Harry hatte sich verzogen und ich stand nun vor Tante Abigails Arbeitszimmer. In diesem Teil war ich noch nie gewesen, noch hatte ich gewusst, wie viele Zimmer es hier hinten noch gab. Ich konnte vier weitere Türen ausmachen.
So klopfte ich an die Tür und wartete, dass man mich einließ. Ein „Ja“ war von drinnen zu hören, so öffnete ich die Tür. Vor einem Computer sitzend, traf ich Tante Abigail an.
„Jack? Das ist aber nett, brauchst du irgendetwas?“
„Ja, ich brauche wirklich etwas. Hättest du für mich eventuell einen Umschlag mit Marke, ich würde gerne einen Brief wegschicken.“
„Klar kannst du das haben, aber sag mal, schreibst du keine Emails?“
„Doch“, grinste ich, „mir war einfach nach einem Brief.“
„Gut“, lächelte sie mich an.
Sie zog eine Schublade ihres Schreibtischs auf und zauberte etwas später das Gewünschte hervor.
„Ähm… da wäre noch eine Frage.“
„Die wäre?“
„Gibt es hier irgendwo einen Briefkasten?“
*-*-*
Mein Retter war Taylor, der sich bereit erklärte, meinen Brief mitzunehmen und bei sich im Ort später einzuwerfen. Eine traurige Seite hatte diese Rettung aber auch, ich würde eine weitere Nacht ohne meinen Schatz verbringen.
Das Geheimnis der vier weiteren Zimmer, war auch schnell gelüftet, denn Tante Abigail hatte eine kleine Führung arrangiert. Neben ihrem Zimmer und einem Bad war da auch noch Grandpas Zimmer, der ebenso über ein eigenes Bad verfügte.
In Grandpas Zimmer verharrte ich noch etwas, als ich die Wand mit den vielen Bildern sah. Ich entdeckte mein Foto, dass er von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, neben dem meines Vaters.
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte man uns für Zwillinge halten können. Klar hatte ich laufend zu hören bekommen, dass ich wie mein Vater aussehe, aber diese Ähnlichkeit hätte ich nicht für möglich gehalten.
Mein Magen meldete sich und ich sah auf die Uhr. Ich war den Morgen auf dem Zimmer geblieben und hatte die Zeit mit Internet und lesen weiterer Brief verbracht. Es war schon Mittagszeit und die anderen saßen sicher bereits am Tisch.
Umso mehr überraschte es mich dann, dass ich der erste im Esszimmer war. Etwas traurig schaute ich auf Grandpas Stuhl, der leer war und ließ mich auf meinem Stuhl nieder. Die Tür ging auf und Mum kam lächelnd herein.
„Abigail, ich komme zwar gerade aus dem Krankenhaus, aber mir geht es soweit gut, dass ich alleine laufen kann!“
Das war Grandpas Stimme. Ich sprang auf und lief zu Mum, die immer noch an der Tür stand. Im Eingangsbereich sah ich dann auch Tante Abigail mit Grandpa, der mich nun anlächelte, als er mich bemerkte.
„Hallo Jack!“
„Hallo Grandpa…, ich wusste nicht, dass du wieder da bist, niemand hat mir etwas gesagt.“
Dann sah ich, dass wir noch einen weiteren Gast zum Mittagessen hatten. Hinter Tante Abigail stand da auch noch Gregory. Fragend sah ich zu Mum.
„Ja, du hast heute Morgen einiges verpasst. Aber nach dem wir alle fanden, dass du Ruhe brauchst, nach dem gestrigen Tag, haben wir dich in Ruhe gelassen“, erklärte mir Mum.
Und ich hatte mich schon gewundert, warum es in meinem Zimmer nicht wie sonst, wie auf einem Durchgangsbahnhof zuging,
„Dass ihr Grandpa nach Hause holt, hättest du mir aber schon erzählen können“, sagte ich vorwurfsvoll, „und wie kommt Gregory hier her?“
„Das hört sich so an, als hättest du etwas dagegen, dass Gregory hier ist“, kam es von Tante Abigail.
„Nein, das stimmt nicht, ich hätte nur gern Bescheid gewusst… na ist jetzt auch egal.“
Mum hängte sich bei mir ein.
„Jetzt spiel doch nicht gleich die beleidigte Leberwurst. Wir waren selbst überrascht, als ein Anruf aus dem Krankenhaus kam und uns mitgeteilt wurde, dass dein Großvater, abgeholt werden möchte und weil ich Abigail nicht alleine fahren lassen wollte, bin ich mitgefahren,“
„Und meinem Vater war es natürlich nicht auszureden, nach dem was gestern vorgefallen war, höchst persönlich bei den Hamiltons vorbei zu schauen und sich zu entschuldigen“, fügte Tante Abigail, Mums Erzählung hinzu.
Ich schaute zu Gregory.
„Ich bin unschuldig, ich wurde von diesen zwei… „Tanten“ entführt!“, begann sich Gregory zu wehren.
Das handelte Gregory einen kleinen Klaps auf den Hintern ein.
„He, ich sagte dir doch, ich will das Wort Tante nicht mehr hören“, beschwerte sich Tante Abigail lächelnd.
Grandpa strahlte über das ganze Gesicht.
„Lasst uns Essen“, meinte er, „ich habe Hunger.“
„Das hört sich gut an“, meinte Tante Abigail und Mum zog mich zurück ins Esszimmer.
Ganz gegen meine Erwartungen gab es heute das einfache „Fish n‘ Chips“ zum Essen. Aber Caitlins panierter Fisch sah natürlich viel leckerer aus, als ich es aus den Fastfoodbuden in London kannte.
Wo ich sonst nur Pommes gewohnt war, wurden richtige gebackene Kartoffelstücke gereicht. Auch Gregory schien es zu schmecken. Ich schaute den Tisch entlang.
„Wo sind eigentlich die anderen?“, fragte ich dann verwundert, weil mir plötzlich auffiel, dass die Ruhe am Tisch, nicht wie sonst, von Sabrina unterbrochen wurde.
„Henry hat die drei heute Morgen nach dem Frühstück ins Auto verfrachtet und ist mit ihnen nach Newbury gefahren, was sie aber genau dort wollten, weiß ich nicht“, erzählte Tante Abigail.
„Sie wissen also nicht, dass Grandpa wieder zu Hause ist?“
„Nein!“, meinte Mum, „auch nicht, das die Hamiltons heute Mittag zum Tee kommen, dein Grandpa hat sie eingeladen.“
Erstaunt schaute ich zu Grandpa, der mich immer noch anlächelte. Ich überlegte kurz.
„Dann werde ich mich mit Gregory und Grandpa kümmern, denn ihr seid ja dann beschäftigt.“
Mum legte ihre Stirn in Falten und sah mich fragend an.
„Wieso?“, fragte Tante Abigail.
„Irgendwer muss doch Caitlin helfen, diese wunderbaren Sandwiches zu machen!“
Alle fingen an zu lachen.
*-*-*
Da sich Grandpa hingelegt hatte und ich nicht noch mehr Zeit in meinem Zimmer verbringen wollte, Gregory war ja auch noch da, beschlossen wir auszureiten. Besser gesagt, ich beschloss es, denn mein Cousin hatte sagen wir mal großen Respekt vor den Tieren.
Gab es da nicht einen besseren Lehrmeister fürs Pferd und Reiten, als mein Schatz? Als wir zum Stall kamen hatte James mit Taylor bereits drei Pferde gesattelt. Tiara schien mich jetzt wirklich schon zu kennen, denn sie hob den Kopf, als sie meine Stimme hörte.
„Hallo James“, begrüßte ich den Stallwart.
„Hallo Jack, das reiten scheint dir wohl wirklich Spaß zu machen.“
„Ich würde lügen, wenn ich es abstreiten würde“, lachte ich, „darf ich ihnen meinen Cousin Gregory vorstellen?“
„Ja, guten Tag Gregory, Taylor hat mir schon von ihnen erzählt.“
Gregory schüttelte ihm nickend die Hand.
„Ähh, sie können ruhig du zu mir sagen…, James…ich bin so alt wie Jack.“
„Kein Problem“, sagte James.
Während mir Taylor aufs Pferd half und James in den Stallungen verschwand, stand Gregory etwas abseits. Sein Blick wirkte leicht ängstlich. Ich strahlte Taylor an.
„Ich hoffe, du wirst jetzt nicht gleich eifersüchtig?“, flüsterte er mir zu, bevor er sich Gregory zuwandte.
„Hä?“, war alles, was ich herausbrachte, was meinte er?
„Gregory, darf ich dir auch helfen?“
Der zuckte zusammen, als Taylor ihn ansprach.
„Bist…, bist du sicher…, das Pferd … mag mich?“, stotterte Gregory plötzlich.
„Aber sicher doch. Pferde spüren, wenn man es gut mit ihnen meint. Darf ich?“
Taylor hob seine Arme an. Gregory nickte verschüchtert. Mein Schatz ging zu Gregory legte seinen Arm um dessen Rücken und griff nach seiner Hand. So schob er meinen Cousin Richtung Pferd.
Ach so, dass meinte er damit, ob ich eifersüchtig werden würde. Ich wusste gar nicht, wie er auf den Gedanken kam, das war doch Gregory.
„So und nun streckst du die Hand langsam aus und lässt Magelan an deiner Hand schnuppern“, erklärte Taylor und hob Gregorys Hand an.
Ein Hengst also. Das Tier hob seinen Kopf und schnupperte an Gregorys Hand und wiehrte leise. Ich strich Tiara langsam am Hals entlang und beobachtete die beiden weiter.
„So, jetzt kannst du ihn ganz vorsichtig an seinen Nüstern streicheln, das mag er“, redete Taylor weiter.
„Nü… üüstern?“, kam es von Gregory.
Deutlich sah ich, wie er sich ängstlich gegen meinen Schatz lehnte. Taylor grinste.
„Die Nase von Magelan…“, erklärte er und führte wieder Gregorys Hand. Teil.
Langsam strich nun mein Cousin über die besagte Stelle.
„Das ist ja ganz weich und warm“, meinte Gregory überrascht.
„Genau“, meinte Taylor und ließ seinen Arm sinken, der die ganze Zeit um Gregory lag.
Er reichte Gregory seine Handschuhe und führte ihn auf die Seite des Pferdes. Taylor erklärte ihm kurz, so wie mir damals, wie das mit dem reiten so ging. Nur mühsam schaffte es mein Freund, Gregory aufs Pferd zu setzten. Auch bei ihm stellte er die Bügel ein.
Dann band er Magelan los und zog das Pferd samt Gregory zum dritten Pferd. Schwungvoll saß Taylor aus und lächelte nun wieder zu mir.
„So, kann es los gehen?“
Ich nickte. Da Gregory wie ich vorher nun auch zum ersten Mal auf einem Pferderücken saß, hatte sich Taylor wohl gedacht, aus Sicherheit Magelan an die Leine zu nehmen und Gregory samt Pferd zu führen.
„Nicht erschrecken“, meinte Taylor noch zu Gregory, als er an der Führungsleine des Pferdes zog.
*-*-*
Alle drei hatten wir roten Wangen, es war trotz Sonnenschein recht kalt. Die Führungsleine zwischen Taylor und Gregory hing nun leicht durch, denn mein Cousin ritt nun zum ersten Mal alleine.
Stolz und strahlend kam er mit uns zum Gut zurück. Als wir gerade den Stall erreichten, sah ich, dass ein Wagen vor das Haus fuhr und Gregorys Großeltern ankamen. Wie immer trat Tante Abigail vor das Gebäude.
„Da kommen wir gerade richtig, deine Großeltern sind da“, meinte ich zu Gregory.
„Wirklich?“
Er schaute wie ich zum Eingangsbereich des Hauses.
„Omaaaaa…Opaaaa, schaut mal“, rief er laut.
Die beiden genannten, drehten ihre Köpfe zu uns, die gerade von Tante Abigail begrüßt wurden.
Alle drei kamen auf uns zu gelaufen.
„Junge, ich wusste gar nicht, dass du reiten kannst!“, rief ihm seine Großmutter entgegen.
„Kann ich auch nicht“, lachte Gregory.
Die Angst vor dem Pferd schien er völlig abgelegt zu haben.
„Taylor hat mein Pferd, die ganze Zeit geführt und Magelan“, Gregory klopfte dem Pferd leicht auf den Hals, „ist ein ganz lieber!“
Es war das erste Mal, dass ich Mr. Hamilton lächeln sah. Taylor war bereits abgestiegen und half nun Gregory vom Pferd. Ich musste mich alleine abmühen.
„Schönens Tier!“, meinte Mrs. Hamilton und strich Magelan sanft über dessen Nüstern.
„Hast du keine Angst?“, fragte Gregory verwundert.
„Nein, warum sollte ich Angst haben“, antwortete Mrs. Hamilton, „ich bin früher viel geritten, so habe ich ja auch schließlich deinen Großvater kennen gelernt.
Dieser lächelte leicht verlegen.
„Das habe ich gar nicht gewusst, du kannst auch reiten Opa?“
Mr. Hamilton nickte.
„Es ist aber schon eine Weile her“, meinte er dann.
„Wollen wir hinein gehen, der Wind frischt auf“, sagte nun Tante Abigail und zeigte Richtung Wohnhaus.
Mrs. Hamilton hängte sich bei Gregory ein und zog ihn Richtung Haus. Mein Cousin drehte den Kopf.
„Danke Taylor, das war phantastisch, das müssen wir unbedingt mal wiederholen!“
„Kein Problem und das nächste Mal, versuchst du es alleine, okay?“
„Naja… ich weiß nicht“, antwortete Gregory unsicher.
Sein Großvater fing an zu lachen.
Als sich die vier entfernt hatten lief ich Taylor hinterher in den Stahl. Dort angekommen sah ich, wie er gerade begann die Pferde von ihren Satteln zu befreien. Überrascht schaute er zu mir, strahlte mich aber dann an.
„Danke!“, meinte ich.
„Für was?“
„Dass du Gregory die Angst genommen hast!“
„Dafür brauchst du dich nicht bedanken. Ich finde es toll, dass es einen weiteren Menschen gibt, der nun Pferde mag!“
Ich grinste ihn an, ging zu ihm hin und küsste ihn einfach.
„Ich muss leider rein, sehen wir uns später noch?“
„Gerne“, beantwortete Taylor meine Frage und küsste nun mich.
*-*-*
Mittlerweile war auch der Rest der Familie eingetroffen und am Tisch, sagen wir mal so, war die Lautstärke wesentlich größer, als noch beim Mittagessen. Das lag wohl daran, dass Gregory seinen Cousins und Sabrina vom Reiten vorschwärmte.
Meine volle Aufmerksamkeit hatte Grandpa, der sich die ganze Zeit mit den Hamiltons unterhielt. Diese saßen ganz ungewohnt mir gegenüber und Mum mit Onkel Henry neben mir. Tante Abigail hatte neben Mr. Hamilton Platz genommen.
Während das restliche Jungvolk, am anderen Ende des Tisches, ihren Spaß hatten, ging es auf dieser Seite des Tisches etwas ernster zu. Natürlich wurde von Sophia gesprochen, aber auch über die Zukunft von Gregory.
Ich saß die ganze Zeit still zwischen Grandpa und Mum und hörte einfach nur zu. Das Gespräch war etwas traurig geworden, als Gregorys Vater zur Sprache kam. Mum hatte sich meine Hand unter dem Tisch gegriffen und hielt sie die ganze Zeit fest.
Sie lächelte mich an, während ich bei Tante Abigail feuchte Augen erkennen konnte.
„Ich versichere euch, Gregory ist hier jederzeit willkommen“, meinte Tante Abigail.
Man war irgendwann zu dem du übergangen, gehörten diese Familien doch irgendwie zusammen. Grandpa griff nun nach meiner anderen Hand, und lächelte mich an.
„Das haben wir alles dir zu verdanken, Jack“, meinte er und drückte nun meine Hand.
Meine rechte Hand wurde aus ihrem Gefängnis unter dem Tisch entlassen und Mum lächelte mich aufmunternd an.
„Zuviel der Ehre, Grandpa, da haben alle daran mitgewirkt!“.
„Ich kann mich Vater nur anschließen, Jack“, kam es von Henry, der die ganze Zeit geschwiegen hatte“, ich habe meine Kinder schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.“
Alle schauten nun ans andere Ende des Tisches, wo Gregory, Jayden, Molly und Sabrina ihre Köpfe zusammensteckten und immer wieder lachten. Mein Gesicht färbte sich tief rot.
„Deine Bescheidenheit in allen Ehren“, meinte nun Opa Edward, wie ich ihn jetzt nennen durfte, „ich habe Gregory seit dem Tod seine Vaters nicht mehr so fröhlich gesehen. Danke!“
Oma Isabelle nickte zustimmend. Ich sah zu Mum.
„Das ist alleine dein Verdienst!“, sagte sie.
„Ich weiß nicht…, was ich darauf sagen soll“, meinte ich und kratze mich verlegen am Hinterkopf.
„Am besten nichts, lass es einfach so stehen, Jack“, sagte Tante Abigail.
*-*-*
Zu fünft saßen wir nun auf meinem Bett und Gregory und mir wurde berichtet, was Jayden, Sabrina und Molly den Tag über in Newbury angestellt hatten. Das Gespräch wurde durch Klopfen an meiner Tür unterbrochen. Der Kopf von Taylor erschien.
„Ähm…, Gregory, deine Großeltern wollen aufbrechen…, soll ich ausrichten.“
„Schade“, meinte Sabrina, jetzt wo es gerade so lustig ist.“
„Gregory kann doch Morgen wieder kommen“, sagte Jayden.
„Dann muss ich mich wohl verabschieden“, kam es von Gregory, der sich nun auch erhob.
„Ich denke, wir sollten uns unten alle von Gregorys Großeltern verabschieden“, sagte ich.
Alle setzten sich nun in Bewegung und ich sah, dass Taylor wohl bereits geduscht hatte, denn er trug keine Arbeitskleidung mehr. Ich griff lächelnd nach seiner Hand und strömten mit den anderen hinunter.
Eine kleine Verabschiedungsorgie begann nun vor dem großen Weihnachtsbaum und endete damit, dass wir vor dem Haus standen und dem wegfahrenden Auto hinterher winkten. Als wir dann wieder das Haus betraten, wandte sich Mum an mich.
„Was hältst du von dem Vorschlag, wenn du ein paar Sachen in deine Rucksack tust und mit Taylor mitfährst.“
„Ich soll was?“