Alles was bleibt – Teil 9

9. Dunkle Wolken

Ich stand mit meiner Reisetasche auf dem Hauptbahnhof in Stuttgart und sah mich um. Ilse hatte mich heute Morgen noch angerufen um zu erfahren wann der Zug in Stuttgart ankommen würde.

Nachdem ich ihr die Zeit genannt hatte, sagte sie mir dass ich am Bahnhof abgeholt werde. Nun stand ich hier und versuchte vergeblich ein bekanntes Gesicht auf diesem Bahnhof zu erkennen.

„Puhh da bist du ja…“

Erschrocken zuckte ich zusammen und drehe mich zu der Stimme um. Micha steht vor mir und an seiner Seite steht Lars, den ich sofort erkenne.

„Na dann mal los, die anderen warten schon zu Hause.“

„Ja dann ähmm.. „

„Na komm, ich nehme dir mal die Tasche ab.“

Lars greift sich diese, die auf dem Boden neben mir steht und geht vor. Micha bleibt neben mir und wir folgen Lars aus dem Bahnhof heraus.

„Und wie war die Beerdigung?“

„Nicht so toll. War etwas zu viel, aber hab’s überlebt.“

Micha nickte verstehend neben mir, was ich aus den Augenwinkeln heraus wahrnehme. Am Auto angekommen, setze ich mich mit meiner Reisetasche nach hinten. Lars setzt sich vorne zu seinem Vater.
Viel gesprochen hat Lars bis jetzt nicht. Micha setzt sich auf die Fahrerseite und startet den Motor.

„So Jungs ab nach Hause. Eure Mutter wartet schon mit selbstgebackenen Kuchen auf uns.“

„Hoffentlich Schokokuchen…“, kommt es von Lars.

Ich muss innerlich grinsen, denn Schokoladenkuchen ist auch meine Lieblingsspeise. Die ganze Fahrt über versucht Micha die Stimmung etwas zu lockern, aber es gelingt ihm nicht. Lars wirft immer wieder einen Seitenblick zu mir, sagt aber kein einziges Wort.
Ich weiß nicht wie ich das ganze einzusortieren habe und sehe lieber aus dem Fenster raus und betrachte die Gegend, die an mir vorbeirauscht. Ich habe Angst. Angst, dass sich meine Befürchtungen bewahrheiten und Lars und Lisa mich ablehnen.
Mich nie in dieser Familie willkommen heißen. In diesem Augenblick bin ich froh, dass ich mich für das Bleiben in Berlin entschieden habe und nicht hierher gezogen bin. Die Entfernung macht es einfacher mit dem hier umzugehen.
Meine Gedanken schweifen zu Benn. Bärbel hat mir einen Tag später, nach der Beerdigung mitgeteilt, dass dieser die Betreuung von mir nicht mehr weiter machen wollte. Es tat weh, dies nicht von ihm selbst erfahren zu haben.
Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Fred war stinksauer als er das hörte und hätte ich ihn nicht zurückgehalten, wäre er postwendend durch die ganze Stadt gerannt um ihn zur Rede zu stellen.
Ich selbst war über seine Reaktion enttäuscht. Ich hätte ihm nicht zugetraut das er so etwas durchziehen würde. Das einzige, was mich nicht in ein dunkles Loch fallen ließ, war mein Mantra stark zu sein.
Ich merkte erst gar nicht, dass wir vor dem Haus angekommen waren. Erst Michas Stimme riss mich aus den Gedanken und ich stieg mit meiner Tasche aus. Lars war schon im Haus verschwunden, so dass nur Micha und ich vor diesem standen.

„Na dann komm mal, die anderen warten bestimmt schon.“

Ich konnte nur nicken. Die Angst steigt in mir hoch, was wird mich jetzt hier erwarten. Ich sah schon vor meinem geistigen Auge Lars und Lisa mit entsprechenden Plakaten in der Hand, auf denen mir empfohlen wurde schnellstens das Land zu verlassen und nie wieder zurück zu kommen.
Micha geht vor und ich folge ihm, meine Reisetasche in der Hand. Am liebsten würde ich die Tasche in die Büsche schmeißen und wegrennen soweit ich kann. Aber ich folge Micha in das Haus.

„Stell deine Tasche ruhig ab, die anderen sind bestimmt schon auf der Terrasse.“

Ich stelle die Tasche im Flur ab und laufe den schon bekannten Weg zur Terrasse. Dort stehen Ilse, Lisa, Lars und ein älteres Pärchen. Es ist still und meine Füße wollen auch nicht so wie ich möchte.
Auf einmal erklingt ein Chor von Stimmen, die mir ein Herzlich Willkommen zu Hause entgegen rufen. Ilse tritt auf mich zu und nimmt mich in die Arme. Danach kommt Lisa auf mich zu.

„Hi, schön, dass ich dich endlich kennenlerne.“

Sie hält mir die Hand hin und ich nehme diese und drücke ganz kurz zu. Danach kommt die ältere Dame auf mich zu. Sie hat Tränen in den Augen und sieht mich genau an.

„Junge es ist so schön, dass du da bist. Ich bin Mathilde deine Oma.“

Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich an sich. Danach kommt der ältere Herr auf mich zu und macht das gleiche. Sein Name ist Ernst und mein Opa. Ich bin etwas durch den Wind, am liebsten würde ich jetzt sagen, dass es schön ist sie alle kennen gelernt zu haben und dass ich jetzt gehe.
Aber ich kann nicht. Ich muss das jetzt hier durchziehen. Als ob Micha meine Gefühle, die in mir kochen fühlen kann, nimmt er meine Hand und drückt leicht zu.

„Wird schon und wenn es zu viel wird sag es einfach“, flüstert er mir zu.

Ich setze mich an den Tisch, neben mir sitzt Lisa. Lars, der neben Lisa sitzt, ist wie im Auto still und starrt vor sich hin. Ich weiß nicht, wie ich sein Schweigen interpretieren soll und beiß mir vor Nervosität auf die Lippe.

„Luka?“, unterbricht Ilse meine Gedanken und ich schaue zu ihr.

„Ein Stück Schokoladenkuchen?“

„Gerne! Aber warte, ich habe was vergessen aus meiner Tasche zu holen!“

Ich stehe auf und zurück in den Flur. Dort steht meine Tasche am Boden. Ich öffne diese und nehme zuerst die beiden eingepackten Geschenke für Lisa und Lars heraus. Es sind nur einfache Geschenke.
Für Lisa eine Umhängetasche mit dem Schriftzug I Love Berlin und für Lars habe ich mit Fred eine CD von den Hurts gekauft. Ich hoffe, die Geschenke gefallen ihnen. Zuletzt nehme ich die Schachtel heraus, die Fred unter dem Bett meiner Mutter gefunden hatte.
Ich hoffe es sind die Sachen, die ich als Baby anhatte als ich entführt wurde. Mit den Sachen gehe ich zurück zu den anderen. Lisa freut sich über die Tasche und findet sie cool. Bei Lars, nachdem er die CD ausgepackt hat, kommt auch ein Lächeln und das erste Mal sieht er mich direkt an und bedankt sich.
Na hoffentlich ist das Eis bei ihm gebrochen. Ich hoffe es so! Dann nehme ich die Schachtel und schiebe sie Ilse und Micha zu. Als Ilse die Schachtel öffnet, ist die erste Reaktion als sie den Inhalt erkennt ein kurzer Schluchzer.
Dann sieht sie Michael an und nimmt das Jäckchen heraus.

„Ich habe es beim ausräumen der Wohnung gefunden und ich dachte du möchtest es bestimmt zurück haben“, kam es zögerlich von mir.

Ilse sieht mich, mit Tränen in den Augen an.

„Es sind deine Sachen, die du damals anhattest…“

Micha der neben ihr sitzt nimmt aus dem Karton die Babyklapper und sieht sie sich an.

„Die habe ich gekauft und anstatt das du damit rumklapperst, hast du sie sofort in den Mund genommen und darauf rumgekaut.“

Ein wehmütiges Lächeln ist im Gesicht von Micha zu sehen und dann nimmt er Ilse in die Arme und drückt sie an sich.

Lars räuspert sich.

„Ich muss jetzt gehen, wir haben noch Fußballtraining und Joern holt mich ab.“

Als wenn es das Stichwort ist, klingelt es schon an der Haustür. Lars springt ohne auf eine Antwort zu warten auf und verschwindet. Ich sitze da und warte schon darauf dass auch Lisa verschwindet. Aber sie bleibt neben mir sitzen.

„Lars ist etwas durch den Wind…“, sagt sie und lächelt mich scheu an.

„Ich hatte nicht erwartet, dass es für einen von uns leicht sein wird…“

Meine Enttäuschung macht sich in der Tonwahl Ausdruck. Ich spüre wie mir Tränen der Enttäuschung hoch kommen und am liebsten wäre ich jetzt aufgestanden. Was hatte ich eigentlich gedacht, dass wir hier heile Familie spielen.

„Luka hier, das ist gestern gekommen…“
Micha schiebt mir einen Briefumschlag zu.

„Wir haben ihn noch nicht geöffnet! Es ist der DNA Abgleich…“

Ja da war ja was. Das Jugendamt hatte einen DNA Abgleich gefordert um hundertprozentig die Elternschaft feststellen zu lassen. Ich öffne den Umschlag und sah nur auf den letzten Satz des Briefes. Dort stand das zu 99,9 Prozent die abgegebenen Proben identisch sind und somit die Bestätigung das die Personen dem gleichen Genpool entstammen.

„Was steht drin?“ kam es von Lisa.

„Das was alle schon wissen. Ich bin das entführte Baby.“

Ich schluckte und sah auf.

„Entschuldigt bitte, ich hatte gedacht es ist ganz einfach. Ich komme hierher und lerne euch kennen. Aber es ist mir einfach zu viel… ich…, ich…“

Ich fing an zu schluchzen. Ich merkte wie mir die Tränen die Wangen runter liefen. Lisa neben mir rutscht unruhig auf dem Stuhl rum.

„Lisa du kannst in dein Zimmer gehen.“

Wie von der Tarantel gestochen springt sie auf und rennt schon fluchtartig von der Terrasse weg. Ich höre eine Tür knallen, danach herrscht Stille, auch am Tisch. Ich versuche ruhig zu atmen und mir in Gedanken Mut zu machen, dass ich das schaffe. Ilse steht kurz auf um sich neben mich zu setzen.

„Ich… es tut mir leid wie Lars und Lisa reagieren…“

Ich sah Ilse an und dann Micha. Mathilde und Ernst sahen auch ziemlich bedrückt aus und rangen nach Worten, das man ihnen ansah.

„Es tut mir leid. Ich bereite allen nur Schmerzen zu und ich möchte nicht das eure Familie wegen mir kaputt geht“, schniefte ich.

„Ich… glaube es ist besser ich fahre wieder..“

Ich versuchte aufzustehen aber Ilse hält mich zurück.

„Luka wir lassen dich nicht gehen. Wir haben dich erst wieder gefunden und wir werden das schaffen!“

Irgendetwas ging in mir kaputt. Es war als ob etwas in mir zerbrach, denn es tat seelisch so weh. Die Ablehnung von Lars. Lisa die fluchtartig das bizarre Szenario hier am Tisch verließ. Benn der sich von mir weggedreht und mich mit meinem Gefühlschaos alleine ließ.
Ilse und Micha, die mich unbedingt hier in diese Familie, die mir noch immer so fremd vor kam, reindrängen wollten. Meine Mutter die sich mit ihrem schnellen Tod aus der Verantwortung gezogen hat.
Es kam alles hoch und es kochte in mir. Ich wollte lieber sterben, um endlich Ruhe zu finden.
Ich wollte nicht mehr. Ich sprang auf, sah im Augenwinkel wie Micha auch aufsprang. Mein Stuhl krachte hinter mir zu Boden.
Bevor irgendjemand reagieren konnte, war ich im Flur, nahm meine Tasche, öffnete die Haustür und rannte los. Jemand in der Ferne rief meinen Namen, aber ich achtete nicht darauf.
Der einzige Gedanke war, ich will hier weg.

*-*-*

Wie ich zum Bahnhof kam wusste ich nicht mehr. Ich saß jetzt jedenfalls in einem Zug der irgendwo hinfuhr. Alles war mir egal. Stark sein das wollte ich nicht mehr. Mein Handy fing an zu brummen.
Ich nahm es in die Hand und schaute drauf. Unbekannte Nummer stand auf dem Display. Ich schaltete das Handy aus und stopfte es in meine Tasche zurück. Mein Nervenkostüm war hinüber und ich glaube mir war schlecht, denn plötzlich, fing ich an zu würgen.
Ich sprang auf und rannte den Gang runter zur nächsten Toilette. Kaum war ich dort drin, zum Glück war sie frei, begann ich auch schon mich zu übergeben. Eine ganze Weile würgte ich, bis sich mein Magen beruhigt hatte.
Ich machte mir den Mund sauber und sah in den Spiegel, der schon mal bessere Tage gesehen hatte. Was ich sah erschrak mich. Mein Gesicht war aschfahl. Rote Augen wie bei einem Zombie sahen mich an. Einfach gesagt ich sah Scheiße aus und so fühlte ich mich auch.
Ich verließ die Kabine und ging zurück zu meinem Platz um mich zu setzen. Was mache ich nun, dabei fiel mir wieder die Situation ein, wie meine Geschwister das weite vor mir gesucht haben. Ich hatte verstanden, sie wollten mich nicht in der Familie haben.
Warum auch, wer wollte mich denn noch. Ein zu Hause gab es nicht mehr. Fred war der einzige halt gewesen den ich noch hatte. Fred, Scheiße! Ich muss ihn anrufen. Ich griff in die Tasche und holte mein Handy wieder raus und schaltete es ein.
Dreißig Anrufe in Abwesenheit leuchtete mir auf dem Display entgegen. Ich suchte Fred’s Rufnummer raus und drückte auf die grüne Taste. Es klingelte einmal und Freds aufgeregte Stimme war zu hören.

„Luka wo bist du?“

„Ich sitze in einem Zug, aber weiß nicht wo der hin fährt.“

„Micha hat bei mir angerufen. Er sagte was von überfordert und das wenn ich was von dir höre, sofort anrufen soll. Also was ist passiert?“

„Fred, Lisa und Lars wollen mich nicht in der Familie und ich hatte das Gefühl das ich mit meinem Auftauchen die Familie kaputt mache und dann …“, ich fing an zu weinen.

„Scheiße… Luka du steigst am nächsten Bahnhof aus… Hörst du???“

„Ja.. ich kann nicht mehr Fred! Ich will nicht mehr! Ich halte es nicht mehr aus…“

„Luka mach kein Blödsinn… Bitte…“

Ich schniefte und zog meine Nase hoch.

„Fred, du bist mein bester Freund, aber ich habe nichts mehr.. kein zu Hause.. Nichts!“

„Doch du hast mich! Darauf kommt es an und wehe du baust Mist, glaub mir dann haue ich dich windelweich..“

In diesem Augenblick bremste der Zug ab und hielt an einem Bahnhof.

„Warte ich steig aus…“

Kaum war ich ausgestiegen, fielen die Türen automatisch vom Zug zu und er fuhr ab.

„So wie heißt der Bahnhof? Luka und das dalli!“

Ich sah mich um und fand das Schild.

„Ich bin hier in Günzburg…“

„OK Luka, mein Vater und ich machen uns auf den Weg und du wirst dich nicht von der Stelle rühren. Wenn doch soll ich dir von meiner Mutter ausrichten, wird sie dich persönlich für drei Wochen zum Küchendienst verdonnern…“

„Danke Fred…“

„Wir kommen… und dem Lars und der Lisa trete ich selber in den Allerwertesten….Glaub mir, die können sich was anhören!“

Fred hörte sich echt wütend an.

„OK mein Akku meldet sich. Ich versuche es hier irgendwo zu laden. UND DANKE FRED!“

„Luka das nicht. Ich hab dir gesagt ich bin immer da für dich! Und von meinen Eltern soll ich auch bestellen, dass du hier willkommen bist. Also nicht weg laufen! Papa und ich kommen jetzt…“

Fred legte auf und ich schaltete mein Handy aus und sah mich um.

*-*-*

Bevor es weitergeht, nur kurz eine Erläuterung. Im zehnten Kapitel wird Fred erzählen, was weiter passiert. An dieser Stelle dachte ich, sollte endlich Fred zu Worte kommen.
Also viel Spaß beim Lesen!
Joerschi

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2 Kommentare

  1. Es ist doch schön, wenn man, egal was passiert, einen besten Freund hat, auf den man sich verlassen kann, dem man vertraut und für den man aber auch selbst immer da ist. Freundschaft ist für mich Gegenseitigkeit, die unheimlich wichtig ist.

    Bin sehr neugierig, wie es weitergeht 🙂

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  2. Boah, ganz schön heftig, hart. Bin echt gespannt, wie das alles weitergeht, ob Luka hoffentlich bald Glück erleben darf nach diesen krassen Nackenschlägen.

    LG Andi

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