Fotostudio Plange – Teil 32 – Schiffbruch

Tja, lieber Leser, anscheinend habe ich mich vertan und es ist doch von Interesse, wie das Shooting auf Malta weiterging. Vielleicht hätte ich den Folterkeller nicht erwähnen oder das

Geschehene nicht so detailreich schildern sollen, ich weiß es nicht, aber ihr habt mich durch eure Kommentare und Zuschriften überzeugt, dass ich die Geschichte so nicht enden lassen kann.
Der Aufenthalt auf der idyllischen Mittelmeerinsel bedeutete, im Nachhinein gesehen, einen Wendepunkt. Allerdings nicht nur für mich, auch mein Gatte und und mein Neffe waren, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, von den Ereignissen dieses Wochenendausflugs betroffen.
Für mich persönlich gab es eigentlich nur eine Sache: Die Aufnahmen für den Jungdesigner Tom Batchfield hatten in mir tatsächlich den Wunsch geweckt, wieder etwas kreativer tätig zu werden; das Ablichten von erotischen Modells macht halt doch mehr Spaß als Passbildaufnahmen für Oma Ilse oder Opa Franz. Gut, ich brauchte für die Nachbearbeitung, für das Layout des Katalogs etwas mehr Zeit als gedacht, aber das tat meiner Freude über das fertige Produkt keinen Abbruch.
Vielmehr war es ein Ansporn, denn ich hatte es der Öffentlichkeit und – vor allem – mir selbst gezeigt, dass ich es fototechnisch noch drauf habe. Marvin hatte mit den Folgen des Benehmens eines dieser Modelle so seine Schwierigkeiten und Igor? Nein! Ich werde jetzt keine Zusammenfassung geben; lest doch einfach selber, was nach dem Frühstück geschah.
Der maltesische Stier hatte als Basis für die ersten Tageslichtaufnahmen eine kleine Boutique in der Triq il-Merkanti, der Straße der Kaufleute, unweit der St. John’s Co-Cathedral ausgesucht; er kannte wohl den Besitzer. Hier konnten sich die Modelle ungestört umziehen, es gab sogar richtige Kabinen, die zu diesem Zweck allerdings meist doppelt belegt wurden. Man hatte die ohnehin nur sehr schwach vorhandene Scheu wohl endgültig abgelegt.
Auf Stativ und künstliche Beleuchtung verzichtete ich, auch wenn ab und an ein Lichtreflektor zum Einsatz kam. Mit Reflektoren versucht man, das vorhandene Umgebungslicht umzuleiten, um es direkt auf den Menschen zu werfen. Würde man allein der Automatik der Kamera vertrauen, dann kann es passieren, dass das Modell zwar korrekt belichtet wird, der Hintergrund aber ausbrennt, oder der umgekehrte Effekt tritt ein, die Kulisse wird ordentlich wiedergegeben und das menschliche Wesen im Vordergrund wirkt viel zu dunkel.
Ziel ist es, die Bildstimmung zwischen menschlichem Vorder- und natürlichem Hintergrund zu erhalten. Die Aufnahmen der Shirts und Shorts vor den Schaufenstern der Geschäfte wirkten daher auch eher wie spontane Schnappschüsse und nicht, wie in Katalogen häufig üblich, wie gestellte Modeaufnahmen. Genau diesen Effekt wollte ich erreichen, die Kleidungsstücke sollten ihre Alltagstauglichkeit unter Beweis stellen.
Es war nur gut, dass die meisten Passanten die flotten und teilweise gewagten Sprüche auf textilem Untergrund nicht übersetzen konnten, auch wenn sie des Lesens und Schreibens mächtig waren. Deutsch ist auf der Insel halt keine der gebräuchlichsten Sprachen und englische Slangausdrücke (homo-)sexueller Art gehören meist auch nicht zum Sprachschatz der doch eher älteren Wintergäste.
Igor fragte mich beim dritten Motiv dieser Serie, ob wir auch eine Genehmigung für die Aufnahmen hätten. Er erinnerte sich wohl an den Auflauf in der heimischen Fußgängerzone, als die Bilder für den Kalender der Jugendabteilung entstanden waren. Ich konnte nur mit den Schultern zucken.
Aber wir erregten kaum Aufmerksamkeit, von daher hoffte ich auf die Lässigkeit der Inselbewohner, die an fotografierende Horden gewöhnt waren, auch wenn diese im Februar eher selten sind.
Gut, einige komische Blicke ernteten wir dann doch, aber das lag wahrscheinlich eher an dem sommerlichen Bekleidungszustand der sechs jungen und gut aussehenden Männer, die ich in den verschiedensten Posen vor Geschäften, in Cafés oder auf der Straße ablichtete. Die eigentlichen Aufnahmen hingegen schienen jedoch kaum jemanden zu stören.
Zu einer Begegnung mit der Ordnungsmacht kam es dann aber doch noch, wenn auch ungewollt. Als die Bilder dieser Staffel im Kasten waren und der ganze Tross schon auf dem Weg zum nächsten Set war, wo Aufnahmen auf einer Jacht erfolgen sollten.
Da stolperte Ian direkt vor dem Portal der Kathedrale, die ursprünglich als Klosterkirche an der Ordenszentrale der Ritter geplant und gebaut worden war. Ob der Sturz auf die Ausbesserungsarbeiten vor dem Gotteshaus – im Zuge der Umgestaltung der Innenstadt durch den Genueser Architekten Renzo Piano – zurückzuführen oder lediglich der mittelalterlichen Unebenheit des Platzes geschuldet war, lasse ich mal dahingestellt.
Der rothaarige Wuschelkopf achtete scheinbar nicht sonderlich auf seine Schritte, kam so ins Taumeln und fiel dem dunkelhaarigen Ordnungshüter direkt in die Arme. Der drahtige Mann, ich schätzte ihn auf Mitte 20, konnte diesen Fall zwar aufhalten, allerdings nicht verhindern, dass der Koffer mit den abzulichtenden Kleidungsstücken unsanft auf dem Boden landete, der Deckel aufsprang und den Blick auf den gewebten Inhalt freigab.
Nachdem Ian sich wieder aufgerappelt hatte, blickte er in das mittlerweile etwas gerötete Gesicht des Polizisten, der solch frivole Unterhosenmode wohl noch nie gesehen hatte. Die beiden Männer bemühten sich, die knappen stofflichen Verhüllungen so schnell wie möglich vom Portal des zweiten Sitzes des Bischofs von Malta, daher auch die Bezeichnung Ko-Kathedrale, wieder zu entfernen. Nach dieser zweiminütigen Unterbrechung konnten wir unseren Weg zum Schiffsanleger fortsetzen.
Von der Bootsfahrt gibt es eigentlich nicht viel Erwähnenswertes zu berichten. Nicky hatte einen kleinen Imbiss, bestehend aus belegten Baguettes, Salat und Käse vorbereitet, dazu gab es Tee, Wasser und einen leichten Landwein.
Die geplanten Aufnahmen, von sich auf dem Deck in der Sonne rekelnden Jünglingen in eng sitzenden Shirts und knappen Badehosen konnte ich jedoch vergessen. Der Wind trieb immer wieder Wolken vor die natürliche Lichtquelle.
Zwar packte ich eine der Kameras aus, aber für den Katalog waren die Bilder die ich im Freien schoss eher weniger geeignet. Ein rückwärts frühstückender Paul, zwar zärtlich von der kleinen Ölkanne getröstet, dürfte nicht gerade verkaufsfördernd sein.
Für gut ausgeleuchtete Innenaufnahmen fehlte mir die Ausrüstung, die befand sich, zwar einsatzbereit, in Luigis Etablissement. Außerdem hatte ich meine Zweifel, ob der altersschwache Generator, der schon beim Anschalten des Wasserkochers die Segel hatte streichen müssen, hierfür überhaupt die notwendige Energie würde liefern können. Das Boot und somit wohl auch die Stromerzeugungsanlage waren Baujahr 1948.
So beließen wir es bei einer etwas ausgedehnteren Hafenrundfahrt, die nach knapp einer Stunde ihr glückliches Ende fand. Nicht nur, dass mir die Zeit im Nacken saß, mir fehlte jetzt auch eine Location. Es musste also so schnell wie möglich ein adäquater Ersatz für das unter permanenten Lichtwechsel leidende Schiff gefunden werden. Luigi, der sich ja selber lieber mit C schreibt, telefonierte mehrmals und noch ehe wir wieder an Land gingen strahlte er mich an – hatte er etwa eine Lösung gefunden?
Der Ausweg, den er mir auf der Rückfahrt zur Herberge der besonderen Art schmackhaft machte, erwies sich bei den vorherrschenden Windverhältnissen als äußerst günstig. Er hatte die in den Wintermonaten mit Glasfaserplatten überdachte Dachterrasse des Hotels Johnson, keine zwei Straßen von seinem Etablissement entfernt, samt Schwimmbecken und dazugehörendem Whirlpool reservieren können.
Mit der kompletten Ausrüstung, auf die Lichtanlage wollte ich bei dem Wolkenspiel am Himmel nun wirklich nicht mehr verzichten, machte sich der gesamte Zug auf, den obersten Stock des etwas in die Jahre gekommenen Hotels an der Uferpromenade zu okkupieren.
Der Ausblick war einfach grandios. Wäre das schmiedeeiserne Gitter nicht gewesen, man hätte meinen können, Pool und Meer würden nahtlos ineinander übergehen. Kaum hatte ich jedoch die elektrische Beleuchtung eingerichtet, verzogen sich wie von Geisterhand die Wolken und die Sonne strahlte wieder. Ich hätte schreien können, reichten doch jetzt wieder die üblichen Reflektoren für die Ausleuchtung, allerdings tauschte ich die bisherige Zebra- gegen eine Goldbeschichtung aus, durch diese wirkt das Licht noch wärmer.
Größere Probleme bei diesen Aufnahmen waren nicht zu verzeichnen, sieht man einmal von leichter Gänsehaut bei den aus Deutschland kommenden Modellen ab. Die Bucht gestern lag windgeschützt, wir aber waren jetzt auf dem Dach eines Hotels, von oben her zwar geschützt aber nach außen hin von allen Seiten offen.
Außerdem hatten wir auflandigen Wind, der zwar nur leicht aber dafür stetig blies. Servet fragte tatsächlich nach Socken, ihn fröstelte es. Die Malteser waren anscheinend daran gewöhnt, man sah keine kältebedingten Hauterhebungen.
In einer der Kabinen fand sich ein aufblasbarer Delfin, wohl von einem Gast im letzten Sommerurlaub vergessen. Die erwachsenen Spielkinder hatten nun ihr Räppelchen, mit dem sie im Wasser toben und spielen konnten.
Hätte ich gewusst, dass es auch zu Aufnahmen an und in einem Pool kommen würde, ich hätte die eigens für Marvin angeschaffte Unterwasserkamera eingepackt, aber die lag – warm und trocken – in heimischen Gefilden.
Aber so sehr vermisste ich sie dann auch wieder nicht, hätte es doch bedeutet, dass ich selbst hätte ins Wasser gehen müssen. Ich bin zwar nicht prüde oder wasserscheu, aber auf einen Aufenthalt im kalten Wasser konnte ich verzichten.
Die Dämmerung hatte eingesetzt, als ich das Zeichen zum Aufbruch gab. Die geplanten Aufnahmen waren, wie man so schön sagt, alle im Kasten. Die Jacht wäre als Location zwar nicht schlecht gewesen, aber Modeaufnahmen auf solchen Seefahrzeugen sind heutzutage fast Standard, also längst nichts Besonderes mehr.
So aber hatte ich, allein aufgrund der Lage hoch über den Dächern der Stadt, ein außergewöhnliches Motiv für den Katalog. Der Abbau dauerte, Teamwork sei Dank, keine zehn Minuten. Servet maulte zwar und Gürkan war auch nicht gerade erbaut, als ich nach Ankunft im Freudenhaus das Set für den nächsten Tag noch einrichten ließ, aber die beiden schleppten dann doch die Ausrüstung brav in den dritten Stock.
Das Klassenzimmer erschien mir, von den fetischhaft eingerichteten Suiten, für Aufnahmen noch am ehesten geeignet. Die restlichen Bilder für den Katalog sollten dann im Empfangsbereich respektive in der Bar geschossen werden, aber beide Örtlichkeiten würden heute noch gebraucht werden, Luigi hatte den „normalen“ Betrieb seines Hauses ja nur eingeschränkt und nicht gänzlich eingestellt.
Nach einer erfrischenden Dusche überspielte ich, bei einem doppelten Espresso, die Ergebnisse des Tages auf den Rechner. Besonders die Bilder der Dachaktion gefielen mir. Sollte ich für den nächsten Katalog auch verantwortlich zeichnen, ich würde diese Location noch einmal buchen, der Ausblick von dort war einfach nur fantastisch.
Jemand räusperte sich unbeholfen. „Hallo Stefan!“
Ich blickte auf, vor mir stand der Jungdesigner „Ach! Hallo Tom! Na? Wie war dein Flug?“.
„Frag besser nicht!“ Der ungefähr gleichgroße Mann wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. „Musste über Brüssel anreisen, einen anderen Flug hab ich nicht mehr gekriegt. Jede Sardine hat mehr Platz in ihrer Büchse.“
„Wir hatten etwas mehr Glück: Ich konnte sogar meine Beine ausstrecken.“ Ich grinste ihn frech an.
„Ich wollte, dass könnte ich auch sagen, aber …“ Der Dunkelblonde stöhnte. „…aber jetzt bin ich ja hier! Wie ist es bis jetzt gelaufen?“
„Gut!“ Ich blickte ihn an. „Wenn du noch zwei Minuten hast, dann hab ich alles auf dem Rechner.“
Er lachte. „Habe ich … und wenn ich noch was zu trinken bekommen, dann darf es sogar eine Viertelstunde werden. Wo kann man hier …“
Ich rief Nicky, der nach einer Begrüßung, sofort die Getränkeversorgung übernahm. Die Bilderschau schien dem Designer zu gefallen, neben „Ah´s“ und „Oh´s“ gab es auch konkretere Anmerkungen zum Gesehenen, bei einigen Aufnahmen rückte der Hamburger sich den Schritt zurecht; die Bilder hatten jetzt wohl die von ihm gewollte Richtung.
Tom massierte sich am Ende der Show das Kinn. „Die Aufnahmen gefallen mir, zwar ist oftmals wenig nackte Haut zu sehen, aber …“
„Aber?“ Ich blickte ihn fast entsetzt an. „Gut, hättest du den Franzosen die Bilder machen lassen, wären die wohl erheblich freizügiger geworden, aber ich will ja deine Sachen in den Vordergrund stellen und nicht deren Träger.“
Der dunkelblonde Zopfträger aus Hamburg schüttelte grinsend den Kopf. „Dass ihr Künstler immer so aufbrausend sein müsst!“ Was sollte das denn jetzt? „Stefan! Hättest du mich aussprechen lassen, anstatt mir ins Wort zu fallen, dann hättest du gehört, dass deine Aufnahmen vor Erotik nur so knistern und genau so hatte ich es mir vorgestellt!“
„Sorry … und … danke für die Blumen, aber …“ Ich steckte mir eine Zigarette an. „… wir sind ja noch lange nicht fertig. Morgen kommt der Rest und dann geht’s ins Layout. Das wird noch ein ganz schönes Stück Arbeit, aber das wird schon.“
„Das denke ich mir auch!“ Der Jungdesigner grinste. „Und wenn die Kollektion erfolgreich ist und sich gut verkauft, dann machst du auch den nächsten Katalog.“
„Gerne, aber dann hätte ich gerne etwas mehr Vorlauf.“ Nun grinste ich ihn an.
„Die sollst du kriegen, denn diesmal …“ Tom lächelte zurück. „… war es ja wirklich etwas stressig.“
„Etwas?“ Hatte der Mann eine Ahnung! „Stressig ist gar kein Ausdruck! Für all deine Sachen bräuchte man mindestens zwei Tage mehr, besser wären sogar drei Tage.“
Der Zopfträger blickte mich fragend an. „Wieso? Es scheint doch auch so zu gehen, oder?“
„Ja, aber … es schlaucht ganz schön, wenn du am Ankunftstag gleich drei Locations hast, die du nicht kennst und die Hälfte deiner Modells zum ersten Mal siehst.“ Ich atmete tief durch. „Es wäre besser, etwas mehr Zeit zu haben. Nur ein Beispiel: Heute wollten wir ja auf’s Schiff, aber das Wetter spielte nicht mit. Aufgrund der Kürze des Shootings ist eine Wiederholung leider nicht möglich.“
Der Dunkelblonde grinste. „Man hätte doch auch Innenaufnahmen machen können.“
„Hätte man, aber ob du nun eine halbnackte Gestalt auf einem Bett oder in einer Koje ablichtest, kommt auf das Gleiche heraus und … du hättest den Kahn sehen sollen! Die Elektrik hat schon beim Einschalten des Wasserkochers den Geist aufgegeben, wie hätte ich da meine Lichtanlage aufbauen sollen?“ Ich musste dem Jungdesigner ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich dort nur auf Außenaufnahmen eingerichtet gewesen war.
Der Hanseat legte den Kopf schief. „Wie? Kanntest du das Schiff etwa auch nicht?“
„Woher? Ich war ja froh, dass Luigi ein Boot bekommen hat, aber …“ Ich aschte ab. „… er betreibt einen schwulen Puff und ist kein Set-Scout. Ein Profi hätte darauf geachtet, aber er ist keiner; einen Vorwurf kann ich ihm also nicht wirklich machen.“
„Aber beim nächsten Mal hätte ich gerne ein paar Motive auf dem Wasser.“ Tom lachte.
Meine Augenbrauen wanderten nach oben. „Kannst du kriegen, aber … selbst für ein einfaches Schiff musst du mindestens mit einer Tagescharter von 1.000 Euro rechnen. Wenn du so viel Geld hast …“
„Na, dann muss ich wohl viele Shirts und Shorts verkaufen, um mir das leisten zu können.“ Ruderte er etwa schon zurück? „Aber wo willst du die Bilder machen? Wieder hier auf Malta oder …“
„Mir soll‘s egal sein, Hauptsache du hast Sonne und eine einigermaßen vernünftige Landschaft. Malta hat den Vorteil, dass ich hier einen Ansprechpartner habe, auf den ich mich verlassen kann: Luigi hat mir nach dem Fiasko auf dem Schiff sofort eine Ersatzlocation besorgt. Wenn das an der Türkischen Riviera passiert wäre?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Und hier hast du auch keine Probleme mit der Polizei oder irgendwelchen Sittenwächtern. Würdest du mit dem Set nach Ägypten gehen …“
„Neenee! Gregor hatte die Idee, man könnte im Spätsommer nach Königsberg oder Petersburg fahren, aber bei den Russen?“ Seine Stimme klang plötzlich hart. „Sorry, ich werde kein Land unterstützen, dass schwule Rechte offen mit Füßen tritt.“
„Da wäre Schweden schon besser!“ Ich grinste. „Aber da hast du leider keine Wettergarantie. Man könnte vielleicht nach Kroatien oder Griechenland ausweichen, aber da bräuchtest du dann wieder einen Scout, den du hier schon hast.“
„Und was hältst du von Spanien oder Portugal?“ War das Neugier in seiner Stimme?
Ich drückte die Zigarette aus. „Kann man, aber … dann musst du die Modelle komplett einfliegen. Hier kann ich zu Luigi sagen, besorg mir kurzfristig noch fünf knackige Boys und habe dann zehn zur Auswahl. Außerdem glaube ich, dass die Tagesgage bei spanischen Strichern deutlich über dem Niveau hier liegt, denn die … äh … Modelle hier krieg ich für einen Pauschalpreis.“
Nicky störte die traute Zweisamkeit, man würde in 20 Minuten den Grill anwerfen. Falls wir uns noch frisch machen wollten wäre jetzt die passende Gelegenheit dazu. Ich war ja bereits geduscht und auch Tom hatte in seinem Hotel schon Körperpflege betrieben, wir schlugen uns daher bei einem kleinen Aperitif und einem anregendem Gespräch die Zeit um die Ohren.
Das Barbecue für die Foto-Truppe wurde im kleinen Hinterhof eingenommen. Das gestrige Essen war im Barbereich serviert worden, der war heute jedoch wieder für das normale Publikum des Hauses reserviert. Aber der Ort tat der Stimmung keinerlei Abbruch,es wurde gelacht, gescherzt und – vor allem – sehr gut und sehr viel gegessen. Von der Nahrungsaufnahme gibt es nicht viel zu berichten, einzig Paul wurde nach dem ersten Steak vom maltesischen Stier der Tafel verwiesen. Wenn ich es richtig verstanden hatte, sollte er jetzt wohl seine Strafe antreten.
Nach dem Essen saß Tom mit Luigi zusammen, Nicky leistete Igor und mir Gesellschaft, Servet und Gürkan redeten mit Abu und Ian, Daniel saß stumm daneben. Aber die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen wechselte mit jedem Gang an die Bar, auf eine eigene Getränkeversorgung für die Grillparty hatte man verzichtet. Gegen 22:00 Uhr wurde der Hausherr ins Innere seines Hauses gerufen, es gab wohl Probleme mit der Kreditkarte eines Kunden.
Tom kam mit seinem Glas in der Hand zu uns. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal ein schwules Bordell aufsuche. Aber ich muss sagen, hier gefällt es mir.“
Der kochende Hausmeister grinste und bot eine sofortige Hausführung an. Tom bekam glänzende Augen und blickte uns erwartungsvoll an. Igor lehnte erst ab, wir hatten ja sämtliche Spielzimmer bereits besichtigt, aber er ließ sich dann doch überreden zusammen mit mir den Hamburger dann doch noch zu begleiten. Im Gegensatz zum gestrigen Tag konnten wir jedoch nicht in alle Räumlichkeiten einen Blick werfen, zwei Zimmer und eine Suite waren besetzt.
Die Tour endete wie tags zuvor im ehemaligen Wein- und jetzigem SM-Keller. Die Folterwerkzeuge, die allein der sexuellen Stimulanz dienen sollten, sahen jetzt noch martialischer aus als gestern im Neonlicht; der gesamte Raum war in schummriges Kerzenlicht getaucht, ich bekam tatsächlich eine Gänsehaut. Mein Gatte erschrak, als ein kehliges Röcheln die fast schon gespenstige Stille störte.
Auch Tom schien verwirrt. „Was … äh… wer ist denn das?“
Der ehemalige Koch des Bischofs deutete auf die Gestalt, die am Pranger stand. „That’s Paul. There are two hours of his punishment left, so: Have fun and enjoy yourself!“ Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen ließ er uns allein.
„Was … was sollen wir hier?“ Der Designer schien immer noch nicht ganz verstanden zu haben.
Ich grinste. „Paul und Daniel, das ist der Kleine, der beim Essen neben dir saß, haben gestern … hmm … durch eine Hormonstörung das Shooting durcheinandergebracht, wenn man das so sagen kann.“
„Die haben was?“ Eine eindeutige Verwunderung lag in seiner Stimme.
Mein Gatte gluckste. „Die haben die erotische Spannung am Set wohl nicht ausgehalten und selbst für einen gewissen körperlichen Ausgleich gesorgt. So kamen sie zu spät zur letzten Aufnahme und Stefan reagierte ziemlich säuerlich. Paul gehört ja zu Luigis Männern und die werden halt, wenn sie … ungut tun, zu gewissen Strafen verdonnert.“
„Ich hasse Zuhälter!“ Tom schien nicht gerade erbaut zu sein.
Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, wir haben die Modelle das ganze Wochenende gebucht und Luigi hat einwandfreie Ware versprochen. Einer seiner Knaben hat, sagen wir es einmal so, ein Eigenleben entwickelt und das störte ihn. Eigentlich ist er ziemlich umgänglich, er lässt sich halt ungern auf der Nase herumtanzen. Wenn seine Leute hier unten sind, verdienen sie kein Geld, nur er kassiert, aber das ist aber auch die einzige Strafe, die sie treffen kann, handgreiflich wird er nie.“
Der Hamburger kratzte sich am Kopf, grübelte und ging dann auf das Podest vor dem Pranger, auf dem vier brennende Kerzen standen, zu. „Das heißt also, wir könnten … den Typen … hier und jetzt?“
„Was meinst du?“ Igor schien die Frage nicht richtig verstanden zu haben.
„Na, wir haben den Knaben doch für das ganze Wochenende schon bezahlt, oder sehe ich das falsch? Wenn ich eh schon für ihn bleche, dann …“ Ein diabolisches Grinsen legte sich auf seine Lippen. „… dann können wir doch auch …“ Er erklomm die Stufen und stellte sich direkt vor den Sträfling, tätschelte den mit einer Ledermaske verdeckten Kopf. „Ich hab noch nie in einem solchem Keller …“
„Ich auch nicht!“ Was sollte Igors Einwurf denn jetzt?
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. „Jungs! Wir können doch nicht …“
„Warum nicht?“ Tom hatte das Podest verlassen, tastete über den nackten Rücken des Sträflings und ließ das Bündchen der Jocks, andere Bekleidung war an dem Mann nicht vorhanden, laut auf die blanke Haut klatschen. „War da schon jemand drinnen? Ich meine heute?“
„Teste es doch einfach mal aus!“ Igor grinste meinen Auftraggeber frech an.
Der griff sich eine der Gerten, die auf dem Podest lagen, schlug sich damit zwei- oder dreimal in die Hand, die Treffer waren deutlich zu hören. Dann ließ er die Rute auf dem wohlgeformten Hintern tanzen.
Der gebückt stehende Jüngling ächzte, versuchte den Schlägen auszuweichen, aber sein Bewegungsradius war ja mit eingeklemmten Kopf und ebensolchen Händen mehr als eingeschränkt. Viel konnte man allerdings nicht hören, denn Luigi hatte ihm wohl auch einen Knebel angelegt, um etwaige Hilfeschreie zu verhindern.
Ein erneuter Schlag, diesmal schien er ziemlich heftig gewesen zu sein. „Tom! Nicht zu fest!“
„Wieso?“ Der Zopfträger blickte mich fragend an. „Das ist doch ein SM-Keller, oder?“
Ein Räuspern drang aus meiner Kehle. „Striemen auf dem Arsch kommen auf Bildern nicht gut!“
„Auch wieder wahr!“ Er ließ die Gerte fallen und nahm zur Fortsetzung stattdessen seine Hände.
Mein Gatte stand plötzlich auf dem Podest und tätschelte dem Knaben über das Kopfleder. „Du, der Knebel ist ja abnehmbar.“ Er wollte doch nicht etwa? Innerlich schüttelte es mich, aber anscheinend wollte mein Gatte doch.
Er nestelte an seiner Hose, legte das russischer Schwert frei und nach zwei, drei kurzen Handgriffen – anscheinend hatte ihn die erotische Stimmung der Örtlichkeit auch schon längst gefangen – war sein Teil einsatzbereit. Mit einem Ruck zog er den Knebel heraus und führte, leicht grunzend, sein ansehnliches Anhängsel in die fremde Mundhöhle ein.
Ich war fassungslos. „Igor! Was machst du da?“
Außer einem geilen Grinsen, anders konnte man seinen Geschichtsausdruck wirklich nicht nennen, erntete ich ein Schulterzucken. „Nach was sieht das denn aus? Ich lasse mir einen blasen! Aber … ein richtiger Blow-Job ist das nicht, die Sau macht den Mund einfach nicht zu.“ Er tastete an dem Kopfgeschirr. „Sorry, geht ja auch nicht, da ist so eine Art Maulspreizer eingebaut.“
Ich ging auf den armen Sünder zu, der immer noch unter den Schlägen des Designers hin und her tänzelte, griff in dessen Körpermitte, befreite sein Anhängsel aus der Stoffhülle und tastete nach dessen Bällen.
Ich spielte mit ihnen, walkte sie und zog daran. Aber dadurch, dass meine Hand jetzt zwischen den Beinen des Gebückten beschäftigt war, musste Tom seine trommelhaften Schläge einstellen. Stattdessen ging er auf die Knie, zog die Backen des Gefangenen auseinander und ließ seine Zunge durch das Tal gleiten. Ich schaute mich um, konnte in unmittelbarer Umgebung keine gleitenden Hilfsmittel erkennen, aber am Eingang stand ein Korb mit solchen Sachen.
Ich trabte los und wieder zurück am Objekt hielt ich Tom die weiße Tube hin und bedeutete ihm, einen Schritt zurück zu treten, allerdings schien der mich nicht verstehen zu wollen. Er ließ sich vom schmatzenden Lecken nicht abbringen. Wehe, wenn Männer sich an einer Sache einmal festgebissen haben! Doch ein kleiner Stoß reichte und Tom taumelte leicht zurück, der Hintern war jetzt frei und ich übernahm das notwendige Schmierwerk.
Gut, ich gebe es zu: Bei der Salbung der Pforte gab ich meinem Zeigefinger auch Gelegenheit, selbige zu durchstoßen, aber das war ja nur ein kleiner Teil der Vorarbeit.
Meine Behandlung schien dem Bestraften allerdings zu gefallen, denn sein Tänzeln hatte aufgehört, er schob sich stattdessen fast auf meinen Finger. Als ich meinen Mittelfinger ebenfalls hineingleiten ließ, öffnete Tom grinsend seine Hose und zeigte mir den hanseatischen Flaggenmast; einen Monsterdödel hatte er nicht, aber sein Teil war dennoch ansehnlich, so knapp unbeschnittene zwanzig Zentimeter.
Das salbungsvolle Werk hatte ich gerade beendet und dem Designer den Daumen zum „Zustechen“ hochgereckt, da passierten zwei Dinge gleichzeitig: Tom stieß wie erwartet zu und traf auch direkt ins Bullseye, aber gleichzeitig wurde auch die Deckenbeleuchtung eingeschaltet. Leicht geblendet wanderten alle Augen in Richtung Tür, denn nur von dort konnte die Störung verursacht worden sein. Ich traute meinen Augen nicht: In der Tür stand Paul!
Igor machte einen Schritt vom Objekt zurück und wäre dabei fast vom Podest gefallen. Moment! Wenn der maltesische Übeltäter da im Türbogen weilte, wen hatten wir dann vor uns? Das konnte dann ja nur Daniel sein. Ich blickte nun genauer auf den gebückten Jüngling, der, immer noch aufgespießt, vor mir stand, und musste deutlich schlucken: Es war die kleine Ölkanne!
Während wir uns noch sortierten, hatte Paul das Podest erreicht und befreite seinen Kompagnon erst vom Pranger, dann von der Ledermaske. Sanft strich er ihm übers Gesicht, eigentlich ein anrührendes Bild. Kopfschüttelnd blickte ich den nun nackt vor mir stehenden Azubi an. „Daniel? Was machst du denn hier unten?“
Er schluckte. „Ich … ich bin ja nicht ganz unschuldig, dass Paul bestraft wurde und da … da wollte … da wollte ich den zweiten Teil seiner Strafe übernehmen.“
„Wenigstens zeigst du so etwas wie Verantwortung.“ Mein Blick wurde etwas milder. „Aber das hätte ja auch nach hinten losgehen können! Wenn Paul nicht hineingeplatzt wäre, dann …“
„… dann wäre ich halt gefickt worden! Na und?“ Er legte fast zärtlich seine Hand um die Hüfte des professionellen Liebesdieners. „Ich lasse meine Buddys nie hängen! Wir haben beide Mist gebaut und warum soll nur einer bestraft werden? Zum Spaß gehören ja auch immer zwei Mann!“
„Und was sagt dein Buddy in der Heimat?“
Igor hatte wohl den wunden Punkt getroffen, denn Daniel sackte urplötzlich zusammen. „Äh …“
„Das regeln wir, wenn wir wieder zu Hause sind.“ Ich blickte in die Runde und deutete auf die Tür.
Wieder im Hinterhof versorgte Tom uns erst einmal mit Getränken. Igor schien Gewissensbisse zu haben, mein Grinsen ließ ihn den Kopf schütteln. „Was ist denn so lustig daran? Ich hätte mir fast von Daniel einen blasen lassen!“
„Nicht von Daniel, mein Schatz.“ Ich legte meine Hand auf seinen Arm. „Wir waren alle der Meinung, Paul würde da unten stehen und … auf Kundschaft warten.“
„Von mir aus!“ Er schmollte. „Aber? Warum bist du den Kleinen eigentlich so scharf angegangen?“
„Damit er erst gar nicht auf die Idee kommt, uns Gewissensbisse einzureden.“ Ich sah meinen Gatten scharf an. „Und die scheinst du ja jetzt tatsächlich zu haben.“
„Du etwa nicht?“ Fragend blickte er mich an.
Ich schüttelte den Kopf. „Nicht im geringsten, denn …“
„Na, die größte Schuld trifft ja wohl mich.“ Tom wirkte ebenfalls relativ kleinlaut. „Ich habe euch ja mehr oder minder dazu überredet, mit mir …“
„Quatsch keine Opern!“ Ich blickte den Modeschöpfer forsch an. „Es war die Situation und der Ort. Mich hat keiner gezwungen, meine Finger im Arsch des Kleinen zu versenken, und Igor hat sein Teil auch nicht unter Androhung von Gewalt aus der Hose geholt, das hat er schon freiwillig gemacht.“ Mein Russe kratzte sich verlegen am Kinn. „Daniel und Paul haben gemeinsam Bockmist gebaut und wollten die Suppe jetzt zusammen auslöffeln. Und da ich nicht annehme, dass Paul Daniel darüber im Unklaren gelassen hat, was da unten alles passieren könnte, sehe ich es nicht ein, jetzt ein schlechtes Gewissen zu haben.“ Ich blickte zu Igor „Ich sehe eher ein anderes Problem.“
„Welches?“ Der angehende Lehrer schaute etwas ratlos.
Ich legte meinen Kopf schief. „Marvin! Wir können ihm zwar die Verwechslung erklären, aber wie sagen wir ihm, dass es überhaupt zu einer Verwechselung kam?“
„Wie meinst du das denn jetzt?“ Nun Tom schien leicht verwirrt. „Ist das nicht das Gleiche?“
„Ne Tom, Stefan hat recht.“ Igor rieb sich erneut das Kinn. „Wir müssen Marv sagen, dass sein Freund … ihn … mit einem Dritten … und das unter unseren Augen …“
„Die ihr aber nicht überall haben könnt! Die beiden hätten ja auch später hier unter der Dusche oder in der Nacht … hättet ihr das dann auch mitgekriegt?“ Nun grinste der Designer. „Dass der Knabe gleich die erstbeste Gelegenheit nutzt, um Druck abzubauen und dabei erwischt wird? Selber schuld, würde ich sagen, ihr werdet ihn ja sicherlich nicht zum Fremdvögeln ermuntert haben, oder?“
„Gott bewahre!“ Mein Schatz grübelte erst, grinste dann aber. „Dann ist es doch deine Schuld!“
„Was hab ich denn jetzt wieder damit zu tun?“ Verwunderung stand im Gesicht des Hanseaten.
Igor lachte. „Ohne deinen Auftrag wären wir nicht hier und Daniel wäre Paul nicht begegnet!“
„Schatz! Diesen Conditio-sine-qua-non-Scheiß kann man auch überstrapazieren, wir sind hier nicht vor Gericht!“ Ich legte meine Stirn in Falten. „Der einzig Schuldige ist Paul!“
„Wieso das denn jetzt?“ Tom hatte Fragezeichen in den Augen.
Ich wollte gerade zu einer ausführlichen Antwort ansetzen, aber Igor kam mir zuvor. „Na, wäre er nicht aufgetaucht? Wir hätten unser erstes Mal in einem SM-Keller gehabt.“
„Stimmt, ich hab zwar schon viel erlebt, aber an so einem Ort? Da bin auch ich noch Jungfrau.“ Der Hamburger schmunzelte und blickte mich dann an. „Hast du da schon … Erfahrungen?“
Alte Erinnerungen kamen hoch. „Ewigkeiten her! War der zweite oder dritte Film mit Luigi. Wie hieß der Streifen noch? Ach ja: ‚The Spanking Abbot‘, bescheuerter Film. Der Abt, also Luigi, rennt die ganze Zeit mit einer weißen Soutane rum und züchtigt nacheinander die Novizen seines Klosters, um sie dann nach allen Regeln der Kunst durchzunudeln. Handlung nahezu Null, aber echt tolles Filmset. Die drehten tatsächlich in einem alten Gemäuer mit echtem Folterkeller aus dem Mittelalter.“
„Und du warst einer der Novizen?“ Meinte Tom diese Frage wirklich ernst?
Ich schüttelte fast fassungslos den Kopf. „Ich war der Set-Fotograf. Naja, und in den Drehpausen … Wenn du schon mal in einem echten Folterkeller bist, warum also nicht die Gelegenheit nutzen?“
„Und was hast du gemacht?“ Wieso leckte sich mein Russe die Lippen?
Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, ich hab mich von Steven, einem der Novizen, ans Andreaskreuz binden lassen. Er sollte oder wollte mich … na, ihr wisst schon! Aber … das endete in einem Fiasko!“
„Was ist denn passiert?“ Neugierig war der Jungdesigner überhaupt nicht.
„Nichts! Steven reicht mir bis hier …“ Ich deutete auf meinen Halsansatz. „… und er ist halt nicht mit einem großen Anhängsel gesegnet. Der musste erst auf eine Fußbank, um überhaupt an mein Loch zu kommen, und, als er gerade drinnen war, da brach dieser verdammte Tritt zusammen.“
Meine Pein von damals sorgte für Erheiterung. „Das muss ja ein Bild für die Götter gewesen sein!“
„Haha! Problem war nur, Steven hatte sich dabei den Knöchel gestaucht und konnte an dem Tag nicht mehr drehen. Der wollte hinterher sogar Schadensersatz … von wegen ausgefallener Drehtag und so.“ Ich tippte mir an die Stirn. „Aber der Produzent war gut: Der hat ihm die kaputte Fußbank auch noch von der Gage abgezogen.“
Igor grinste mich frech an. „Ach! Deshalb willst du kein Andreaskreuz im Spielkeller!“
„Wie? Spielkeller?“ Tom blickte mich fragend an. „Sag bloß, du willst dir so ein Teil bauen?“
„Ich? Igor hat das gestern Abend erwähnt.“ Ein strafender Blick meines Gatten traf mich, ich zuckte leicht zusammen. „Ok, mein Ex und ich wollten uns vor Jahren mal ein Spielzimmer einrichten, aber dann verließ er mich, und für mich alleine?“
„Begeistert klingt das aber nicht, wenn ich das mal so sagen darf.“ Tom blickte mich zweifelnd an.
Ich rieb mir die Augen. „Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob sich die Investition lohnen würde; nicht nur wegen des Geldes. Gut, so ein Zimmerchen hätte was, aber … SM sehe ich nur als Spielart und nicht als Lebenseinstellung. Außerdem … außerdem käme für mich eh nur die softe Variante in frage, wenn überhaupt.“
„Mein Schatz ist halt doch ein Romantiker! Aber irgendwie hat er auch recht. Er braucht mich nicht erst anzuketten, um mich zu ficken, ich halte freiwillig hin. Andersrum ist es gaynauso.“ Mein Gatte nahm seine Brille ab, putzte sie. „Aber wieso trägt Paul denn deiner Ansicht nach die Alleinschuld? Du hast doch beide unter Vertrag.“
„Ach das!“ Igor und seine Gedankensprünge! „Stimmt, beide sind meine Modelle. Du kannst zwar was mit einem Kollegen anfangen, mit ihm in die Kiste springen, um Spaß zu haben, aber nie, und das ist eines der ungeschriebenen Gesetze am Set, nie während der Fotograf noch arbeitet.“
„Gut, gegen diese Regel hat er zwar verstoßen, aber …“ Tom blickte mich unsicher an. „… dasselbe gilt doch auch für diesen Daniel, oder etwa nicht?“
„Tom, Daniel ist Autoschrauber, zwar fotogen aber ein reiner Amateur und … teilweise auch ziemlich naiv, er denkt nicht daran, dass seine Handlungen auch Folgen haben können. Paul verdient sein Geld als Stricher, hat also das zu machen, was der Kunde von ihm verlangt: mal den aktiven Hengst spielen, mal die passive Stute.“ Ich steckte mir eine Zigarette an. „Die Zwei hatten beide ihre Hormone nicht unter Kontrolle, somit stünde es unentschieden, aber …“ Ich blicke den Jungdesigner ernst an. „… aber du musst das Alter beachten; Paul ist mindestens fünf Jahre älter, hat von daher schon ein Mehr an Lebenserfahrung und bedenkt man jetzt noch seinen Job, dann ist er der kleinen Ölkanne haushoch überlegen. Außerdem …“ Ich blies den ersten Rauch aus. „… für Paul ist die Sache mit der von Luigi verhängten Strafe erledigt. Für ihn sind wir, wenn wir morgen in den Flieger steigen, Geschichte. Aber für Daniel? Für Daniel fängt der eigentliche Leidensweg dann erst an!“
„Wie meinst du das denn jetzt?“ Der Zopfträger blickte mich erstaunt an.
Igor kam mir zuvor. „Der Kleine wollte seine Gage nutzen, um mit Marvin im Sommer nach Australien zu fliegen. Und dann geht er gleich mit dem Erstbesten in die Kiste?“
„Wenn er mit Marv nicht zusammen wäre, wäre es mir ja egal, ich würde es als lustige Episode am Rande des Shootings abtun, aber so?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich möchte jetzt echt nicht in seiner Haut stecken, denn er wird sich denken können, dass sein Seitensprung nicht unerwähnt bleiben wird. Er weiß ja, wie eng wir …“
„Und was wäre, wenn Daniel und dein Marvin sich vorher ‚Pardon‘ gegeben hätten?“ Tom blinzelte mich, keck grinsend, an.
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, kam ins Grübeln. Benny wollte mit meinem Wissen und Segen das Wochenende ja nutzen, um endlich mit Marvin über sich und seine Gefühle zu ihm zu reden. Was wäre, wenn es dabei nicht beim Reden geblieben wäre? „Du meinst, die beiden hätten so eine Art Gentlemen-Agreement getroffen? So für den Fall der Fälle?“
„Warum nicht? Wenn Marvin nach dir kommt, dann … dann könnte man das fast annehmen.“ Er grinste mich frech an. „Also nicht die Pferde scheu machen, lieber abwarten. Die sollen die Sache erst mal unter sich klären und wenn das dann nichts bringt, dann … dann kann man immer noch eingreifen.“
„Ist es dann aber nicht zu spät?“ Unsicherheit machte sich in mir breit.
„Nein! Tom hat da einen guten Ansatz.“ Igor hatte wieder diesen Pädagogenblick. „Marvin wird erwachsen, will sein Leben selbst in die Hand nehmen. Wenn du sofort eingreifst, dann nimmst du ihm die Möglichkeit, das Problem selbst zu lösen. Und wenn er fragt, warum wir ihm nichts erzählt haben, dann sagen wir ihm halt, wir waren der Ansicht, er könne das selbst regeln. Vertrau doch einfach auf seine Konfliktlösungskompetenz.“
Ich atmete tief durch, das war einfacher gesagt als getan. „Schauen wir mal, dann …“
„Already finished?“ Nicolas kam zu uns, war anscheinend erstaunt, uns hier oben zu sehen.
„The wine offered in the cellar was a little bit to young for us …“ Tom grinste. „… if you understand.“
Der hünenhafte Koch lächelte den Designer süffisant an. „Take a more seasoned bottle … like …“
„You mean a bottle of your age?“ Tom zwinkerte dem Faktotum des Hauses zu, der verzückt mit den Wimpern klimperte. Was sollte das nur noch geben?
Um es vorweg (und Euch den Wind aus den Segeln) zu nehmen, es wurde ein ziemlich kurzweiliges Gespräch voller Anzüglichkeiten und ähnlicher Frivolitäten, die man im Nachhinein nur schwer wiedergeben kann.
Situationskomik muss man einfach halt erleben, konserviert kommt sie nicht gut, besonders dann, wenn die ihr zu Grunde liegende Gemengelage auch auf verschiedene Sprachen zurückzuführen ist. Alle sexuellen Anspielungen blieben verbaler Art und zogen keine körperlichen Aktivitäten nach sich, jedenfalls waren Igor und ich in solche Geschehnisse nicht involviert.
Die Aufnahmen am Sonntagmorgen waren, nicht nur weil sie im Haus stattfanden, ein Kinderspiel. Ich war früher fertig als gedacht, alles verlief wie am Schnürchen, Störungen waren nicht zu verzeichnen, die Malteser arbeiteten wie die berühmten Heinzelmännchen. Stutzig wurde ich erst, als man mir gegen kurz vor elf, bei einer Zigarettenpause, den Aschenbecher mit der Bemerkung aus der Hand nahm, ich könne bis zum Lunch warten, der würde eh gleich serviert werden. Tatsächlich war die mittägliche Nahrungsaufnahme, zu der wir dann auch Punkt Zwölf gerufen wurden, eher einem besseren Stehimbiss vergleichbar, wenn man das so sagen kann.
Als man um kurz vor eins zum Aufbruch drängte, fiel es mir wieder ein: Es war Feiertag auf der Insel und Luigi hatte für uns Mitteleuropäer ja eine Überraschung geplant; ich war gespannt, was er sich für uns ausgedacht hatte.
Als wir nach zwanzigminütiger Fahrt den Kleinbus, der das Lenkrad auf der für mich falschen Seite hatte, wieder verließen, war ich – zugegebenermaßen – etwas erstaunt. Wir standen vor einer geöffneten Kirchentür und konnten beobachten, wie eine üppig geschmückte Heiligenstatue unter Applaus aus dem sakralen Raum heraus und dann durch die Straßen des Dorfes getragen wurde. Unsere maltesischen Freunde waren schier aus dem Häuschen.
Kannte ich kirchliche Prozessionen bisher nur von irgendwelchen Fernsehübertragungen, musste ich mir doch mehr als einmal die Augen reiben.
Das Gehabe der Leute, mit denen wir uns in Bewegung setzten, erinnerte eher an einen Karnevalsumzug als an eine ritualisierte Prozession, die Musik war auch eher fröhlich als pathetisch, anstatt mit Kamellen wurde mit Blumenblättern um sich geworfen, man herzte sich und feierte fröhlich und unbeschwert miteinander.
Ziel des sakralen Umzuges war eine improvisierte Freilichtbühne am Rande des Ortes und wir waren Zaungäste einer Aufführung einer Laienspielschar, die uns und allen anderen Anwesenden zeigte, wie der heilige Paulus im Jahre 60 auf Malta Schiffbruch erlitten hatte. Leider lag das Hauptaugenmerk des Regisseurs nicht auf der Rettungsaktion der knackig aussehenden und spärlich bekleideten Matrosen, nein, in seinem Fokus stand eindeutig die biblische Thematik der Apostelgeschichte mit Schlangenbiss, Krankenheilung und anderen Wundertaten.
Nach knapp einer Stunde verließ der Missionsreisende die Insel wieder, indem sein hölzernes Abbild zurück in die Kirche getragen wurde. Wir begleiteten ihn allerdings nur ein Stück des Weges, Luigi dirigierte uns kurz vor dem Ortseingang in einen kleinen Hinterhof.
Rick, der Fahrer vom Vortag, begrüßte uns in seinem ziemlich überschaubaren Garten, aus der Terrassentür kam mit einem vollen Tablett, Nicky. Ich wunderte mich etwas, aber ich hatte den Koch zuletzt beim Aussteigen gesehen, sein Fehlen war mir – ob des ganzen Gewusels – gar nicht aufgefallen.
Bei einem Glas gut gekühltem Glas Catarratto und einigen Sandwiches, Kultur kann hungrig machen, stärkten wir uns, allerdings war die Stimmung etwas komisch, wenn man das so sagen kann. Ich ließ meinen Blick durch den kleinen Garten schweifen.
Die Leute standen, bunt gemischt, durcheinander und unterhielten sich, teilweise mit Händen und Füßen. Es mag seltsam anmuten, aber ich hatte das Gefühl, dass die Mannschaft traurig darüber war, gleich auseinandergehen zu müssen; die Stimmung wirkte auf mich irgendwie gedrückt.
Gut, der Auftrag war für mich lange noch nicht erledigt, ich musste ja noch das Layout machen, aber die Aufnahmen waren im Kasten und das gewagte Experiment mit der Mischung aus Amateuren vor und neben der Linse war geglückt.
Vielleicht war das genau der Unterschied. Hätte man den Auftrag des Modedesigners mit reinen Profis durchgeführt, hätte man sich nach getaner Arbeit lediglich die Hand gegeben, vielleicht noch Visitenkarten ausgetauscht, aber mehr? Engere Bindungen entstehen bei solchen Shootings in der Regel nicht, aber hier war irgendwie alles familiär und diese Familie musste bald Abschied voneinander nehmen.
Auf der Fahrt zum Flughafen, irgendwann konnte man den Aufbruch nicht länger hinausschieben, blickte mich Servet fragend an. „Im Islam haben wir‘s ja nicht so mit Heiligen, aber … irgendwie schienen mir die Leute ganz aus dem Häuschen zu sein, besonders bei der Show, obwohl … naja, so berauschend war sie dann doch nicht. Ist das hier immer so?“
„Gute Frage!“ Ich konnte nur mit den Schultern zucken. „Malta wurde zwar relativ früh christlich, aber dieser Pauluskult kam erst mit den Johannitern so richtig in Mode. Die Ritter kolportierten dann auch, dass der Apostel hier gestrandet sein soll.“
„Wie jetzt? Die ganze Geschichte, die man uns vorgespielt hat, ist nur ein Fake?“ Igor schaute wie der ungläubige Thomas. „Der hat hier gar nicht Schiffbruch erlitten?“
Ein leichtes Grinsen legte sich auf meinen Lippen. „Wahrscheinlich nicht. Im Mittelalter favorisierte man Mljet, eine kroatische Insel in der Adria, die damals zum mächtigen Venedig gehörte. Dem heimatlosen Ritterorden war aber daran gelegen, sein Eiland als urchristlich und somit wichtig für die Kirchengeschichte zu verkaufen. Wer ist das besser geeignet als der Völkerapostel? Heute geht man davon aus, dass Paulus auf Kefalonia, einer Insel südlich von Korfu, gestrandet ist.“
„Ist ja echt krass.“ Der angehende Trockenbauer schüttelte sich. „Aber man müsste doch wissen, wo der Typ herumgeschippert ist, wenn er so wichtig war, oder?“
„Eigentlich schon, aber Paulus selber hat darüber nichts geschrieben, jedenfalls ist nichts erhalten. Und der Typ, der über zwanzig Jahre später den Reisebericht verfasst hat, war ja auch nicht persönlich dabei; von daher … bleibt eh alles Spekulation.“ Ich blickte in vier erstaunte Augen und dankte innerlich Pfarrer Reinhard Stücker, einem Fan des reisenden Apostels, der mich damals im Konfirmandenunterricht mit Kirchengeschichte mehr als traktiert hatte.
Vom ersten Teil der Rückreise gibt es nicht viel Berichtenswertes, lässt man einmal die tränenreiche und herzergreifende Verabschiedung zwischen Paul und Daniel am Flughafenschalter außen vor.
Das Essen im Flieger war erträglich, ebenso die Beinfreiheit in dem A 319. Ausgebucht war der Flug nicht, die Reihe hinter uns waren frei. Die kleine Ölkanne ergriff sofort die Gelegenheit und machte sich breit, belegte die komplette Sitzreihe; anscheinend wollte er alleine sein. Igor versuchte zwar, wir waren da gerade über Sizilien, mit ihm zu reden, aber dieses Unterfangen war wohl nicht von Erfolg gekrönt, so jedenfalls deutete ich seinen Gesichtsausdruck, als er sich wieder neben mich setzte.
Wir hatten Glück und mussten über München nicht in die Warteschleife, landeten sogar etwas vor der avisierten Zeit. Das Terminal zwei, wir mussten schließlich das Fluggerät wechseln, kannte ich noch nicht von innen, bei meinem letzten Besuch hier befand sich der Gebäudekomplex noch im Rohbau. Ich war angenehm überrascht, der Umsteigeweg war, genau wie im Prospekt zu lesen, tatsächlich kurz. Wir brauchten keine fünf Minuten und befanden uns dann schon vor dem Gate, durch das wir eine Stunde später in den Flieger nach Münster steigen würden.
Aber bei aller Großzügigkeit der Anlage, an den nikotinsüchtigen Teil der Reisenden hatte man bei den Planungen nicht gedacht: Es gibt in dem 980 Meter langen und 30 Meter breiten Flughafenteil nur drei Zonen, in denen man seiner Sucht frönen kann; bei einer Jahreskapazität von fünfundzwanzig Millionen Passagieren, meiner Meinung nach, etwas dürftig. In der Raucherlounge auf Ebene vier wollten wir uns wieder treffen, denn Servet und Gürkan wollten sich die Beine vertreten, Igor wollte aufs Klo und Daniel sowieso alleine sein. Und ich? Ich wollte Nikotin!
Raucher werden, so man nicht First oder Business fliegt und die entsprechenden Lounges der Airlines nutzen kann, auf Flughäfen ja meist sträflich behandelt. Der Franz-Joseph-Strauß-Airport bildet hier jedoch die löbliche Ausnahme, jedenfalls in Terminal zwei. Der gläserne Raum, den ich betrat, war ziemlich edel eingerichtet und, so schätzte ich, an die Hundert Quadratmeter groß. Im Inneren war es etwas kühler als außerhalb, das musste wohl an der Belüftung liegen; zu meinem Glück hätte mir nur noch ein Kaffee gefehlt, aber man kann ja nicht alles haben.
Gedankenverloren inhalierte ich den Rauch meiner Zigarette, war zufrieden mit mir und der Welt, hatte ich doch fast anderthalb Stunden des Fluges mit der Sichtung der Aufnahmen verbracht und so eine kleine Vorauswahl für das endgültige Layout des Katalogs getroffen. Zwar würde ich noch etliche Zeit am Rechner verbringen müssen, aber das kreative Fieber hatte mich wieder gepackt. Es ist halt ein Unterschied, ob man nur das Material liefert, das andere Leute später verarbeiten, oder ob man auch für die endgültige Gestaltung des Produkts verantwortlich zeichnet.
Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter, riss mich so wieder in die harte Realität des Alltags zurück. „Entschuldigung. Haben Feuer?“
Die Stimme hatte einen starken Akzent, vermutlich Russe. Ich blickte auf und traute meinen eigenen Augen nicht: Vor mir stand Igor, nur um fast ein Jahrzehnt gealtert. War ich in eine Zeitkapsel geraten? Leichte Grautöne durchzogen das Haar meines Gegenübers, das Gesicht wirkte etwas härter und kantiger als bei meinem Gatten, aber sonst? Ich kniff die Augen zusammen, aber auch der zweite Blick lieferte das gleiche Ergebnis. „Äh … was?“
„Gut, dann ich frage jemand anderen.“ Der Mann, ich schätzte ihn auf Ende 30, drehte sich ab.
„Moment.“ Ich griff in meine Tasche, reichte ihm mein Feuerzeug. „Hier bitte!“
„Danke.“ Der Mann holte eine blaue Schachtel mit goldenem Aufdruck aus seiner Brusttasche, die Marke kannte ich nicht, aber es schienen kyrillische Buchstaben zu sein. Doch ein Russe, zumindest ein Osteuropäer. Irgendwann hatte ich mal gelesen, dass jeder Mensch irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hat, Igors Spiegelbild hatte ich hier und jetzt gefunden; ob ich jemals meinem Abbild begegnen würde?
Der Typ steckte sich langsam seine Zigarette an, gab mir das Entzündungsgerät zurück, ich ließ ihn nicht aus den Augen. „Entschuldigung, aber … warum schauen mich so intensiv an? Hab ich Krümel im Gesicht? Ich habe gerade Sandwich gegessen.“
Ich schüttelte, fast hektisch, den Kopf. „Nein, nein nur … sie … sie sehen … einem sehr guten Freund von mir unheimlich ähnlich, fast wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Ich oute weder andere noch mich und das schon gar nicht vor Fremden. Und den Mann, der da genüsslich an seinem Glimmstängel zog, kannte ich nicht, warum sollte ich ihm meine sexuelle Neigung auf die Nase binden?
Mein Gegenüber grinste. „So etwas kann vorkommen. Ich habe zwar Brüder, aber … ähnlich?“ Er aschte ab. „Gut, eine gewisse Familienähnlichkeit … aber mehr?“
„Moment.“ Ich griff in die Hosentasche, holte mein Handy hervor und suchte nach einem Bild meines Liebsten, das unverfänglich war; mit Aktbildern gehe ich auch nicht hausieren. Ich wurde tatsächlich fündig. Marvin hatte Igor und mich mal bei einem Besuch auf dem Weihnachtsmarkt abgelichtet. Ich hielt das Display in seine Richtung. „Hier!“
Der Mann schaute, wohl eher aus Höflichkeit, kurz auf den kleinen Bildschirm, schluckte plötzlich, wurde bleich und die Zigarette fiel aus seinem Mundwinkel. „Das … das … das ist mein Bruder.“
War ich in einem schlechten Film? „Das ist … ihr Bruder?“
„Ja! Das ist Igor, mein jüngster Bruder.“ Er starrte mich an, seine Gesichtsfarbe normalisierte sich etwas. „Aber Moment! Dann … dann …“ Er musterte mich erneut, diesmal eindringlicher. „Meine Mutter hat mir nach Weihnachten ein Bild geschickt und da … da waren zwei fremde Männer, die ich nicht kannte. Sie schrieb, das wäre …“ Ein weiterer forschender Blick traf mich. „… ihr neuer Schwiegersohn … und der hätte ein Ziehkind.“
„Das waren dann mein Neffe Marvin und ich.“ Das Leben schreibt doch die skurrilsten Drehbücher, ich schluckte. „Dann musst du Wadim sein, also der Bruder, der wieder nach Russland ging?“
„Genau der bin ich.“ Er blickte mich starr an und, anstatt seine Zigarette wieder aufzuheben, öffnete er einfach nur die Arme, kam auf mich zu und umschlang mich; mein eigenes Lungenbrötchen konnte ich gerade noch rechtzeitig in den Aschenbecher legen. Die Umarmung war stürmisch, sehr stürmisch sogar. Gut, ich kam mir zwar nicht vor wie in einem Schraubstock, aber eingeengt fühlte ich mich dann doch, aber es war eher eine positive Einschnürung, die ich da empfand.
Anscheinend war diese Art der Begrüßung typisch für die Reichenbachs, aber bisher kannte ich den engen körperlichen Kontakt nur von Mama Mine, wie ich Igors Mutter heimlich nannte, und von Ilonka, seiner Schwägerin. Bei den männlichen Mitgliedern war doch etwas mehr körperlicher Abstand angesagt, zumindest bei Bruder Alexander, der mit der Partnerwahl seines Bruders noch immer seine kleinen Probleme hatte. Irgendwann ließ der Druck nach und er ging wieder auf Abstand. Ich atmete durch, aber eine große Verschnaufpause ließ mir Wadim nicht. „Was machst du hier in München?“
„Wir kommen gerade aus Malta, von einem Shooting.“ Ich blickte meinen angehenden Schwager an.
„Wir?“ Wadim stutze. „Soll das heißen, Igor … Igorchen ist auch hier?“
Ich nickte. „Ja, dein Bruder ist auch hier. Er müsste eigentlich gleich kommen, wir wollten uns hier treffen. Aber …“ Ich griff nach meinem Mobilknochen und klingelte Igor an, aber der Teilnehmer war nicht zu erreichen. „Sein Handy ist aus. Wir müssen also warten.“
„Kein Problem!“ Er schenkte mir ein Lächeln. „Wir haben uns jetzt über fünf Jahre nicht gesehen, da kommt es auf ein paar Minuten auch nicht an. Ich hätte euch sonst morgen besucht.“
Ich war leicht verwundert. „Wie? Morgen? Weiß Igor, dass du kommst? Er hat nichts gesagt!“
„Konnte er auch nicht.“ Igors ältere Ausgabe zeigte mir erneut die Zähne. „Selbst Mama weiß nicht, dass ich komme. Es wird eine Überraschung, wenn ich bei ihr klingele.“ Wadim erkannte meine Verwirrtheit. „Die Reise hat sich Freitag erst ergeben: Der eigentliche Dolmetscher der Delegation liegt seit Donnerstag im Krankenhaus, Magendurchbruch oder so. Unser Verhandlungsführer spricht nur etwas Englisch und hat einen Ersatzmann bestellt und … hier bin ich.“
„Ich wusste gar nicht, dass du Dolmetscher bist.“ Wenn ich meinen Engel richtig verstanden hatte, war Wadim als Ingenieur für einen Energieversorger tätig, dessen Werbeschriftzug auf dem Trikot einer Bundesligamannschaft prangt.
Igors Spiegel schüttelte den Kopf. „Bin ich auch nicht, aber ich spreche Deutsch und da meine Firma ein Röhrenwerk bei euch kaufen will …“
„Die Wanningwerke!?“ Mein künftiger Schwager stutzte kurz, nickte dann aber; die Welt ist halt doch ein globales Dorf. „Dann wünsche ich euch viel Erfolg, denn dein Verhandlungspartner ist ein ziemlich kühler Taktiker, Olaf rechnet meist mit dem spitzen Bleistift.“
„Woher weißt du?“ Er steckte sich eine neue Zigarette an.
Ich tat es ihm nach. „Na, Olaf Krenzer, der Konkursverwalter von Wanning, ist ein guter Freund von mir, außerdem einer meiner Anwälte, wenn ich mal einen brauche. Aber wenn ihr den Zuschlag kriegt, dann weiß ich ja, an wen ich die Rechnung schicken muss.“
„Welche Rechnung?“ Nun war die Verwunderung auf der russischen Seite.
Diesmal zeigte ich ihm meine Zähne. „Ich verwalte die Werkswohnungen von Wanning, seitdem die pleite sind. Und da die zum Unternehmen gehören …“
„Was hast du denn mit Wohnungen zu tun? Mama sagt, du bist Fotograf.“ Er war eindeutig verwirrt.
„Bin ich ja auch, aber …“ Ich zuckte mit den Schultern. „… seit kurzem auch im Immobiliengeschäft tätig. Hat sich halt so ergeben.“
„Hat Mama noch gar nicht gesagt.“ Er wirkte tatsächlich etwas enttäuscht.
Ich wunderte mich, aber anscheinend wurde hinter unserem Rücken doch sehr intensiv über uns geredet. „Naja, ist ein Zusatzgeschäft, von irgendwas muss man ja leben.“
„Wie? Bist du denn kein guter Fotograf?“ War das Ironie in seiner Stimme?
Ich musste grinsen. „Liegt immer im Auge des Betrachters, aber von Bildern allein kann man heute kaum noch leben. Wer lässt heute noch Filme entwickeln?“
„Stimmt, aber ich habe lieber Foto in der Hand als ich sehe es auf Bildschirm, aber …“ Wadim lächelte verlegen. „… ich bin ja auch ein alter Mann.“
„Was soll ich denn sagen?“ Ich lachte ihn an. „Ich werde in diesem Jahr Vierzig.“
Der leicht graumelierte Mann musste ebenfalls grinsen. „Du wirst es überleben, hab ich letzes Jahr auch. Aber ich freu mich für meinen kleinen Bruder, dass er dich gefunden hat. Mama hat gesagt, er ist richtig aufgeblüht.“
„Und ich bin froh, dass er in mein Leben getreten ist.“ Jetzt wurde es persönlich. „Dann hast du also nicht gegen unsere … Verbindung?“
„Wieso sollte ich? Ob du einen Mann oder eine Frau liebst, ist egal. Hauptsache ist, du liebst und wirst geliebt, denn …“ Er winkte ab. „… denn nur dann bist du Mensch. Aber hättest du mich vor zehn Jahren gefragt, meine Antwort wäre anders. Andrej, der Lieblingsbruder von Galina, das ist meine Frau, war selbst … ein Golubój, liebte Männer, war ein netter Kerl, aber … er kam nicht zurecht, brachte sich um. Galina ist immer noch traurig. Von daher … wenn Igor einen Mann liebt, dann liebt er einen Mann. Was soll’s? Er ist mein Bruder und ich liebe ihn. Warum soll ich verdammen?“
„Gute Einstellung.“ Ich räusperte mich, auch wenn das Thema etwas heikel war. „Alexander hatte da erst so seine Probleme.“
Wadim bekam große Augen. „Ist der etwa immer noch so bekloppt wie früher?“
Ich erinnerte mich mit Schrecken an unser erstens Zusammentreffen beim Griechen. „Naja, er bessert sich, mittlerweile gehen wir fast normal miteinander um. Wie war er denn früher?“
„Alex war schon immer … ein Konformista, er macht überall Karriere, egal in welchem System er lebt. Er ist wie eine … wie sagt man … Flunder, die man nicht fangen kann, er schlüpft dir immer durch Hände.“ Er atmete tief durch. „Aber er arbeitet mit System, im Gegensatz zu Anatol, der war schon immer auf das schnelle Geld aus. Wenn du früher was wolltest, seien es Zündkerzen für‘s Motorrad oder Tabletten gegen Durchfall, er hat es dir besorgt, du musstet es nur zahlen können.“
Ich musste schlucken. „Und du?“
„Ich?“ Er lachte mich an. „Ich bin ich. Als Papa den Ausreiseantrag stellte, hatte ich gerade mein Abitur und ein Stipendium für die Universität. Außerdem war ich in Galina verliebt. Anatol war auch fast fertig. Alexej und Igor? Die … die waren noch in de Windeln.“ Mein Gatte und sein zwei Jahre ältere Bruder in Pampers? Ich musste schmunzeln, denn Igor kam direkt nach der Umsiedlung und dem obligatorischen Sprachkurs in die Realschule und in dem Alter sollte man aus solchen Hilfsmitteln schon herausgewachsen sein. Auch Wadim verzog amüsiert seine Mundwinkel. „Ich ging den Gang der Liebe und habe nicht bereut, mich für Galina entschieden zu haben, ich liebe sie immer noch wie damals in Schule. Also … was sollte ich gegen die Liebe haben?“
Welch wahren Worte, ich musste schlucken. Aber ehe ich zu einer Antwort ansetzen konnte, wurde ich zur Seite gedrängt und Igor knuddelte nun auf das Heftigste seinen Bruder; ich war irgendwie abgemeldet. Nach der körperlichen begann die verbale Begrüßung, aber was da genau gesagt wurde, vermag ich beim besten Willen nicht zu sagen, denn ein kaum zu entwirrendes Gemisch aus Deutsch, Russisch und dem leicht befremdlichen klingenden Dialekt ihrer Vorväter drang an meine Ohren.
Mein Russe strahlte, Wadim schien auch glücklich und zufrieden, was will man mehr? Allerdings musste diese unerwartete Zusammenkunft keine Viertelstunde nach ihrem Beginn auch schon wieder beendet werden, Igors Bruder musste seinen Flieger nach Düsseldorf erreichen. Wir hatten noch ein paar Minuten, unsere Maschine sollte ja erst um 21:35 Uhr abheben. Nur mit einiger Überredungskunst konnte ich Igor davon abhalten, sofort seine Mutter anzurufen, um die Rückkehr des „russischen“ Sohnes zu verkünden.
Aber er blickte mich dennoch fragend an. „Sag mal, wieso kann Wadim nach Düsseldorf fliegen und wir müssen nach Münster? Wir haben doch eher gebucht als er.“
„Schatz, ich weiß es nicht!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich wird es daran liegen, dass ich im Internet suchte und mit keinem menschlichen Wesen sprach.“
„Wie soll ich das denn jetzt verstehen?“ Er war eindeutig irritiert.
Männer! Ich räusperte mich. „Igor, ich habe für eine fünfköpfige Gruppe gesucht und eine ‚Party of five‘ trennt man nicht. Hätte ich jedoch im Reisebüro gebucht, der Agent hätte mir wahrscheinlich eine Aufteilung vorgeschlagen, aber Computer? Da musst du schon genau die Fragen formulieren, die du beantwortet haben möchtest, denn um die Ecke denken, wie wir Menschen, können die Dinger nämlich nicht!“
Er winkte ab. „Ist ja auch egal. Wir sehen ihn ja morgen Abend wieder!“
Vom Hüpfer nach Münster gibt es auch nicht viel zu berichten: Igor unterhielt sich sehr angeregt mit Servet und Gürkan leistete mir Gesellschaft. Die kleine Ölkanne saß alleine, anscheinend wollte er mit niemandem reden. Auch auf der Rückfahrt, Murat Demirci fungierte wieder einmal als unser Taxifahrer, bot sich keine Möglichkeit, Daniel okkupierte sofort den Beifahrersitz und wir anderen saßen im hinteren Teil des Transporters. Ich hätte sehr gerne mit ihm gesprochen, aber wer nicht reden will, der will anscheinend nicht!
Murat stoppte zuerst im Norden der Stadt, Daniel verließ uns aufgrund seines Wohnortes als Erster. Die Verabschiedung war etwas komisch, wenn man das so sagen kann: Er herzte aufs Herzlichste unsere türkischen Handwerker, umarmte aber etwas umständlich Igor – und mir? Mir gab er nur sehr zaghaft, fast gezwungen, die Hand! Was sollte das?
Die Verabschiedung von Gürkan und Servet vor deren Wohnblock verlief hingegen lautstark und, sagen wir es einmal so, mehr als intim. Es wurden nicht nur Umarmungen ausgetauscht. Ich spürte die Zunge des Kurden an meinem Ort und das Leckorgan des Altgesellen wollte meinen Mandeln anscheinend auch ‚Auf Wiedersehen‘ sagen.
Igors Erstbesteiger schlug die Einladung, uns noch in unsere Behausung zu begleiten, wohl mit Blick auf die vorgerückte Uhrzeit, aus, aber, als mein Gatte und ich gerade dabei waren, die Ausrüstung wieder ins Fotostudio zu bringen, klopfte es plötzlich an der Haustür. Igor, der näher stand, öffnete und Murat drückte ihm ein Kuvert in die Hand, das er anscheinend auf dem Beifahrersitz gefunden hatte, auf dem Kuvert stand nur ‚Marvin‘.
Tja, lieber Leser, das war das Shooting auf Malta und meine erste Begegnung mit meinem künftigen Schwager Wadim. Da ich nicht annehme, dass es von großem Interesse ist, was da in dem Brief stand, der an Marvin adressiert war, und welche Bedeutung der ‚verlorene Sohn‘ der Reichenbachs noch in meinem Leben spielen sollte, werde ich an dieser Stelle enden.
Falls ich – wider Erwarten – jedoch falsch liegen sollte, lasst es mich bitte schnell wissen, denn ich muss am Wochenende eine schwule Hochzeit im Rheinland ‚Fototechnisch‘ betreuen: Ein Staatsanwalt heiratet einen Lehrer! Der Vater des einen Bräutigams hat mich, da ich schon einmal für ihn als Retter in der Not tätig wurde, mehr oder minder dazu genötigt, die notwendigen Aufnahmen für die Nachwelt zu fertigen.

 

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