Aschenbrödels Bruder – Teil 8

Das Essen verlief eher ruhig. Lucas schniefte etwas vor sich hin, während Sabine und Constanze mich fragend anschauten.

„Kannst du so überhaupt tanzen?“, versuchte Constanze die Unterhaltung anzukurbeln.

„Äh, ich weiß es nicht, ich muss abwarten, wie

es mir am Dienstag geht. Aber ich denke schon, große Sprünge oder Hebefiguren habe ich keine…“

„Das nicht, aber sobald du deine Rücken durchbiegen musst, sind die Schmerzen wieder da“, warf Sabine ein.“

„Wie lange tanzt du schon?“, fragte Lucas plötzlich, der die ganze Zeit geschwiegen hatte.

„Ich habe mit neun begonnen, Sabine schon mit sechs Jahren.“

„Ich wusste gar nicht, dass du schon so lange dabei bist“, sagte Constanze.

„Du hast ja auch nie gefragt und du weißt ja wie die in der Klasse sind, während sie Fußball spielten, schwang ich das Tanzbein und du willst nicht hören, was ich nach dem Schulsport unter der Dusche zu hören bekomme.“

„Ach die sind doch Kacke“, regte sich Constanze auf, „außer saufen, rauchen und Mädels flach legen, haben die doch eh nichts in der Rübe.“

Da hatte sie leider Recht, deshalb ging auch nie gerne zu den sogenannten Parties, außer ab und zu auf die von Frank, weil er eigentlich nicht ganz so doof wie die anderen war. Aber er hatte aber auch nichts für mein Tanzen übrig.
Ging das Geläster und die Beleidigungen los, war er auch immer mit dabei. Allein meinem Tanzen hatte ich es zu verdanken, dass ich in den sportlichen Aktivitäten so gut war, sei es die Kondition, oder eben meine Beweglichkeit beim Turnen, was mir eben viel Neid einbrachte.
Und was macht man, wenn man mit so etwas nicht umgehen kann, man zieht den anderen in den Dreck. Zu Übergriffen kam es noch nicht, aber selbst da würden sicher einige den kürzeren ziehen.

„Ist es hier also auch nicht besser?“, fragte Lucas.

„Das betrifft meine Schule… Klasse, nicht die Tanzakademy.“

„Du vergisst, dass ich auch zu euch in die Schule kommen werde.“

„Echt jetzt?“, fragte sogar Constanze erstaunt.

„Das fragst du, deine Mutter muss ja sehr gute Beziehungen haben, dass ich gleich bei euch in der Schule untergebracht wurde.“

„Davon weiß ich ja gar nichts…“

Meine Mutter hatte heute Mittag etwas von Regine, Constanzes Mutter gesagt. Aber warum sollte sich meine Mutter für Lucas einsetzten, wo sie ihn doch gar nicht kannte. Komisch.

„Erde an Benjamin“, wo bist du gerade mit deinen Gedanken?“

„Ahm… die lieben Eltern…“, gab ich von mir, womit wir wieder beim Thema waren.

Bevor die Laune wieder zu sinken begann, griff ich nach meinem Glas.

„Kann ich noch etwas zu Trinken haben?“, fragte ich Sabine und hielt ihr das Glas unter die Nase.

„Dir gefällt wohl das Bedient werden.“

„Eigentlich nicht, aber von dir ganz besonders!“

Dabei setzte ich mein gemeinstes Grinsen auf, das ich auf Lager hatte. Sabine seufzte.

„Bin ich so schlimm?“

„Das hatten wir schon, aber wenn du es gerne noch mal hören möchtest – Schlimmer!“

Nun grinsten auch Constanze und Lucas wieder.

„Was macht ihr morgen?“, versuchte ich nun ganz das Thema zu wechseln, obwohl Alfred erneut mit zwei Taschen an meiner Tür vorbei lief.

„Ähm, es ist Sonntag, ich denke mal nicht viel. Wäre ich auf die Party gegangen, wäre wohl Ausschlafen angesagt“, antwortete Constanze.

Lucas zuckte mit den Schultern.

„Ich habe sowieso noch nichts vor, was denn auch, vielleicht weiter mein Zimmer einräumen, ich habe da noch zwei Kartons noch nicht ausgepackt.“

„Ihr wollt mich also allen Ernstes mit meiner Schwester morgen alleine lassen?“

Sabine schaute mich gespielt empört an und streckte die Zunge heraus. Alle fingen an zu lachen und der Abend war gerettet.

*-*-*

Mühsam hatte ich mir ein T-Shirt übergezogen. Barfuß tapste ich die kalte Marmortreppe hinunter und war froh, dass die Tabletten schon wirkten, denn auch so spürte ich jeden Schritt.
Ich lief in die Küche und blieb erstaunt stehen. Am Küchentisch saß meine Mutter und starrte in ihre Tasse.

„Morgen!“, meinte ich und ging zum Kühlschrank.

„… Morgen… Benjamin. Wie geht es dir?“

Ich griff nach der Flasche Milch und zog sie heraus.

„Die Tabletten tun ihren Dienst…“

Ich holte mir ein Glas aus dem Schrank und gesellte mich zu ihr.

„Wo ist Marianne?“, fragte ich, meinte unsere Haushälterin.

„Ich habe… ihr Frei gegeben.“

Hoppla, das gab es doch noch nie am Wochenende. Sie hob ihren Kopf und sah mich an. Sie schien geweint zu haben, ihre Augen waren rot.

„Benjamin…, es tut mir Leid wegen gestern.“

Ich nickte.

„Ich weiß nicht was ich sagen soll, wo anfangen…“, das Reden fiel ihr sichtlich schwer, „ich weiß selbst nicht mehr wo mir der Kopf steht.“

„Wegen meines Erzeugers?“

Sie atmete tief durch.

„Nein, wegen dem schon lange nicht mehr…, er hat gestern, wie so oft in letzter Zeit sein wahres Ich gezeigt. Eigentlich sollte es mich nicht mehr mitnehmen, aber es tu es trotzdem noch.“

„Du hast ihn doch mal geliebt.“

Leicht verächtlich, blies sie Luft heraus.

„Das ist schon eine Weile her“, sie schaute mich durchdringen an, „du… du bist so erwachsen geworden…, auch etwas, was ich nicht richtig zur Kenntnis genommen habe…, ich habe dich sehr vernachlässigt…, oder?“

Eine gute Frage, die ich eigentlich jetzt nicht beantworten wollte, wo sich meine Mutter mal mehr als zwei Minuten mit mir unterhielt.

„Kann sein…, dafür durfte ich aber machen, was ich wollte.“

„Ob das gut war?“

Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, was mich daran erinnerte mir mein Glas mit Milch zu füllen.

„Wie meinst du das?“, fragte ich und trank nun selbst aus meinem Glas.

„Dein Geständnis gestern…, naja, irgendwie habe ich das ja geahnt, schon eine ganze Weile.“

„Geahnt?“

„Ja…, deine Art wie du dich gibst…, deine Tanzerei…“

„Verfällst du jetzt nicht ins Klischeedenken?“

„So meinte ich das nicht. Ich weiß selbst, wie oft viele Balletttänzer als schwul bezeichnet wurden, nein ich meinte deinen Stil zu tanzen, deine Ausdruck, das spiegelt sich in deinem ganzen Verhalten wieder, deinem Auftritt vor anderen… man könnte fast sagen… eine gewisse Eleganz…“

Nanu, so ein Kompliment von meiner Mutter, das waren ganz neue Töne. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie schon mal so mit mir geredet hatte. Sie lächelte leicht.

„Ich sehe schon, ich verwirre dich mit meinem Gerede…, entschuldige…“

„Nein, nein! Das ist gut so, mir gefällt es!“

Ihr Lächeln verschwand wieder.

„Weißt du…, ich habe dieses Leben, an der Seite deines Vaters schon eine Weile so satt, immer vorzugeben, jemand zu sein, der man eigentlich nicht ist.“

„Warum hast du es nie geändert?“

„Dein Vater widersprechen? Du weißt wie schnell er ausrastet…“

„Das habe ich gestern wieder bemerkt…“, erwiderte ich und strich über meine Wange, „er hat wohl viel damit kaputt gemacht, oder…?“

Sie nickte.

„Aber es ist nicht alleine das…, dein Vater hat sich in den letzten Jahren so negativ verändert…, am Anfang wollte ich es nicht wahr haben, habe darüber hinweg gesehen. Uns ging es gut, wir hatten keine finanziellen Probleme mehr…“

„Wie soll es jetzt weiter gehen?“

Ich hörte jemand draußen auf der Treppe. Wenig später schaute Sabine herein.

„Nanu, ihr hier?“

„Komm Schwesterherz, setz dich, Marianne hat frei.“

„Und das Frühstück?“

Vorwurfsvoll schaute ich sie an.

„Kaffee ist noch in der Maschine“, meinte Mum.

Mum, wie ein Gespräch gleich einiges änderte. Vorhin hat ich sie noch mit Mutter gedanklich tituliert, jetzt Mum. Sabine ging an den Schrank und holte sich eine Tasse.

„Milch steht hier“, sagte ich.

„Du hast gerade gefragt, wie es weiter geht…“

Ich nickte und Mum seufzte.

„Ich habe noch gestern Abend meinen Anwalt angerufen und ihn darum gebeten meine Möglichkeiten zu erkunden.“

Mum hatte einen eigenen Anwalt?

„Willst…, willst du dich wirklich scheiden lassen?“, fragte Sabine entsetzt.

„Ach Kinder…, es tut mir alles so leid, aber ich kann nicht mehr…“

Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Ich fasste ihr an den Arm und versuchte sie zu trösten.

„Mum, wir schaffen das irgendwie… oder Sabine? Und mal ehrlich, was soll Mum mit diesem Mann…, hm?“

Ich schaute meine Schwester durchdringend an.

„Der Mann ist dein Vater…!“

„Biologisch, gebe ich dir Recht Sabine. Aber ist ein Vater nicht immer für einen da, unterstützt seine Kinder bei ihren Aktivitäten?“

„Aber er hat mir aber doch so viel bezahlt…“

„Man kann mit Geld vieles oder fast alles kaufen…, hat Vater je zu dir gesagt, er hat dich lieb…, er wäre stolz auf dich…, hat er?

Sabine schüttelte den Kopf. Ich wollte weiter reden, aber Mum fiel mir ins Wort und griff nach unseren Händen.

„Ach Kinder danke…, irgendwie dachte ich… ich habe euch auch verloren.“

„Wie kommst du auf so einen Quatsch?“, fragte ich.

„Ich mach mir da nichts vor…, ich habe euch genauso vernachlässigt…, Sabine wurde von ihrem Vater verwöhnt, ich kam nicht mehr an sie heran und du… du hast die ganze Zeit etwas mit dir herum geschleppt und wurdest immer verschlossener…“

„So verwöhnt hat er mich nun auch nicht“, protestierte Sabine.

„Aber bekommen, alles was du wolltest!“, warf ich ein.

„Benjamin, ich habe es kapiert, du brauchst mir das nicht noch mal sagen.“

Sabine war nun eingeschnappt.

„Streitet euch nicht…, schon gar nicht wegen eurem Vater.“

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