Zoogeschichten III – Teil 107

Der Ausreißer

Dennis

Es war eine Woche vergangen seit meinem Geburtstag. Die Tage im Zoo nahmen ihren gewohnten Lauf. Ich kümmerte mich um meine Bärchen, während sich Michael mit Volker zusammen um den Neubau kümmerte.

Einen Abend in der letzten Woche waren Brit, Tim und ich wieder einmal zusammen auf Achse, ohne unsere „Jungs“. Dass Tim und Brit glücklich waren, konnte man schon von weitem sehen.

Wir hatten vor, an diesem Abend richtig einen draufzumachen, aber vor lauter Schwärmerei und Sinnlichem wurde es ein reiner Plauderabend mit einem Gläschen Wein. Tim erzählte uns, dass er mit David für ein paar Tage nach Dänemark fahren würde.

Natürlich war meine bevorstehende Chinareise auch Thema. Dass ich jetzt achtzehn war, machte sich nicht so richtig bemerkbar. Es hatte sich nichts großartig verändert. Heike hatte für die Zeit, in der ich abwesend war, eine Hilfe abgestellt bekommen.

Es war ein Zivi, den Jürgen für das Bärenhaus bestimmt hatte. Matthias war eigentlich eine treue Seele, ganz lieb und nett. doch ich fand ihn etwas naiv. Ich versuchte, ihm einigermaßen beizubringen, was für Arbeiten bei den Kleinbären anstanden, doch bis er am nächsten Tag wieder erschien, hatte er bereits alles vergessen.

Sabine machte sich da weniger Sorgen. Sie meinte, da würde sie schon mit klar kommen. Noch eine Woche arbeiten und ich konnte meine Koffer packen. Am Samstag sollte ich mit Jürgen und Michael nach China fliegen.

Etwas mulmig war mir natürlich schon. Ich war zwar schon mit meinen Eltern in den Urlaub geflogen, aber nie so eine große Strecke. Na ja – Koffer packen. Dank meiner Mutter stand in meinem Zimmer schon ein Koffer auf dem Boden, der sich Tag für Tag mehr mit Sachen füllte.

Im Augenblick saß ich auf dem Boden des kleinen Freigeheges und schaute Krümel und dem Braunen zu, wie sie durch die Büsche jagten. Krümel hatte einiges zugenommen und der Umgang mit dem anderen Bären tat ihm auch gut.

Noch ein paar Monate und ich konnte nicht mehr so unbekümmert mit ihm spielen. Da wäre er aus dem Babyalter heraus und wäre kräftig genug, um mich anzufallen. Von dem Braunbären ganz zu schweigen, der jetzt schon tierische Kräfte an den Tag brachte.

„Dennis?“

Ich hob den Kopf und sah Flo am Zaun stehen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass er normalerweise im Hort sein sollte und nicht hier im Zoo. Ich stand auf und ging zum Gatter.

„Hallo Flo, was machst du denn hier?“

„Nach den Bärchen schauen…“

Ich sah mir Flo genauer an und bemerkte, dass er rote Augen hatte.

„Moment, ich komme zu dir raus“, meinte ich und lief durch den Käfig, um nach draußen zu gelangen.

Ich gab Sabine kurz Bescheid, dass ich draußen vor dem Haus bei Flo wäre. Als ich draußen ankam, stand er immer noch an derselben Stelle, wie ich ihn eben verlassen hatte. Ich ging neben ihm auf die Knie und legte meinen Arm um ihn.

„Na, was ist los mit unserem Bärenbändiger?“, fragte ich ihn.

Er schwieg und starrte stur zu Krümel, der gerade versuchte, über einen Ast zu klettern und dabei herunter fiel. Es sah recht lustig aus und ich musste grinsen, aber Flo verzog nicht einmal das Gesicht.

Langsam drehte ich Flo zu mir her und versuchte, ihm in die Augen zu schauen.

„He Kleiner, was ist los?“

Plötzlich, als hätte man einen Schalter umgelegt, fiel mir Flo um den Hals und begann laut zu weinen.

„Ist ja gut!“, meinte ich und streichelte ihm sanft über sein Haar.

Herz zerreißend schluchzte er und ich spürte, wie der Kragen meines Shirts leicht feucht wurde. Ich drückte mich ab und stand auf – Flo auf dem Arm.

„Flo…, willst du mir nicht erzählen was los ist?“

Er war schon etwas ruhiger geworden und schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Weiß der Papa, dass du hier bist, oder die Mama?“

Wieder nur ein sachtes Kopfschütteln.

„Sollen wir zu einem von den beiden gehen?“

Diesmal nickte er. Mir war klar, dass Flo im Zoo als erstes das Bärenhaus ansteuerte, weil er das am besten kannte. Wo sein Vater oder gar seine Mutter ihren Platz im Zoo hatten, wusste er wahrscheinlich gar nicht.

So lief ich langsam Richtung Doc Reinhards Reich, weil ich dort Philipp vermutete.

„Ist etwas im Kinderhort passiert?“, fragte ich noch mal.

Diesmal hörte ich Flos leise Stimme, aber verstand ihn nicht. Da er aber auch mit dem Kopf nickte, musste da wohl etwas passiert sein. Plötzlich hob er seinen Kopf und schaute mich mit seinen verweinten Augen trotzig an.

„Der doofe Bastian hat mir nicht geglaubt, dass ich schon mal einen richtigen Bären im Arm hatte.“

„Wie soll der Bastian das auch wissen?“, fragte ich.

„Er glaubt auch nicht, dass Mama und Papa beide im Zoo arbeiten.“

„Dann lass ihn doch! Wir beide wissen, dass es stimmt“, meinte ich.

Unsicher nickte er.

„Und wieso bist du dann hier? Solltest du jetzt nicht im Hort sein?“

Wieder nickte er und sah zu Boden.

„Bist du weggelaufen?“

Noch ein fast nicht merkbares Nicken.

„Und niemand weiß, dass du hier bist?“

Flo schüttelte den Kopf.

„Kleiner Mann, das hättest du aber nicht machen dürfen. Die vermissen dich sicherlich schon dort und suchen dich.“

„Bastian hat mich aber gehauen, ich will da nicht mehr hin“, meckere Flo.

Sebastian

Seit ein paar Tagen war Robert wieder hier und trainierte mit mir den Umgang mit den Delfinen.

„Und du bist sicher?“, fragte ich nervös.

Ich stand fast in der Mitte des Beckens auf der kleinen Plattform. Theo umkreiste mich schon die ganze Zeit wie ein Hai.

„Ja, bin ich. Streck deine Hand nach oben aus und lass einen Pfiff los“, hörte ich Robert sagen, während ich Theo im Auge behielt.

Also streckte ich meine Hand nach oben und blies in die Trillerpfeife. Augenblicklich änderte Theo seine Bahn und schwamm direkt auf mich zu. Kurz bevor er mich erreichte, schnellte er aus dem Wasser und sprang über mich hinweg.

Ich schloss einfach die Augen und zog den Kopf ein. Mit einem satten Platscher kam er hinter mir wieder im Wasser auf, was mich fast von den Füssen gerissen hätte.

„Es geht doch“, meinte Robert.

Ich lächelte verkrampft.

„Und nun versuch es mit dem Ring“, meinte er.

Er warf mir einen großen Hulahub-Reifen zu, den ich gerade so zu greifen bekam. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Theo sich seine Belohnung bei Robert abholte.

„So und nun das gleiche wie eben“, rief mir Robert zu.

Also stellte ich mich wieder auf Ausgangsposition, hob den Ring in die Luft und blies erneut in die Pfeife. Kaum war der Hall der Pfeife verklungen, schnellte Theo vor mir in die Höhe und sprang durch den Reifen.

Diesmal schloss ich aber nicht die Augen, sondern nahm Theo, wie in Zeitlupe wahr. Erst jetzt, so dicht unter ihm, wurde mir seine Größe so richtig bewusst. Wieder spritzte das Wasser an mir hoch.

„Gut gemacht, Theo!“, rief Robert und warf ihm einen Fisch zu.

„Krieg ich auch einen?“, fragte ich und grinste.

Robert brauchte etwas, bis er verstand und lächelte ebenso.

„Makrele oder Hering?“, rief er zurück.

Ich musste lachen.

„Vielleicht stellst du einen Fuß etwas nach vorne. Ich weiß, welche Wucht Theo hat, wenn er hinter einem im Wasser aufkommt. Damit stützt du dich besser ab“, erklärte Robert.

„Okay.“

„Wollen wir es gleich noch einmal probieren?“

Ich nickte. Also stellte ich mich hin, wie es mir Robert vorgeschlagen hatte und blies wieder in die Pfeife.

Michael

„Und, wie war dein Gespräch letzte Woche mit David, ich hatte noch gar keine Zeit zum Fragen?“

„Du kennst doch David. Er nimmt seinen Tim jetzt mit, sonst wäre er nicht gefahren“, erzählte Volker.

Der Kran ließ eine weitere Fuhre Beton zur Baustelle hinunter.

„Ja, ich kenne David gut genug, stimmt!“

„Du, ich habe da eine Frage – ist mir jetzt gerade so eingefallen.“

„Und die wäre?“

„Wenn David damals nicht diesen Ausraster gehabt hätte und eins auf Skin gemacht hätte, wärst du dann mit ihm zusammen geblieben?“, fragte Volker.

Erstaunt schaute ich Volker an. Dass ich mal ein paar Monate mit David zusammen war, hatte ich schon lange in einem staubigen Stübchen meines Gehirns abgelegt.

„Kann ich dir nicht sagen…, ich weiß es echt nicht. Warum fragst du?“

„Ach ich weiß auch nicht… mir ist das nur gerade so eingefallen. Ich hab mit David schon so viel durchgemacht – ich weiß einfach nicht, wie lange ich das noch mitmachen werde…“

„So lange es dich gibt“, strahlte ich Volker an.

Fragend blickte Volker zu mir.

„He, es ist dein kleiner Bruder, du liebst ihn. Also wirst du auch immer für ihn da sein.“

Volker drehte sich wieder weg und außer einem Schulterzucken kamen keinerlei Regungen.

„Wenn du meinst“, hörte ich leise.

„He, ich wäre froh, ich hätte so einen Bruder wie dich!“

„Willst du etwas von mir, oder warum schleimst du dich gerade bei mir ein?“, fragte Volker und grinste wieder.

Ich streckte ihm die Zunge heraus.

Dennis

Langsam wurde Flo schwer. Er hatte für seine fünf Jahre schon ein ordentliches Gewicht. Aber tapfer trug ich ihn bis zur Tür der Klinik.

„So, jetzt muss ich dich aber runter lassen“, meinte ich.

Ohne Protest ließ Flo sich absetzen. Mit der Codekarte öffnete ich die Tür und trat ein. Flo hatte nach meiner Hand gegriffen und folgte mir.

„Wo sind wir hier?“, fragte Flo leise.

„Im Tierkrankenhaus“, erklärte ich.

„Da wo Papa arbeitet?“

„Ja!“

Ich spürte eine Art Hemmung bei Flo, als würde er lieber wieder dieses Haus verlassen. Unbeirrt zog ich ihn weiter.

„Hallo, ist jemand da?“, rief ich.

„Hier hinten im Labor“, hörte ich Phillip rufen.

Ich folgte der Stimme und zog Flo weiter hinter mir her. Ich schob die offene Tür weiter auf und fand Phillip, der im Rollstuhl vor einer Apparatur stand.

„Flo, was machst du denn hier?“, fragte Phillip erstaunt.

Flo stürmte zu seinem Papa und fiel ihm um den Hals.

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