuerst sah mein Laidarer mich nur aus großen Augen an, dann wurde sein Blick ernster, seltsam entschlossen. Grob packte er meine verletzte Hand, worauf ich die Waffe automatisch losließ und presse die Innenfläche gegen den Griff.
Garukt holte hörbar Luft, doch ich konnte nur dem Treiben Arcirs gebannt zuschauen, wie er den Dolch langsam drehte, damit mein Blut gleichmäßig das Heft verfärbte. Nur kurz schaute mein Laidarer mir in die Augen, als ob er damit irgendetwas besiegeln wollte. Dann stand er auf, wickelte die Waffe in das Tuch und verschwand grußlos aus der Hütte.
Mit wackligen Beinen stand ich da und blickte Arcir hinterher. Bis jetzt war er für mich ein einziges Rätsel. Noch immer gefangen von der obskuren Situation, wandte ich mich ab und stutzte. Garukt starrte mich an, als würden mir gerade zwei Hörner wachsen. Irgendetwas war wohl doch nicht ganz so normal gewesen. Doch noch ehe ich ihn darauf ansprechen konnte, platzte Phil zur Tür herein und griff sofort nach meinem Handgelenk.
„Man man man, kann man dich denn keine Stunde allein lassen, ohne dass du gleich wieder Blödsinn machst“, maulte mein Klassenkamerad und untersuchte fachkundig den Schnitt. Als er diesen schon heilen wollte, hielt ich ihn gerade so davon ab.
„Keine Ahnung warum, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass es eine tiefere Bedeutung hat.“
Phillip schaute mich nur kopfschüttelnd an, beließ es aber dabei.
„Sag mal woher wusstest du, dass ich mich verletzt habe und wo ich stecke?“, fragte ich verwundert.
„Inneres Gefühl…?“, meinte der Heiler wage, da er es wohl selbst nicht richtig erklären konnte. „Egal“, sagte er dann und deutete grob Richtung Tempel. „Wir sollen eh zum Badehaus kommen. Die haben irgendwas heute Abend vor, worauf wir vorbereitet werden müssen.“
Ich seufzte wenig begeistert und schlüpfte in mein Hemd. Nach dem ich mein Werkstück sorgfältig beiseitegelegt und mich von Garukt verabschiedet hatte, folgte ich Phil bis innerhalb der Mauern, wo die anderen Beiden unserer kleinen Gruppe schon auf uns warteten. Drei Männer und eine Frau standen bei ihnen, die uns als Helfer vorgestellt wurden. Wir sollten sie in Ruhe machen lassen, damit für heute Abend alles passte.
Ich seufzte erneut, da ich genau wie die Anderen keine Lust darauf hatte, schon wieder bei einem bescheuerten Ritual mitwirken zu müssen. Aber wir wollten nicht unhöflich sein, weswegen wir brav alles mitmachten. Und davon mal abgesehen, hatten wir schnell gelernt, dass hier in Bagkar eh vieles anders war, als in Ivara.
So ließen wir uns also in Blumenwasser baden, mit Kräutern abreiben und rasieren, wobei bestimmte Stellen doch recht unangenehm waren. Das Highlight kam jedoch, als diese sich an meinem Kopfhaaren zu schaffen machten. Ich bekam schon Angst, dass die mich zu einer jüngeren Ausführung von Jack Sparrow umfunktionieren wollten. Doch die Dreadlocks waren viel dünner und mal abgesehen von den wenigen dunkellila Bänden, welche mit drunter gemischt wurden, kam kein weiterer Schmuck zum Einsatz.
Zum Schluss steckten die mich in eine Hose aus dunklem Leinen, mit einer Mischung aus langärmligem Hemd und Tunika drüber, die bis zum Boden reichte und an der Seite zwei breite Schlitze hatte, sodass man wenigstens ohne Probleme weite Schritte machen konnte. Schuhe gab es dafür keine.
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen und einer gewissen Neugierde, wie meine Klassenkameraden umdekoriert wurden, trat ich aus meinem Séparée und staunte wirklich nicht schlecht. Zwar trugen wir alle genau das Gleiche, aber wie bei mir hatte man haartechnisch Hand angelegt.
Julis dunkelblonde Mähne war streng an beiden Seiten nach hinten geflochten und ein seltsam ausschauender Knoten hielt das glatt gebliebene, obere Haar aus ihrem Gesicht. Wenn Juliana jetzt noch ihre Rüstung anziehen würde, wäre das Bild einer typischen Kampfamazone perfekt.
Shawn strubbeligen Pelz hatte man komplett glattgezogen, sodass dieser locker bis zu seinem Kinn hinab fiel, fast so wie bei ‚Prince of Persia‘. Die krasseste Veränderung hatte jedoch Philip durchgemacht. Seine Haare waren an den Seiten bis zur Haut abgeschnitten worden und man hatte dort wilde Muster einrasiert, sodass der kleine, ehemalige Streber fast ein bisschen böse ausschaute.
Der verwuschelte Irokese, der über die gesamte Mitte des Kopfes verlief, verstärkte den Eindruck nur noch. Selbst Juli bekam kaum noch den Mund zu. Phil lief bei den Respektbekundungen unsererseits komplett rot an und versuchte alles, abwinkend runterzuspielen.
Geschickt lenkte er vom Thema ab und kam auf die bevorstehende Zeremonie zu sprechen, wobei uns allen etwas mulmig zumute wurde. Und das uns die Hände vorm Bauch gefesselt wurden, half nicht gerade dabei, etwas Besseres zu vermitteln. Zwar waren die Seile dünn und die Knoten so locker, dass diese beim kleinsten Ruck aufgehen würden. Trotzdem fühlte ich mich seltsam eingeengt. Das alles hatte wohl lediglich einen zeremoniellen Wert, genau wie die Stoffbahn, die jeder von uns überwerfen musste. Ich kam mir vor wie unter einer Burka.
So wurden wir hinausgeführt, langsam hintereinander laufend, im Takt einer einzelnen Trommel. Die ganze Stadt hatte sich im U des Tempels versammelt und überall brannten kleine Feuerstellen und Fackeln. Man führte uns um die Menschenmassen herum, zum Haupteingang des Gebäudes, wo davor ein kleiner, rechteckiger Platz freigelassen worden war.
Shawn und mich delegierte man jeweils links und rechts zu den Seiten, wo wir uns auf die Knie absetzen und warten sollten. Juliana und Philip brachte man zum Kopf des Rechteckes, wo sie recht nah beieinandersaßen, vielleicht ein Symbol ihrer Zusammengehörigkeit als Paar. Im Rücken von ihnen standen die Leute der Stadt, mit dem gleichen Überwurf wie wir und starrten gebannt gerade aus, zur großen Tür des Tempels.
Ich tat es ihnen nach und blickte neugierig nach links, als leise Musik ertönte. Lydi schritt bedächtig aus dem Schatten hervor und warf Blütenblätter zu jeder Seite, wie ein Blumenmädchen zur Hochzeit. Und so wie die Musik anschwoll, wurde auch die Kleine schneller, ihre Bewegungen energischer. Wie eine moderne Balletttänzerin, sprang sie in die Höhe, vollführte eine schnelle Drehung und kam elegant wieder auf.
Es war erstaunlich, wie anmutig Lydi ihren Körper verbiegen, die Arme zu allen Seiten strecken und die Beine weit hoch werfen konnte. Immer schneller wurde die Musik, sodass die Blütenblätter wie leichter Schneefall wirkte, bis sie abrupt endete. Mit dem letzten Takt warf sich das Mädchen auf die Knie und beugte sich dermaßen weit nach hinten, dass ihr Rücken auf den Beinen zum liegen kam.
Die Arme zur Seite ausgestreckt, mit den Handflächen nach oben, lag Lydi einige Sekunden so da und schien mit geschlossenen Augen und schnellem Atem auf irgendetwas zu warten. Nur wenige Herzschläge später sprangen Sahina und Kalen auf und klatschten wie wild in ihre Hände.
Auch die restlichen Leute stimmten enthusiastisch ein, aber nur das Medium und ihr Mann hatten die Überwürfe abgelegt. Alle Anderen blieben weiterhin verhüllt. Lydi schien sich darum nicht zu kümmern. Mit vor Freude strahlenden Augen verbeugte sie sich anmutig vor ihren Eltern, welche vor Stolz gerade so übersprühten. Dann verließ sie mit langen Schritten den Platz und die Menge verstummte.
Neugierig blickte ich wieder zur großen Tür des Tempels und ließ mich widerstandslos von der seltsamen Spannung gefangen nehmen, die sich von Minute zu Minute mehr aufbaute. Das war wie auf einem Rockkonzert, wenn die Vorgruppe die Bühne räumte und man wusste, dass endlich der Hauptakt auftrat. Und als die Trommeln erneut begannen zu schlagen, musste ich leicht grinsen. Bisher lief die Zeremonie ja nicht schlecht.
Nur langsam kam eine Gestalt aus dem Schatten des Eingangs hervor und schritt zum Takt der Schläge auf den Platz zu, fast als wäre sie auf dem Weg zur eigenen Hinrichtung. Ein eiskalter Schatten huschte über meine Haut und als ich die Person erkannte, wusste ich auch warum.
Arcir löste sich aus dem seltsamen Zwielicht und trat in den Schein der Fackeln. Die Tatsache, dass er lediglich mit der gleichausschauenden Hose bekleidet war wie wir und somit oberkörperfrei, hätte mir den Mund offen stehen lassen. Doch sein stumpfer Blick und die daraus entstehende kalte Entschlossenheit ließen mich frösteln.
Irgendetwas hatte er vor und ich war mir ziemlich sicher, dass es mir nicht gefallen würde, was wohl auch an dem schmalen noraylischen Schwert lag, welches er locker rechts von sich trug. Die Klinge reichte knapp bis zum Boden, sodass die Spitze leicht den Boden berührte und eine dünne Linie hinter sich herzog. Seinen eigenen Dolch hatte Arcir sich links an die Hüfte gebunden, weitere Waffen oder Schmuck gab es nicht. Nur seine langen, glatten Haare, die ihm ein wenig über die Schultern fielen und fast schwarz wirkten, verdüsterten das Bild.
Nervös schaute ich zum Podest, auf dem Sahina und ihre Familie saßen, und blickte in angespannte Gesichter. Kalen hatte seine Armlehne so fest mit der Hand umschlossen, dass ich selbst aus der Entfernung heraus das Weiß der Knochen hervortreten sah. Also war mein ungutes Gefühl nicht unbegründet.
Für eine Sekunde hörten die dumpfen Tonschläge auf, nur damit kurz darauf eine Musik und sachte Stimmen ertönten. Es war eine seltsame Mischung aus mittelalterlichen Klängen und indianischem Gesang, was sich zu einem harmonischen Miteinander verwob. Langsam begann Arcir sich darauf zu bewegen und ich war sofort gefangen.
Es war einfach atemberaubend, wie der Laidarer sich elegant hin und her wiegte und dabei das Schwert geschmeidig schwang, als wäre es eine natürliche Verlängerung seines Armes. Es war der eindrucksvollste Schwerttanz, den ich je erlebt habe. Wieder schwoll die Musik an und somit bewegte sich Arcir schneller. Seine Sprünge wurden immer waghalsiger, die Drehung immer komplizierter. Ein leichter Schweißfilm hatte sich über seine Haut gelegt, der erotisch im Fackelschein glitzerte.
Und doch hoffte ich, dass alles bald endet. Meine Nackenhaare hatten sich längst aufgestellt und kündeten von Gefahr. Je mehr die Musik anschwoll, desto lauter wurde der Gesang und drängender. Immer wieder warf Arcir das Schwert in die Luft und fing es auf und bei jedem Mal hatte ich das Gefühl, dass die Klinge seiner Brust näher kam.
Abermals blickte ich zum Podest hinauf, in der Hoffnung, dass Sahina endlich das Zeichen zum Abbruch gab. Aber sie saß nur kreidebleich da und starrte auf den Platz. Tarin stand angespannt hinter seinem Neffen und hatte die Hand auf dessen Schulter gelegt. Ich glaube das war das Einzige, was Kalen davon abhielt aufzuspringen, so sehr wie dieser sich verkrampfte, dass er fast zitterte.
Was genau war hier los? Arcir hatte sich regelrecht in Trance getanzt und schloss ab und an schwerfällig die Augen. Die Geräusche um mich herum schlossen sich zu einem einzigen Rauschen zusammen und ließen mich alles viel klarer, viel langsamer sehen, so sehr konzentrierte ich mich auf meinen Laidarer.
Jener warf gerade wieder das Schwert in die Luft, nur machte er dieses Mal keine Anstalten, es auffangen zu wollen. Mit vernebeltem Blick starrte er in den Nachthimmel, den Kopf in den Nacken gelegt und die Brust bereitwillig ausgestreckt, als würde er die Klinge regelrecht willkommen heißen.
Länger konnte ich mich nicht zurückhalten. Ohne drüber nachzudenken, sprang ich auf und rannte zu Arcir. Kaum war ich bei ihm, riss ich seinen Dolch von der Hüfte und schlug mit einer Drehung in letzter Sekunde das Schwert beiseite. Nur ein schmaler, roter Kratzer unterhalb seiner Brust zeugte davon, dass ich fast zu spät gekommen wäre.
Schwerfällig schaute Arcir mich an, als würde er noch immer nicht verstehen, was gerade beinahe passiert wäre. Dies brachte mich dermaßen in Rage, dass ich weit mit dem Handrücken ausholte und zuschlug. Lange Zeit zum Erholen ließ ich dem Laidarer nicht. Wütend packte ich ihn am Nacken und zog ihn so dicht an mich heran, dass sich unsere Stirn und Nasenrücken berührten.
„Tu so etwas nie wieder!“, giftete ich ihn an und stieß ihn so derb von mir weg, dass er mit einem erschrockenen Aufschrei auf seinem Hinterteil landete.
Locker warf ich ihm seinen Dolch zu, den er geschickt auffing. Vielleicht war Arcir jetzt wieder einigermaßen bei Verstand, aber dieser ungläubige, fast verstörte Blick, den er mir zuwarf, war alles andere als erträglich. Verlegen ob meiner Tat, wandte ich mich ab und schaute zu meinen Klassenkameraden rüber.
Auch sie waren aufgesprungen und sahen mich mit großen Augen an. Das Schwert, welches ich achtlos beiseite geworfen hatte, steckte dort im Boden, wo kurz zuvor Juli gesessen hatte. Genervt von mir selbst, rümpfte ich die Nase und wischte mir über die Augen. Toll. Super gemacht, Lucian. Wir alle vier standen enthüllt mit zerrissenen Fesseln da, nur weil ich mich mal wieder nicht zusammenreißen konnte.
Als ich schon zu einer Entschuldigung Richtung Podest ansetzen wollte, trat jemand neben mich und packte mein Handgelenk. Verwundert schaute ich Arcir an, in dessen Augen ein wildes Funkeln zurückgekehrt war, fast noch intensiver, als bei unserer ersten Begegnung. Sofort setzte das altbekannte Kribbeln im Magen ein und das Bedürfnis, ihn an mich ranzuziehen und wild küssen zu wollen, wurde schier übermächtig.
Als wären mir meine Gedanken ins Gesicht geschrieben, holte der Laidarer hörbar Luft und leckte sich nervös über die Lippen, was dermaßen erotisch ausschaute, dass das fiese Kribbeln eine Region tiefer wanderte. Mühsam wie mir schien, riss er sich von meinem Blick los und zerrte mit einem kehligen Schrei meinen Arm in die Luft.
Die Menge hatte wohl auf dieses Zeichen nur noch gewartet, denn alle rissen energisch ihren Überwurf herunter und begannen wie wild zu jubeln und zu schreien. Ich wurde gefeiert wie ein Boxer nach einem gewonnenen Kampf. Leute sprangen von ihren Plätzen und rannten auf uns zu. Freudig wurden wir von allen umringt und ein jeder beglückwünschte und klopfte uns auf die Schulter.
Mit geschickten Fingern nestelte Arcir an meinem Handgelenk und als ich genauer hinschaute, entdeckte ich ein schlichtes Armband mit goldenen Perlen und einen kreuzartigen Anhänger. Die verhängnisvolle Halskette in Miniaturformat. Verwirrt blickte ich auf, direkt in die wild blitzenden Augen meines Laidarers. Ein sachtes Lächeln umspielte seine dünnen Lippen und wie er so leicht sein Kinn reckte, könnte man denken er wäre stolz.
Wieder machte mein Herz einen riesigen Schlag und ich wünschte mir sehnlichst, mit Arcir ein paar Minuten allein zu sei. Doch kurz darauf wurde er einfach von den Massen davon geschwemmt und mich zerrte man fast schon grob zu meinen Klassenkameraden, wo Sahina freudestrahlend auf mich wartete.
„Den Segen der Götter“, sagte sie überschwänglich, nahm mein Gesicht in beide Hände und legte die Stirn aneinander. Nachdem sie mich endlich losgelassen hatte, nahm ich das Medium in eine ruhige Ecke beiseite.
„Kannst du mir bitte erklären, was das alles zu bedeuten hat?“
Als würde die junge Frau zu einem kleinen Kind aufschauen, lächelte sie mich an.
„Wir feiern die Vertreibung der bösen Geister und den von den Göttern erwählten Anführer der Auserwählten.“
Sahina neigte leicht ihren Kopf in meine Richtung, worauf ich meinen nur ungläubig schüttelte.