Als wir bei Kay ankamen war es schon fast vier Uhr morgens, doch müde fühlte ich mich kaum mehr. Viel zu aufgewühlt war ich von dem Abend und obwohl ich nicht direkt darüber nachdachte, fühlte ich mich doch sehr einsam.
Kay wohnte alleine in einem Haus, das etwas außerhalb der Stadt lag und von einem kleinen Garten umgeben war. Als er das Gartentor öffnen wollte, sprang uns plötzlich und ohne jede Vorwarnung ein schwarzes Etwas entgegen. Vor Überraschung und im ersten Moment auch vor Angst erschreckte ich so sehr, dass mir ein kurzer Aufschrei über die Lippen kam. Ich konnte noch nicht einmal erkennen, was uns da angesprungen hatte, aber ich war sicher, es musste ziemlich groß sein.
Doch Kay lachte nur über meinen erschrockenen Blick und meinte, während er das schwarze Etwas begrüßte: „Keine Angst, der tut dir nichts. Er passt nur auf, solange ich nicht da bin.“
Und wirklich, als Kay das Tor wieder geschlossen hatte und wir zur Haustür gingen, trottete das schwarze Etwas, das ich nunmehr als einen großen schwarzen Hund erkennen konnte, langsam hinter uns her. Kay blieb zwischendurch stehen und wartete, bis der Hund ebenfalls bei uns stehen blieb, dann stellte er uns einander mit hochwichtiger Mine ganz hochoffiziell vor: „Darf ich vorstellen, das ist Tammo, kurz Tam. Zwar ein Rottweiler, aber entgegen der Meinung vieler ein herzliches Tier zum knuddeln.“
Ich lächelte unsicher, starrte den bulligen Hund aber weiterhin nur ängstlich an. Da nahm Kay einfach meine Hand und flüsterte noch einmal: „Keine Angst…“
Langsam führte er meine Hand zu dem Tier und Tam schnüffelte daran. Dann stupste er plötzlich mit seinem Kopf dagegen und Kay fing an zu lächeln: „Hey, der mag dich. Das eben war seine ganz persönliche Erlaubnis, ihn streicheln zu dürfen.“
Auch ich lächelte wieder und überwand mich schließlich. Vorsichtig strich ich dem Hund über den Kopf und als sich meine Hand danach immer noch an meinem Arm befand, wurde ich schon etwas sicherer und kraulte ihn sogar am Kopf. Kay sah mir still lächelnd dabei zu. Ein bißchen stolz, weil ich meine Angst überwunden hatte, lächelte auch ich. Kay sah mir dabei sekundenlang einfach nur in die Augen, wandte sich dann aber abrupt ab und ging voran zur Haustür. Verwirrt folgte ich ihm.
Kaum hatte er die Haustür geöffnet, schoss Tammo schon blitzschnell an uns vorbei und ins Haus. Kay grinste und meinte mit einem Schulterzucken: „Normalerweise schläft er immer im Haus. Wie gesagt, er ist nur draußen, wenn ich nicht da bin.“
Er führte mich als erstes ins Wohnzimmer, wo ich langsam meine Jacke auszog und achtlos auf die Couch warf. Die Jacke auszuziehen war gar nicht mal so einfach gewesen, denn meine Arme schmerzten heftig bei jeder Bewegung.
Kay hatte mich besorgt dabei beobachtet und fragte mit sanfter Stimme: „Alles ok?“
Ich nickte nur still und lächelte gequält.
„Was möchtest du jetzt machen?“, fragte er mich dann und ich schaute ihn im ersten Moment sehr ängstlich an. ‚Was erwartet er von mir? Was will er hören?’
Ich traute mich nicht eine Antwort darauf zu geben, wollte nichts falsch machen. Schließlich war das hier sein Haus, da konnte ich doch nicht einfach so bestimmen, was wir machen sollten. Bei Rolf gab es immer einen Riesenärger, wenn ich mal was vorgeschlagen hatte. Ich solle in seiner Wohnung gefälligst nicht versuchen Befehle zu erteilen. Er würde mir schon zeigen, wo es lang geht.
Als Kay aber meinen verwirrten Blick bemerkte, wurde er etwas ausführlicher: „Möchtest du gleich schlafen gehen oder vorher duschen oder noch Kaffee trinken und reden?“
Erleichtert und auch ein bisschen böse auf mich selbst wegen meiner Ängstlichkeit antwortete ich leise und mit gesenktem Blick: „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern noch einen Kaffee trinken … ich … ich glaube nicht, dass ich einschlafen kann.“
„Okay, dann stelle ich gleich ne ganze Kanne hin … ich bleib auch noch wach“, erwiderte er und verschwand aus dem Wohnzimmer.
Während ich Kay in der Küche hantieren hörte, machte ich es mir so gut es ging auf der Couch gemütlich. Langsam spürte ich doch, wie die Müdigkeit in meinen Körper kroch, aber so durcheinander wie ich war konnte ich nicht an Schlaf denken. Meine Gedanken drehten sich ständig nur im Kreis, ohne dass ich jedoch irgendwie hätte konkret nachdenken können. Sie rauschten nur ruhelos an mir vorbei und ich begann mich in dem fremden Wohnzimmer umzusehen. Erst da wurde mir richtig klar, dass ich von nun an alleine sein würde.
Es würde keinen Rolf mehr in meinem Leben geben, nie wieder. Und im Moment fielen mir eigentlich nur positive Konsequenzen ein. Ich würde mich nicht mehr dafür rechtfertigen müssen, wenn ich mit Tanja mal einen Kaffee trinken gehen wollte. Es war niemand mehr da, der mich als männliche Hure beschimpfen würde, nur weil ich mich auch mit anderen Männern unterhielt. Es war niemand mehr da, der mir Angst machte, wenn er wütend war. Eigentlich und logisch gedacht fühlte es sich eher wie eine Erleichterung an.
Doch trotzdem wusste ich nicht, was ich nun machen sollte. Ich fühlte mich total hilflos bei dem Gedanken, alleine zu sein. Rolf hatte mich in den letzten Monaten sehr vereinnahmt. Er hatte erreicht, dass ich aus meinem Verein ausgetreten war, weil er so viel Zeit wie nur möglich mit mir hatte verbringen wollen. Er hatte erreicht, dass ich den Kontakt zu anderen komplett verliere, weil er mich immer nur für sich alleine haben wollte. Für sich und seine Kumpel…
Selbstverständlich hatte er das nie direkt gesagt. Er hatte es immer so hingedreht, dass es mir nie so richtig aufgefallen war. Oder vielleicht wollte es mir auch einfach nicht auffallen…
Oft hatte er ganz plötzlich einen romantischen Abend zu zweit vorbereitet. Seltsamerweise immer dann, wenn er genau gewusst hatte, dass ich ein Treffen mit anderen geplant hatte. Dann guckte er immer so dermaßen zerknirscht, dass ich meine Freunde dann meistens anrief und das Treffen absagte.
Oder mit meinem Verein, ich war bis vor einem halben Jahr aktiv im Tierschutzverein vertreten gewesen und dazu gehörte halt auch, dass ich alle zwei Wochen für mindestens drei Stunden im Tierheim aushalf. Oder bei sonstigen Aktionen dabei war. Es hatte mir immer so viel Spaß bereitet, mit den Tieren zu arbeiten. Egal welche Arbeiten das waren, ob die Gehege zu reinigen oder auch für Freilauf zu sorgen. Dabei machte es mir auch nie etwas aus, wenn ich länger dort bleiben musste. Ganz im Gegenteil, ich ging selten nach drei Stunden schon heim.
Rolf gab sich anfangs immer sehr geknickt, weil er mich dadurch so oft entbehren mußte. Nach einiger Zeit war er dann auch oft beleidigt, weil ich die Zeit mit den Tieren nicht aufgeben wollte. Und später dann hatte ich mich gar nicht mehr getraut, die Arbeiten zu erledigen, weil es immer öfter zu heftigen Streitereien deswegen gekommen war. Seit er mich das erste Mal geschlagen hatte, hatte ich bei jedem Streit immer Angst davor gehabt, dass er wieder ausrasten könnte.
Ja, und so hatte Rolf es nach und nach geschafft, dass ich mich langsam immer mehr von den anderen abgekapselt hatte.
Einzig und allein Tanja war mir geblieben, denn die anderen hatten sich irgendwann nicht mehr gemeldet. Natürlich konnte ich das auch verstehen. Wer wurde schon gerne auf Dauer immer wieder vertröstet.
Während ich ganz in meinen Erinnerungen versunken war, kam Kay mit zwei kaffeegefüllten Tassen zurück und stellte eine davon vor mir auf den Tisch. Mit einem Lächeln griff ich auch gleich danach … allerdings ohne davon zu trinken, sondern einfach nur um meine Hände irgendwie zu beschäftigen.
Kay setzte sich still auf einen mir gegenüber stehenden kleinen Hocker. Er blickte dabei starr auf seinen Kaffee und beobachtete mich auch nicht. Zumindest nicht offensichtlich. Ich bekam dadurch das Gefühl, dass ich nichts erzählen mußte, sofern ich das nicht wollte und dafür war ich ihm sehr dankbar.
Nach ein paar Minuten begann er aber dann trotzdem ganz unverfänglich: „Sag mal, wie alt bist du eigentlich Sebastian?“
„Ich bin 20, warum fragst du?“, antwortete ich und fügte lächelnd hinzu: „Und übrigens, Freunde nennen mich meistens nur Bastian oder Basti.“
Er lächelte und meinte: „Ok, Bastian, ich frag nur so aus Interesse. Aber eins würd mich noch interessieren, wie alt ist dieser Rolf?“
„Der ist 29.“
Kay nickte darauf nur und so starrte ich weiter in meine Kaffeetasse. Irgendwie faszinierte es mich plötzlich in höchstem Maße, wie der Dampf aus der Tasse empor stieg.
Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, als ich daran dachte, wie der Abend begonnen hatte. Dachte an das neue Lokal, dachte an Tanja und ja, ich dachte auch an Kay. Wie ich ihn schüchtern angehimmelt hatte, obwohl ich einen Freund hatte. Gut, laut Tanja verdiente Rolf diese Bezeichnung gar nicht. Aber ich hatte trotz all der Demütigung und Schmerzen die letzten Monate ein schlechtes Gewissen gehabt.
Und dann dachte ich auch an Rolf, an letzte Nacht. Irgendwie konnte ich nicht glauben, was da passiert war. Ich konnte nicht glauben, dass Rolf tatsächlich zu so etwas fähig war. Jemanden zu schlagen war das eine, aber das…
„Möchtest du noch einen Kaffee?“, fragte Kay inmitten meiner Grübeleien und ich nickte nur. Irgendwie hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Und eigentlich war mir sogar nicht einmal aufgefallen, dass ich meine Tasse schon geleert hatte. Kay nahm sie mir wortlos aus der Hand und verschwand damit in der Küche.
Ob er wohl bemerkt hatte, wie ich ihn im Lokal angestarrt hatte? Ob Tanja irgendeinen Spruch losgelassen hatte, nachdem ich gegangen war?
Mußte ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich für einen wildfremden Mann geschwärmt hatte? Was hatte Rolf gesagt … ich hätte bei dem „Blondie“ bleiben sollen, damit der mich mal so richtig rannehmen konnte. Rolf mußte mir eigentlich nachspioniert haben, denn sonst hätte er gar nicht von Kay wissen können. Aber wenn dem so war, hätte er doch auch sehen müssen, dass sich Tanja und Kay sehr gut kannten.
Rolf hatte in den vergangenen Monaten immer wieder über Tanja hergezogen. Anfangs natürlich anders, denn da hatte er … zumindest offiziell … einfach nur Angst gehabt, dass mich Tanja von ihm entfernen könnte. Ich hatte das so romantisch gefunden … irgendwie. Doch eigentlich war der Grund seiner Angst nur der gewesen, weil er dann den Menschen verloren hätte, über den er bestimmen konnte.
Warum sah ich ausgerechnet jetzt alles so klar?
Mit einem Seufzen nippte ich an dem frischen Kaffee, den Kay mir gereicht hatte und er fragte mich besorgt: „Möchtest du mit mir über deine Gedanken sprechen?“
Doch ich schüttelte nur wortlos den Kopf. Er nickte darauf und lächelte mich dabei an.
Ich war so froh, dass er mich nicht drängte, darüber zu reden. Musste mir doch erst einmal selbst über alles klar werden. Was sollte ich zum Beispiel jetzt mit mir anfangen? Wie sollte es weiter gehen?
Ich konnte mich nicht ewig an Tanja dran hängen und auch die Zukunft mit Kay war äußerst ungewiss. Peinlich berührt fragte ich mich sofort in Gedanken, welche Zukunft denn mit Kay? Er war ein Freund von Tanja und half mir lediglich über die Nacht hinweg. Außerdem würde er sicherlich auch irgendwann wieder eine Partnerin haben und dann war ich sowieso außen vor.
Sollte ich meine früheren Freunde anrufen? Das traute ich mich irgendwie nicht. Ich hatte Angst vor deren Reaktion. Angst, dass sie denken würden, ich würde mich nur melden, weil ich alleine war. Doch war es denn nicht so? Meldete ich mich nicht deshalb, weil Rolf aus meinem Leben verschwunden war?
Worüber ich mir allerdings absolut sicher war, war dass ich mich noch in der nächsten Woche bei meinem Verein melden würde, um zu sagen: „Ich bin wieder da!“
Hoffentlich war auch mein Schützling, der Mischlingshund Kaya noch da. Er war schon damals krank gewesen und ich hoffte wirklich, dass er noch da war. Lächelnd fiel mir die Namensähnlichkeit auf, Kaya und Kay. Zwei Namensträger, mit denen ich wahnsinnig gerne meine Zeit verbringen möchte.
Meine Zeit mit ihnen verbringen möchte… Ich wurde bei dem Gedanken wieder sehr unsicher und ein Gefühl von Angst überkam mich. Wie lange war es her, dass ich wirklich selbst entschieden hatte, was ich machen wollte?
Als ich langsam wieder mit meinen Gedanken in die Gegenwart zurückkehrte merkte ich, dass Kay aufgestanden war und nun am Fenster stehend in die Nacht blickte. Tam saß neben ihm und ließ sich den Kopf kraulen. Mit einem erneuten Lächeln erhob ich mich sehr langsam, um keine stärkeren Schmerzen zu provozieren und stellte mich ebenfalls ans Fenster. Dort sah mich Kay kurz an und warf mir ein warmes Lächeln zu. „Hey, deine Tasse ist aber sehr luftig beieinander … möchtest noch nen Kaffee?“ Mit einem Lachen über die Ausdrucksweise bejahte ich und er nahm mir die Tasse ab und verschwand in der Küche.
Er kehrte auch gleich wieder und gab mir lächelnd die nun volle Tasse zurück. Dabei berührten sich unsere Hände ganz kurz und er bedachte mich mit einem seltsamen Blick. Ein Blick, der mir das Blut in den Kopf steigen ließ und so wandte ich mich schüchtern schnell ab. Zurück auf der Couch setzte ich mich hin und zog nachdenklich die Beine an.
Auch Kay kam wieder zur Couch zurück und setzte sich aber diesmal statt auf den Hocker neben mich. Dabei schien er aber darauf zu achten, dass er mir nicht zu nahe saß. Ich war mir nicht sicher, ob er mich nur nicht bedrängen wollte, weil ich möglicherweise so viel Nähe nicht ertragen konnte oder ob es deswegen war, weil ich schwul war und er vielleicht deswegen auf Distanz ging.
Diese Unsicherheit machte mich sehr traurig, wollte ich doch eigentlich in seiner Nähe sein. Wollte jemanden, an den ich mich anlehnen konnte. Jemanden, der mich einfach nur in den Arm nehmen würde.
Wieder konnte ich meine Tränen nicht zurück halten. „Hey, was ist denn los? Denkst du an diesen Rolf?“, fragte mich Kay auch gleich, als er das bemerkte
.
Ich schüttelte nur schniefend den Kopf und er fragte weiter: „Was ist los?“
Ich wollte so gerne mit ihm reden, doch was sollte ich denn sagen? Sollte ich ihn etwa fragen, ob er sich vor Schwulen ekelte?
Unter Tränen schüttelte ich nur den Kopf, um ihm zu zeigen, dass ich nicht reden konnte. „Hey Bastian, mach dir keine Sorgen. Du bist nicht allein.“, flüsterte Kay und rückte dann näher an mich heran. Vorsichtig nahm er mir die Tasse aus der Hand und stellte dann beide Tassen, seine und meine, auf den Tisch vor uns. Noch einmal lächelte er mich an und nahm mich dann behutsam in den Arm.
Obwohl ich mir das irgendwie gewünscht hatte, blieb ich zuerst sehr angespannt und bewegte mich keinen Millimeter. Kay fing an, sanft über meine Haare zu streicheln und nach ein paar Minuten lehnte ich mich dann doch leicht an ihn. Ich legte sogar meinen Kopf an seine Brust, während er mich nun etwas fester hielt und auch über meinen Rücken strich.
In seinen Armen völlig entspannt schloss ich meine Augen und atmete tief den Duft seines Körpers ein. Ein leicht süßlicher Duft stieg mir in die Nase und ich erinnerte mich, dass auch er noch keine Möglichkeit gehabt hatte, nach der Arbeit zu duschen. Ich stellte aber fest, dass es mir nicht unangenehm war, im Gegenteil, ich mochte seinen Geruch. Und ich fühlte mich einfach nur wohl dabei, seine Wärme zu spüren. Wieder kam mir Rolf in den Sinn. Mit ihm wäre es niemals möglich gewesen, einfach nur zu kuscheln. Er war entweder nur sehr distanziert oder aber wollte gleich mehr.
Ich merkte eigentlich nicht, wie schnell die Zeit vergangen war, doch war ich so erschöpft, dass mir ständig die Augen zufielen. Kay hatte nicht aufgehört, meinen Rücken zu streicheln und die Entspannung ließ mich schläfrig werden.
„Möchtest du langsam schlafen gehen?“, fragte mich Kay flüsternd und ich meinte: „Lohnt sich das denn noch?“ Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es mittlerweile schon sechs Uhr morgens geworden war, aber mit einem verlegenen Blick fügte ich noch hinzu: „Ja, ich bin furchtbar müde, aber … ahm … ich fühle mich … also, ich würd gern noch kurz duschen. Ich fühl mich total dreckig und …“
„Schon klar“, erwiderte er.
So standen wir gemeinsam auf und ließen die Tassen einfach dort stehen wo sie waren. Kay führte mich eine Treppe hinauf. Zuerst zeigte er mir das Schlafzimmer und dann das Badezimmer, wo er mir auch gleich eine noch verpackte Zahnbürste in die Hand drückte.
„Fang ruhig schon an, ich hole dir was Frisches zum Anziehen“, meinte Kay kurz und verschwand aus dem Bad. Unschlüssig stand ich nun alleine im Bad und wieder machte sich eine unangenehme Einsamkeit in mir bemerkbar. Als ich mich dem Spiegel zuwandte, entwich mir ein Seufzen. Ich sah einfach schrecklich aus.
Meine kurzen braunen Haare standen wirr in alle Richtungen. Meine Augen waren rot unterlaufen, man sah ihnen das viele Weinen und auch die Erschöpfung an. Dazu war auch noch mein Gesicht extrem blass und an manchen Stellen gerötet.
Zitternd packte ich die Zahnbürste aus und bemühte mich während dem Zähneputzen nicht zu sehr nachzudenken. Als ich fertig war, wusch ich noch mein Gesicht in der Hoffnung, dadurch etwas frischer auszusehen.
Doch wirklich geholfen hatte es nicht. Ich sah immer noch furchtbar aus, als Kay wieder ins Bad zurückkam.
In einer Hand trug er ein T-Shirt und eine lange Jogginghose, in der anderen Hand Socken und Boxershorts. Als er mir die Sachen gereicht hatte, blieb er stehen und sah mich unschlüssig an, bis er fragte: „Möchtest du alleine sein?“
Wortlos schüttelte ich den Kopf, unsicher, was er davon halten würde. Würde er das als eine Anmache sehen? Bei Rolf wäre es mit Sicherheit so gewesen. Zu zweit und dann auch noch nackt im Bad? Da mußte einfach mehr geschehen, als nur zu duschen. Doch andererseits wollte ich wirklich nicht alleine mit meinen Gedanken sein.
Lächelnd flüsterte er: „Okay.“ Nachdem er ebenfalls Mund- und Gesichtshygiene abgeschlossen hatte, drehte er sich zu mir um und schaute mich erst verwundert, dann grinsend an und meinte: „Willst du in den Klamotten duschen?“
Mit einem hochroten Gesicht und großen Augen starrte ich ihn an und reagierte ansonsten nicht. Am liebsten hätte ich mit ‚ja’ geantwortet, wobei das aber wohl mehr als seltsam gewirkt hätte. Aus irgendeinem Grund schämte ich mich plötzlich vor ihm.
„Hey, ich lass dich auch alleine, wenn dir das doch lieber ist. Ich kann aber auch hier bleiben und drehe mich einfach um … du musst mir nur sagen, was du möchtest.“
Ohne dass ich es hätte verhindern können, fühlte ich erneut Tränen über meine Wangen laufen. Warum musste ich ihm sagen, was ich wollte? Warum fragte er mich überhaupt danach? Es war so ungewohnt für mich, solch eine Frage zu hören. Warum musste alles so kompliziert sein? Ich wollte doch gar nicht alleine sein, doch warum schämte ich mich so vor ihm?
Ich wollte mich schnell von ihm abwenden, damit er meine Tränen nicht sehen konnte, doch das hatte er natürlich bereits.
Bestürzt trat er an mich heran und legte seine Hand auf meine Schulter. „Bastian, was ist denn los? Habe ich etwas Falsches gesagt?“
Ich schüttelte nur den Kopf, wollte mich wieder in den Griff kriegen, doch es war unmöglich. Immer mehr Tränen stahlen sich über mein Gesicht. Verlegen versuchte ich, sie weg zu wischen und ein Lächeln auf meine Lippen zu zwingen, was mir aber gründlich misslang.
„Hey, es ist alles okay.“, flüsterte er dann und umarmte mich.
Ich nickte und lehnte mich kurz an ihn, meinte dann aber: „Ich würd jetzt gerne duschen.“
Er nickte zustimmend, doch rührte sich nicht vom Fleck. Nach ein paar weiteren Minuten erst ließ er mich los und sagte leise: „Okay, lass uns duschen.“
Diesmal war ich es, der nickte. Doch auch der, der sich keinen Millimeter rührte. Kay blickte mich forschend an und fragte: „Darf ich dir helfen?“
Wieder nickte ich nur wortlos und er schob vorsichtig meinen Pulli hoch und dann über meinen Kopf. Ich mußte die Zähne zusammen beißen, weil der Schmerz in meinen Armen schier unerträglich war, als ich sie anhob. Er bedachte mich mit einem besorgten Blick und machte sich dann an meiner Jeans zu schaffen. Gleichzeitig mit meiner Shorts zog er mir dann auch die aus. Nach den Socken stand ich splitternackt vor ihm, doch er ließ sich nicht anmerken, ob er das als unangenehm empfand oder nicht. Schweigend packte er meine Sachen in die Waschmaschine, die er auch gleich startete.
„Ist das denn um die Zeit okay? Waschmaschinen machen Geräusche…. laute Geräusche“, fragte ich auch gleich verwundert, doch Kay grinste und entgegnete: „Wen soll es denn stören? Tam ist da nicht so empfindlich.“ Klar, ich hatte irgendwie nicht daran gedacht, dass Kay dieses Haus alleine bewohnte und so lächelte ich nur.
Mein Lächeln verschwand allerdings schlagartig, als auch Kay anfing sich auszuziehen. Als er meinen erschrockenen Blick bemerkte, hielt er jedoch sofort inne und wurde doch tatsächlich verlegen. „Aaaahm… ich dachte … wir duschen gemeinsam … ahm… weil ich doch gefragt hab, ob ich ihr dir helfen kann.“
Ich starrte ihn weiterhin einfach nur an und beobachtete fast belustigt wie er mit hochrotem Kopf, ohne Shirt und offener Hose dastand. Übertrieben schnell knöpfte er diese wieder zu und stotterte: „Ich … setz mich einfach hier hin und warte, bis du fertig bist. Wenn du mich brauchst, kannst es gleich sagen.“
Als ob in diesem Moment eine Blockade in mir eingerissen worden wäre, fing ich plötzlich an zu lachen. Ich kriegte mich kaum mehr ein vor Lachen, kam mit dem Atmen kaum mehr mit. Sogar mein Bauch verkrampfte sich fast schmerzhaft vor lauter Lachen. Aber es tat so wahnsinnig gut. Ich dachte in dem Moment, ich könne nie wieder aufhören zu Lachen. Währenddessen schaute mich Kay nur immer verständnisloser an. Schließlich fragte er dann doch, was so furchtbar komisch sei und ich antwortete nur mit einem äußerst mühsam unterdrücktem Grinsen: „Komm, laß uns duschen.“
Kay schüttelte gespielt ärgerlich den Kopf, doch auch sein Gesicht zierte nun ein fröhliches Lächeln. Während er sich nun doch ganz auszog, fragte er: „Dusche oder Badewanne?“
„Lieber Dusche, ich bin furchtbar müde und möchte ungern im Wasser einschlafen.“ antwortete ich und so stiegen wir nacheinander in die Duschkabine.
Ich stand einige Minuten einfach nur unter dem auf mich herab prasselnden warmem Wasser und genoss die entspannende Wirkung, die es auf meinen Körper hatte. Jedoch wurde ich urplötzlich aus diesem Gefühl gerissen, als ich plötzlich Kay’s Hände auf meinem Körper spürte und erschrocken zurück prallte. Er war darüber genauso erschrocken wie ich und auf meinen entsetzten Blick lächelte er entschuldigend und hielt dabei das Duschgel hoch: „Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen.“ Beruhigt lächelnd, aber dennoch unsicher nickte ich und Kay begann vorsichtig, meinen Körper einzuseifen.
Es war ungewohnt für mich und schon auch beängstigend. Während Kay mich einseifte, musste ich gar nichts tun.
Rolf … auch er hatte mich anfangs so sanft berührt. Hatte sich bei mir dadurch einschmeicheln wollen, dass er immer vorsichtig und zärtlich mit mir umgegangen war. Allerdings nicht besonders lange. Weder in solchen Momenten, noch insgesamt während unserer Beziehung. Es konnte ihm meistens nicht schnell genug gehen, einen weiteren Schritt zu machen.
Doch Kay hatte ja in der Hinsicht keinerlei Ambitionen. Er half mir einfach nur und versuchte alles, damit ich mich sicherer fühlte. Damit ich die letzte Nacht mit Rolf aus meinen Gedanken verbannen konnte. Das gelang mir zwar nicht wirklich, aber ich fühlte mich trotz allem wohl. Rolf war nicht da und vor Kay musste ich keine Angst haben.
Erneut versuchte ich mich zu entspannen und genoss es einfach nur, so sanft berührt zu werden. Mein ganzer Körper kribbelte wie verrückt und ich spürte sogar, wie sich die Haare an meinen Armen aufstellten, obwohl mir nicht kalt war. Das Kribbeln setzte sich in meiner Bauchgegend fort und ließ mich von einem warmen Gefühl der Sicherheit durchfluten. Es war so schön, ganz ohne Hintergedanken auch einmal einfach nur da stehen zu dürfen. Nur leider dachte sich das auch ein bestimmtes Körperteil an mir: „Genießen, aber vor allem daSTEHEN“, was mir extrem unangenehm war. Was sollte das auch werden? Ich hatte keinerlei Gedanken in solch eine Richtung und doch schien mein Körper anderer Meinung zu sein. Mein Körper reagierte auf seine eigene, für mich peinliche Weise auf diese wunderbaren Gefühle, die Kay in dem Moment in mir auslöste.
Doch Kay ließ sich davon nicht beirren, er beachtete es nicht einmal, sondern seifte im Gegenteil nun auch noch mein gutes Stück ein. Ich dagegen mußte höllisch aufpassen, dass sich da nicht noch eine andere Creme dazugesellte. Wie konnte das nur so sein? Warum passierte mir das … ausgerechnet jetzt und ausgerechnet nach dem Erlebnis mit Rolf. Meine Gedanken begannen erneut, auf das Ewigkeitsrondell aufzusteigen und alles verschwamm in meinem Kopf. Kay musste das scheinbar bemerkt haben, wobei das auch ganz offensichtlich sein musste, denn auch mein Körper reagierte erneut auf meine Gefühle und Gedanken. Meine Muskeln verspannten sich regelrecht, während sich ein bestimmter Körperteil wieder entspannte und keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab.
Währenddessen war Kay auch auf der Vorderseite fertig und erhob sich wieder. Mit einem Lächeln meinte er: „Bastian, es ist alles okay. Bei mir kann dir nichts passieren. Du musst dich für nichts schämen oder dir Gedanken machen.“
Nicht sicher was ich darauf antworten sollte, sah ich ihn etwas ängstlich an und versuchte zu lächeln, da nahm mich Kay sanft in den Arm. Als er sich wieder von mir gelöst hatte, drehte er mich an den Hüften herum, sodass ihm nun meine Rückseite zugewandt war und seifte mich mit sehr viel Vorsicht erneut ein. Doch trotz aller Vorsicht entwich mir einen schmerzerfülltes Stöhnen, als Kay an meinem Po angelangt war. Es brannte unheimlich, ich hatte das Gefühl, als würde der Schmerz direkt in alle Regionen meines Körpers wandern und spannte mich automatisch an.
„Ganz ruhig, ich bin gleich fertig“, flüsterte Kay mitfühlend. Ich seufzte nur zustimmend und war aber unendlich erleichtert, als Kay die Brause über mich hielt. Der brennende Schmerz blieb aber noch eine ganze Weile und ich versuchte das durch meine Haltung auszugleichen. Es half nichts. Egal wie ich mich hinstellte, der Schmerz blieb. Der Schmerz in meinem Körper und auch der Schmerz in meinem Herzen.
Trotzdem griff ich nach dem Shampoo und versuchte, den Schmerz so weit wie möglich zu ignorieren, doch auch hier machte er sich grausam bemerkbar. Meine Arme fühlten sich an, als würden sie jeden Moment reißen und an einem Band am Boden befestigt zu sein. Es kostete mich unheimlich Mühe und Kraft, sie überhaupt anzuheben und es war mir teilweise so, als würden sie mir gar nicht gehorchen. Selbst meine Schultern schienen einerseits nahezu taub zu sein, aber sich gleichzeitig schmerzhaft zu verspannen.
Kay hatte einen Moment gewartet, doch als er meine Schwierigkeiten erkannte, hielt er meine Handgelenke fest und senkte meine Arme langsam. „Hey langsam, ich mach das für dich.“ Nach diesen Worten nahm er selbst etwas Shampoo und begann, meine Kopfhaut damit zu massieren, während ich in Gedanken versuchte, meine Muskeln wieder zu entspannen und locker zu werden. Unangenehm fiel mir auch auf, dass ich keine Ahnung hatte wo ich hinschauen sollte, denn Kay stand ja direkt vor mir. Also schloss ich einfach meine Augen und konzentrierte mich gänzlich auf seine Berührungen. Langsam gelang es mir dabei wieder ruhiger zu werden und auch die Schmerzen in meinen Armen wurden schwächer. Zumindest wenn ich sie nicht bewegte.
Nach ein paar Minuten ließ Kay von mir ab, aber es kam mir so vor, als hätte er sich fürs Haare waschen mehr Zeit gelassen. Die intensive Kopfmassage hatte aber auch wirklich gut getan. Ich blieb weiter regungslos mit geschlossenen Augen stehen und gab mich der Entspannung hin, genoss es, so ruhig sein zu können.
Da spürte ich ein leichtes Streicheln auf meiner Wange und öffnete nun doch verwundert meine Augen. Dabei sah ich in Kays lächelndes Gesicht und wie er mich fast schon verträumt ansah. Auch ich lächelte unsicher und nach einem weiteren sanften Lächeln von Kay wandte er sich ab und seifte sich selbst zügig ein, bevor er uns dann beide mit warmem Wasser abbrauste.
Er war es auch, der umständlich die Handtücher aus dem Regal zog, damit wir uns schon etwas abtrocknen konnten, bevor wir aus der Duschkabine stiegen. Kay half mir auch noch dabei und dann sogar noch beim Anziehen, wobei ich mir sicher gewesen war, das selbst zu können. Aber es gefiel mir irgendwie, wie er sich um mich kümmerte und ließ es lächelnd geschehen.
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Erfrischt und auch entspannt standen wir uns dann unschlüssig im Schlafzimmer gegenüber. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte und Kay schien es ähnlich zu ergehen. Da fragte er mich grinsend: „Lässt mich der junge Mann auch im Bett schlafen oder werde ich auf die Couch verbannt?“
Erleichtert, dass er das Schweigen gebrochen hatte, musste ich lachen, dachte aber einige Sekunden mit angestrengtem Gesichtsausdruck über seine Frage nach. Erst dann gestattete ich ihm äußerst großzügig, in seinem eigenen Bett übernachten zu dürfen. Kay schaute mich mit ernster Mine an, setzte dann zu einer galanten Verbeugung an und meinte in hochtragendem Ton: „Mein junger Mann, ich danke Euch zutiefst für diese mir erteilte Ehre.“
Penibel und mit den Fingerspitzen schlug er dann die Bettdecke zurück und gewährte mir mit einer erneuten Verbeugung begleitet den Vortritt, den ich auch gerne und mit einem angedeuteten Nicken und den Worten: „Habt Dank, edler Herr.“ wahrnahm. Nun konnte sich aber auch Kay sein Grinsen nicht mehr verkneifen und lachte heiter, während er sein Handtuch lockerte und es einfach zu Boden fallen ließ. Dabei fiel mir unweigerlich auf, dass er darunter gar nichts angezogen hatte, was mir im Bad wohl entgangen war.
Ich sprach ihn jedoch nicht darauf an und auch er tat nichts dergleichen. Vermutlich hätte er sich etwas angezogen, hätte ich ihn darum gebeten, aber irgendwie sah ich keinen Grund dafür. Ich fand es nur belustigend, wie wir beide nebeneinander im Bett lagen. Er splitternackt, ich vermummt bis zum geht nicht mehr.
Nach einiger Zeit hörte ich ihn dann flüstern: „Schläfst du schon?“
Ich antwortete ebenso leise: „Ja, aber um die Zeit ist der automatische Flüsterbeantworter aktiviert.“ Er könne mir gerne eine Nachricht zukommen lassen, die dann im Falle eines Wachzustandes des angeflüsterten Gehirns bearbeitet werden würde.
Da setzte er sich plötzlich auf und schaltete das Licht wieder ein. Und während ich mit großen Augen beobachtete, was er vorhatte, sah er mich nur entgeistert an, schüttelte übertrieben empört den Kopf und in der nächsten Sekunde war es auch schon wieder dunkel.
Ich konnte mein Lachen nun nicht mehr unterdrücken und verfiel wieder in einen regelrechten Lachanfall. Auch Kay lachte herzhaft mit und es hielt mehrere Minuten an, in denen ich mich einfach nicht mehr beruhigen konnte.
Dann jedoch fragte mich Kay etwas ernster: „Kannst du nicht einschlafen?“
Ich schüttelte nur den Kopf und wurde mir in der gleichen Sekunde darüber bewusst, dass er das unmöglich sehen konnte und antwortete leise: „Nein, nicht wirklich.“
„Würde es dir helfen … also, ahm … möchtest du, dass ich dich in den Arm nehme?“
Ich reagierte erst gar nicht auf die Frage, denn ich war viel zu überwältigt davon. Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen und ich schloss meine Augen für einen Moment, um die Tränen zu unterdrücken. Diesmal keine Tränen der Trauer oder des Schmerzes, sondern Tränen aus Rührung und auch der ungewohnten Geborgenheit. Weil es so neu für mich gewesen war. Neu, dass sich jemand so um mich sorgte. Dass sich jemand so viele Gedanken um mich machte. Und dass jemand einfach nur für mich da sein wollte.
Statt einer Antwort drehte ich mich still in Kays Richtung und rückte etwas näher an ihn heran. Er verstand diese Antwort und hob seinen Arm. Ohne ein Wort zu sagen legte ich meinen Kopf auf seine Brust und meine Hand auf seinen Bauch. Alsgleich spürte ich, wie Kay begann, meinen Rücken zu streicheln und schloss entspannt meine Augen, während sich ein weiteres Lächeln auf meine Lippen stahl. Fast augenblicklich war ich eingeschlafen.