Adventskalender – Ein anderes Leben – 22. Türchen (16 Teil)

Hyun-Woo nahm das Paket langsam in die Hand. Ich wusste nicht, was er dachte, hat er doch nie viel über seinen Vater gesprochen. Er legte das Paket auf seinen Schoss und schaute zu seiner Mutter.

„Hättest du etwas dagegen, wenn ich es erst an Weihnachten öffne?“, meinte er leise.

„Hyun-Woo, es ist dein Geschenk, dann kannst auch du entscheiden, wann du es öffnest!“

„Danke“, meinte Hyun-Woo.

„Lass und wieder hinübergehen, bevor deine Großmutter Juen völlig ausgequetscht hat.“

Zusammen liefen wir zurück und fanden die beiden recht still vor. Großmutter Eun-Jin hatte Juen im Arm der furchtbar weinte.

„Mutter, was hast du getan?“

„Ich habe gar nichts getan! Es wurde nur mal Zeit, dass der Junge sich mal richtig ausweint.

Hyun-Woos Mutter holte erneut Luft, aber Hyun-Woo hinderte sie daran, etwas zu sagen.

„Mutter, du kennst seine Geschichte nicht…“

Betrübt schaute sie die beiden an.

„Mutter Hae-Soon, ich habe gesehen, die Sonnenkollektoren sind bereits installiert, funktioniert denn das schon mit dem warmen Wasser?“

Ich wollte Hyun-Woo und seine Mutter einfach von den beiden ablenken. Sie hängte sich bei mir ein und zog mich in die Küche.

„Ja und ich hätte nie gedacht, dass man sich so schnell an das heiße Wasser gewöhnen kann. Meine Mutter hat zwar noch so ihre Schwierigkeiten damit, denn sie setzt immer noch heißes Wasser auf, wenn sie etwas putzen oder sich waschen will, aber ich bin sicher, sie wird sich auch noch daran gewöhnen.“

Die Küche hatte einen frischen Anstrich gekommen, was den Raum viel heller und freundlicher wirken ließ. Die neuen Rohre waren nicht zu sehen, sie waren in der Wand verschwunden.

Deshalb auch die Farbe. Nicht nur das war neu. Es stand auch ein neuer Tisch da, nun aber mit vier Stühlen und der alte Steintrog war einem Waschbecken mit Unterschrank gewichen. Lediglich der Herd mit der gusseisernen Platte war noch vorhanden.

„Schön, oder?“

Ich nickte Mutter Hae-Soon zu.

„Setz dich, ich will noch einmal heißes Wasser, für Tee aufsetzten.“

Ich tat wie geheißen und ließ mich auf einen der neuen Stühle nieder. Ich schaute zu Tür, ob uns Hyun-Woo folgen würde, konnte ihn aber nicht entdecken.

„Darf ich fragen, was in dem Paket für Hyun-Woo drin ist…, er schien sehr bewegt zu sein.“

Sie drehte ihren Kopf zu mir und lächelte.

„Dir kann ich es ja sagen, denn ich bin mir sicher, du wirst es nicht vorher sagen. Es ist ein seltenes Bild von seinem Vater, wo er Hyun-Woo auf der Schulter trägt und seine Geige in der Hand hält.“

„Hyun-Woos Vater spielte Geige?“

„Ja und das sehr gut. Er hatte immer davon geträumt in der Stadt mal in einem Orchester spielen zu können.“

„Was hat ihn davon abgehalten?“

„Das liebe Geld, Lucas… leider…! Er hatte eine Familie zu ernähren.“

„Das ist aber schade. Hätte ich das mal vorher gewusst mit der Geige. Hyun-Woo hat es mit keinem Ton erwähnt. Gibt es ein Lied, dass Hyun-Woo besonders gern hörte?“

Natürlich gab es das, aber sagen konnte sie es mir nicht, weil mein Schatz die Küche betrat. Er schaute sich wie ich, in der Küche um. Es gefiel ihm sehr gut und bekam von seiner Mutter als Belohnung einen Kuss. Hyun-Woo wurde tief rot.

„Junge, du sagtest, Juen hat seine Geschichte, was hat meine Mutter da ausgegraben, dass dieser arme Junge so weinen muss?“

Hyun-Woo schaute zu mir. Ich nickte.

„Juens Mutter hatte vor zehn Jahren einen schweren Verkehrsunfall und war danach lange im Krankenhaus. Körperlich ist sie völlig geheilt worden, aber ihr Geist ist schwer verletzt.“

„Die arme Frau…, ist sie denn jetzt in einem Heim?“

„Nein Mutter, das ist sie nicht, also sie ist nicht geisteskrank oder so. Sie hat…, wie soll ich das erklären…?“

„Sie lebt in der Zeit vor ihrem Unfall. Sie will die Zukunft nicht an sich heran lassen“, erklärte ich nun.

„Deshalb weint euer Freund? Er kann doch froh sein, dass sie noch lebt.“

„Mutter, dass ist es nicht“, meinte mein Schatz kopfschüttelnd.

„Die vergangenen zehn Jahre lebte Juen in zwei Welten. In der unseren und die von seiner Mutter. Das Haus, dass sie bewohnen, ist so geblieben, wie es vor zehn Jahren ausgesehen hat“, erklärte ich.

„Er hat nie Freunde gehabt, die er auch nie mit nach Hause nehmen hätte können. Er hat für sie alles erledigt, weil sie das Haus nicht verlässt“, sprach Hyun-Woo weiter.

„Gibt es denn keinen Vater?“

„Doch, den gibt es, aber der muss das Geld verdienen. Juens Ausbildung kostete ja auch“, antwortete Hyun-Woo seiner Mutter.

Sie schaute mich an und ich wusste, was sie dachte. Wie Hyun-Woos Vater musste auch Juens Vater arbeiten, Geld verdienen für die Familie.

*-*-*

„Habt ihr Lust essen zu gehen, ich lade euch auch ein?“, sagte Juen, der vorgebeugt im Auto zwischen uns vorschaute.

Er war genau das Gegenteil, wie auf der Herfahrt. Das Gespräch mit Großmutter Eun-Jin schien ihm gut getan zu haben, auch wenn ich nicht wusste, was die alte Dame ihm mit auf dem Weg gegeben hatte.

Ich schaute zu Hyun-Woo, denn ich wollte ihm die Entscheidung überlassen.

„Du brauchst uns doch nicht einladen“, meinte Hyun-Woo.

„Doch, ich will aber! Ihr beide habt so viel für mich getan und es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr!“

Und dass sagt einer, der vor zwei Stunden noch halb Korea mit seinen Tränenfluten unter Wasser gesetzt hatte.

„Und wohin möchtest du uns entführen?“, wollte ich wie immer neugierig wissen.

„Magst du Street Food, Lucas?“

Ich schaute fragend zu Hyun-Woo.

„Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass wir noch nie mit Lucas auf dem Markt essen waren. Aber du weißt schon, der Gwangjang Markt hat um diese Zeit geschlossen.“

Zu Street Food fiel mir jetzt nur Currywurst oder Pommes ein, ich wusste nicht, von was die Beiden sprachen.

„Ich meine auch nicht den Gwangjang Markt, sondern den Seoul Bamdokkaebi Nacht Markt“, sagte Juen.

„Davon habe ich schon gehört, war aber noch nie dort gewesen.“

„Den kenne ich nur, weil mein Vater dort oft mit mir essen war, wenn wir für zu Hause Lebensmittel kauften. Ich denke, wir werden schon etwas finden, was Lucas Geschmack trifft.“

„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, da ist Lucas sehr pflegeleicht, er isst eigentlich alles.“

„Ähm, ihr wisst schon, dass ich anwesend bin?“, beschwerte ich mich und Juen fing an zu kichern.

„Dort bekommst du einfach alles, sei es koreanischen Tacos, über Steaks in einer Tasse, bis zu Hummerbrötchen und kubanischen Sandwiches und wenn du Glück hast gibt jemand ein Konzert. Dort stellen Künstler auch ihre Werke aus, die man käuflich erwerben kann!“

Juen sprudelte regelrecht über, so schwärmte er von diesem Markt.

„Dann bin ich mal gespannt!“

*-*-*

Zu meiner Überraschung war dieser Markt entlang des Han River, was dem ganzen ein schöner Hintergrund gab. Wir beschlossen erst mal an der Promenade entlang zulaufen, damit ich mir ein Bild machen konnte, was es da alles gab.

Aber spätestens am dritten Stand waren wir schon stehen geblieben, weil sich Juen irgendwelche Spieße kaufen wollte.

„Was ist das?“, fragte ich Hyun-Woo.

„Das ist Eomuk Tang, Fischkuchen am Spieß und einer Tasse heißer Suppe.“

„Das sieht lecker aus.“

„Möchtest du probieren“, fragte mich Hyun-Woo lächelnd.

Ich nickte. So bekam ich von dem Mann hinter dem Griff einen Spieß mit gewelltem Teig in die Hand gedrückt und in die andere eine heiß dampfende Tasse. Weil das Gedränge auf der Straße zu groß war, stellten wir uns an einen freien Tisch neben dem Stand.

„Oh schmeckt das herrlich“, meinte ich und nippte an der Tasse.

„Und das hast du Lucas vorenthalten?“, fragte Juen.

Hyun-Woo sagte dazu nichts, sondern bis nur vom Fischkuchen ab. Natürlich blieb das nicht die einzige Mahlzeit an diesem Abend. Da gab es frittierter Calamari, oder getrockneter Tintenfisch vom Grill.

Teile, die aussahen wir bei uns zu Hause die Maultaschen, wurden mehrfach angeboten, entweder mit Fleisch, Fisch oder nur Gemüse. Von den gegrillten knusprigen Krabbenbabys hätte ich mir fast noch einen zweiten Becher voll geholt, aber Juen überzeugte mich, dass ich noch unbedingt noch ein paar von den verschiedenen Spießen probieren sollte.

Ob Würstchen, Fleischbälle oder einfach nur in Marinade eingelegtes Fleisch, alles war vertreten. Ich konnte gar nicht alles probieren. Zum Schluss aß ich zum ersten Mal gegrillten, mit Käse überbackenen Hummer.

Den zahlte dann aber Hyun-Woo, weil drei Portionen für Juen einfach zu teuer gewesen waren. Total abgefüllt, liefen wir zurück zum Parkplatz. Ich war froh, dass der Weg nur halbseitig ausgeleuchtet war.

So zog ich Hyun zum dunklen Seite des Weges und nahm seine Hand. So Händchen haltend liefen wir weiter, was richtig gut tat. Es war zwar richtig kalt, dafür Hyun-Woos Hand richtig warm.

*-*-*

„Gehst du gleich ins Bett?“, fragte Juen mich, als wir die Wohnung betraten.

„Nein ich möchte noch versuchen meinen Vater zu erreichen.“

„Also ich geh ins Bett, wenn ihr nichts dagegen habt, ich bin total geschafft.“

Hyun-Woo zog hinter sich die Tür zu.

„Dann schlaf mal gut, gute Nacht!“, meinte Hyun-Woo und entledigte sich seiner Schuhe und Jacke.

„Gute Nacht ihr zwei“, meinte Juen und lief geradewegs zu seinem Zimmer, stoppte aber noch einmal.“

„Ach so, was steht morgen an? Soll ich wieder so früh aufstehen wie heute?“

„Ich kann dich gerne wieder wecken!“, meinte ich grinsend.

„Nein, nein, keine Umstände! Ich stell mir den Wecker.“

„Gute Nacht Juen!“, sagte ich und schon war er verschwunden.

„Ich muss kurz auf die Toilette, geh vielleicht auch gleich duschen Lucas…, dein Laptop steht im Regal“, meinte Hyun-Woo und gab mir kurz einen Kuss.

„Danke“, meinte ich und so war ich alleine im Wohnzimmer.

Ich pfriemelte mein Handy aus der Hosentasche und schickte meinem Vater eine Nachricht, ob er Zeit hätte, sich mit mir zu unterhalten. Auch eine große Bitte an ihn, mit dem Vermerk, falls Hyun-Woo zu gegen war, dies nicht zur Sprache zu bringen. Ich lief zum Regal und holte mir mein Laptop. Als ich es mir auf der Couch bequem gemacht hatte, bekam ich bereits Antwort.

Dort stand dann nur „Nur mit Mama“. Ich lächelte. Ich schrieb zurück, dass das kein Problem wäre, ich hätte ja schließlich keine Geheimnisse vor ihr. Das stimmte zwar nicht ganz, aber sie musste schließlich nicht alles wissen.

Wenig später baute sich die Verbindung auf und dass erst was ich sah, war Mia.

„Hallo Mia!“

„Hallo Bruderherz, ab morgen Abend, musst du mich wieder ertragen!“

„Wenn dass das einzige Problem ist, dann ertrag ich dich gerne“, lächelte ich.

„Ach du…“, meinte sie, „ich geh dann mal noch fertig packen und leg mich aufs Ohr, wenn wir heute Abend fliegen wollen.“

Wie immer hatte ich wieder vergessen, dass wir in total verschiedene Zeitzone waren.

„Papa kommt, ich bin dann mal weg“, meinte sie und Papa kam ins Sichtfeld.

„Hallo Sohnemann!“

„Hallo Papa“, strahlte ich.

„Du kannst es wohl nicht abwarten uns wieder zu sehen.“

„Ich doch nicht… ähm, wo ist Mama?“, versuchte ich abzulenken.

„Die holt sich noch etwas zu trinken…, bist du alleine.“

„Japp… noch.“

„Bist du sicher, dass wir die mitbringen sollen?“

„Ja, ich brauche sie für ein Weihnachtsgeschenk.“

„Du weißt aber schon, dass du über ein halbes Jahr das Teil nicht mehr genutzt hast!“

„Papa, so etwas verlernt man nicht!“

„Gut, dann werde ich sehen, wie wir ein weiteres Gepäckstück unterbringen.“

„Danke Papa!

*-*-*

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