Aschenbrödels Bruder – Teil 1

„Nochmal! In Ausgangsstellung… Arabesque!“

Ich wusste nicht, wie ich noch eine Runde durchhalten sollte. Meine Füße schmerzten und mein Knie fühlte sich an, als würde es gleich verglühen. Madam Toufon ließ uns nun schon seit zwei Stunden, die gleiche Szene immer wieder tanzen.

„Benjamin, nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester!“, hörte ich die Stimme plötzlich leise dicht neben meinem Kopf.

Erschrocken drehte ich den Kopf zu meiner Lehrerin und versuchte mich gerade hinzustellen. Meine Schwester, die Göttin des Hauses. Klar verglich man mich immer wieder mit ihr, obwohl sie schon drei Jahre länger auf der Balletschule war.
Wie in allem, legte sie vor und der kleine Bruder hatte zu folgen. Das war nicht nur im Ballet so, das gleiche lief in der Schule ab, oder was sonst noch unser gemeinsames Umfeld säumte. Ich nickte Madam Toufon zu und stellte mich, trotz Schmerzen, in Ausgangsposition.
Ich ließ meinen Körper auf einem Bein ruhen, während das andere völlig gestreckt hinter meinen Rumpf ging.

*-*-*

„Boah, noch eine Woche und ich schmeiß endgültig die Schule.“

Dieser Satz kam von Karl. Wie ich, zweite Besetzung im großen Weihnachtsballet. Ein gutmütiger und etwas naiver Typ in meinem Alter, der trotz seines schlaksig wirkenden Körpers, manche Sprünge besser hinbekam, als meine Wenigkeit.

„Du wirst genauso wenig die Schule schmeißen wie ich“, entgegnete ich und schlüpfte aus meiner Leggins.

„Nein, schmeißen nicht, aber wechseln!“

Ich hielt in meiner Bewegung inne.

„Wie wechseln, was meinst du?“

„Meine Eltern hatten am Wochenende wieder einen großen Empfang und da war ein Gast, der sich sehr für mich interessierte.“

„Karl, könntest du Klartext reden, man könnte aus deiner Aussage eine falsche Schlussfolgerung ziehen, oder du stehst auf ältere Männer.“

„Quatsch, ich und schwul, sicherlich nicht. Es war einer der Lehrer von der Ballet – Schule Vogl, der mich bei unserer letzten Aufführung gesehen hat.“

„Mich nicht?“

„Nein, von dir war nicht die Rede, nur von…“

Ich schaute ihn an.

„… deiner Schwester.“

„War klar, Sabine fällt überall auf, wenn nicht durch ihr Tanzen, dann durch ihre große Klappe.“

Ich ließ den Kopf sinken und schaute auf meine roten Füße.

„Jetzt lass den Kopf nicht hängen, noch ist ja nichts entschieden.“

Na toll, wenn Karl die Schule verließ, dann wäre niemand mehr da, mit dem ich mit gut verstand. Ich schnappte mir mein Duschzeug und lief Richtung Dusche. Es war mir eigentlich egal, dass ich hier eher als Außenseiter und Eigenbrötler galt.
Nur immer als Sabines kleiner Bruder bezeichnet zu werden, das nervte ungemein. Ich war ihr Zwilling und drei Minuten jünger, als sie. Mich meines Handtuch und der Unterwäsche entledigt, drehte ich das Wasser auf.
Schon die ersten Tropfen verhießen Erholung, des meines ach so geschundenen Körpers.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum sie dich nicht als Erstbesetzung nehmen“, riss mich Karl aus meinem Gedanken.

Er stand unter der Nachbardusche und seifte sich gerade ein.

„Weil ich laut meiner lieben Schwester, dazu nicht gut genug bin.“

„Seit wann hat deine Schwester das Sagen?“

„Ach Karl, schon eine ganze Weile…“

Ich schäumte mein Haar ein und versuchte nicht weiter darüber nachzudenken.

*-*-*

Zu Hause angekommen, ließ ich mich auf mein Bett fallen. Morgen würden die lieben Schmerzteufel, sich wieder in meinen Muskeln breit machen und mich meiner Konzentration in der Schule berauben.

„Benjamin?“

Auch dass noch. Sabine. Die Tür flog auf und meine Schwester stolzierte herein. Sollte ich ihr sagen, dass hier kein Publikum saß. Ihre graziösen Bewegungen, wie sie es nannte, ließen sie arrogant und unnahbar erscheinen.

„Ich wollte dir nur sagen, du brauchst morgen nicht zum Training erscheinen.“

Ich richtete mich auf.

„Ach, hat meine liebe Schwester nun bestimmt, dass ich von der Schule fliege?“

Sie schaute mich kurz vorwurfsvoll an.

„Idiot! Nein! Morgen ist das Vortanzen der Neuen, da fällt das normale Training aus…, außer du möchtest zugegen sein.“

„Neuen?“

„Oh Benjamin, du bekommst doch nie etwas mit. Karl hört auf, sowie Carrel und Christoph.“

Das ging aber schnell mit Karl, vorhin redeten wir noch darüber, aber Carrel und Christoph, das war mir neu. Der Prinz und die böse Stiefmutter. Ja, gegen alle Meinungen, wurde die Rolle von einem Mann getanzt, um der Stärke und Wirkung der Stiefmutter mehr Gewicht zu verleihen.

„Wenn ich recht überlege, wäre es vielleicht gut, du kommst doch, denn nachdem die Erstbesetzung deiner Rolle das Ensemble verlässt, kann es gut möglich sein, dass du gebraucht wirst“, sagte Sabine in einem Ton, den ich nicht deuten konnte.

Ich in einer größeren Rolle, neben meiner Schwester, fast unvorstellbar. Unweigerlich musste ich grinsen. Als böse Stiefmutter war sie mein Gegenpart als Aschenbrödel. Die Rolle fiel mir nicht schwer, denn wie im Märchen, mochte ich mein Gegenüber nicht.
Gut sie war meine Schwester, wie sagt man, dasselbe Fleisch und Blut, doch war unser Verhältnis zueinander doch eher gestört.

„Wenn du meinst“, gab ich von mir, „… und weiß man schon, wer die Rolle des Prinzen übernimmt?“

„Jemand aus Hamburg, ein begnadeter Tänzer soll es sein.“

„Hört sich alt an.“

„Nein, in unserem Alter, aber morgen werden wir mehr erfahren.“

Und schon war sie ohne ein weiteres Wort zu äußern, wieder verschwunden und die Tür hatte sie auch offen stehen lassen. Eigentlich hätte sie mir gar nichts sagen brauchen und ich hätte alles erst morgen Mittag erfahren.
So gut kannte ich meine Schwester mittlerweile, wenn ihr etwas gegen den Strich ging, dann wurde sie redselig, sogar mir gegenüber. Da sich Familie, in dieser Familie nur am Wochenende abspielte, sprich ich bekam meine Eltern, wenn überhaupt nur am Wochenende zu sehen, da sie unter der Woche, schlichtweg nur unterwegs waren, hatte ich für diesen Abend wohl endlich meine Ruhe.

*-*-*

Den Haushalt führte das Personal, das sich emsig um uns bemühte. Man könnte mir nachsagen, dass mich dies eigentlich zu einem verwöhnten Jüngelchen machen würde, aber ich nahm nur das in Anspruch, was ich auch dringend benötigte.
Auch nahm ich meine Mahlzeiten in der Küche ein und ließ mich nicht wie mein liebes Schwesterlein von hinten bis vorne bedienen. Lediglich, wenn unsere Eltern anwesend waren, musste ich dieser Prozedur unterziehen.
Ob man von Glück reden konnte, dass ich zwar die gleiche Schule wie meine Schwester besuchte, aber eine andere Klasse, ließ ich einfach mal so stehen. Eine andere Schule, vielleicht noch in einer anderen Stadt, wäre allemal besser.
So fand mein tristes Dasein zwischen Schule, Balletcompany und Zuhause statt. Freunde hatte ich keine. Mein Hobby verlieh mir anscheinend, wie meiner Schwester etwas Arrogantes und Unnahbares, obwohl uns Welten trennten.
Aber ich fuhr ganz gut damit, auch wenn ich am Wochenende ab und zu doch gerne mit anderen Abhängen würde. Doch die von der Schule, teilten nicht meine Interessen und die vom Ballet, waren mir einfach zu abgehoben.
Man könnte meinen Geld machte interessant, aber selbst dies ließ ich nicht heraushängen, benahm mich normal und still, auch um nicht weiter aufzufallen. Meine Schulleistung konnte sich sehen lassen, auch wenn ich immer wieder die besseren Noten meiner Schwester vorgehalten bekam.
Ich bedankte mich artig für das tolle Frühstück, auch wenn es sich nur um ein Brot mit Kaffee handelte, schnappte mir meine Sachen und verließ das Haus. Schwesterchen ließ sich natürlich in die Schule bringen, während ich den Bus nahm, was aber den Vorteil hatte, dass wir morgens erst in der Schule aufeinandertrafen.

„Morgen Benjamin, hast du für Mathe gebüffelt?“, rief mir Constanze entgegen, als ich die alte Schule betrat.

„Kurz darüber geschaut, ich war gestern einfach zu müde.“

Constanze, der einzige richtige Lichtblick in dieser Schule. Wir verstanden uns sehr gut und dass nicht erst, seit wir hier gemeinsam die Schulbank drückten. Für die anderen in der Klasse war ich das Weichei, da ein Kerl, der beim Ballet ist, schwul sein muss und sowieso spindeldürr ist.
Über den ersten Punkt hatte ich mir selbst nie Gedanken gemacht, bisher hatte ich mich eher als asexuell bezeichnet und was meine Figur betraf, durch das Ballet hatte ich eine, was andere in meiner Klasse nicht vorzeigen konnten.

„Hat die Alte euch gestern wieder über die Planken gejagt?“

Constanze meinte die Bühne und war irgendwie der Meinung, dass beim Ballet sich überall Holzboden befand.

„Zwei Stunden lang…“

„Und was sagen deine Füße dazu?“

Gequält lächelte ich sie an.

„Morgen ist Samstag, also Wochenende und genug Zeit zu erholen. Apropos Samstag, gehst du zu Franks Party?“

Erholung, so schnell konnte Constanze das Thema wechseln. Oh Gott, die Party hatte ich völlig vergessen, oder sogar absichtlich verdrängt. Frank war bekannt für seine Fress und Saufparties, worauf ich eigentlich keine Lust hatte.

„Ich weiß nicht recht…“

„Benjamin…, bitte! Sonst habe ich doch niemand, mit dem ich vernünftig reden oder tanzen kann.“

Sie hielt den Kopf schief, legte einen Blick auf, wie ein Dackel, der zu viel am Schlafmittel geschnüffelt hatte.

„Constanze, du weißt, der Blick zieht bei mir nicht!“, entgegnete ich kichernd.

„Man muss als Frau nichts unversucht lassen!“

„Ich kann dir wirklich nicht sagen, ob ich komme, im Augenblick versuche ich nicht an den Schmerzteufel zu denken, der stetig ab Becken abwärts wandert.“

Noch immer hatte Constanze ihren Kopf schräg gestellt.

„Tut das nicht weh?“

„Was?“

„Wenn du so komisch gebeugt mit dem Kopf herum läufst.“

Als Antwort bekam ich einen leichten Boxhieb auf die Schulter. Von weiten sah ich schon den Pulk der sich meine Klasse nannte. Lust hatte ich absolut keine, aber was soll`s, es war Freitag, in ein paar Stunden konnte ich wieder gehen und war sie los.

*-*-*

Ich ließ mich einfach nach vorne auf mein Bett fallen.

„Ich werde heute nicht alt…“, brummte ich ins Kissen.

Die sechs Stunden in der Schule hatten mich völlig geschafft. Der untere Teil meines Körpers glühte und brannte und mein Kopf fühlte sich an wie ein Vakuum, das drohte in sich zusammen zu fallen.
Eine heiße Dusche wäre jetzt gut, aber ich konnte meinen Körper nicht dazu bewegen wieder aufzustehen. Ich schielte auf meine Wecker. Die Leuchtziffern tänzelten vor mir herum. Jetzt war ich wohl soweit, ein absolutes Wrack.
Lautes Klopfen an meiner Tür ließ mich zusammen fahren.

„Benjamin, vergiss die Probe nicht…, ich bin dann weg!“

Meine Schwester kam nicht ins Zimmer gestürmt? Verwirrt hob ich den Kopf und schaute zur Tür. Scheiße, an die Probe hatte ich nicht mehr gedacht. Klar, ich musste heute nicht tanzen, aber ein Grund mehr, warum ich es verdrängt hatte.
Es blieb mir nichts anderes übrig und setzte mich auf, gefolgt von einem leisen Stöhnen, welches mein Körper Mitleid bekunden sollte. Wie ein alter Mann stand ich auf und schleppte mich zum Bad.
Dies war nun einer der Vorzüge die ich nicht hergeben wollte, ein eigenes Bad zu besitzen. Es mit meiner Schwester teilen zu müssen, wäre schlichtweg Kindesmisshandlung. Grinsend betrat ich es, ließ einfach meine Klamotten auf den Boden fallen und stieg in die Dusche.
Ich drehte den Hahn auf und nach ein paar kalten Spritzern, ergoss sich heißes Wasser über meinen Körper. Mir war, als würden sämtliche eingebildeten Gewichte an meinem Körper abfallen.
Wie lange ich da so gestanden hatte wusste ich nicht, aber ich hätte ewig dort stehen können. So verrichtete ich meine Wäsche, um anschließend mit mir zu hadern, diesen warmen Quell von Energie verlassen zu müssen.
Aber ich war jetzt selbst neugierig auf die Neuen.

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4 Kommentare

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  1. Huhu Pit, super, dass es dieses Jahr wieder nen Adventskalender gibt echt klasse. Vor Allem aber freuts mich, dass Du dir die Mühe machst. Wünsche dir alles Gute weiterhin. Bin gespannt, wies weitergeht. Dass die Folgen kurz gehalten sind find ich sehr gut, mach so weiter, bitte.

    VlG aus Hahnstätten Andy

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    • claus auf 1. Dezember 2015 bei 05:17
    • Antworten

    Hallo Pit,
    freut mich wieder von dir zu lesen. Hoffe es geht dir soweit wieder gut.

    Ein toller Anfang, erster Teil, scheint mal wieder sehr interessant zu werden…
    freue mich 23 weitere Teile!

    Viele Grüße und Gute Besserung weiterhin
    Claus

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  2. Hallo ihr beiden,
    vielen Dank für eure Grüße und Genesungswünsche.
    Liebe Grüße Pit

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    • sandro auf 7. Dezember 2015 bei 10:25
    • Antworten

    Hallo Pit,

    super das wir endlich wieder was von Dir hören, ich hoffe das es bei Dir stetig aufwärts geht und Du bald wieder der alte wirst.

    Ich bin mal wieder etwas spät dran und werde mich jetzt durch die bereits ergestellten Teile lesen, der Anfang ist ja rech hoffnungsvoll.

    Mit besten Grüssen und Genesungswünschen wünsche ich eine gute Vorweihnachtszeit und genug Muse und Energie für die weiteren Teile.

    Gruß
    sandro

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