Fotostudio Plange – Teil 4 – Partygeflüster

Partygeflüster

Wo war ich? Ach ja, Marvin hatte mit Erfolg sein Outing hinter sich gebracht. Danach passierte einen Monat lang gar nichts, jedenfalls nichts, was einer besonderen Erwähnung bedürfte. Nach der Zeugnisausgabe, er hatte einen Schnitt von 2,2, ging es für ihn und seine Familie ab in den Urlaub. Man hatte zwei Wochen Türkei gebucht. Wie Claudia mir hinterher erzielt hat, hatte der Kleine erst mit einem englischen Teenager geflirtet, dann waren er und ein achtzehnjähriger Gymnasiast namens Gero aus Düsseldorf unzertrennlich.

Während der Großteil der Familie unter südlicher Sonne schwitzte, trieb mir der Umbau des Hauses die Schweißperlen auf die Stirn. Die Renovierung von Marvins Zimmern war noch die leichteste Aufgabe, hier musste lediglich tapeziert werden. Bei Dachboden und Keller sah die Sache anders aus. Hier türmten sich die Relikte vergangener Jahrzehnte, oder eher Jahrhunderte. Bevor man mit den eigentlichen Arbeiten anfangen konnte, musste erst einmal kräftig aussortiert werden. Ich wollte eigentlich alles wegschmeißen und war schon drauf und dran, mehrere Container zu bestellen, aber Pascal, ein arbeitsloser Frisör und Kneipenbekanntschaft von mir, belehrte mich eines Besseren. Ich solle die Sachen doch bei eBay versteigern oder auf den Flohmarkt zum Verkauf anbieten. Er und sein ebenfalls beschäftigungsloser Freund Günther würden das gerne, gegen eine gewisse Beteiligung versteht sich, für mich in die Hand nehmen. Ausgemacht waren 10%, am Ende rundete ich die Summe auf und gab den beiden 2.000 €. Dieser unverhoffte Geldsegen deckte die Kosten der Dachisolierung und der Kellerrenovierung. Vom Rest erfüllte ich mir einen Wunsch, ich baute mir eine Sauna in den Keller und renovierte den alten Partykeller meiner Eltern.

Nach der Rückkehr aus dem Urlaub lösten Klaus und Claudia ihren Haushalt auf bzw. verpackten denselben in zwei Umzugscontainern. Sie würden sich in Australien zwar zwei Monate behelfen müssen, solange würde der Seeweg ihres Haushaltes dauern, aber das wäre wohl das geringste Problem.

Die Stimmung wurde immer gespannter, je näher der Tag der Abreise rückte. Besonders Claudia war ziemlich nah am Wasser gebaut, man musste bei ihr fast jedes Wort auf die Goldwaage legen. Auf der Bank war sie noch einigermaßen gefasst, sie schluchzte nur, hielt sich ansonsten aber tapfer. Ich bekam die Verfügungsgewalt über Marvins Sparbücher und es wurde ein neues Konto für das Haus eingerichtet. Bei der Anwältin brauchte sie aber über eine halbe Stunde, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Die Trennung von ihrem Sohn, bisher nur ein böses Wort, das im imaginären Raum nur herum schwebte, wurde erstmals schriftlich fixiert und notariell beglaubigt. Klaus war der Ansicht, neben einer allgemeinen Vertretung für sich und seine Familie wäre eine offizielle Vormundschaft für Marvin die beste Lösung für alle eventuellen Probleme, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen könnten, denn der Kleine war ja nicht mein leiblicher Neffe. Der entsprechende Antrag war reine Formsache, wir mussten noch nicht einmal vor Gericht erscheinen.

Den letzten Abend verbrachten wir, diesmal mit den Zwillingen, wieder mal bei Costas. Schön war der Abend nicht, der nahende Abschied schwebte, wie ein Damoklesschwert, über jeden Witz, der gerissen wurde. Als Marvin seinen Kalender überreichte, öffneten sich bei Claudia die emotionalen Schleusen, sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Klaus ließ sich zwar nichts anmerken, aber ich reichte ihm dessen trotz ein Taschentuch, dass er dankend annahm. Wie der Zufall es wollte, kurze Zeit später besuchten mein Bruder und ich gemeinsam die Wasserspielanstalten des griechischen Lokals. So mitgenommen hatte ich ihn, außer beim Tod von unserer Mutter, noch nicht gesehen. „Brüderchen! Was ist los?“

„Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist, was wir tun!“

„Was denn? Auswandern?“

„Nein, das meine ich nicht. Ich frage mich eher, ob es richtig ist, Marvin hier alleine zu lassen. Versteh mich jetzt nicht falsch, nichts gegen dich, du bist mein Bruder! Aber nach seiner Offenbarung haben wir einen Draht zueinander entwickelt, die wie die ganzen Jahre über nie hatten! Er war wie verändert! Vollkommen gewandelt! Ein ganz anderer Marvin als der, den ich kannte!“

„Stimmt! Er hat sein größtes Geheimnis mit euch geteilt. Ihm sind mehrere Gebirge vom Herzen gefallen, dass kannst du mir glauben. Er lebt jetzt befreiter und ausgeglichener als vor zwei Monaten. Aber meinst du, er hätte das gleiche zur gleichen Zeit getan, wenn ihr nicht in dieser besonderen Situation gewesen wäret? Ihr steht selbst vor einem einschneidenden Ereignis!“

„Ja, aber … Warte mal! Wenn ich dich jetzt richtig verstehe, sagst du mir gerade durch die Blume, er wollte sich eigentlich nicht outen, jedenfalls jetzt noch nicht. Er hat es nur gemacht, weil wir nach Australien gehen?“

„Genau! Er wollte euch erst einen Brief schreiben, aber ich war anderer Ansicht.“

„Wie? Du warst doch genauso überrascht über seine Ehrlichkeit wie Claudia und ich, als wir hier gegessen haben, wenn ich mich recht erinnere!“

„Klaus, ich bin schon immer der Künstler in der Familie gewesen! Die Reaktion war nur gut geschauspielert! Wer hat wohl den Tisch hier bestellt?“

„Aber dann wusstest du es vor uns!“

„Stimmt! Es war in der Zeit des Probewohnens, da hat er mir reinen Wein eingeschenkt!“ Die genauen Umstände ließ ich einmal außen vor. „Ich habe ihn mehr oder minder auf das Acht-Augen-Gespräch gebracht. Von sich aus wäre er noch nicht bereit gewesen. Etwas sanfter Druck und ein bisschen Überredungskunst, das war alles!“

Er blickte mich an und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Ich dank dir trotzdem! Aber …“

„Aber was?“

„Kümmer dich um ihn! Lass nicht zu, dass ihm ein Haar gekrümmt wird! Sein Weg wird noch schwer genug werden. Wenn ihm was passiert, dann gnade dir Gott!“

„Ich werde ihn hüten wie meinen eigenen Augapfel, Brüderchen. Da mach dir mal keine Sorgen.“

Wenn jetzt jemand hereingekommen wäre, er hätte zwei erwachsene Männer sich innig umarmend und weinend gesehen. Nach einiger Zeit meinte er: „Wir sollten langsam mal wieder zu den anderen!

Der Tag X war gekommen. Obwohl der Flug einer der letzten des Tages war, machten wir uns mit dem Minivan schon um kurz nach sechs auf den Weg nach Frankfurt, es lagen ja fast 250 km Autobahn vor uns. Wir benötigten im abendlichen Berufsverkehr inklusive zweier Staus knappe drei Stunden. Der Abschied am Frankfurter Flughafen war ganz großes Kino. Küsse, Umarmungen, Briefe und kleine Geschenke wurden wechselseitig ausgetauscht, Klaus und ich versuchten zwar mit trockenen Augen die Sache zu überstehen, aber so richtig gelingen wollte uns das nicht. Aber irgendwann verschwanden die Vier durch die Sicherheitsschleuse. Marvin und ich blieben, Arm in Arm, vor der Barriere stehen. Als sie nicht mehr zu sehen waren, meinte er, wir sollten fahren.

„Willst du nicht sehen, wie der Flieger abhebt?“

„Nein! Erstens ist es dunkel, man würde sowieso nicht viel erkennen, zweitens hab ich jetzt Hunger und drittens müssen wir irgendwann noch nach Hause.“

Wo er Recht hatte, hatte er Recht. „Sollen wir hier was essen?“

„Nö, für einen Hamburger hier kriegt man sonst ja ein ganzes Menü am Drive-Inn. Lass uns lieber woanders was essen.“

„Wie du willst, Marv, wie du willst!“

Das Essen auf deutschen Autobahnen war, entgegen allen Erwartungen, doch genießbar. Auf der Rückfahrt schwärmte mir mein Neffe von diesem Gero vor. Wie es mir schien, hatte sich der Kleine in den Düsseldorfer etwas verschossen. Seinem Bericht konnte ich aber auch entnehmen, dass es, sehr zu Marvins Leidwesen, nur beim Austausch leichter Zärtlichkeiten geblieben war. Als man sich im hoteleigenen Hamam näher kommen wollte, sei man durch den Masseur hinauskomplimentiert worden.

Zuhause angekommen genehmigte ich mir noch ein Bier, Marvin wollte sofort ins schlafen. Nach einer halben Stunde hatte ich auch die nötige Bettschwere und machte mich fertig für die Nacht. Aus dem Bad kommend hörte ich ein Schluchzen aus seinem Zimmer. Ich öffnete die angelehnte Tür, die Nachtisch Lampe brannte noch. Ich setzte mich zu ihm aufs Bett und legte meine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich zu mir um und ich sein zwei verheulte Augen. Tröstend streichelte ich ihm über die Wange, er lächelte mich dankbar an.

„Nimmst du mich bitte in den Arm?“

Den Wunsch erfüllte ich ihm und strich über seine Haare. „Wird alles gut, mein Kleiner!“

„Du, Steff, halt mich jetzt bitte nicht für ein Baby. Ich bin ja fast 17, aber …“

„Aber was?“

„Kannst du bei mir schlafen? Ich will nicht allein sein, jedenfalls nicht heute Nacht.“

Was sollte ich machen? Er, fast ein erwachsener Mann, wirkte so hilflos wie ein Kleinkind. Aber sein Bett war nur ein Meter breit, definitiv zu eng für zwei Personen. „Okay, aber dann nehmen wir mein Bett, das ist breiter. Also schnapp dir dein Bettzeug und komm.“ Ich klopfte im ermunternd auf den Rücken und machte mich auf in Richtung meiner eigenen Schlafstatt. Ich lag schon, da kam er mit dem Kopfkissen an und krabbelte zu mir unter die Bettdecke. Das war zwar so nicht geplant, aber wegschicken konnte ich ihn nicht mehr, sofort als er in der Horizontalen lag, war er auch schon eingeschlafen.

Bis zum Schulbeginn war es noch mehr als eine Woche. Er fing sich wieder, wir hatten ja auch noch genügend zu tun. Das Haus am Sperlingsweg musste ausgeräumt werden, damit man es vermietet konnte, seine Zimmer mussten noch eingerichtet werden, verschiedene Ummeldungen, Schule, Stadt, Schwimmverein mussten bewerkstelligt werden und und und. Also Arbeit genug, um sich abzulenken. Einige seiner Freunde lernte ich in der Zwischenzeit auch schon kennen. Ich würde sicherlich noch eine Zeitlang brauchen, um einen Namen auch der passenden Person zuzuordnen, aber das traute ich mir zu.

Am letzten Wochenende der Ferien sollte dieser ominöse Gero ihn besuchen kommen, aber der Düsseldorfer lehnte aus fadenscheinigen Gründen ab. Wider Erwarten war Marv nicht niedergeschlagen, eigentlich sogar etwas froh darüber, nicht den Gastgeber spielen zu müssen. Wie er mir mit Inbrunst erklärte, wäre eine Partnerschaft allein aus entfernungstechnischen Gründen sowieso zum Scheitern verurteilt. Auf eine Wochenendbeziehung hätte er keine Lust, er wolle seinen Freund jederzeit sehen können. Außerdem wäre Gero ihm nicht gefestigt genug, er hätte vor den Sommerferien ja noch mit Frauen … Soviel Abgeklärtheit in solch jungen Jahren machte mir Angst!

Die neue Schwimmsaison begann mit einer Hiobsbotschaft, das geplante Trainingslager in den kommenden Osterferien wäre dem Rotstift zum Opfer gefallen. Er schimpfte wie ein Rohrspatz über die Vereinsführung, die unfähig sei, einen vernünftigen Haushalt aufzustellen. Nach dem Abendessen, er machte in seinem Zimmer Hausaufgaben, rief ich Clemens Münster an und ließ mich über die genauen Gründe der Absage aufklären. Es fehlte wieder einmal an Geld, er bezifferte die Deckungslücke auf 1.500 €. Abgesagt hätten sie zwar noch nicht, der entsprechende Brief würde erst morgen rausgehen. Ich bat ihn, das Schreiben noch etwas hinauszuzögern.

„Hast du eine Idee, wie man das Geld auftreiben kann?“

„Habe ich, aber dazu muss ich noch ein paar Telefonate führen, das kann ich erst morgen früh. Wir sehen uns ja eh morgen Nachmittag, da kommt ja die Jugend vor die Linse.“

„Alles klar! Ich Lass dich überraschen!“

Ich klopfte an Marvins Zimmertür, es ertönte ein zustimmende Lautäußerung und ich trat ein. „Mal eine kurze Frage: würdest du zwei oder drei Nachmittage deiner wertvollen Zeit opfern, wenn dadurch das Trainingslager gerettet werden würde?“

„Dumme Frage! Na klar! Dürfte wohl jeder so sehen.“

„Dann ist ja gut.“

„Was hast du vor?“

„Geld auftreiben, indem ihr vermarktet werdet.“

„Du sprichst in Rätseln, aber Hauptsache, wir können fahren.“

„Noch was! Was hältst du von einer Party zu deinem Einzug?“

„Können wir machen! Aber nur ohne Eltern!“

Am nächsten Nachmittag fuhren wir gemeinsam in die Schwimmhalle, dass Foto-Shooting der Jugendmannschaft war angesetzt. Erst Gruppenaufnahme in Trainingszeug, danach alle einzeln so vor die Kamera. Dann zog sich die die achtzehnköpfige Truppe in ihren Sportdress um, leider in der für mich unzugänglichen Umkleidekabine. Ich stehe ja eigentlich nicht so auf junges Gemüse, aber der Anblick der Schwimmer war schon einen Augenweide besonderer Art. Es folgten Bilder einmal mit und einmal ohne Badekappe, danach gönnte ich mir einen ganz privaten Spaß: Ich nahm die Recken auf, wie sie aus dem Wasser auftauchten und dann noch einmal mit Wasserperlen auf der Haut. Der Trainer, ein drahtiger und durchtrainierter Sportstudent, Deutsch-Russe von der Aussprache her zu urteilen, machte den Spaß mit. Die Trainingseinheit hatte er wohl schon abgeschrieben, denn aus den geplanten 30 Minuten, soviel hatte der letzte Fotograf gebraucht, waren mittlerweile anderthalb Stunden geworden. „So Leute! Jetzt alle mal ins Becken, ich brauch noch eine Gruppenaufnahme im Wasser!“

Als ich die Kamera einpackte, wollte Igor, der Trainer, die letzte Viertelstunde der Trainingseinheit wohl noch nutzen, aber ich machte ihm einen Strich durch die Rechnung, denn jetzt wollte ich meine Idee zur Rettung des Trainingslagers verkünden. „Jungs, darf ich nochmal um eure Aufmerksamkeit bitten. Es geht um euer Trainingslager. Kommt doch mal her!“

Die Truppe versammelte sich um mich, auch der Trainer gesellte sich dazu. „Also, ihr wisst, dass der Verein finanziell ja nicht gerade auf Rosen gebettet ist. Es fehlt wieder mal an Kohle! Aber ich hätte da eine Idee, wie man sie auftreiben könnte. Aber dazu brauche ich eure Hilfe, denn auch ich kann leider kein Geld sch… äh drucken!“

Ich hatte die Lacher auf meiner Seite. Igor fragte: „Aber was können wir machen? Die 1500 Euro, die fehlen, sind kein Pappenstil!“

„Stimmt, aber der Verein wird sie aufbringen, aber das weiß er noch nicht!“ Ich blickte in erstaunte Gesichter. „Wann hat der Verein seine Jahreshauptversammlung? Anfang Dezember! Und wie viel Leute kommen da so hin? Im Schnitt so zwischen 150 und 200! Ihr werdet da nicht mit der Sammelbüchse rumgehen, das bringt nicht viel, sondern ihr werdet den Leuten was verkaufen! Und zwar einen Kalender.“

„Kalender?“ Der Sportstudent wirkte erstaunt.

„Yepp. Einen Kalender für das nächste Jahr. Kalender hat man immer hängen und sind ein schönes Geschenk für Tante Olga oder Opa Wilhelm. Kosten nicht viel und verkaufen sich wie warme Semmeln, wenn man damit noch ein gutes Werk tun kann!“

„Und wir sollen die Motive sein?“ Der Frager hatte eine andere Badekappe auf als seine Teamkollegen, das musste also der Torwart Ben Münster sein.

„Genau! Ein Bild haben wir schon! Die Gruppenaufnahme im Wasser! Das wird übrigens das einzige Bild in eurem Element, denn ich dachte, wir nennen das Ganze: ‚Wir wollen ins Wasser!‘ Ihr werdet zwar auf den Aufnahmen in Badezeug zu sehen sein, aber in den unmöglichsten Situationen: Wasserballer auf Pferden, in der Kletterwand, auf der Sanddüne, überall, aber nur nicht im Wasser. Das ist der Vorschlag. Was denkt ihr?“

Zustimmendes Gemurmel. „Aber es gibt zwei Dinge, die ihr dafür machen müsst! Erstens müsst ihr etwas Zeit investieren, so ein oder zwei Nachmittage, je nachdem wie schnell die Fotos im Kasten haben. Und zweitens, wir sind in Deutschland, wir brauchen das schriftliche Einverständnis eurer Eltern, dass ich euch aufnehmen darf. Marvin wird euch gleich in der Kabine die Vordrucke geben und … willst du es jetzt hier sagen?“ Ich blickte meinen Neffen an.

„Yepp, denn die Einladung geht ja auch an Igor. Also! Wer es noch nicht weiß, meine Eltern sind ja nach Australien und ich wohn ab jetzt bei meinem Onkel. Ich wollt euch alle am Samstag zum meiner Einweihung einladen, 19 Uhr in der Ludwigstraße 123. Falls man die Hausnummer nicht finden kann, es ist das Fotostudio.“

Das Erstaunen war groß. Die Rasselbande zog, vom Trainer angetrieben, ab in die Umkleide. Clemens Münster, der die ganze Zeit mitgehört hatte, meinte anerkennend, dass die Idee nicht schlecht sein. „Aber meinst du wirklich, dass wir damit die 1500 zusammen kriegen?“

„Mit Sicherheit! Zwar nicht direkt auf der Mitgliederversammlung, aber durch den normalen Verkauf schon. Es gibt doch noch ein paar Heimspiele der ersten Mannschaft und es gibt die Geschäftsstelle!“

Der Samstag kam. Die Vorbereitungen für die Einweihungsparty waren schnell erledigt, Marvin wollte eine Grillparty. Um kurz nach sieben war die gesamte Truppe, einige kamen in weiblicher Begleitung, und der Trainer im Partykeller versammelt. Neben Kleinigkeiten für den Gastgeber brachten alle die unterschriebenen Einverständniserklärungen mit. Dass das so schnell gehen würde, hätte ich nicht gedacht.

„So, liebe Leute, bevor es gleich losgeht, habe ich noch zwei, drei Sachen, die ich gerne loswerden möchte, denn das wir gleich eine erwachsenenfreie Zone werden. Es gibt genügend Getränke, einige haben sogar ein paar Prozente, deshalb will ich hier weder etwas an harten Sachen sehen noch jemanden, der die Treppe herauf torkelt oder gar den Notarzt braucht. Ab 10 Uhr bitte die Musik etwas leiser, ich habe keine Lust, das die Grün-Weißen hier aufschlagen. Essen ist genug für alle da, es muss nur noch gegrillt werden. Ob ihr einen Grillmeister abstellt oder euch abwechselt, eure Sache. So, last but not least, hier unten herrscht absolutes Rauchverbot. Nebenan lagern noch einige Chemikalien und wir wollen ja die Feuerwehr nicht zu Gast haben. Also, wer rauchen will oder muss, der macht das bitte oben auf der Terrasse, da stehen auch die beiden Elektrogrills. So, das war’s. Ich wünsch euch viel Spaß und bin jetzt weg.“

Kleiner Szenenapplaus, ich steuerte dem Ausgang entgegen und winkte Marvin heran. Ich gab ihm für alle Fälle ein Walkie-Talkie, falls er mich oder ich ihn erreichen wollte. „Falls ihr noch was braucht, einfach melden. Ich stell es dann vor die Kellertür! Ansonsten nur in Notfällen!“

„Du willst nicht runterkommen?“

„Nur im Notfall. Ich vertrau dir, mein Kleiner! Feier schön und mach mir keine Dummheiten!“

Um kurz nach neun klopfte es an der Wohnungstür. Igor wollte sich verabschieden, er musste ja noch nach Münster zurück. Die Einladung auf einen Kaffee schlug er dennoch nicht ab.

„Marvin hat uns gerade die Bilder gezeigt, die sie gemacht haben. Ich muss ehrlich sagen, so gut bin ich noch nie getroffen worden. Was würden die mich kosten?“

„Nichts, ich mach ihnen ein paar Abzüge und geb sie Marvin zum Training mit.“

„Danke, aber ich bräuchte auch noch ein paar spezielle Aufnahmen. Als besonderes Geschenk!“

„Das kommt darauf an, wie speziell sie die Bilder haben wollen. Ob hier im Studio oder Outdoor! Ob Negativ oder Disc! Mein Stundensatz beträgt normalerweise 50 Euro plus Material plus Aufwand. Sie müssten mir schon sagen, was sie haben wollen.“

„Gut, aber ich bin der Igor. Beim Sie komme ich mir so alt vor!“

„Ebenfalls, ich bin der Stefan!“

„Hallo Stefan!“

Ich grinste. „Hallo Igor! Fehlt jetzt nur das Bier zum Brüderschafttrinken.“

„Stimmt, aber nicht mehr heute. Ich brauch meinen Führerschein, eine Flasche ist genug und die habe ich unten schon getrunken. Aber …“

„Aber was?“

„Den Kuss kannst du auch so kriegen!“ Er grinste mich frech an und drückte seine Lippen auf meine. Ich war perplex, forderte seine Zunge doch Einlass in meine Mundhöhle. Ich war so gnädig und gab der Forderung nach.

„Aber verrate mich bitte nicht. Im Verein weiß es niemand und wenn sie es wüssten, dann wäre ich sofort meinen Job los. Aber als Student bin ich auf die 500 € im Monat angewiesen.“

„Kein Thema! Mein Mund ist versiegelt. Hochheiliges Tuntenehrenwort! Aber was für Bilder willst du denn haben? Akt? Erotik? Für deinen Freund? Für ein Profil? Für eine Bewerbung in einem Porno?“

„So was machst du auch?“

„Ich hab mal in London während meines Studiums als Set-Fotograf gejobbt, gab gutes Geld. Zwei Tage Arbeit und ich hatte die Miete für die nächsten zwei Monate. Also! Was für Bilder möchtest du?“

„Naja, mein Freund studiert Anglistik und geht im nächsten Semester für ein Jahr in die Staaten.“

„Aha, also eher in Richtung sentimentaler Akt. Ich werde mir was einfallen lassen. Hast du Nächsten Freitag schon was vor?“

„Ja, habe ich. Eine Verabredung mit meinen Fotografen.“ Er lachte über beide Backen. „Aber was machen wir mit Marvin?“

„Freitags ist normalerweise Kino angesagt, wir sind also ungestört.“

Mit einem Kuss, diesmal ohne Zunge, verabschiedete er sich. Für die 2 km bis zum Bahnhof blieben ihm noch zwölf Minuten.

Um kurz vor halb elf klingelte es. Wer störte denn da schon wieder? Ich betätigte den Summer und öffnete die Wohnungstür. Ich hörte, wie jemand den Flur betrat. „Herr Plange?“

„Hier oben!“ Ich machte Licht im Treppenhaus!

Das Klacken von Klocks war auf der Treppe zu hören. Eine zierliche Dame, ungefähr mein Alter, kam in einem rosafarbenen Jogginganzug zu mir hoch. Wer war das denn?

„Herr Plange, ich …“

„Guten Abend, Frau … äh?“

„Schuster! Veronica Schuster!“

„Dann einen Wunderschönen, Frau Schuster! Kommen sie in rein. Da vorne ist das Wohnzimmer, wenn sie schon mal Platz nehmen würden, ich müsste mal eben für kleine Fotografen. Sie entschuldige mich?“ Ich deutete auf den Flur, das Wohnzimmer konnte sie sowieso nicht verfehlen, und verdrückte mich ins Bad. Ich schloss die Tür und drückte auf den Sprechknopf des Walkie-Talkies. Ein paar Sekunden ertönte Marvins Stimme aus dem eingebauten Lautsprecher. „Was ist los?“ Er klang etwas gereizt.

„Ich hab grad Besuch gekriegt, scheint eine Mutter zu sein. Hör einfach mal mit!“

„OK, wir lauschen!“ Ich drückte die Klospülung, meine Tage musst ja gewahrt werden. „Was war das denn? Bist du auf dem Klo?“

„Ja! Aber das erklär ich dir später, ab jetzt nur noch zu hören!“

Ich betrat mein Wohnzimmer mit einem Lächeln. „Frau Schuster! Was verschafft mir die Ehre ihres Besuches? Kann ich ihnen was anbieten? Wasser, Kaffee, Tee, Kakao oder ein Glas Wein?“

„Nichts! Ich will jetzt nichts trinken! Ich will meinen Sohn!“

„Entschuldigen Sie bitte, aber einen Sohn kann ich ihnen nicht anbieten. Ich habe nämlich gar keinen!“

„Wie? Sie sie doch der Vater von Marvin Plange, der heute die Party gibt, oder?“

„Tut mir leid, wieder falsch. Ich bin Stefan Plange, der Onkel. Marvin ist mein Neffe und es stimmt, der feiert heute seinen Einzug mit seinen Freunden unten im Keller. Insofern stimmen ihre Vermutungen. Aber wenn sie wissen, wo ihr Sohn ist, weshalb suchen sie ihn dann?“

„Er ist nicht zu Hause!“

„Wenn er hier ist, dann kann er nicht bei ihnen sein. Oder habe ich irgendetwas nicht verstanden?“

„Entschuldigen sie, ich bin etwas durch den Wind.“ Etwas? Etwas viel, würde ich sagen!

„Also erzählen sie mal von Anfang an, das ist immer am besten!“

„Mein Mann und ich sind frisch geschieden und Henrik, das ist mein Sohn, ist nicht nach Hause gekommen. Er wollte um spätestens viertel nach zehn wieder da sein. Als er nicht kam, bin ich zu ihnen gefahren. Nicht, das mein Mann ihn geholt hat!“ Um Gottes Willen! Frauen!

„Ach Frau Schuster. Das ist doch kein Grund zur Aufregung. Er ist doch wahrscheinlich mit dem Fahrrad unterwegs?“

„Ja, wieso?“

„Wir waren noch alle mal jung. Er wird wahrscheinlich über die gute Laune, die da unten herrscht, die Zeit bis zum Letzten ausgereizt haben, um dann mit einem Affenzahn zu ihnen zu fahren. Wahrscheinlich wie ihm dabei die Kette abgesprungen sein, sie wissen ja um die Schlaglöcher hier auf den Straßen, die Stadt unternimmt ja nichts dagegen! Steuern kassieren sie! Aber was tun für die Bürger? Ich vermute mal, mittlerweile wird er mit verschmierten Händen vom Reparaturversuch bei ihnen vor der Türe stehen und Einlass begehren!“

„Veräppeln sie mich nicht!“

„Wieso sollte ich? Haben sie schon versucht, ihn zu erreichen?“

„Er hat kein Handy! Das lehne ich ab, auch aufgrund der Kosten! Aber geben sie es zu: Mein Ex-Mann hat sie beauftragt! Sie stecken mit ihm unter einer Decke! Sie sind ein Mann!“

„Stimm, ich bin ein Mann. Aber ich versichere ihn hoch und heilig, ich kenne ihren ehemaligen Gatten nicht, weder von Gesicht noch von Person. Und ich würde es bestimmt wissen, wenn er und ich uns eine Bettdecke teilen würden, das können sie mir glauben!“ Wie können Frauen nur so doof sein?

„Wenn sie nicht gemeinsame Sache mit dem Schuft machen, dann gehen sie jetzt nach unten und holen mir meinen Sohn!“

„Das werde ich ganz bestimmt nicht machen!“

„Was?“

„Die Feier stören!“

„Aber …“

„Frau Schuster, oder darf ich Veronica sagen?“

„Ja!“

„Also, Veronica, die Feier unten ist erwachsenenfreie Zone. Ich habe den Jungs einige Ansagen bezüglich der Regeln hier im Hause gemacht und bisher scheinen sie sich daran gehalten zu haben. Ich habe also keinen Grund, die Regeln, die ich selbst aufgestellt habe, zu brechen.“

„Aber was haben ihre Regeln mit meinem Sohn zu tun?“ Frauen! Die gute Frau Schuster schien Naturblond zu sein, obwohl sie brünett war.

„Veronica, ich werde jetzt nicht in den Partykeller gehen und ihren Sohn vor all seinen Freunden bis auf die Knochen blamieren. Die Jungs werden erwachsen, da kann man sich mal verspäten, das ist nur natürlich. Wir waren doch alle mal jung und haben es mit der Zeit nicht so genau genommen.“

„Aber Henrik ist immer pünktlich!“ Wie schön für ihn oder sie!

„Veronica, ich weiß er nicht, wie es ihnen geht, aber ich vertraue meinem Neffen, voll und ganz! Und Vertrauen ist die Grundlage einer jeden Beziehung. Ich habe der Person meines Vertrauens ein Versprechen gegeben, nämlich seine Feier mit seinen Freunden nur im äußersten Notfall zu stören. Eine fünfminütige Verspätung ihres Sohnes stellt nun in meinen Augen keinen Weltuntergang dar. Aber wahrscheinlich ist der eh schon zuhause und fragt sich, wo seine Mutter ist.“

„Aber …“

„Nichts aber! Wie alt ist denn Henrik?“

„Gerade 17! Sein erster Geburtstag ohne seinen Vater.“

„So! Mal abgesehen von dem Vertrauensbruch gegenüber meinem Neffen, und nichts anderes wäre mein urplötzliches Erscheinen auf der Party, die heute für seine Freunde schmeißt, … Wie hätten sie es denn gefunden, wenn ihr Vater sie als siebzehnjährige Mädchen für eine klitzekleine Verspätung vor ihren gesamten Freundinnen abgekanzelt hätte? Erniedrigend? Beschämend? Zum in den Boden sinken? Seien sie mir nicht böse, aber wenn sie ihren Sohn blamieren wollen, dann machen sie das selber! Ich werde da ganz bestimmt nicht mitmachen!“

Sie schluchzte. „Aber er hat sich noch nie verspätet und immer Wort gehalten!“

Ich blickte auf die Uhr. „Veronica, wir haben jetzt kurz vor elf. Wenn ihr Sohn bis zwölf nicht zuhause ist, rufen sie mich an, ich werde die Party dann auflösen und mit den Anwesenden einen Suchtrupp organisieren, da gebe ich ihnen Brief und Siegel darauf.“

„Meinen sie?“

„Ja, ich meine! Sie regen sich umsonst auf! Es wird sich alles in Wohlgefallen auflösen und morgen früh werden wir alle darüber herzlich lachen.“

Wie in Trance verließ sie die Wohnung, ihre Klocks halten im Treppenhaus. Geschafft! Die Frau konnte einem eigentlich nur Leid tun. Ich brauchte jetzt erst einmal eine Zigarette, um mich von dem Auftritt zu erholen. Ich setzte mich und nahm drei, vier tiefe Züge. Wie kann man wegen einer kleinen Verspätung seines siebzehnjährigen Sohnes so aus dem Häuschen sein? In Ruhe rauchte ich auf und gab mir selbst das Versprechen, nie so ängstlich bezüglich Marvin zu sein.

Das Walkie-Talkie piepte, Marvin versuchte mich zu erreichen. „Was ist?“

„Kommst du mal bitte runter.“

„Wieso? Ist was passiert?“

„Nein, eigentlich nicht!“

„Dann brauche ich auch nicht!“

„Doch! Es ist etwas passiert, dass seine sofortige Anwesenheit verlangt!“ Kinder!

Ich ging in den Keller und war gespannt, was mich daher erwarten würde, ich rechnete schon mit dem Schlimmsten. Ich öffnete die Tür zum Partyraum und bekam Szenenapplaus. Benny Münster ergriff das Wort: „Wir haben das gerade live mitgehört! Das war besser als jeder Live-Act. Da du gerade einem von uns den Arsch gerettet hast, haben wir einstimmig beschlossen, dich zum Ehrenmitglied bei uns zu machen. Auch wenn hier erwachsenenfreie Zone ist, aber jetzt bist du einer von uns! Nimmst du diese hohe Ehre an?“

Ich blickte in lachende Gesichter. „Ah, ja, hoher Hüter des Tores, ich nehme diese Ehre an!“

„Dann ist ja klar, wenn die nächste Fete schmeißt: nämlich du!“ Alle lachten und johlten und etliche klopften mir auf die Schulter. Es wurde eine ziemlich lustige Stunde. Gegen halb eins setzte dann eine allgemeine Aufbruchstimmung ein, Benny Münster ging um Eins als letzter der Gäste. Marvin verabschiedete auch ihn an der Tür und kam dann zurück in den Partykeller, indem ich noch gedankenverloren, ein Biel neben mir stehend, saß. Er ging hinter den Tresen und öffnete sich ein Bier. „Ich glaube, eins darf ich jetzt!“

„Hast du bist jetzt nichts getrunken?“

„Zwei Radler, ansonsten nur Cola! Als Gastgeber muss man ja nüchtern bleiben!“ Der Junge ist vernünftig!

Er kam zu mir und schwang sich auf meine Knie. Mit seiner Flasche stieß er an meinige und wir prosteten uns auf einen gelungenen Abend zu. „Du!“

„Ja?“

„Hab ich dir schon gesagt, dass du der beste Onkel bist, den man sich wünschen kann?“

„Äh, … Nein, bisher noch nicht!“

„Dann ist das hiermit geschehen! Du!“

„Ja?“

„Ich hab dich ganz doll lieb!“ Er drückte mir einen Kuss auf die Lippen.

„Ich dich auch, Marv, ich dich auch! Aber lass uns jetzt Schlafen gehen. Du hast morgen noch einiges vor dir!“

„Was denn?“

„Aufräumen! Du warst ja der Gastgeber!“ Ich grinste.

„Du liebenswertes Ekel!“

Wir tranken aus und verließen die Feierstätte. Jeder ging in sein Bett und beim Aufräumen half ich ihm natürlich, denn als Ekel wollte ich nicht wirklich nicht betiteln lassen!

Tja, lieber Leser, das alltägliche Leben mit meinem Neffen hatte nun begonnen. Aber das ist ja eigentlich nicht von Belang, oder? Wer interessiert sich schon dafür, wie es weitergeht? Ihr etwa? Es will doch keiner wissen, zu welchen Komplikationen es beim Fototermin mit Igor kam oder welche Überraschung ich beim ersten Elternsprechtag erlebt habe. Falls doch, bitte ich um entsprechende Rückmeldung *fg

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