Alles was bleibt – Teil 8

8. Abschied von einem anderen Leben

Es war Mittwoch und ich stand auf einem Friedhof, irgendwo in Berlin. Es waren nur wenige Menschen zur Bestattung meiner Mutter gekommen. Fred, seine Eltern, Benn, Bärbel und wie ich herausbekommen hatte, die Schwester meiner Mutter, die ich nie kennengelernt hatte.

Benn hatte seitdem Wochenende zu mir Abstand gehalten und hatte nur mit mir im Beisein von Bärbel gesprochen. Ich war traurig darüber, wie Benn sich verhielt. Er war der erste den ich geküsst hatte und wo ich dachte, dass auch von seiner Seite Gefühle da sind.
Aber anscheinend machte er Ernst mit dem, es darf nicht sein. Am Montag hatte ich mit Freds Mutter meine Sachen aus der Wohnung geholt, in der ich aufgewachsen war, mit einer großen Lüge.
Nun stand ich hier und nahm endgültig davon Abschied und hoffte, dass der Rest meines Lebens endlich die richtige Wendung nehmen würde. Der Pfarrer sprach von der Person die dort unten in dem Grab, in einem Sarg lag, als wäre sie eine Heilige.
Ich musste mich zurückhalten um nicht in einem kurzen Moment mich zu vergessen und zu brüllen, das dass alles eine Lüge war, was er erzählte. Aber ich konnte nicht. Meine anderen Eltern hatten angeboten an diesem Tag hierher zu kommen, aber ich lehnte es ab.
Freds Hand hatte sich in meine geschlichen, als wenn er merken würde, dass in mir ein Orkan tobte. Benn stand weit entfernt von mir neben Bärbel und vermied mich anzusehen. Der Pfarrer beendete seine Ansprache und ich trat an das Grab und warf eine rote Rose hinein.
Wieder kam diese Wut in mir hoch, auf diese Frau die in diesem Grab lag und mir das alles angetan hat. So vielen hat sie Leid gebracht, die einen die den Verlust nie überwinden konnten und mich der nicht wusste wo sein Platz in dieser Welt ist.
Ich drehte mich abrupt vom Grab weg und ging langsam davon. Ich wollte das Grab nicht mehr sehen und auch Benn der mich seitdem wir auf dem Friedhof waren, keines einzigen Blickes würdigte.

„Luka warte!“

Ich drehte mich zu Fred um: „Bitte Fred lass mir bitte etwas Zeit! Ich brauche etwas Zeit für mich alleine.“

Fred nickte verstehend.

„In Ordnung du weißt ja wie du zu uns kommst!“

Ich nickte nur und drehte mich um und ging den Hauptweg entlang zum Friedhofsausgang.
Als ich am Ausgang war, hörte ich hinter mir schnelle Schritte.

„Luka bitte warte!“

Ich kannte die Stimme nicht, daher drehte ich mich zu dieser um und erkannte die Schwester meiner Mutter. Kurz vor mir blieb sie stehen und sah mich an.

„Ähmm wollen wir einen Kaffee trinken gehen? Ich möchte gerne mit dir reden.“

„Eigentlich wollte ich alleine sein, aber egal dann reden wir.“

„Ich kann dich verstehen Luka. Es tut mir so leid für dich. Es muss schwer sein das alles zu verarbeiten.“

„Und wie! Und alle schwänzeln um einen herum. Die Wohnung muss aufgelöst werden und wo bringen wir dich unter und eigentlich müsstest du zu deinen richtigen Eltern ziehen und und und…..“

Wütend trat ich einen Stein der auf dem Weg lag weg. Ihre Hand schnellte plötzlich vor und nahm meine Hand und drückte sie leicht.

„Es ist schwer oder?“

„Ja…“

Meine Stimme klang belegt und meine Augen fingen an zu brennen.

„Da vorne ist ein Restaurant, lass uns da rein gehen.“

Ich nickte nur zu mehr war ich gerade nicht in der Lage. Nachdem wir in dem Restaurant einen Tisch gefunden hatten, setzten wir uns. Ich hing meine Jacke über die Lehne des Stuhls und drehte mich dann zu ihr um.

„Entschuldige bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Elke ist mein Name.“

„Meinen kennst du ja.“

„Ja aber auch nur durch die Polizei die bei mir war, um mich zu meiner Schwester zu befragen.“

„Ich weiß, Bärbel hat es mir gesagt dass du ziemlich durch den Wind warst nachdem du alles erfahren hattest, was deine Schwester so siebzehn Jahre lang getan hat.“

„Ich war geschockt darüber, das kannst du mir glauben. Ich hätte ihr so etwas nie zu getraut. Damals vor siebzehn Jahren hatte sie eine Fehlgeburt. Und als ob das nicht schon schlimm genug war, ist ihr Freund über Nacht auch noch weggerannt, mit der Begründung dass er das alles nicht verkraftet. Ich hatte versucht sie wieder aufzubauen. Aber wie man sieht, ist es auch mir nicht gelungen.“

„Ja und wie man ja jetzt sieht hat sie noch dazu eine Familie kaputt gemacht. Einem kleinen Baby alles genommen nur damit es ihr besser geht! Und jetzt bin ich es, bei dem die Gefühle, seitdem ich alles weiß Achterbahn fährt.“

Elke legte ihre Hand auf meine und drückte diese leicht.

„Das schlimmste ist…“, fing ich an, wurde aber unterbrochen.

„Möchten sie etwas bestellen?“

Elke bestellte dann erst einmal Kaffee und der Kellner schwirrte los um dieses dann zu bringen.

„Was ist das schlimmste? Schlimmer geht doch gar nicht!“

Elke sah mich fragend an.

„Seit zwei Wochen habe ich das Gefühle ich falle in jedes Loch was es gibt. Kaum bin ich aus einem Loch raus, liege ich schon im nächsten!“

Ich fing an zu schniefen und Tränen bahnten sich in meinen Augen an die Oberfläche.

„Es ist alles scheisse…“

„Was meine Schwester getan hat ist unverzeihlich. Ich denke aber da ist noch was anderes oder?“

„Jep ich bin schwul und ich hab mich in Benn, der mich zurzeit betreut verkuckt. Wir haben uns geküsst und danach sagt er, wir müssen uns Zeit lassen und jetzt redet er nur noch das wichtigste und sonst sieht er mich nicht mal an.“

„MMhh ich verstehe. Luka ich denke Benn tut das richtige. Du bist zurzeit psychisch total durch den Wind und da ist klar das man da schnell Gefühle für denjenigen entwickelt der einem hilft und unterstützt. Denk jetzt nur an dich und nimm jede Hilfe die kommt an. Du brauchst sie und glaube mir wenn ich das gewusst hätte was meine Schwester da veranstaltet hatte, dann wäre sie viel früher in einem Grab.“

Ich sah zu Elke und fragte mich warum ich das alles ihr erzählte, die mir doch total fremd war. Wenn ich es aber genauer betrachtete, war es genau der Umstand das sie meiner Mutter so ähnelte und ich automatisch vertrauen zu ihr aufbaute.
Elke lächelte mich an und trank ihren Kaffe. Ich nahm daraufhin auch einen Schluck.

„So und was ist mit deiner richtigen Familie jetzt?“

„Wir haben uns letztes Wochenende kennengelernt und es war schön. Meine Eltern waren nett, aber sie dachten natürlich, ich würde jetzt gleich zu ihnen ziehen. Aber ich kann das nicht. Sie haben zwei Kinder Lars und Lisa und ich fühle mich wie ein Eindringling in ihre Familie. Nach siebzehn Jahren soll ich da einziehen und das kann ich nicht. Wir haben uns daraufhin geeinigt, dass ich an den Wochenenden zu ihnen komme, damit wir uns besser kennenlernen.“

„Na das ist doch ein Anfang. Wie gesagt mach alles langsam. Schritt für Schritt und was ich noch sagen muss, du hältst dich ziemlich gut in dieser Situation.“

„Das sagt mir jeder. Aber wie es innen aussieht bei mir, weiß keiner!“

„Glaube ich auch. Ich habe jetzt auch ziemlich viel zu verarbeiten. Das mit dir, meiner Schwester und alles was noch da kommen mag. Und wie soll es nach Deiner Meinung weitergehen?“

„Gute Frage. Ich möchte meine Schule hier beenden. Danach will ich Medizin studieren.“

„Wow, da hast du aber schon einen richtigen Plan aufgestellt!“

„Ja hab ich. Ich will aber eins nicht meinen Eltern dafür auf der Tasche liegen. Wie sieht das aus wenn ich ihnen sage, das ich Geld brauche?“

„Verstehe das glaube ich, würde ich auch nicht machen! Pass auf, ich mach dir ein Angebot. Ich werde mich um den Nachlass von meiner Schwester kümmern und mal sehen was sie da so hinterlässt. Denn soviel ich weiß hat sie Vorkehrungen getroffen, wenn ihr was passiert. Und wenn du es zulässt dann würde ich dir auch unter die Arme greifen, um wenigstens etwas an dir gut zu machen was in Anführungsstrichen unsere Familie dir angetan hat. Wäre das ok?“

„Aber das kann ich doch nicht annehmen! Ich meine du kannst doch dafür gar nichts!“

„Papperlapapp ich habe zwei Kinder groß bekommen und ich glaube wenn ich dir helfe verstehen das meine nur zu gut und auch mein Mann.“

„Das wäre echt toll. Wenigstens würde ich meinen Eltern nicht noch auf der Geldbörse liegen.“

Das erste Mal an diesem Tag sah ich am Horizont etwas Sonnenschein.

„So hier hast du meine Adresse und die Telefonnummer. Und ruf an wenn was ist, ich helfe dir! So und wegen dem anderen melde ich mich bei dir sobald ich mehr weiß.“

Elke stand auf und verabschiedete sich von mir.

Ich saß noch am Tisch in Gedanken versunken, so dass ich nicht bemerkte, dass Fred sich an den Tisch gesetzt hatte.

„Luka….“

„Upps Fred wo kommst du denn her?“

„Na ich muss doch nach meinem besten Freund sehen, was er so macht!“

Fred grinste mich an.

„Und wie geht’s?“

„Tja wie soll es schon gehen? Ging mal besser!“

„Verstehe. Meine Eltern haben mich hinter dir her geschickt. Du sollst noch daran denken, bevor die Wohnung ausgeräumt wird, deine Sachen die du noch haben willst einzupacken.“

Ja da war was, was ich noch zu erledigen hatte. Ich war fast eine Woche nicht mehr in der Wohnung gewesen, in der ich aufgewachsen bin. So machte ich mich mit Fred auf den Weg.

Ich stand in ihrem Schlafzimmer und sah mich um. Fred hatte einige Schubkästen geöffnet und durchforstete diese nach irgendwelchen Wertsachen. Ich hätte ihm sagen können, das es sich nicht lohnte da meine Mutter schon Wochen vorher alles geordnet hatte, für ihr Ableben.

„Sieh mal Luka was ich gefunden habe.“

Ich drehte mich um und sah zu Fred der vor dem Bett meiner Mutter kniete und eine Pappschachtel darunter hervorzog. Unwillkürlich kniete ich mich zu ihm und Fred öffnete diese. In der Schachtel lag Babykleidung und eine Babyklapper.

„Ich glaube das sind deine Sachen, die du anhattest als sie dich…“

„Lass uns das mit einpacken.“

Fred nickte und schloss die Schachtel um dann mit ihr in den Korridor zu verschwinden, wo die Umzugskartons standen, die meine Sachen beinhalteten. Ich stand auf und ging in das Wohnzimmer und sah mich dort um.
Ich sah die Fotoalben auf dem Tisch und trat darauf zu. Das oberste öffnete ich und sah mir die Bilder an, die dort auf der ersten Seite eingeklebt waren. Auf dem einen Foto bin ich bei meinem fünften Geburtstag zu sehen.
Ich puste gerade die fünfte Kerze aus und meine Mutter sitzt daneben und lacht in die Kamera. Ich schließe das Album und atme einmal tief durch. Ich habe einige Fotos schon aus den Alben genommen, die nun in einer der Umzugskisten liegen.
Bilder mit ihr habe ich nicht gewollt. Nur eines habe ich von ihr behalten, es sollte auch das einzige bleiben das mich an diese Frau erinnern sollte. Ich drehte mich von dem Tisch ab und sah mich noch einmal um.
Das war einmal mein zu Hause, nur seltsam das ich mich hier nicht mehr wohl fühlte. Diese Wohnung vermittelte mir erst jetzt, dass mein bisheriges Leben eine einzige Lüge war. Diese Lüge war wie eine tickende Zeitbombe hier explodiert und wie es so Bomben an sich hatten, machten sie alles kaputt was in ihrer Nähe stand.

„Soll ich meinen Vater anrufen, damit wir die Kartons hier weg bekommen?“

Ich nickte zu Fred, der in der Tür zum Wohnzimmer stand. Dieser zückte sein Handy und verschwand im Flur. Kurz darauf hörte ich wie er mit seinem Vater sprach. Ich fühlte mich unwohl und wollte nur noch aus dieser Wohnung raus.
Nein es war nicht mehr mein zu Hause und es wird sich auch nie wieder so anfühlen, daher war ich froh das kurze Zeit später Freds Vater in der Wohnung stand und wir die Kartons endlich aus dieser Wohnung tragen konnte.
Nachdem wir fertig waren, bat ich Fred, dass dieser mit seinem Vater schon nach Hause fahren sollte. Als beide weg waren sah ich mich noch einmal um. Ich trat in mein Zimmer in dem nur noch ein leerer Kleiderschrank stand.
Das Bett war schon abgebaut und stand im Flur abholbereit. Mein Schreibtisch, der am Fenster steht war leer. Leer so fühlte ich mich, auch wenn ich meine richtigen Eltern kennengelernt hatte.
Mein bisheriges Leben ein Trümmerhaufen, das nur auf Lügen aufgebaut war. Diese Wohnung die sich nicht mehr als nach Hause ankommen anfühlte.

„Was bleibt mir noch?“ flüsterte ich in diese Leere die mich umgab. Ich wusste einfach nicht wo mein zu Hause heute war. Bei Fred’s Familie wurde ich herzlich aufgenommen und es war keine Frage das ich dort bleiben durfte, aber es war nicht meine Familie und schon gar nicht mein zu Hause.
Und meine richtigen Eltern? Klar als ich sie kennenlernte, waren da schon verschüttete Gefühle hochgekommen, aber das war auch alles. Ich bin bei ihnen nicht aufgewachsen und somit fehlte mir auch da das Gefühl das ich dort zu Hause bin.
In diesem Augenblick wurde mir hier und jetzt bewusst dass ich kein zu Hause besaß. Ich merkte wie mir die Tränen kamen und bevor ich so richtig los heulen konnte, verließ ich diese Wohnung. Verschloss die Wohnungstür und verließ das Wohnhaus. Ich lief die Strasse hinunter, ohne mich noch einmal umzusehen.

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2 Kommentare

  1. Eine wirklich gute Geschichte die spannend aufgebaut ist. Wie geht es weiter? Habe doch noch schnell gelesen. Mein Chef war nicht da 🙂

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  2. Huhu Jörg, da leidet man echt mit, echt gut, authentisch geschrieben. Mach so weiter.

    VlG Andi

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