Ein anderes Leben – Teil 17

Es war ein herrliches Gefühl, im eigenen Bett zu liegen und seinen Schatz im Arm zu halten. Der gestrige Abend war ein voller Erfolg gewesen. Alle hatten die Weihnachtsfeier sehr genossen. Spät waren wir nach Hause gekommen.

Den Genuss eines zweiten Weihnachtsfeiertages, gab es hier nicht. Etwas traurig bekam ich mit, wie Hyun-Woo seinen Weckalarm abstellte und sich aufrichtete. Er musste arbeiten. Er drehte sich zu mir.

„Das ist der erste Morgen, wo ich unbekümmert in die Zukunft sehen kann.“

„Wie meinst du das?“, wollte ich wissen.

Er legte sich auf meine nackte Brust und strich sanft darüber.

„Keine Sorge mehr darüber, dass dir jemand nachstellt, oder dir etwas antun will. Das Geschäft läuft gut, wir können uns nicht beklagen.“

Ich lächelte ihn breit an und zog ihn etwas hoch, damit ich ihm einen Kuss geben konnte. Seine Hand lag dabei auf meiner Wange. Einen Sorgenfreien Kuss, sanft und weich, stimmt, dass hatten wir noch nie, seit ich hier war.

„Tut mir leid Lucas, ich muss leider aufstehen.“

Ich seufzte.

„Braucht es nicht, ich stehe mit dir auf. Was würde meine zukünftige Schwiegermutter denken, wenn ich im Bett liegen bleiben würde, während ihr beim Frühstück sitzt?“

Hyun-Woo kicherte bei dem Wort Schwiegermutter und gab mir einen Kuss auf die Wange. Schweren Herzens standen wir gemeinsam auf. Im Bad benahmen wir uns wie zwei kindische Teenager, was Hyun-Woo ungewollt etwas in Zeitdruck brachte.

Aber seine Sorge verflog, als wir in den Wohnbereich traten und seine Mutter bereits in der Küche wirbelte. Großmutter Eun-Jin saß auf der Couch und blätterte in der Zeitung.

„Guten Morgen, Großmutter… Guten Morgen… Mutter!“

Es war für mich immer noch ungewohnt, die beiden so anzureden, aber trotzdem irgendwie schön. Beiden sahen auf.

„Guten Morgen, Lucas“, kam es von beiden postwendet zurück.

„Morgen Großmutter“, meinte Hyun-Woo und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Das war das erste Mal, dass ich das sah und auch Großmutter Eun-Jin schaute etwas verwundert. Mein Schatz lief zu seiner Mutter und half ihr. Ich setzte mich auf die Couch.

„Lucas, ich muss noch einmal danke sagen, für dein wunderschönes Violinenspiel gestern.“

„Nichts zu danken, dass habe ich gerne gemacht.“

„Es hat mich an eine frühere Zeit erinnert, als mein Sohn noch lebte. Wie oft hat er Hyun-Woo etwas vorgespielt und der saß dann immer ganz ruhig da und lauschte den Klängen der Geige.“

Ich schaute zu Hyun-Woo, der lächelte.

„Hast du nie Lust gehabt, ebenfalls Geige zu lernen?“, fragte ich.

„Ich bin ehrlich…, ich habe es versucht, aber es war mir einfach zu schwer.“

„Du hattest mehr Lust, draußen zu spielen, als drin zu sitzen und Geige zu lernen!“, sagte Mutter Hae-Soon, „kommt ihr, dass Frühstück ist fertig!“

Ich musste grinsen und half Hyun-Woos Großmutter auf und gemeinsam gingen wir an die Theke.

„Soll ich Juen wecken?“, fragte ich.

Hyun-Woo überlegte kurz.

„Wir brauchen ihn heute nicht, aber er wollte heute beginnen, seine Sachen hinunter zu bringen und seine neue Wohnung zu beziehen.“

„Ist sie denn schon fertig? Ich bekomme nie etwas mit.“

„Ja hier im Haus gibt es sehr viele emsige und fast unsichtbare Helferlein“, antwortete Hyun-Woo.

„Ich werde ihn einfach wecken, ob er dann aufstehen möchte ist seine Sache.“

Während Hyun-Woos Mutter den Reis verteilte, ging ich zu Juens Zimmer und klopfte. Es kam wie gewohnt keine Antwort. So öffnete ich langsam die Tür und wurde überrascht. Das Zimmer war leer.

„Du, Juen ist gar nicht da“, rief ich Hyun-Woo zu.

„Nicht? Das ist sonderbar…“

Das Bett war gemacht und sonst sah ich auch sonst keine Sachen von Juen herumliegen. Alles sauber. Hyun-Woo kam zu mir ins Zimmer.

„Es ist alles weg…“, meinte ich.

Hyun-Woo sah mich verwundert an. Doch bevor ich etwas sagen konnte, machte sich der Türgong bemerkbar. Wir liefen beide zurück und Hyun-Woo ging zur Sprechanlage. Wenige Augenblicke später öffnete er die Wohnungstür.

„Guten Morgen“, konnte ich einen gut gelaunten Juen hören.

„Guten Morgen Juen, warum kommst du nicht einfach herein wie immer? Wo kommst du denn her?“, fragte ich.

„Aus meiner Wohnung“, lächelte er.

Somit war sein bisheriger Aufenthaltsort bekannt, was aber eine weitere Frage aufbrachte.

„Wieso aus deiner Wohnung, wann bist du denn umgezogen?“

„Heute Nacht!“

Hyun-Woo schloss hinter ihm die Tür.

„Heute Nacht…?“, fragte ich verwundert.

„Guten Morgen Mrs. Lim…, guten Morgen Großmutter Kang!“, begrüßte Juen die zwei Damen und verneigte sich.

„Guten Morgen mein Junge“, entgegnete Großmutter Eun-Jin, „setz dich!“

Er verneigte sich nochmals und setzte sich neben sie.

„Ich…, ich konnte heute Nacht nicht schlafen und weil mein Gepäck nicht all zu groß ist, habe ich beschlossen umzuziehen, um die Zeit irgendwie sinnvoll zu nutzen.“

„Du bist mitten in der Nacht umgezogen?“, fragte nun Hyun-Woos Mutter.

Juen nickte verlegen.

„Aber wir hätten dir doch helfen können“, meinte sie.

„Danke sehr nett, aber es war wirklich nicht viel!“

Auch er bekam eine Schüssel mit Reis vor die Nase gesetzt.

*-*-*

Während Juen zur Polizeistation und Hyun-Woo in die Firma fuhr, hatte ich die Aufgabe übernommen, mit dem Fahrdienst vom Haus, Großmutter Eun-Jin und Hae-Soon nach Hause zu bringen.

Natürlich wurde ich nicht ohne Geschenke in Essensform wieder fortgelassen. So stand nun ein gebundenes Paket, aus Stoff neben mir auf dem Rücksitz. Ich zog mein Handy hervor und wählte Papas Handy an.

„Guten Morgen, Sohnemann, schon so früh wach?“, meldete sich mein Vater.

„Morgen Papa, was heißt hier früh? Ich bin gerade auf dem Rückweg von Hyun-Woos Elternhaus und habe dort Großmutter Ein-Jin und Mutter Hae-Soon abgesetzt.“

„Wow, dann bist du wirklich früh aufgestanden.“

„Wo seid ihr jetzt, noch im Hotel, oder schon bei Großvater?“

„Noch im Hotel, warum fragst du?“

„Dann komm ich zu euch und wir können zusammen zu Großvater fahren.“

„Kannst du gerne machen, aber auf mich musst du leider verzichten.“

„Wieso das denn?“

„Weil ich mich mit Young-Sung treffen werde.“

„Ja, weißt du denn wo er ist? Die haben ihn doch versteckt, dass ihm nichts passiert.“

„Ja, dein Onkel war so freundlich und ein Treffen zu ermöglichen, nachdem alles vorbei ist.“

„Ja, daran muss ich mich erst gewöhnen.“

„Bist du nicht froh darüber?“

„Doch Papa, natürlich bin ich froh darüber, dass alles vorbei ist. Aber es ist das erste Mal, dass ich alleine unterwegs bin, ohne Schutz von Juen, oder die Begleitung meiner Freunde.“

„Daran wirst du dich schnell gewöhnen.“

„Ohne Hyun-Woo unterwegs zu sein… nie!“

„Ich dachte du bist über dein erstes Verliebtsein hinaus!“

„Papa!“

Er kicherte ins Telefon.

Dann sehen wir uns spätestens zum Mittagessen bei Großvater, okay?“, fragte er.

„Okay, dann bis später…bye!“

„Bye, Lucas!“

Ich stecke wider mein Handy weg und schaute nach vorne.

„Könnten sie mich bitte zum Hotel bringen, in dem meine Eltern untergebracht sind?“, fragte ich den Fahrer.

Er nickte.

*-*-*

„Mia, jetzt trödel nicht herum, der Fahrer wartet unten“, meckerte ich Richtung Mias Zimmer.

„Er wird schon nicht ohne uns fahren“, meinte Mama, die sich gerade ihre Jacke anzog.

„Ich will nur nicht, dass er dort unten unnötig herum steht, es ist kalt draußen!“

„Lukas, das ist seine Arbeit, dafür wird bezahlt!“

„Trotzdem…“

„Ist ja schon gut…Mia, bist du fertig?“

„Ja Mama, ich komme.“

Und schon erschien sie im Zimmer.

„Morgen Bruderherz, schon so früh auf den Beinen?“

„Klar Schwesterherz.“

„Und das sagt einer, den man an schulfreien Tagen fast nicht aus dem Bett brachte.“

Mama kicherte. Ich streckte Mia meine Zunge heraus und verließ die Suite.

„Wie wird eigentlich hier Silvester gefeiert?“, wollte Mia wissen, als wir bereits im Wagen saßen.

Ich drehte mich zu den beiden nach hinten, weil mich das auch interessierte.

„Eigentlich wird hier nicht Silvester gefeiert, wie ihr das von zu Hause kennt“, antwortete Mama, „es gibt aber ein Neujahrsfest, das sich nach dem Mondkalender richtet.“

„Mondkalender?“, fragte ich verwundert.

„Der Neujahrstag wird nach dem chinesischen Mondkalender festgelegt und fällt immer auf den Neumond zwischen dem 21. Januar und dem 20. Februar des Gregorianischen Kalenders und somit auf den ersten Tag des ersten Monats des Mondkalenders und ist ein offizieller Feiertag“, erklärte Mama.

„Gregorianischen Kalender…? Entschuldige, das ist mir zu hoch“, meinte ich und drehte mich wieder nach vorne.

„Wissen sie, wann nächstes Jahr der Neujahrstag ist?“, fragte Mama den Fahrer.

„Am fünften Februar, Madam.“

„Danke…“

Der Fahrer nickte. Er sollte es ja wissen, es war ja auch schließlich sein freier Tag.

„Dann wird hier gar kein Silvester gefeiert, kein Feuerwerk?“, fragte Mia enttäuscht.

„Doch, ich denke hier in Seoul schon, aber auf dem Land wird es anders sein. Du kannst ja nachher Großmutter fragen, ob sie das feiern.“

„Okay“, meinte Mia und es schien, als wäre die Sache damit für sie erledigt, weil sie wieder nach draußen schaute und kein weiteres Wort sagte.

Dass ich mit den Jungs auf der großen Silvesterfeier gehen wollte, hatte ich noch gar nicht erwähnt. Und wenn Mia erfahren würde, dass wie beim letzten Konzert, wieder diverse Kpopgrößen dabei waren, wollte sie sicher auch mit. So entschied ich mich nichts zu sagen, lieber den richtigen Augenblick abzuwarten.

„Wann fliegt ihr eigentlich zurück?“, fragte ich.

„Am fünften Januar, warum fragst du, willst du uns schon los werden?“

„Nein Mama, aber wenn etwas ansteht, kann ich besser planen.“

„Was steht denn noch an?“

„Das weiß ich nicht, ich muss erst Hyun-Woo und die anderen fragen, ob irgendetwas geplant ist“, flunkerte ich.

„Eigentlich sollte es mir egal sein, was du machst…, ich werde auf alle Fälle viel Zeit mit meinen Schwestern und Mutter verbringen.“

Das hörte sich schon mal gut an. Man bestand nicht darauf, bei der Familie zu sein.

„Großvater nicht?“, fragte ich grinsend.

„Du kennst Großvater, wann sitzt er denn mal still da…, höchstens zum Essen.“

„Also für mich hatte er immer Zeit und hat sich zu mir gesetzt.“

„Du bist ja auch sein Enkel.“

„Lieblingsenkel, Mama!“, meinte Mia.

„Neidisch“, grinste ich.

Mia zog eine Grimasse und schaute weg.

*-*-*

Während Mia mit ihrer Cousine nach oben verschwand und Mama bei ihren Schwestern  im Laden blieb, schaute ich mich um und suchte Großvater. Meine Cousins schienen nach dem gestrigen Abend noch zu schlafen.

Ich fand Großvater im Garten, als er dabei war Unkraut zu zupfen.

„Guten Morgen Großvater, ist es dir nicht zu kalt hier draußen?“

Er schaute auf.

„Guten Morgen Lucas, so früh hätte ich dich gar nicht erwartet. Tae-Young und Hong-Sik liegen wahrscheinlich noch im Bett.“

„Ich bin mit allen anderen aufgestanden und habe Hyun-Woos Mutter und Großmutter nach Hause begleitet.“

„Nette Leute…“

Ich nickte. Als Großvater keine Anstalten machte aufzuhören, gesellte ich mich zu ihm, ging in die Hocke und fang ebenso an, das Unkraut heraus zu reißen.

„Das brauchst du nicht zu machen“, meinte er.

„Doch macht Spaß und zu dem kann ich dir Gesellschaft leisten.“

„Ist das nicht zu langweilig?“

„Wie könnte es mit dir langweilig sein?“, grinste ich.

Großvater schaute mich an und grinste. Er richtete sich auf und drückte seine Hände in den Rücken.

„Was hast du auf dem Herzen?“

Ich könnte nicht behaupten, dass ich ihn etwas Spezielles fragen wollte, aber da fiel mir etwas ein.

„Was würdest du davon halten, wenn ich Landschaftsarchitektur studiere?“

„Landschaftsarchitektur? Ich dachte du hast es nicht so mit dem Grünzeugs, oder wie du es nanntest.“

Er nahm seinen Korb und ich warf die wenigen Unkräuter hinein, die ich dem Boden entrissen hatte.

„Ich habe durch unsere Gespräche viel an meinen anderen Opa gedacht. Ich weiß noch, dass er viel mit mir sparzieren gegangen ist und immer etwas fand, was er mir erklären konnte. Er meinte auch immer für ihn gibt es kein Unkraut. Jede Pflanze hat ihren Nutzen.“

„Da hat er Recht, aber hier kann ich es nicht gebrauchen, es entzieht mir zu viel Kraft aus dem Boden, welches ich für die anderen Pflanzen brauche.“

„Das leuchtet mir ein und außerdem sieht es in einem gepflegten Garten nicht schön aus, egal ob Gemüse oder Blumengarten.“

„Aber warum dann ausgerechnet Landschaftsarchitektur?“

„Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin. Es wäre auf alle Fälle was mich interessieren würde. Zudem habe ich ja immer einen kompetenten Berater zur Seite.“

Großvater lächelte.

„Ich werde nicht ewig leben.“

„Sag so etwas nicht, Großvater, wo ich dich erst gefunden habe!“

„So ist das Leben, mein Junge, daran kann niemand etwas ändern.“

„Aber du kannst mir versprechen, auf dich auf zu passen und gesund zu bleiben!“

Ein Lächeln machte sich wieder auf seinem Gesicht breit.

„Das mach ich gerne.“

*-*-*

„Nanu, was machst denn du hier, ich dachte du bist auf deiner Dienststelle?“

Ich saß gerad am Küchentisch und blätterte in Großvaters Aufzeichnungen über Kräuter, als Juen den Raum betrat.

„War ich auch, aber dein Onkel hat mich wieder hergeschickt. Da ich ja in allen Bereichen ausgebildet werden soll und ich jetzt schon etwas über Personenschutz weiß, hat der Chef beschlossen, dass ich bis Ende des Jahres noch bei dir bleiben soll.“

„Aber ich brauche doch keinen Schutz mehr!“

„Dein Onkel meinte, da du ja jetzt in der Stadt bekannt bist, solltest du auch einen Schutz haben, falls dich irgendwelche verrückte Fans überfallen.“

Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. Verrückte Fans fehlten mir gerade noch.

„So bekannt bin ich nun auch wieder nicht!“

„Ich erinnere nur an den Zwischenfall vor So-Wois Firma. Wenn da nicht die Sicherheitsleute ihre Waffen wegen mir gezogen hätten, wärst du von der Meute von Fans umringt gewesen.“

Da hatte er recht.

„Steht irgendetwas an, hast du für heute noch etwas geplant?“

„Eigentlich nicht“, antwortete ich, „Hyun-Woo ist mit Arbeit eingedeckt, dich glaubte ich in der Dienststelle, so hatte ich mich damit abgefunden, hier einen ruhigen Mittag zu verbringen. Aber wieso fragst du?“

„Ich hätte da gerne ein Anliegen, dass ich mit dir noch erledigen würde.“

„… ein Anliegen?“

„Ja…, aber ich weiß nicht, ob es dir recht ist.“

„Juen, frag einfach…“

„Also… ähm…, wir beide waren ja nicht… bei der Beerdigung und… ich wollte dich fragen, ob wir nicht das Grab von Jonghyun aufsuchen könnten.“

Ich überlegte kurz, aber er hatte recht. Wir wurden gewaltsam von der Beerdigungsfeier entfernt und konnten beide keinerlei Ehrerbietung zeigen. Soviel hatte ich schon von meiner Mutter gelernt, dass dies in Korea sehr wichtig war.

„Entschuldige, das war eine blöde Idee…“, redete Juen weiter.

„Nein, nein Juen, du hast Recht… müssen wir uns was anderes anziehen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Aber vielleicht sollten wir einen Blumenstrauß holen…“

Juen sah mich lange an.

„Was ist?“

„Ich… ich wollte mich noch bei dir bedanken!“

„Für was?“

„Das du dich so bei deinem Onkel für mich eingesetzt hast.“

Das hatte ich schon wieder vergessen. An der Weihnachtsfeier hatte ich Onkel Min-Chul gebeten, ob er sich nicht etwas darum kümmern könnte mehr über Juens Bruder herauszufinden.

„Nichts zu danken, das habe ich doch gerne gemacht! Ich hoffe er hat Erfolg.“

Verlegen zog Juen einen Zettel hervor.

„Er hat…“

„Er hat ihn gefunden?“

„Er hat mir eine Adresse mit Telefonnummer gegeben…“

„Hast du angerufen?“

Juen schüttelte wieder den Kopf.

„Warum das denn?“

„… ich hab mich nicht richtig getraut.“

„Aber Juen, es ist dein Bruder!“

„Den ich schon lange nicht mehr gesehen habe.“

Wieder überlegte ich und klappte Großvaters Notizen zu.

„Wie bist du hergekommen?“

„Mit dem Bus…“

„Dauert es lange bis zu diesem Friedhof, wo dieser Jonghyun beerdigt wurde, wenn wir den Bus nehmen.“

„Schon…, das wären zwei Buslinien…“

„Doch so weit?“

„Ja, die Friedhöfe der Stadt liegen alle außerhalb der Stadt…, in der Stadt gibt es keinen Platz dafür.“

„Gut, dann werde ich mich kurz von meinen Großeltern verabschieden und Bescheid geben.“

*-*-*

Bewaffnet mit zwei Blumensträußen saßen wir nun im Bus und ich hatte genügend Zeit, mir alles anzusehen. Wir waren erst mit dem Bus zur großen Busterminal gefahren und dort umgestiegen.

Man merkte, dass wir uns am Stadtrand befanden, denn die Häuser waren lange nicht mehr so groß, wie in der Innenstadt und sie standen auch nicht mehr so dicht aufeinander. Juen machte sich bemerkbar, dass wir an der nächsten Haltestelle aussteigen müssten und drückte einen Knopf an der Haltestande neben uns.

Es dauerte noch etwas, bis der Bus seine Geschwindigkeit verringerte. Als er endlich hielt, konnten wir ungehindert aussteigen, denn der Bus war nur spärlich besetzt. Der Bus fuhr weiter und ich folgte Juen ohne einen Ton zusagen.

Er schien sich auszukennen, denn er lief zielstrebig auf ein kleines Wäldchen zu. Ein kunstvoll gearbeitetes Tor kam in mein Blickfeld, was wohl der Eingang zu diesem Friedhof war.

Trotz der Nähe der Straße war es hier völlig ruhig. Ich erinnerte mich an den Friedhof zu Hause, wo Papas Eltern beerdigt lagen. Er war nicht so großzügig angelegt. Zweimal im Jahr fuhr die ganze Familie zu Friedhof und besuchte das Grab der Großeltern.

Es war ein Brauch, den Mama von zu Hause mitgebracht hatte. Am Todestag der jeweiligen Person besuchte man das Grab und gab es eine kleine Zeremonie. Zuerst wurde eine Art Opfertisch mit verschieden Speisen und Getränken vorbereitet.

Man betete dann gemeinsam und machte ein paar Verbeugungen. Am Ende, wenn man damit fertig war, wurde das Essen zusammen gegessen. So eine Art Picknick, gemeinsam mit Opa und Oma.

Ich fand das immer schön. Aber das, was ich hier zu sehen bekam, übertraf meine Erwartungen. Eigentlich hätte man das hier nicht Friedhof nennen sollen, eher Friedberge. In zwei verschiedene Richtungen erstreckten sich Hänge, an denen ich überall Grabstellen ausmachen konnte.

Doch Juen lief nicht in diese Richtung, sondern schlug einen anderen Weg ein. Irgendwann kam ein größeres Haus zum Vorschein.

„Juen, wo gehen wir hin?“

Er blieb stehen.

„Jonghyuns Familie hat sich dafür entschieden, kein Grab zu nehmen, weil dies vielleicht zu viele Besucher anlocken könnte.“

Ich machte große Augen.

„Und wo ist er dann beerdigt?“

„Im großen Urnenhaus“, meinte er und zeigte auf das Gebäude, vor uns.

Als wir dort ankamen, bat mich Juen kurz hier zu warten und er betrat das Haus alleine. Es dauerte nicht lange, dann kam er wieder zurück.

„Wir wurden gebeten unsere Sträuße dort drüben abzulegen, damit es im Haus nicht so voll wird“, meinte Juen nur und lief zu einer Stelle neben dem Haus.

Ich folgte ihm und war darüber doch etwas verwundert. Wir legten unsere Sträuße bei den anderen Blumen ab, was doch recht viele waren. Wenn ich mir diese Blumen bei der Urne vorstellte, ließ mich den Zweck dieser Aktion verstehen.

Danach liefen wir wieder zum Eingang und betraten nun gemeinsam das Haus. Neben dem Eingang, war so etwas wie ein Schalter, hinter dem ein Mann saß. Juen verbeugte sich vor ihm, ich tat es ihm gleich.

„Ich habe meinen Dienstausweis gezeigt, dass wir überhaupt zur Urne dürfen.“

„Warum das denn?“, flüsterte ich.

„Die Familie hatte angewiesen in nächster Zeit keine Fans hier herein zu lassen…, man befürchtet, dass damit die Ruhe der Toten gestört wird.“

Sollte mir eigentlich recht sein. Juen lief eine Treppe hoch und nun sah ich auch schon die ersten Urnen. Sie standen in einem großen Regal, dass ich gleichgroße Fächer eingeteilt war. Jedes Fach besaß eine Glastür, hinter der sich meist neben der Urne, ein Bild befand und andere Dinge, die wohl dem Verstorben gehörten, oder an ihn erinnern sollten.

Mittlerweile waren wir im ersten Stock angekommen und liefen an zahlreichen Regalen vorbei, bis plötzlich Juen stehen blieb. Dann zeigte er auf ein Fach. Ich schaute in das Fach und sah eine schlichte einfache Urne. Daneben stand das Bild von Jonghyun, versehen mit einem schwarzen Band.

Er lachte auf diesem Bild, sah fröhlich aus, aber etwas fiel mir auf. Trotz des breiten Lachens, seine Augen sahen traurig aus.

*-*-*

Juen und ich saßen im Friedhofsbereich auf einer Bank und schwiegen. Jeder war wohl in seinen Gedanken gefangen, der Ort hier hatte seinen Eindruck hinterlassen.

„Warum hast du eigentlich eine Blume behalten?“, fragte ich Juen, der die ganze Zeit eine Nelke anstarrte, die er in der Hand hielt.

„Ich will kurz noch bei jemand vorbei schauen. Du kannst ruhig hier sitzen bleiben, ich bin gleich wieder da…“

Verwundert schaute ich ihn an.

„Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich mit.“

Er nickte mir zu und stand auf. So folgte ich ihm abermals, dieses Mal aber in Richtung dieser Hügel. Ganz so kurz, wie er vorher behauptet hatte, war der Weg doch nicht. Etwa in der Mitte des Hügels, bog er vom Hauptweg ab auf einen kleinen Trampelpfad.

Neben normalen Gräbern, wie ich sie von zu Hause kannte, waren hier auch kleine aufgeschüttete Hügel, mit Gras überwachsen und einem kleinen Schilder davor. Eben vor einem dieser Hügel blieb er stehen.

Er beugte sich vor und legte die Nelke ab. Dann richtete er sich wieder auf und schloss die Augen. Ich stand still neben ihm.

„Wollen wir gehen?“, fragte er plötzlich.

Ich schaute auf und nickte.

„Fahren wir nach Hause, oder möchtest du zu Hyun-Woo?“

„Nach Hause wäre mir lieber, wenn Hyun-Woo mich so nachdenklich sieht, macht er sich nur wieder Sorgen.“

Juen lächelte.

„Darf ich dich fragen, wer das ist?“

Er drehte sich um, Richtung Grab.

„Da liegt mein bester Freund  von früher… in der Schule.“

„Was ist ihm passiert…?“

Ich sah, dass er glasige Augen bekam und verfluchte mich selbst, davon angefangen zu haben.

„Er hat sich umgebracht!“

„… umgebracht…?“, stammelte ich.

„Ja, er konnte nicht mit der Schmach durch seinen Vater fertig werden. Sein Vater wurde beim Klauen erwischt und musste ins Gefängnis.“

„Aber deswegen bringt man sich doch nicht gleich um!“

Juen drehte sich zu mir und schaute mir direkt in die Augen.

„Lucas, es ist irgendwie an der Schule durchgesickert, was sein Vater getan hat. Damit war er gebrandmarkt und nur noch der Sohn eines Diebes…“

„Aber er kann doch nicht dafür, was sein Vater gemacht hat…“

„Wie du schon oft gesagt hast, es gibt hier Dinge, mit denen du nicht einverstanden bist…“

Ohne ein weiteres Wort zusagen, trat er den Rückweg an.

*-*-*

Als wir an der Haltestelle saßen und auf den Bus warteten, sprach Juen immer noch nichts. Hatte ich ihn jetzt verärgert? Ich räusperte mich.

„Du wolltest noch etwas erledigen!“

Er zeigte verwundert auf sich und ich nickte.

„Du wolltest deinen Bruder anrufen.“

Er wich etwas zurück und verdrehte die Augen.

„Ach ich weiß nicht…“

„Willst du deinen Bruder wieder sehen, oder nicht?“

„Doch schon, aber…“

„Aber was?“

„Ich weiß doch gar nicht, ob er mich sehen will. Ohne Grund hat er sich sicher nicht von uns fern gehalten, sich nicht mehr gemeldet.“

„Das findest du nur heraus, in dem du dort anrufst!“

Juen sah mich flehend an, weil er sich nicht entscheiden konnte.

„Gib mir bitte den Zettel.“

„Wieso…, was hast du vor?“

„Dann werde ich für dich anrufen!“

„Du…? Aber was willst du denn sagen?“

„Das weiß ich noch nicht!“, antwortete ich und streckte meine Hand aus.

Zögerlich zog er den Zettel heraus und reichte ihn mir. Mein Handy war schnell gefunden. Ich sah, dass ich eine Mitteilung von Hyun-Woo hatte, aber das war jetzt Nebensache. Ich tippte die Nummer ein und wartete, dass jemand mein Gespräch entgegen nahm. Es meldete sich eine Frau.

*-*-*

Wir saßen wieder im Bus. Juen schwieg und sah aus dem Fenster. Es hatte sich heraus gestellt, dass ich mit der Ehefrau von Juens Bruder geredet hatte. Am Anfang war sie noch etwas misstrauisch gewesen, weil jemand Fremdes und nicht der Bruder am Telefon war.

Ich versuchte ihr langsam die Sachlage klar zu machen und sie bat mich um Juens Nummer, dass sein Bruder zurück rufen konnte, wenn dieser von seiner Arbeit zurück kam. Für mich war die Sache gut gelaufen, aber Juen schien dass nicht geheuer zu sein.

Ich merkte schon, dass er ziemlich nervös war. Ständig schaute er auf sein Handy, was mich darauf brachte, meins wieder hervor zu holen und endlich Hyun-Woos Nachricht zu lesen. Er wollte wissen was ich machte.

So beschrieb ich in Kurzform unseren Besuch auf dem Friedhof und dass wir auf dem Weg nach Hause seien. Es dauerte nicht lange und ich bekam Antwort, wo mein Schatz schrieb, dass er sich beeilen würde und ebenso bald nach Hause kommen würde.

Nach Hause. Das war schon irgendwie seltsam. Mein Zuhause war in Deutschland und ich war hier zu Gast. Nun wohnte ich mit Hyun-Woo zusammen und er betonte immer, es wäre unser Zuhause.

War mit der Entscheidung, hier vielleicht zu studieren, nicht schon die wichtigste Entscheidung getroffen, hier zu bleiben, im Heimatland meiner Mutter? So viele Gedanken taten sich wieder auf.

Wie würde meine Familie auf die Entscheidung reagieren und die Verwandtschaft hier? Was würde alles auf mich zu kommen. Ich war hier in einem fremden Land, hier herrschten teilweise andere Gesetzte, vieles was ich noch zusätzlich lernen müsste.

Dann musste ich erst mal einen Platz zum studieren finden. Die Konkak University war schön und gut, aber wurde ich überhaupt einfach so genommen? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antworten wusste.

Juens Handy meldete sich und er zuckte zusammen. Fast hätte er das Teil fallen lassen, aber dann atmete er tief durch.

„Dein Onkel“, meinte er nur und nahm das Gespräch entgegen.

*-*-*

Juen hatte im zweiten Stock den Fahrstuhl verlassen und so fuhr ich alleine nach oben. Ich atmete tief durch, als ich das Ding endlich verlassen konnte. An der Wohnungstür gab ich den Code ein und ein Summen bestätigte, dass sie offen war.

Drinnen angekommen, blieb ich erst einmal verwundert stehen. An der Rückwand an der Couch angelehnt, stand ein großes Paket. Das stand noch nicht hier, als wir heute Morgen die Wohnung verlassen hatten. Ich zog meine Schuhe aus.

Mein Magen meldete sich lautstark und ich war froh, dass ich alleine war. Dadurch, dass ich mit Juen gegangen war, hatte ich das Mittagessen bei den Großeltern ausgelassen. Sieden heiß fiel mir ein, dass ich ja dort Papa treffen wollte.

Unschlüssig darüber, ob ich vielleicht den Fahrdienst anrufen sollte, damit ich noch hinfahren konnte, nahm  mir die Uhr an der Kaffeemaschine die Entscheidung ab, dort nicht mehr hinzufahren.

Es war einfach schon zu spät und das Mittagessen sicher vorüber. Aber das löste mein Problem mit dem Hunger auch nicht. Ich zog meine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

Noch strümpfig schlüpfte ich in meine Hauslatschen und lief in den Küchenbereich. Hyun-Woos Mutter hatte alles am Morgen sauber gemacht und das Paket, das ich dem Fahrer mit gegeben hatte, konnte ich auch nirgends entdecken.

So öffnete ich den Kühlschrank und wurde fündig. Voll geladen mit lauter Leckereien in Plastikdosen, konnte ich mich nun nicht entscheiden, was ich essen sollte. Ratlos ließ ich die Kühlschranktür wieder zufallen.

Da diese Dinge alles von Hyun-Woos Mutter waren, wollte ich mich nicht einfach bedienen, sondern es mit meinem Schatz zusammen essen. Ich öffnete den Schrank neben dem Kühlschrank, der mit Vorräten gefüllt war.

Als ich ein Schachtel mit Spaghetti saß, wusste ich sofort, was meinen Hunger stillen würde. Ich entnahm das Päckchen und durchsuchte den Schrank weiter nach etwas brauchbaren. Da machte es sich mal wieder bemerkbar, dass ich immer noch Probleme hatte, die Koreanische Schrift richtig zu lesen, denn nicht jedes Gefäß oder Packung war mit einem Bild des Inhaltes versehen.

Als ich Tomate (토마토) entziffern konnte, entnahm ich auch diese Dose aus dem Schrank. Ich legte beides neben das Kochfeld. Dann machte ich mich auf die Suche nach Töpfen. In einen der unteren Schränke fand ich das Gesuchte und beschloss unbedingt mir zu merken, wo hier alles stand.

Bisher hatte Hyun-Woo immer gekocht und mich einfach bedient. Aber das wollte ich sowieso ändern. Ich ließ Wasser in den großen Topf laufen und stellte ihn anschließend auf eines der Gasfelder.

Zum Glück hatte Mama darauf bestanden zu Hause in ihrer Küche ebenso mit Gas zu kochen, so kannte ich mit diesem Teil etwas aus. Gleich beim ersten Versuch, entzündete sich der Flammenring und dem Topf.

Salz. Ich brauchte Salz für das Wasser. Wieder fing ich an zu suchen und schämte mich etwas, mich nicht schon früher in der Küche umgesehen zu haben. Hinter der nächsten Tür fand ich Salz und auch andere Gewürze.

Ich nahm einfach das, was ich glaubte zu brauchen und schloss sie Tür wieder. Ein kleiner Löffel mit Salz sollte genügen und ich verschloss den Topf mit einem Deckel. Froh, nun zu wissen, wo die Töpfe waren, nahm ich mir einen weiteren, kleineren Topf heraus.

Zwiebel und Knoblauch. Zu Hause war das kein Problem, da hatte Mama alles offen und immer am gleichen Platz stehen. Im Kühlschrank wurde ich nicht fündig und in dem Schrank waren keine frischen Lebensmittel. Ich überlegte.

Da fiel mir ein, dass Hyun-Woo ab und zu hinter der kleinen Tür verschwand, die neben dem Schrank war. Neugierig öffnete ich diese Tür und fand mich in einem kleinen Kämmerchen wieder.

Ich suchte den Lichtschalter und wenig später flammte die Lampe an der Decke auf. Zu meiner Schande musste ich mir eingestehen, dass ich mich wirklich noch nicht auskannte. Hier standen Getränke in den Regalen, und auch Putzzeug. Gut zu wissen, dachte ich für mich.

In einer Ecke fand ich die gesuchten Zwiebeln. Auch einen kleinen Kühlschrank fand ich da. Verwundert schaute ich in ihn hinein, er war aber leer. Hm… auf den Knoblauch musste ich wohl verzichten.

Ich löschte das Licht und kehrte in die Küche zurück. Wo die Messer lagen, dass wusste ich mittlerweile, weil ich Hyun-Woo schon oft genug beim Schneiden zu geschaut hatte. Die Zwiebel war schnell geschält und geschnitten.

Ich ärgerte mich wie immer, dass meine Augen zu brennen begannen. Mit dem Ärmel wischte ich mir über die Augen, bevor meine Sehkraft durch die Tränen geschwächt wurde. Ich stellte den kleineren Topf ebenso auf eine Gasflamme, nahm das Öl aus dem Schrank, das ich vorhin gesehen hatte und machte ein paar Tropfen in den Topf.

Schnell war das Öl heiß und ich tat die Zwiebel hinein. Nach dem Kochgeschirr brauchte ich zum Glück nicht zu suchen, dass stand in einem Gefäß, neben dem Kochfeld. Ich griff nach dem Kochlöffel und begann in den Zwiebeln zu rühren.

Als ich gerade nach der Dose mit den Tomaten drin griff, hörte ich das Piepen von der Wohnungstür. Wenig später kam Hyun-Woo in mein Blickfeld und ich begann zu lächeln.

„He, was riecht hier so gut?“, fragte er und kam zu mir.

„Hallo Schatz, ich wusste nicht, dass du so früh kommst. Das, was du riechst, sind nur Zwiebeln!“

„Und was willst du mit der scharfen Tomatenpaste?“

Das war Tomatenpaste und auch noch scharf?

„Ähm… ich dachte das ist Tomatenmark…“

Er nahm mir die Dose ab, ging zum Schrank und zog eine Tube heraus, die ich nicht gesehen hatte.

„Danke“, meinte ich verlegen.

Er schloss den Hochschrank und trat neben mich.

„Du weißt schon, dass unser Kühlschrank, mit Essen gefüllt ist?“, fragte Hyun-Woo grinsend.

„Ja und nachdem deine Mutter mir noch ein Paket mit gegeben hat, platzt er bald aus allen Nähten.“

„Noch mehr…?“

Er ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und seufzte laut, dann schaute er wieder zu mir.

„Deine Mutter meint es sicher nur gut“, verteidigte ich sie.

„Sie hat nur Angst, dass ich verhungere.“

Er kam wieder zu mir.

„Und warum kochst du dann? Also ich meine…, es ist total lieb von dir, dass du etwas kochst, aber warum hast du nicht etwas von den Sachen genommen?“

„Ich wusste ja nicht, wann du kommst… Ich wollte die Sachen nicht anrühren, also nicht ohne dich essen.“

Hyun-Woo zog die Augenbraun hoch, sagte aber nichts dazu.

„Was wird das?“, meinte er dann schließlich und zeigte auf die Zwiebeln, die mittlerweile eine schöne Farbe dank des Tomatenmarks bekommen hatten.

„Ähm… Spaghetti mit Tomatensauce…“

„Hört sich lecker an, kann ich dir etwas helfen?“

Ich dachte er fragt nie. Er kannte sich einfach besser aus, es war seine Küche.

„Gerne…, haben wir so etwas wie Wein im Haus?“

„Klar, was für einen möchtest du denn?“

So klar war das auch nicht. Wir beide tranken eher selten Alkohol.

„Rotwein…“

Er ging in das Kämmerchen, dass ich kurz vorher entdeckt hatte und kam mit einer Flasche Rotwein zurück.

„Auch ein Glas?“, fragte er.

„… ja“

Er öffnete die Flasche und holte zwei Gläser. Ich nahm ihm die Flasche ab und schüttete etwas über die Zwiebeln. Sofort zischte es und es fing an zu dampfen. Hyun-Woo griff nach oben und stellte den Abzug an. Danach füllte er unsere Gläser.

*-*-*

„Das war gut“, meinte Hyun-Woo, „Danke!“

Er rieb sich über den Bauch.

„Nichts zu danken“, lächelte ich ihn an.

„Aber trotzdem sollten wir überlegen, ob wir heute Abend nicht So-Woi und Jack einladen sollten, damit wir den Berg von Essen etwas minimieren können. Ich würde ungerne etwas wegwerfen.“

„Klar, ruf gleich an, sie können meinetwegen jeden Abend kommen, bis der Kühlschrank leer ist.“

Hyun-Woo kicherte und zog sein Handy hervor. Ich stand derweil auf und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Ich lauschte dabei Hyun-Woos Worte und freute mich, als er eine Zeit sagte, wann wir essen wollten. Dann beendete er das Gespräch.

„Ich wollte dich noch fragen, wie das an Silvester anläuft“, fragte ich und setzte mich wieder zu ihm.

„Eigentlich so, wie beim letzten Konzert. Wir schmeißen uns in Schale, schauen uns das Konzert an und feiern anschließend mit den anderen ins neue Jahr. Warum fragst du?“

„Ach Mia hat heute gefragt, wie hier Silvester gefeiert wird.“

„Willst du sie wieder mitnehmen?“

„Ich weiß nicht recht, da haben meine Eltern ja schließlich ein Wörtchen mit zureden. Vielleicht will sie auch bei den Cousins bleiben.“

„Ich denke, die werden keine Probleme damit haben, wir sind schließlich sechs Jungs, die auf sie aufpassen können.“

„Sechs?“

„Ja, du und ich, So-Woi und Jack und Jae-Joong und Juen werden sicher auch mit von der Partie sein.“

An Juen hatte ich nicht gedacht.

„Aber warten wir es ab, was deine Eltern dazu meinen. Mich stört es nicht, wenn deine Schwester dabei ist.“

„Danke“, meinte ich und bedankte mich mit einem Kuss.

*-*-*

Die nächsten Tage standen ganz unter den Vorbereitungen der Gala an Silvester. Die Näherinnen arbeiteten auf Hochtouren und ich wunderte mich, wie sie die ganzen Aufträge bis Silvester schaffen wollten.

Ich verbrachte die meiste Zeit bei meinen Großeltern, zusammen mit meiner Familie, war aber auch oft bei Hyun-Woo und leistete ihm Gesellschaft. Bis dann der große Tag endlich da war.

Die bestellten Anzüge wurden ausgeliefert und am Abend würde sich zeigen, ob sich der große Aufwand gelohnt hatte. Unsere Gruppe hatte sich vergrößert, denn So-Woi hatte meine Cousins ebenso eingeladen.

So war das Problem, ob Mia mitdurfte auch gelöst, hatte sie doch jetzt ihre Cousine Un-Sook zur Seite. Beide Mädels waren natürlich ebenso galant angezogen wie wir Herren. Mit zehn Personen, war ein Wagen des Fuhrparks zu klein.

So fuhr unsere Gruppe mit zwei Wagen vor. Während Jae-Joong es sich nicht nehmen ließ, mit den zwei Damen auszusteigen, schnappte ich mir Tae-Young und Hong-Sik, die schon total nervös waren.

„Einfach lächeln und versuchen geradeaus zu laufen“, meinte ich noch, bevor ich sie vor mir aus dem Van schob.

Natürlich blitzen sofort die Lichter der Kameras auf. Wie schon beim letzten Mal, liefen So-Woi und Jack vorneweg. Jae-Joong folgte mit den zwei Damen, während ich meine Cousins hinter ihnen herschob.

Das Schlusslicht bildeten mein Schatz und Juen. Das Gekreische war enorm und ich befürchtete schon, nach dieser Veranstaltung taub zu sein.

„Ist das immer so?“, rief Hong-Sik neben mir.

„Ja, aber gewöhnen tu ich mich daran nicht!“, rief ich zurück.

Ich hörte meine Namen aus der Menge rufen und ich versuchte zu sehen, woher es kam. Als ich durch die vielen Blitzlichter nichts richtig erkennen konnte, winkte ich einfach. Tae-Young beuge seinen Kopf zu mir.

„Wie lange bist du in Seoul? Du bist ja richtig populär!“

Ich grinste ihn an und zuckte mit den Schultern. Dieses Mal lief So-Woi die Treppe hinauf und bog ungefähr bei der Hälfte nach rechts ab. Dort war eine größere Fläche vor einer riesigen Werbewand.

Dort angekommen bekamen wir Anweisung, wie wir uns aufzustellen hatten und ein neuer Blitzlichtsturm begann. Dieses Mal war es Juen, der sich beschwerte, dass er nicht mehr sah.

*-*-*

Da wir bereits in So-Wois Firma geschminkt wurden, entfiel diese Tortur diesmal. Hong-Sik wehrte sich noch zum Anfang, aber als So-Woi einige Worte mit ihm geredet hatte, ließ er die Schminkerei über sich ergehen.

Dass er danach total über sein Aussehen überrascht war, wunderte mich nicht. Wie beim letzten Mal durchliefen wir wieder die Katakomben des Gebäudes und trafen auf allerlei bekannte Gesichter.

Meine Cousins waren angenehm überrascht, wer mich da begrüßte, denn dieses Mal wurden wir nicht nur wegen So-Woi oder Jae-Joong aufgehalten. Besondern freute ich mich, als ich auf Minho traf.

Er reichte mir nicht die Hand, sondern umarmte mich innig, wobei ich schon die Befürchtung bekam, dass mein Hyun-Woo eifersüchtig werden könnte. Aber sein ehrliches Lächeln zeigte mir, dass er sich mit mir freute.

Natürlich tauchten auch BTS auf und die Umarmerei fing erneut an und nahm kein Ende. Die Anzüge, die wie Uniformen wirkten, sahen toll an ihnen aus, die So-Woi für sie entworfen hatte, sahen toll aus.

Ich freute mich schon auf die Ruhe in der Loge, in der wir das letzte Konzert anschauten. Aber dieses Mal fuhren wir nicht nach oben, sondern wurden direkt zum Konzertsaal geführt. Verwundert schaute ich zu Hyun-Woo.

„Dieses Mal sitzen wir sozusagen in der ersten Reihe“, meinte er zu mir.

Was das heißen sollte, wusste ich nicht, denn vor uns sah ich nur viele runde Tische mit Stühlen. Wir wurden an einer der hintern geführt, wo wir dann Platz nahmen. Nun hatte ich Hyun-Woo auch wieder neben mir, was mir ganz recht war.

„Wenn ich das in der Akademie erzähle, glaubt mir das niemand“, hörte ich Un-Sook sagen.

„Das glaube ich kaum“, meinte So-Woi zu ihr, „die komplette Sendung wird live im Fernseh übertragen und die Kamera schwenkt sicher auch zu unserem Tisch.“

„Wirklich?“, fragte Un-Sook entsetzt und wurde rot.

„Einfach lächeln“, grinste So-Woi und wandte sich wieder zu Jack.

Tae-Young lächelte in unsere Richtung.

„Was…?“, fragte Hong-Sik.

„Wenn ich überlege, dass du am Anfang von Lucas nichts wissen wolltest und ihm eher an die Gurgel gehen wolltest…“

„Da habe ich ihn auch noch nicht richtig gekannt!“

„Und jetzt verdanken wir ihm dieses tolle Abenteuer. Es ist das erste Mal, dass unsere Eltern an Silvester weglassen.“

„Ihr ward noch nie an Silvester weg?“

Alle drei schüttelten den Kopf.

„Nochmal danke!“, sagte Tae-Young.

„Nichts zu danken“, meinte ich verlegen, „So-Woi hat euch eingeladen, nicht ich!“

Die Tische neben uns begannen sich zu füllen. Ich ließ mein Blick durch die Runde unseres Tischs wandern. Während sich Jae-Joong angeregt mit meiner Schwester unterhielt, saß Juen eher still da und schaute immer wieder Richtung Publikum.

„Man könnte meinen, du suchst jemand“, rief ich ihm zu.

„Tu ich auch…“, antwortete er.

Mein Blick wanderte kurz zum Publikum.

„Wenn denn?“, fragte ich verwundert.

„Mein Bruder ist hier!“

Hong-Sik fing an zu kichern und bekam einen Stoß von seiner Cousine Un-Sook.

„Was denn? Weißt du wie viel da hinten sitzen? Das sind Tausende…, wie will er da seinen Bruder finden?“

Un-Sook schüttelte nur den Kopf.

„Weißt du denn wo er sitzt?“, fragte ich.

„Im ersten Rang… auf der linken Seite…, glaub ich.“

Ich sah die Enttäuschung in seinen Augen. Ohne groß zu überlegen, stand ich auf und streckte ihm meine Hand entgegen.

„Komm…! Ihr entschuldigt kurz“, meinte ich zu den anderen und zog Juen den Weg zurück, den wir gekommen waren. Es dauerte etwas bis wir den Weg nach oben gefunden hatten.

„Ruf ihn an!“

„Bist du sicher…, das Konzert fängt gleich an.

„Ruf ihn einfach an und frag wo er sitzt.“

Juen tat, was ihm aufgetragen wurde. Zu seiner Verwunderung bekam er gleich eine Verbindung und ließ sich sagen, wo wir hinmussten. Eilig liefen wir die Treppe hinauf und schnell war der Zugang zu den Rängen gefunden.

Nun hieß es wieder die Treppe hinunter zu laufen. Juen schaute auf die Nummern auf den Sitzreihen und blieb plötzlich stehen. Ich sah, wie ein Mann plötzlich aufstand und sich zu uns durchzwängte.

„Joon…!“, rief Juen plötzlich und fiel dem Mann in die Arme.

Das war also sein Bruder. Ich überlegte schon, ob ich die zwei alleine lassen sollte, aber das trennten sich die beiden wieder.

„Juen, gut siehst du aus…wow, ich wusste nicht, dass mein kleiner Bruder ein gutaussehender Mann geworden ist.“

Ich tippte Juen auf die Schulter.

„Du Juen, ich geh zurück zu den anderen…, wenn du magst, kannst du ja hier bleiben.“

Juen griff nach meiner Hand.

„Joon, darf ich dir Lucas vorstellen? Ihm hast du es zu verdanken, dass ich heute vor dir stehe.“

Natürlich wurde ich rot, nach dieser Aussage. Juens Bruder hielt mir die Hand entgegen, die ich brav mit einer kleinen Verbeugung schüttelte.

„Da muss ich mich wohl bei dir bedanken!“, sagte Joon zu mir.

„Ähm… nichts zu danken, dass habe ich doch gerne gemacht!“, sagte ich verlegen.

„Du Joon, können wir uns nachher noch sehen, ich geh wieder hinunter an meinen Platz.“

Das will ich dir geraten haben, deine Schwägerin will dich unbedingt kennen lernen…“

Er zeigte in die Reihe, wo uns eine Frau zu winkte.

„… sie will sich bei dir noch für die Karten bedanken!“

„Kein Problem“, lächelte Juen.

*-*-*

Das Programm war einfach genial. Anders konnte ich es nicht ausdrücken. Während die Gruppen oder einzelne Sänger ihren aktuellen Liedern brachten, füllte das Moderatoren mit Gästen, meist Schauspieler, die kleinen Pausen zwischen den Liedern.

Besonders freute ich mich über den Auftritt von BTS. Mit lateinamerikanischen Klängen tanzten die einzeln Mitglieder der Gruppe auf die Bühne. Zum Schluss kam Jungkook ganz alleine den Steg vorgetanzt, setzte sich auf einen Stuhl und begann zu singen.

Dieses Lied kannte ich noch nicht, aber gefiel mir sofort, Man konnte einfach nicht still sitzen und wippte mit. Nach und nach kamen auch die anderen Mitglieder zu ihm. Natürlich gröhlte das Publikum wieder mit.

Immer wieder wurde im Chor auch die einzelnen Namen der Sänger gerufen. Aber auch dieses Lied neigte sich dem Ende und erschrocken stellte ich fest, dass es schon kurz vor zwölf war.

Die Tische um uns herum waren leer, denn sämtliche Gruppen und Solisten befanden sich nun auf der Bühne. Das Geschrei hinter uns war groß. Auf den großen Bildflächen erschien eine Zahl, die rückwärts zählte.

Der ganze Saal bebte, als jeder diese Zahl mit rief. Und dann war es soweit. Bei null begann vor uns ein regelrechtes Feuerwerk am Bühnenrand. Konnte man diesen Krach noch steigern. Wir standen mittlerweile und klatschen zum Takt der Musik.

Ich wandte mich zu Hyun-Woo und nahm ihn in den Arm.

„Ein schönes neues Jahr mein Schatz“, raunte ich ihm ins Ohr.

„Das wünsche ich dir auch“, bekam ich zur Antwort, bevor wir beide uns küssten.

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1 Kommentar

    • Andi auf 31. Dezember 2018 bei 11:20
    • Antworten

    Huhu Pit,

    eine schöne, spannende Fortsetzung, leider zu kurz… Freu mich auf die nächste Folge.
    Dir, lieber Pit, und allen anderen Autoren und Lesern wünsche ich einen guten Rutsch ins neue Jahr, viel Erfolg und vor allem Gesundheit. Mögen möglichst viele eurer Wünsche in Erfüllung gehen.

    VglG Andi

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