Aschenbrödels Bruder – Teil 2

Tropfend griff ich nach meinem Handtuch, trocknete mich ab. Mit umgebundenen Handtuch betrat ich wieder mein Zimmer und öffnete meinen Schrank. Nach Jeans und Pulli stand mir der Sinn nicht.


So griff ich nach meiner Jogginghose und dem dazugehörenden Shirt. Eine viertel Stunde später und einen Kampf mit meinen Turnschuhen, zog ich die Haustür hinter mir zu. Sabine war natürlich schon weg.
Der Mercedes fehlte in der Garage. Ich lief die Einfahrt hinunter und bog auf der Straße Richtung Bushaltestelle. Ich spürte den kalten Wind in meinem Nacken und zog den Schal höher.
Ob es dieses Jahr wirklich noch richtig Schnee gab? An der Bushaltestelle angekommen, musste ich nicht lange auf den Bus warten. Pünktlich bog er um die Ecke und kam vor mir zum stehen.
Ich stieg ein, hob meine Karte Richtung Fahrer und sondierte den Gastraum nach freien Plätzen. Mein Blick blieb an einer Person hängen, Constanze.

„Hey, was tust du denn hier?“, fragte ich leicht verwirrt und ließ mich neben sie plumpsen.

„Du hast doch etwas von den Neuen erzählt, so dachte ich mir, die will ich auch sehen.“

„Quatsch, eine bessere Geschichte hast du nicht auf Lager?“

„Öhm, ich weiß nicht ob die Version glaubhaft ist.“

Fragend schaute ich sie an.

„Man, ich habe dir doch erzählt, dass wir neue Nachbarn bekommen und die Frau der Familie hat sich heute bei uns vorgestellt. Sie hatte ihren süßem Sohn dabei…“

„Seit wann stehst du auf kleine Kinder?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Quatsch…! Der ist so alt wie wir und sieht verdammt gut aus und du wirst es nicht erraten, was er gerne macht?“

„Mädchen wie dir den Kopf verdrehen?“

„Benjamin!!! Boah echt“, meinte Constanze eingeschnappt.

„Constanze, nun erzähl schon weiter, ich bin auch brav!“

Nur von kurzer Dauer musste ich ihren bösen Blick ertragen, dann übernahm ein Lächeln das Gesicht.

„Er tanzt…Ballett wie du!“

Dies weckte nun doch meine Neugier, brachte mich aber der Antwort, warum Constanze um diese Zeit im Bus saß nicht näher. Mit gespielter Langeweile sah ich sie durchdringend an.

„Und?“

„Benjamin du bist so ein Torfkopp, er ist einer der Neuen, der heute Mittag vortanzt in eurer Schule und da meine Mutter und Frau Gerber sich einig waren, dass Lucas nicht alleine dort hingehen sollte, wurde ich dazu verdonnert, mit ihm hinzugehen.“

Ich schaute mich verwirrt um. Frau Gerber… Lucas, man war sich also schon näher bekannt.

„Ähm und wo ist dieser Lucas jetzt?“, fragte ich, denn ich sah nur zweite ältere Herren in unserer Nähe sitzen.

„Ein Bus früher gefahren, weil ich noch dringend etwas erledigen musste.“

„Und warum ausgerechnet du, die mit Ballett absolut nichts am Hut hat.“

Sie grinste mich an. Nein, sie hatte es wieder getan. Constanzes Mutter war ein totaler Fan von mir. Sie gab mit mir an, als wäre ich ihr eigener Sohn.

„Bitte nicht schon wieder…“, schaute ich sie flehend an.

„Doch! Sie hat in den höchsten Tönen von dir geschwärmt und natürlich nicht ausgelassen, dass du mein bester Freund wärst.“

Ich schüttelte den Kopf. Würde das nie aufhören?

„Jetzt schau nicht so…!“

„Wenn ich wenigstens Hauptrollen tanzen würde…, würde ich das noch verstehen, aber…“

„Nichts aber Benjamin, darüber zu diskutieren ist zwecklos, wie du weißt, also nimm es einfach wie immer hin.“

Ich seufzte und nahm war, dass wir unsere Haltestelle erreicht hatten.

„Komm wir müssen“, meinte ich und stand auf.

Meine Beine machten sich wieder bemerkbar und verzog mein Gesicht.

„Alter, so schlimm warst du noch nie drauf, wird das nochmal besser?“

Ich zuckte mit meinen Schultern und bereute es sofort. Der Bus hielt und wir stiegen aus.

„Wenigstens habe ich einmal einen Grund, deine Tanzschule aufzusuchen“, meinte Constanze neben mir.

Etwas beleidigt schaute ich sie an.

„Aha, ich war also nie ein Grund?“

„So habe ich das doch nicht gemeint, mein Gott, was bist du heute empfindlich!“

Ich konnte nicht anders und begann zu kichern.

„So gefällst du mir schon besser!“

Es dauerte nicht lange und wir hatten die Schule erreicht. Ich zog die schwere Holztür auf und ließ Constanze den Vortritt. Warme Luft kam mir entgegen, so befreite ich mich als erstes von meinem Schal.
Anscheinend genau richtig. Vor uns stand Sabine mit einem fremden Jungen.

„Mein Name ist Sabine und wenn etwas ist, kannst du dich jederzeit an mich wenden. Komm, ich zeige dir die Umkleide der Jungs.“

Mein Beileid! Der Junge drehte sich zu uns und dann passierte es. Er ließ Sabine einfach stehen.

„Hallo Constanze“, rief er und kam auf uns zu.

Keiner ließ Sabine einfach links liegen, naja vielleicht meine Wenigkeit, aber sonst keiner. Ich sah, wie sich ihre Augen verengten und der böse Keim in ihr wuchs.

„Und du musste Benjamin sein“, sprach dieses göttliche Wesen mich an, denn Constanze hatte nicht übertrieben, er sah wirklich gut aus.

„Äh, ja“, stammelte ich und meine Hand wurde kräftig geschüttelt. Im Hintergrund sah ich, wie sich Gewitterwolken vereinten und eine wutentbrannte Sabine ihre Hände tief in die Seiten grub.

„Ich habe schon viel von dir gehört!“

Ein lautes klackendes Geräusch. Natürlich hörte dies nur ich, denn Sabines Kinn war so eben auf dem Boden aufgeschlagen. Vorwurfsvoll schaute ich zu Constanze und es entwich ein leises „Wirklich?“ aus meinen Mund.
Bildete ich es mir nur ein, oder leuchteten die Augen meiner Schwester wirklich blutrot? Sabine war auf 180, denn niemand überging sie ungestraft. Und plötzlich hielt ich die Luft an, denn ich hatte Lucas in meinen Gedanken ein himmlisches Wesen genannt.

„Ja! Stimmt es, dass du und Sabine Geschwister seid?“

Ja, dies war sie und wenn Lucas sehen könnte, was sich da hinter ihm gerade aufbaute, eine Mischung zwischen feuerspeienden Drachen und wildgewordenen Bulle, hätte er das nicht gefragt.
Innerlich schüttelte ich den Kopf und schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah meine Schwester wieder normal aus, hatte ihr Tussihaftes Lächeln auf den Lippen und kam auf uns zu.

„Ja Lucas, das ist nur mein kleiner Bruder, tanzt hier die zweite Geige.“

Während sie das sagte, hängte sie sich einfach bei Lucas ein und zog ihn von uns weg. Constanze setzte an, etwas zu sagen, aber ich gab ihr per Hand Zeichen, dies nicht zu tun.

„Was denn, die meint wohl sie kann machen was sie will!“

Ich nickte nur.

„Sie kann…, sie kann.“

Constanze drehte sich wieder zu mir.

„… Benjamin, was ist mit dir, du bist plötzlich so weiß um die Nase…, ist dir das jetzt so nah gegangen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Komm, setzten wir uns irgendwo hin, nicht dass du uns noch umkippst.“

Ich ließ mich von Constanze in den benachbarten Trainingsraum führen und ließ mich auf einen Stuhl neben der Tür nieder, Constanze dagegen ging vor mir in die Hocke.

„Benjamin, was ist los mit dir, du machst mir Angst!“

Ich versuchte normal zu atmen, aber der Schock über die eben erfahrene eigene Erleuchtung war zu tief. War ich schwul? Sollten die blöden Bemerkungen in der Schule über mich wirklich war sein?
Ich spürte eine warme Hand an meiner Stirn und zuckte leicht zurück. Madam Toufon stand vor mir. Ich hatte ihr Kommen wie immer nicht mitbekommen, manchmal war mir die Frau richtig unheimlich.

„Fieber hat er keines“, hörte ich ihre Stimme.
Ich lehnte meinen Kopf an die Wand und schaute auf den Boden. Übelkeit kam in mir auf, doch ich brachte es nicht fertig aufzustehen.

„Benjamin?“, hörte ich nun Constanzes Stimme.

„Kann mal jemand Benjamins Schwester suchen? Die muss doch hier irgendwo sein“, kam es aus Madam Toufons Mund.

In mir gab es ein mittleres Erdbeben, ach was mittleres, dies war sicher schon bei der Stärke 7,5 oder höher. Ich verstand die Welt nicht mehr.

„Sie suchen mich?“, hörte ich die bitter böse Stimme meiner Schwester.

„Ja Sabine, deinem Bruder geht es nicht gut, könnte sie sich bitte um ihn kümmern?“

„Ach der! Der soll sich nicht so anstellen! Draußen steht uns Wagen, der Fahrer soll ihn heimbringen! Vergiss aber ja nicht, ihn wieder herzu schicken!“

Der Schluss war wohl an mich gerichtet und schon war sie weg. Ich hob den Kopf und sah Constanze mit Madam Toufon vor mir stehen.

„Entschuldige und wer bist du?“, fragte plötzlich Madam Toufon Constanze.

Nach kurzer Erklärung wurde Constanze einfach zwangsverpflichtet, mich nach Hause zu bringen. Ich spürte, wie mich zwei Hände nach oben zogen und versuchte auf meinen nun unsicheren Beinen zu stehen.

„Komm ich bring dich heim. Schade, ich hätte gerne das Vortanzen gesehen.“

Ich erwiderte nichts darauf, mir war einfach nur schlecht.

*-*-*

Ich lag auf meinem Bett und starrte gegen die Decke. Tränen liefen über meine Wangen und benässten das Kissen. Die Tür zu meinem Zimmer wurde geöffnet und Constanze kam herein.

„So, hier hast du einen heißen Tee und von den Keksen, die du so gerne magst.“

Wie die ganze Zeit gab ich keine Antwort.

„Ich hätte dich schon viel früher besuchen sollen, schön hast du es hier. Frau Toufon hat übrigens gemeint, du hast dir sicher etwas eingefangen, es soll ja die Grippe umgehen.“

„Ich habe… keine Grippe.“

Ich schämte mich plötzlich so, warum hatte ich das nie bemerkt, oder in den Sinn gekommen? Meine Hand wanderte zu meinen Augen und verdeckte sie. Ich spürte wie Constanze sich neben mich auf das Bett setzte.

„Benjamin…“, sie redete plötzlich leiser, „was ist los mit dir. Ohne Grund wird doch einem nicht schlecht?“

Ich wusste absolut nicht, was und vor allem wie ich ihr etwas sagen sollte.

„Hängt das eventuell… mit Lucas zusammen?“

Erschrocken über die Frage, ließ ich meine Hand sinken und schaute sie mit meinen verweinten Augen an. Doch bevor ich etwas sagen konnte, hörte man von unten einen lauten Knall.

„Wo ist dieser kleine Drecksack?“, hörte ich meine Schwester schreien.

Nicht auch das noch, was hatte ich jetzt schon wieder falsch gemacht? Die Tür flog auf und meine Schwester kam wutentbrannt herein.

„Wegen dir Arsch, wurde das Vortanzen verschoben!“

War ich jetzt im falschen Film? Sabine nahm wohl jetzt erst Constanze war und sah sie angewidert an.

„Was sucht den die Tussi hier?“

Doch bevor ich irgendwas sagen oder machen konnte, war Constanze aufgestanden und wenige Sekunden später jaulte mein Zwilling auf und hob sich die Wange.

„Zu mir sagt niemand Tussi!“

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