Zoogeschichten II – Teil 80

Unfälle und alte Damen

Phillip

Gelassen rollte ich den Weg entlang, beobachtete die Pfleger, wie sie die Gehege reinigten. Die meisten Tiere waren nun drinnen. Irgendwo von draußen hörte ich eine Sirene, die am Zoo entlang fuhr.

Wieder jemand etwas zugestoßen, dachte ich noch und rollte weiter. Im Savannengehege war niemand zu sehen, außer drei Zebras, die alleine die Grünfläche entlang rannten. Ich streckte mich etwas, um das große Tor zum Savannenhaus zu sehen, aber dort war niemand.

Von hinten kam ein Motorgeräusch und ich drehte den Kopf. Ein Notarztwagen kam den schmalen Weg entlanggerollt. Ich bemühte mich, in die Banklücke zurollen, damit der Wagen an mir vorbei kam.

Mit etwas Schwierigkeiten fuhr ich halb ins Gebüsch und hörte ein Danke aus der Richtung des vorbeifahrenden Wagens. Neugierig schaute ich ihm nach und sah, wie er vor dem Savannenhaus hielt.

Ich befreite mich mühsam aus dem Gebüsch und rollte zum Notarztwagen, aus dem ein Arzt und ein Sanitäter stiegen. Weiter bekam ich nichts mit, denn die beiden verschwanden gleich nach drinnen.

In so einem Haus konnte viel passieren und hoffentlich war es nicht all zu schlimm. Besorgt rollte ich weiter, sehen konnte ich ja sowieso nichts.

„Wo sind denn heute all die Tiere?“, hörte ich eine Stimme.

Ich drehte meinen Kopf herum und sah zwei ältere Damen, die sich langsam auf mich zu bewegten.

„Vielleicht sind wir zu früh, Elfriede und die Tieren schlafen noch“, sagte die Eine.

„Ach Quatsch, Agnes, die stehen früher auf als wir.“

„Also ich stehe jeden Morgen schon um sechs Uhr auf“, meinte nun Agnes.

„Warum denn so früh?“, fragte Elfriede.

„Ich weiß auch nicht…, ich bin es so gewohnt.“

„Und was machst du dann den ganzen Morgen, bis wir uns hier treffen?“

Anscheinend hatten die zwei Damen Jahreskarten und verbrachten jeden Morgen hier im Zoo. Ich musste über die Beiden schmunzeln.

„Ich stehe auf, ziehe mich an, mache mich zurecht…, frühstücken…“

„Und dazu brauchst du drei Stunden?“, fragte Elfriede.

„Ich lasse mir halt Zeit!“

Ich ließ dieses Seniorenidyll alleine und rollte weiter. Die Sonne wärmte trotz Oktober noch ordentlich und ich genoss es in vollen Zügen. Vor dem Gehege der Impalas* rollte ich aus.

* Antilopengattung

Aufgeschreckt von einem Stock, den ich überfahren hatte, hüpfte die kleine Herde um die Wette, bis sie sich wieder einigermaßen in Sicherheit fühlten.

Die Sprünge waren nicht all zu hoch, denn es waren mehrere Jungtiere dabei, die diese Sprunggewalt einfach noch nicht innehatten. Ich erinnerte mich noch an die Klinikzeit, als wir versuchten, eine Impala zu retten.

Ihr Hinterlauf war durch einen Unfall dermaßen zerschmettert, dass wir ihr nicht mehr helfen konnten. Plötzlich war die Erinnerung wieder da… an die sechs Pferde…, die ich wegen einer falschen Diagnose auf dem Gewissen hatte.

Missmutig rollte ich weiter, ohne noch einmal auf die Impalas zu schauen.

Michael

Mir war, als würde mir jemand die Luft abschnüren. Der stechende Schmerz ließ zwar nach, aber jedes Mal, wenn ich wieder etwas tiefer Luft holen wollte, kam der Schmerz wieder. Kevin kniete neben mir und sah mich sorgvoll an.

„Der Arzt ist schon da Micha, halt aus…“

Hatte Kevin etwa Tränen in den Augen? Ich verzog mein Gesicht zu einem Grinsen.

„He Alter, ich liege nicht im Sterben“, meinte ich, was Kevin natürlich nicht beruhigte.

„Soll ich Dennis Bescheid geben?“

„Warum, der will ja grad nichts von mir wissen.“

„Dickkopf!“

Ich streckte ihm die Zunge raus. Zwei Herren in weiß, gefolgt von Günther, betraten die Box.

„Hallo, ich bin Doktor Kremst.“

Er stellte seinen Koffer ab und kniete sich neben mich, Kevin machte ihm Platz.

„Wo haben sie Schmerzen?“

Ich hielt meine Hand auf die Brust.

„Hier.“

„Beschwerden beim Atmen?“

Ich nickte.

„So wie ihr Kollege mir die Sache geschildert hat, vermute ich mal, sie haben eine oder mehrere Rippen gebrochen. Ich gebe ihnen nun eine Spritze gegen die Schmerzen, dann werden sie wohl oder übel zum Röntgen müssen.“

„Also Röntgen könnten wir ihn auch hier, wir sind komplett ausgestattet“, kam es von Doc Reinhard, der an der Tür der Box stand.

Der Arzt schien zu überlegen.

„Haben sie noch andere Verletzungen?“, fragte er nun wieder mich.

„Nur diesen stechenden Schmerz in der Brust beim Atmen“, antwortete ich.

Dennis

„Hallo Lucca, habe schon gehört, dass du heute früher kommst.“

„Hi Dennis. Ja, in der Schule ist der Unterricht ausgefallen.“

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Lucca seine Strafe nicht als Strafe ansah, sondern gerne hier her kam.

„Gut, dann kannst du mir helfen die neuen Heuballen zu verräumen, die vorhin gekommen sind.“

„Ähm…, willst du nicht … lieber vorher zu Michael?“, fragte Lucca.

Sabine schaute nun auch auf.

„Wieso sollte ich? Ich habe hier Arbeit.“

„Ich meinte nur… sorry… wegen seinem Unfall.“

„Unfall… bitte?“, entgeistert schaute ich Lucca an.

„Ja, ich habe eben Volker getroffen und der sagte, Michael hatte einen Unfall, wäre von einem Zebra an die Wand gequetscht worden.“

Ich ließ meinen Eimer mit Abfall fallen. Michael… Unfall… scheiße. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürmte ich aus dem Bärenhaus.

Volker

Das hatte gerade noch gefehlt. Im Augenblick war der Wurm drin. Erst Robert und nun auch noch Michael. Hastig lief ich Richtung Savannenhaus. Gerade Michael… unser Allroundman. An der nächsten Weggabelung stieß ich fast mit Jürgen zusammen.

„Weißt du, wie schlimm es ist?“, fragte er mich ohne Begrüßung.

„Nein, ich bin auch gerade auf dem Weg dahin.“

„Die Versicherung wird ausflippen, wenn ich jetzt noch einen Unfall melde.“

„Jürgen, das wird wohl unsere kleinste Sorge sein! Ich hoffe, Michael ist nicht Ernstliches passiert.“

„Hast ja Recht… ach übrigens, ich bekomme von einem Kollegen per Express etwas für dich zugeschickt.“

„Bitte?“

„Du hast mich doch gebeten, meine Kollegen wegen deinem Findelkind anzurufen.“

Mittlerweile waren wir am Savannenhaus angekommen. Ein kleiner Menschenpulk stand um den Notarztwagen herum. Wir mussten uns zum Eingang regelrecht durchschieben. Mein Blick fiel kurz ins Gehege, in dem noch kein Tier zu sehen war.

Ich verschaffte mir mit meiner Codekarte Zutritt zum Haus und Jürgen folgte mir. Alle Mitarbeiter des Savannenhauses standen versammelt an einer Box.

„He Leute, ich will euch ja nicht die Laune verderben, aber die Tiere müssen raus!“, rief ich und alles fuhr herum.

Wie von der Tarantel gestochen, fuhr alles auseinander und verteilte sich an die verschiedenen Boxen und Käfige. Jürgen und ich hatten die Box mittlerweile erreicht und betraten sie. Michael lehnte an der Wand und ein Arzt kniete neben ihm.

Blut konnte ich keins sehen. Gott sei Dank.

„Hallo, ich bin Jürgen Kolping, Chef vom Zoo…, was ist denn passiert?“

Der Arzt stand auf und schüttelte Jürgen die Hand.

„Kremst ist mein Name. Tja… der junge Mann hat durch eine Quetschung wahrscheinlich eine Rippe gebrochen.“

Ich schaute zu Kevin.

„Wir haben draußen an einem Baum ein Haarbüschel mit Blut gefunden…, darunter fanden wir einen rostigen Nagel. Michael und ich sind gleich hier rein um nachzuschauen, welches der Zebras sich verletzt hat.“

„Michael ist in die Box?“, fragte Jürgen.

Michael schaute auf.

„Das habe ich doch schon so oft gemacht.“

„Und jedes Mal ist es gut gegangen…“, meinte Kevin.

„Nur dies einmal nicht… was wird nun?“, fragte ich.

„Ich habe ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben, dann kann er sich auch fast wieder normal bewegen. Ihr Zooarzt hat uns angeboten, den jungen Mann in ihrer Tierklinik zu röntgen.“

Ich schaute zu Reinhard hinüber, der mit Günther in der Ecke stand und das Treiben beobachtete. Reinhard zuckte mit den Schultern und grinste.

„Und wie wollt ihr ihn in die Klinik bringen?“, fragte ich.

„Da Michael keinerlei weitere Brüche hat und die Spritze bald wirken wird, kann er laufen.“

Ganz simpel und einfach. Michael schaute zwar etwas gequält, aber so war es wohl am Besten.

„Michael?“, schrie jemand im Flur.

Ich machte einen Schritt nach hinten und schaute den Flur entlang. Am Eingang stand ein verzweifelter Dennis.

„Dennis, hier!“, rief ich und augenblicklich rannte er in meine Richtung.

Bevor hier aber irgendwelche hysterischen Dramen abliefen, ging ich ihm entgegen und stoppte ihn.

„Wo ist Michael? Ich muss zu ihm!“

„Ganz ruhig, Dennis“, meinte ich leise, „Michael geht es den Umständen entsprechend gut, na ja, gerade so. Also mach mir hier bitte jetzt keinen Aufstand und benimm dich normal!“

Dennis wollte etwas sagen.

„Was wir hier jetzt bestimmt nicht gebrauchen können, ist eine heulende Tunte, die verzeihend alles mit sich machen lässt, okay? Haben wir uns verstanden?“, kam ich ihm zuvor.

Dennis nickte und atmete tief durch. Er folgte mir in die Box, wo Michael immer noch an der Wand gelehnt saß.

„Alles klar mit dir?“, fragte Dennis.

Michael sah Dennis mit großen Augen an und nickte.

„Was ist passiert?“, fragte Dennis weiter.

Meiner Ansicht nach hielt er sich sehr wacker, zwar jetzt eine Spur zu kühl, für meinen Geschmack, aber für Michael wiederum gerade richtig.

„Ein Zebra hat sich draußen verletzt, wir haben blutgetränkte Haare gefunden. Danach wollten wir die Tiere angucken und dabei hat mich eins davon an die Wand gequetscht“, erklärte Michael leise.

„Hast mal wieder den Helden spielen müssen?“, fragte Dennis, „ du bist mein Held… reicht dir das nicht?“

Wer in der Box stand, verstand jetzt wahrscheinlich nicht, was hier gerade ablief. Doch Kevin, er schien es als erstes zu kapieren, denn sein Gesicht zierte ein breites Grinsen. Michael dagegen sah Dennis ungläubig an.

„Kannst du aufstehen?“, fragte Dennis und hielt Michael die Hand entgegen.

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