Space – Teil 6

Für Dodo und Cey, dem Bastard!

Myridia Prime, Rob&Kal:

 Rob drehte sich herum und schaute der langsam kleiner werdenden Sonne Myridias hinterher.

Das kleine Raumschiff beschleunigte und ein flaues Gefühl einer düsteren Vorahnung breitete sich in seinem Magen aus.

„Wohin geht es, Kal?“, fragte er. Sein ehemaliger Kopilot hatte ihn betörend überredet, ihn auf eine Reise zu begleiten. Ziel oder Zweck hatte er ihm nicht entlocken können, doch nicht einmal die primitiven Speaker der Kommunikationsanlage hatten die Aufregung in Kalimeros Stimme verbergen können.

„Nur zwei Tage Flug, Rob. Dann haben wir ein Rendezvous mit der Vergangenheit.“

Rob Spatos Augen verloren sich trüb in der Ferne.

 Irgendwo in Missouri, Tom&Huck:

 

“Verdammter Kater!”, meinte Tante Polly. „Den ganzen Abend jault der schon vor dem Haus herum.“

Tom saß mit ihr und seinem Bruder am Abendbrottisch, konnte kaum stillsitzen. Auch er hatte das Miauen von der Veranda gehört. Am liebsten wäre er schon längst aus dem Esszimmer gestürzt, aber Regeln waren Regeln und seine Tante eine sehr ernstzunehmende Persönlichkeit. Also musste er notgedrungen warten, bis auch die anderen ihre Mahlzeit beendet hatten.

„Liebestolles Biest!“, fluchte Polly. Tom horchte auf. „Ich erkenne diesen Ton“, fuhr sie fort. „Der ist hinter unserer Kitty her. Jeden Abend maunzt er auf unserer Veranda.“

Tom lächelte leise und starrte auf die Gabel seiner Tante. Nur noch zwei Bissen mit wässrigem Kohl und er würde erlöst sein. Aber seine Tante dachte nicht daran, aufzuessen, jammerte weiter.

„Ach diese Katzen bringen mich noch unter die Erde. Nie kann ich ruhig schlafen! Berauschte Kreaturen!“. Trotz ihrer spöttischen Worte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, so als würde sie sich in der Ferne der Erinnerungen verlieren. Für einen Moment wirkte sie friedlich, sanft, aber dann mit einem Mal schüttelte sie sich aus ihrer Trance und…schlang endlich den letzten Bissen hinunter.

„Nacht, Tante!“, rief Tom sofort, sprang auf wie der Teufel, drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange und hastete barfuß die Treppe hinauf. Er hatte kaum sein Zimmer betreten, da öffnete er auch schon das Fenster und kletterte sofort wieder behände heraus.

Die Regenrinne heruntergerutscht wartete auch schon sein Freund Huck auf ihn.

„Das hat ja ewig gedauert“, beschwerte sich der blonde Junge empört. „Ich habe seit einer Stunde vor eurer Veranda herummiaut!“

Wie Tom war er barfuß und trug eine viel zu weite Hose, die nur durch ein paar Hosenträger oben gehalten wurde. Seine Haare waren ungekämmt und zerstrubbelt, einige Kratzer von Brombeerbüschen hatten sein Gesicht aufgerissen, aber seine Augen leuchteten im Mondlicht.

„Wir haben spät zu abend gegessen“, erklärte Tom die Situation.

„Na!“, meinte Huck schulterzuckend. „Ist ja jetzt auch egal!“. Das Lächeln eines Engels legte sich auf sein Gesicht, Tom kannte ihn gut, er konnte nie länger als fünf Sekunden auf jemanden böse sein. „Und was machen wir heut nacht? Wir könnten auf den Friedhof gehen!“, schlug er vor, „Der alte Cassidy soll doch morgen verbuddelt werden!“

„Nein!“, Tom zuckte mit den Schultern, „Auf Geistergeschichten habe ich heute keine Lust!“

Huck wirkte ein klein bisschen enttäuscht. Dann hellte sich sein Gesicht wieder auf.

„Gehen wir an den Fluss?“, fragte er aufgeregt. „Wir könnten versuchen, ein paar Hummer zu fangen. Nachts kommen sie gerne heraus. Und ich habe die letzen beiden Tage wieder nur trockenes Brot bekommen!“

Tom schüttelte den Kopf und starrte selbstverliebt in den Himmel.

„Keine Lust“, meinte er auch dieses Mal, „Komm! Wir gehen auf Harpers Dach!“

Huck zuckte nur mit den Schulter und folgte ihm dann.

Der Farmer Harper hatte eine riesige Scheune. Das Dach war flach und mit einer schwarzen Teerpappe bedeckt. Tom wusste, wo in der Scheune die Leiter versteckt war, und es dauerte nur zehn Minuten, sie aufzustellen und auf die Scheune zu klettern.

Der schwarze Teer hatte den ganzen Tag die Sonnenhitze in sich aufgesogen. Jetzt strahlte er sie wieder ab, hinein in den Nachthimmel. Wenn man hier lag und die Augen schloß, konnte man noch meinen es wäre Tag, so heiss war die Pappe. Nur dass die Wärme von unten strahlte, nicht aus dem Himmel. Tom legte sich nieder und genoß. Er spürte Huck neben sich.

Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: „Tante Polly hat dich für einen verliebten Kater gehalten. Sie meinte, du wärst hinter Kitty her.“

Er lachte hell und verspielt auf.

Huck blieb still.

Endlich öffnete Tom die Augen wieder. Über ihm strahlte der volle Sternenhimmel. Er fühlte sich wohl und hellwach. Unbesiegbar. Diese Welt mit alle ihren Wundern wartete nur auf ihn.

„In einer Woche ist Schulball!“, meinte er überraschend.

Huck lehnte sich verwundert auf. Neugierig und bestürzt schaute er seinen besten Freund an. Er ging ja nicht zur Schule. Es war der kleine Teil der Welt, die er nicht mit Tom teilte.

„Ich habe Becky dazu eingeladen!“, fuhr Tom fort. „Ich werde einen feinen Anzug tragen und sie ein Kleid mit Blumen. Wir werden tanzen. Das gehört sich so.“

Er schaute seinem Freund strahlend in die Augen.

„Ich glaube, Becky wird die sein, die ich eines Tages heirate. Ich habe zugehört, was die Mädchen tuscheln. Nach dem Schulball…wenn ich sie nach Hause bringe…ich werde sie küssen!“

Hucks Augen waren geweitet. Tom sah ihn schlucken.

„Ist ja ein Ding“, meinte er. Seine Stimme wirkte ein wenig geknickt. Mehr sagte er nicht.

„Du bist ziemlich still heute“, meinte Tom. „Du solltest dich für mich freuen. Ich habe noch nie ein Mädchen geküsst. Es wird sicher aufregend.“

„Ich finde den Gedanken ekelhaft“, meinte Huck verstimmt.

Tom lachte wieder.

„Nein, wenn man verliebt ist, ist es ganz und gar nicht ekelhaft. Ich bekomme Herzklopfen, jedesmal wenn ich daran denke. Und ich bin nervös! Komisch, oder? Man kann doch nichts dabei falsch machen!“

Huck betrachtete ihn mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen in seinem Gesicht.

„Ich weiß nicht“, meinte er dann zögerlich. Seine Augenbrauen zitterten leicht, Tom wusste, das war ein Zeichen, dass sein Freund an einer neuen Idee kaute.

„Ich habe Frauen schon über Männer lachen hören“, meinte er dann, sich aufspielend. „Weil sie schlechte Küsser waren!“

Tom setzte sich erschreckt auf.

„Was?“, fragte er. „Na toll, jetzt bin ich noch nervöser als vorher. Woher soll ich wissen, ob ich ein guter Küsser bin? Es ist das erste Mal. Wenn ich Becky enttäusche…“

Er sah Huck direkt in die Augen. Huck starrte genau so intensiv zurück.

„Wir…?“, meinte er.

„…könnten üben!“, vervollständigte Tom seinen Satz. Er musste sich stark beherrschen, um sein inneres Grinsen zu unterdrücken.

„Warum nicht!“, meinte Huck, plötzlich heiser. „Bevor du deine Becky enttäuschst!“

Er lag direkt neben Tom auf dem Dach. Sein Gesicht war nur eine Handspanne von dem seines Freundes entfernt. Langsam und zögerlich näherte er sich. Als er nur noch wenige Zentimeter von Toms Mund entfernt war, hielt er inne und schloss die Augen.

Tom lächelte, dann bewegte er seinen Kopf nach vorne. Seine Lippen berührten die seines Freundes. Er hielt erschreckt inne, dann verstärkte er leicht den Druck. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Hucks Mund öffnete sich leicht und Tom spürte auf einmal denselben Wunsch in sich. Er drückte schnell einen Schmatzer auf die anderen Lippen, dann zog er sein Gesicht zurück.

Huck öffnete die Augen und starrte ihn schwer atmend an.

„Wie war das?“, fragte Tom angespannt.

„Nicht übel!“, keuchte Huck. „Wie fandest du es?“

Er schwieg. Die leichte Heiterkeit in seiner Stimmung war verflogen.

„Ganz anders als ich es mir vorgestellt habe“, meinte er. „Viel…intensiver!“

Auch Huck schaute sehr ernst.

„Möchtest du…?“, setzte er an, aber da war Toms Kopf schon wieder nach vorne geschossen, verschloss die Worte durch einen weiteren Kuss.

Diesmal war es kein vorsichtiges Herantasten mehr. Tom hatte seine Lippen fest auf Hucks gepresst, sein Mund war leicht geöffnet und ein elektrisches Kribbeln durchfuhr seinen gesamten Körper, als er seinen Freund schmeckte. Er legte seine Hand zärtlich um dessen Kopf, striff durch sein zerwuscheltes Haar, dann packte ihn Huck plötzlich, zog ihn auf sich, rollte mit ihm in den Armen zur Seite.

Tom sog ihn in sich ein, genoss seine Wärme. Der Teergeruch, die von allen Seiten einstrahlende Wärme, das Gefühl von Hucks warmer Haut…alles war perfekt. Er begriff, dass dieses jener eine Sommer seiner Kindheit war, an den er sich sein ganzes Leben zurückerinnern würde. Er küsste seinen Freund bis ihm beinahe schwarz vor Augen wurde, dann zog sich Huck zurück, ließ ihm Zeit zu atmen.

„Willst du…“, schnaufte er errötet und sein Blick war zornig, „Willst du wirklich am Samstag diese Becky küssen?“

Tom begriff, dass das Spiel vorüber war.

„Aber natürlich nicht!“, beruhigte er seinen Liebsten. Er legte seine Arme um Hucks Nacken, zog ihn wieder nahe zu sich.

„Natürlich nicht“, flüsterte er sanft. „Warum sollte ich so dumm sein?“

Huck beruhigte sich. Tom spürte, wie er sich entspannte, wie sein Körper mit dem seinigen zusammenschmolz. Dann veränderte er sich völlig.

Hucks Erscheinung flimmerte ein wenig, dann blähte sie sich auf. Der Körper streckte sich, die Haare wurden geglättet und die Kratzer verschwanden. Crispins Gesicht erschien auf den jugendlichen Zügen.

„Das ist intensiv gewesen!“, flüsterte der erwachsene Terraner ergriffen.

Tom lächelte, dann gab auch er sein Hülle auf, änderte sich, wurde zu Kalimero.

„Hat es dir gefallen?“, fragte er nach.

Crispin nickte ergriffen.

„Ich fühlte mich wirklich verliebt. Wie zum ersten Mal. Woher hast du diese Geschichte?“

Kalimero zuckte mit einer Augenbraue.

„Es ist eine Kindergeschichte. Sehr alt. Von der Erde, der Autor hieß Mark Twain. Natürlich waren in der wirklichen Geschichte die beiden Jungen kein Liebespaar. Aber ich habe es mir vorgestellt, als ich diese Geschichte gelesen habe. Ich habe mir meinen eigenen Tom Sawyer zusammengebastelt.“

Crispin nickte verstehend.

„Danke!“, meinte er dann. „Es ist jetzt fast wie eine Erinnerung. Mein erstes Verliebtsein.“

„Möchtest du mehr?“, fragte Kal.

Crispin nickte gierig.

 

Unterwegs, Rob&Kal:

 

“Willst du mir immer noch nicht erzählen, wohin es geht?”, fragte Rob entnervt.

Er ging energisch den einen Meter, der ihm im Schiff zur Verfügung stand, hin und her. Mehr Platz gab es in dem kleinen Raumschiff nicht, immerhin war es nur für zwei Mannschaftsmitglieder entworfen worden. Rob war kleinere Jäger gewohnt, Raumschiffe, in die man sich schlauchartig hineinquetschen musste, aber hier konnte man wenigstens stehen und sich auf minimale Weise die Beine vertreten.

„Vertrau mir einfach!“, meinte die Stimme aus der Computerkonsole. „Es dauert nicht mehr lange. Wir haben schon den letzten Warp-Punkt durchflogen.“

Rob nickte langsam. Er mochte es nicht, nur auf Autopilot zu fliegen. Er fühlte sich eingezwängter, als wenn er sich angeschnallt auf dem Pilotensessel befunden hätte. Wenigstens wäre er Herr der Lage gewesen und hätte die Unendlichkeit der Sterne in seinem direktem Sichtfeld gehabt. Frustriert reckte er sich, streckte seine Arme und Hände in die Höhe bis es in seinem Rücken laut knackte.

„Du kannst mir ruhig etwas mehr erzählen, Kal! Was ist das für eine Zusammenkunft, von der du mir erzählt hast? Haben noch viele Menschen die Zerstörung der Erde überlebt? Wieso ist es so wichtig, dass ich diese Menschen treffe?“

Die Stimme aus der Konsole schwieg. Dann unmittelbar fragte sie

„Wann hast du versucht, dich umzubringen, Rob?“

Der Pilot erstarrte in seiner Bewegung. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht.

„Das habe ich nicht!“, antwortete er zögernd.

„Rob!“, sprach die Stimme aus dem Computer geduldig.

„Ich kann dich sehen. Es gibt einen Infrarotsensor in der Konsole. Und über der Lebenserhaltung befindet sich ein UV-Detektor. Mit den richtigen optoelektronischen Filtern habe ich hier ein ziemlich gutes Bild von dir. Ich kann die Narben an deinen Handgelenken sehen, Rob!“

Spato starrte eingeschüchtert auf die Computerkonsole vor sich. Sein alter Freund war ihm immer noch ein Rätsel. Ein Geist, wie er sich selbst bezeichnete, ein Computerprogramm das die Seele eines einst lebenden Menschen enthielt. Kal war in der Lage, Dinge wahrzunehmen, zu deinen ein normaler Mensch keinen Zugriff hatte. Er konnte sich mit Lichtgeschwindigkeit auf jeder elektromagnetischen Welle durch das Vakuum des Weltraums bewegen. Ja, wenn er eine Funkverbindung aufrecht hielt, konnte er sogar an zwei Plätzen gleichzeitig existieren, ein Verstand, der mehrere Computer gleichzeitig bediente. Es war schwer, etwas vor ihm auf Dauer zu verbergen.

Langsam senkte er seine Schultern wieder, schlenkerte mit seinen Händen, auf deren Gelenken deutlich gut verheilte Narben erkennbar waren,  vor und zurück.

„Nein“, sagte er kalt. „Ich habe es nicht versucht. Ich habe es getan. Für zwei Stunden und 20 Minuten war ich tot.“

Er schluckte.

„Aber die Snirvellin haben mich zurückgeholt. Ihre medizinische Technologie ist auf demselben Stand, wie ihn die Terraner erreicht hatten. Mein Körper war schnell wieder zusammengeflicht. Aber sie sind Telepathen. Es ist ihre Spezialität, Geister zurückzuholen.“

Endlich setzte er sich auf den Pilotensessel, sackte zusammen.

Wann hast du versucht dich umzubringen, hatte ihn Kal gefragt, wann… Nicht warum. Als ob das warum völlig klar war. Verständlich und gerechtfertigt…

„Nun“, ging Kalimeros trockene Stimme auf seine Antwort ein, „Sieh es doch als einen Neuanfang. Dein zweites Leben. Mach etwas anderes daraus, dieses Mal!“

Ein Geräusch wie der Versuch eines Lachens klang aus dem Lautsprecher. Es wirkte nicht sehr echt.

„Du meinst mein viertes Leben“, berichtigte ihn Rob Spato. „Langsam werde ich ein echter Experte im Sterben!“

Auch er würgte ein kleines Lachen heraus.

„Ich starb schon auf der Erde, noch bevor ich SFF-Pilot geworden bin. Ein Tauchunfall. Mein BCD versagte mitten im Polarmeer. Ich starb, aber in dem eisigen Wasser war mein Körper wie tiefgefroren, sogar die menschlichen Ärzte konnten mich zurückholen. Ich habe eine künstliche Lunge bekommen. MedCorp. Chris’ Wunderknaben!“

Er klopfte sich mit einer Hand wie nebensächlich auf die Brust.

„Mein zweites Leben gehörte der SFF. Und sie nahmen es. Schickten mich auf diese Selbstmordmission. Hielten mich in einem todesähnlichen Zustand, bis ich durch die Tronarblockade geschmuggelt worden war. Aber mit dem dritten Leben war ich frei. Hatte das Recht, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und dieses Leben wegzuwerfen.“

Er hörte abrupt auf zu reden, starrte gedankenverloren auf die Konsole vor ihm.

„Dachte ich“, fuhr er dann vor. „Aber die Snirvellin ließen mich nicht damit machen, was ich vorgesehen hatte. Sie holten mich gegen meinen Willen zurück. Danach schuldete ich ihnen nichts mehr.“

Er fuhr mit einer Hand über sein in angestrengter Miene verzogenes Gesicht.

Warum nicht weiterreden? Er war so schön in Fahrt. Sollte sein einstiger Freund doch erfahren, was er inzwischen wirklich geworden war.

„Ich habe meinen Retter getötet, Kal“, krächzte er. „Sobald ich in der medizinischen Abteilung zu mir gekommen war, habe ich diesen widerlichen Snirvellin-Schädel in beide Hände genommen und immer wieder gegen die Wand geklatscht, bis er endlich aufbrach. Sie sind Telepathen. Ich musste mir nur in Erinnerung rufen, wie ich ihn getötet habe, und sie wichen entsetzt vor mir zurück. Ich musste mir nur vorstellen, wie ich jeden einzelnen von ihnen mit bloßen Händen erwürgen würde, und sie brachen in Panik aus. Meine Mordlust war die perfekte Waffe gegen sie. Ich habe ungehindert eins ihrer Schiffe betreten können. Und damit habe ich Snirvell verlassen. Seitdem…nun ich wurde Kopfgeldjäger. Ich tue das, was ich am besten kann. Was die Menschheit mich gelehrt hat. Töten!“

Es war still im Raumschiff. Minutenlang.

Sag doch was, Kal, dachte Spato verzweifelt. Ich weiß, dass es keine Antwort auf diese Beichte gib, aber bitte unterbrich das Schweigen.

Dann fiel ihm der verbrannte Geruch auf.

„Fuck, Kal!“, schrie er, „Was ist das? Check die verfluchten Systeme.“

Der Gestank nach verschmortem Plastik war inzwischen unverkennbar. Da sah er auch schon den weißen Qualm aus einer der seitlichen Konsolen aufsteigen.

„Tut mir leid, Rob, da ist eine Energiefluktuation in Steuerungsmodulen, ich werde versuchen…“

Da zischte es auch schon, das Kabinenlicht begann zu flackern, mehr als 80% der Konsolenanzeigen wurden schlagartig dunkel.

„Na großartig!“, fluchte Rob, „Das hat uns gerade noch gefehlt.“

Er stürzte zu der Konsole, nahm behende aber dennoch vorsichtig die Abdeckung ab, woraufhin noch mehr Qualm in die enge Kabine stieg. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die zerschmolzenen Kondensatoren und Leiterbahnen.

„Fuck!“, fluchte er erneut. „Wie konnte das passieren? Was haben wir verloren?“

Die Antwort kam sofort.

„Die Steuerung ist weg. Ebenfalls Beschleunigung oder Abbremsdüsen. Aber keine unmittelbare Bedrohung, Lebenserhaltung steht. Kommunikation ebenfalls.“

„Das dürfte unsere Pläne ein wenig aufhalten. Ohne Standard-Ersatzteile brauche mindestens einen Tag, um das zu reparieren. Wenn ich es überhaupt schaffe. Vielleicht solltest du lieber einen Notruf absenden, auch wenn ich mich nicht wohl bei dem Gedanken fühle.“

Der Computer schwieg eine Sekunde. Dann meinte er:

„Es gibt eine dritte Alternative!“

Rob setzte sich erstaunt wieder hin.

„Wir sind ziemlich genau auf Kurs zu unserem Ziel. Genauer gesagt, in 23 Minuten kommen wir bis auf 126 km an unserem Ziel vorbei. Du könntest EVA gehen. Mit den Steuerungsdüsen dürftest du in zwei Stunden bis zu unserem Ziel gelangen. Der Sauerstoff im EVA-Anzug dürfte so lange halten.“

Rob warf einen erneuten Blick auf das verschmorte Board. Er war Pilot, kein Mechaniker oder Elektriker. Er hatte nur die üblichen Grundausbildungs-Kurse auf der Akademie belegt. Es war durchaus möglich, dass er das Raumschiff nie wieder flott bekommen würde.

„Okay!“, krächzte er. „Dreiundzwanzig Minuten, da muss ich mich ja schon beeilen. Wir versuchen es!“

Er stand auf, begann Teile des schweren Weltraumanzugs aus dem im Raumschiff integrierten EVA-Kabinett zu nehmen. Langsam legte er ihn an, verband die Komponenten.

„Es tut mir leid, Rob!“, meinte Kal. Seine Stimme klang anders als sonst, wenn das überhaupt durch den Speaker möglich war.

Warum entschuldigst er sich, fragte er sich sekundenlang. Es war doch nicht seine Schuld, dass die Kondensatoren durchgebrannt waren. Oder galt die Entschuldigung etwas anderem?

Jetzt schwieg Kal , selbst wenn er etwas erwidert hätte, Rob setzte bereits den Helm auf und konnte ihn nicht mehr hören. Er checkte den Sauerstoffvorrat, Kal hatte recht, er müsste für mehr als zweieinhalb Stunden zurechtkommen. Trotzdem fühlte er sich leicht beunruhigt von dem Verhalten seines Freundes. Für alle Fälle griff er sich eine Kombinations-Handwaffe aus dem Schrank.

Genau dreiundzwanzig Minuten, nachdem Kal es angesagt hatte, stieß er sich in dem weißen Vollkörperanzug in die Schwere des Alls. Erst als er seine Düsen aktiviert und er den von Kal beschriebenen Kurs eingeschlagen hatte, wurde ihm etwas bewusst.

Kal hatte ihm keinen Vorschlag für den Rückweg unterbreitet.

 

Irgendwo in Texas, Crispin&Kal:

 

Er war beinahe angekommen, zögerlich warf er einen Blick auf den Eingang und hielt inne. Seine Hände waren vor Nervosität eiskalt, er versuchte cool auszusehen und steckte sie tief in die Taschen seiner Lederjacke.

Es ist nur ein Schulabschlussball, sagte er sich, kein Grund sich in die Hose zu machen. Mein zweitletzter, wenn im nächsten Jahr alles glatt geht und ich die Prüfungen schaffe.

Ein andere Junge drückte sich neben ihm vor dem Eingang herum. Er erkannte ihn sofort. Der Neue. Kein Wunder, dass der nervös war. Seit 2 Monaten war er erst an der High, wahrscheinlich kannte er kaum Leute. Und Kal war immer zu schüchtern gewesen, um ihn anzusprechen. Obwohl er ihn seit dem Tag, an dem er ihn zum ersten Mal erblickt hatte, im Auge behalten hatte.

Aber der Neuling wirkte nicht nervös. Im Gegenteil, Kal merkte, wie er ihn auf einmal anlächelte, zu ihm herüberkam.

„Hi!“, sagte er, „Ich kenn dich doch von Politologie? Wollen wir zusammen reingehen?“

Er lächelte ihn auf eine entwaffnende Weise an. „Crispin!“, sagte er, unnötig, Kal wusste längst, wie er hieß. „Kal Vasquez“, antwortete er, „Aber die meisten Leute nennen mich Kalimero.“

Die beiden Jungen schüttelten sich die Hände.

Kal schluckte, lächelte dann aber zurück. „Dann los!“, meinte er. Sie verstanden sich ohne Worte. Keiner von ihnen war mit einem Mädchen aus der Stufe aufgetaucht. Ein wenig peinlich, gab es eine unangenehmere Situation, als allein auf dem Ball aufzutauchen?

Er hätte den Neuen gerne vorgehen lassen, sich hinter ihm hineingedrückt, entschied dann aber, dass er als der Erfahrenere zuerst den Schulball betreten solle. Und schon trat er durch den Vorhang in eine andere Welt aus Licht und lauter Musik.

„Oh shit!“, schrie der andere Junge gegen den Lärm an.

Kal nickte. Die Turnhalle war nur notdürftig mit billiger Papierdekoration aus ihrem tristen Erscheinungsbild befreit worden. Auf der Tanzfläche bewegten sich ein Dutzend Teenager, der Rest lungerte an der Bar oder in den Ecken herum. Aus den Lautsprechern knisterten veraltete Disco-Schlager.

„Ich wette, du hast etwas anderes erwartet. Aber so ist es hier nun einmal.Wo bist du noch mal her?“, fragte Kal schelmisch lächelnd.

„London!“, antwortete Crispin, von einem inneren Grinsen beinahe zerrissen, „Und du hast recht. Mit dem Limelight kann das ganze kaum mithalten.“

Aber dann meinte er, nachdem er ruhig eingeatmet und die Atmosphäre in sich eingesogen hatte: „Ich mag es. Es weckt gute Erinnerungen. Und die Leute scheinen Spaß zu haben.“

Sie schauten sich in die Augen, Kal nickte kaum wahrnehmbar.

Die anderen Schüler nahmen sie allmählich wahr, unzählige Blicke, männliche und weibliche, musterte den neuen Schüler, hielten starr an ihm fest. Kein Wunder, dachte Kal, man sieht sofort, dass er nicht von hier ist. Seine mittelblonden Haare waren so kurz geschnitten, dass nur ein leichter Lockenansatz erkennbar war. Seine blau-grünen Augen schienen bei jedem Detail, dass er lebensgierig in sich einsaugte, noch heller zu strahlen. Und sein knallrotes Hemd lag so eng an, dass es seine Oberkörpermuskeln positiv betonte. Plötzlich spürte Kal, dass er es nicht mehr ertragen konnte, wie ihn die anderen Teenager abmusterten.

„Komm“, sagte er, „Ich zeig dir den Rest!“

Die beiden Jungen betraten eine seitliche Wendeltreppe, die hinter der Tribüne auf den Zuschauerrang führte. Die Organisatoren hatten einige Tische aufgestellt, die aber zum größten Teil noch nicht belegt waren. Von hier konnten sie die ganze untere Halle überblicken. Die Discokugel befand sich direkt vor ihnen, helle Lichtflecken huschten wie Schmetterlinge über ihre Körper, verwandelten den oberen Hallenbereich in eine Schneesturmlandschaft.

Innere Zufriedenheit und einen zuversichtlichen Blick in Kals Richtung aussendend, stellte sich Crispin an die Rangabsperrung, lehnte sich halb herüber und betrachtete das Treiben.

„Soll ich dir etwas zu trinken mitbringen?“, fragte Kal.

Crispin nickte.

„Ja gerne, vielen Dank. Ich nehme, was immer du nimmst.“

Um seine Worte zu verstärken, legte er seine Hand auf die Schulter seines neuen Freundes. Als sich Kal umdrehte, um die Tribüne zu verlassen, fuhr sie langsam, zärtlich über seine Schulterblätter herab, umschmiegte seine Taille um dann auf seinem Hintern zu landen. Dann brach der körperliche Kontakt ab. Crispins strahlendes Lächeln ließ keinen Zweifel zu.

Kals Herz klopfte, als er sich die Wendeltreppe herunterschwang. Das Gefühl der Berührung kribbelte immer noch auf seinem Körper. Das kann doch nicht wahr sein, dachte er panisch, diese Blicke, die Berührung eben. Er kann doch nicht wirklich das wollen, was ich…

Aber mit jedem Schritt verebbte die Panik, die so sehr ein Teil seines Lebens geworden war, und wich einer heiteren Beschwingtheit.

Er strahlte dem Schüler, der freiwillig den Thekendienst übernommen hatte, in die Augen und bestellte zwei Wodka Cola. Alkohol konnte jetzt ganz gewiss nicht schaden.

Als er mit den beiden Drinks die Treppe herauf war, befand sich Crispin noch genau dort, wo er ihn zurückgelassen hatte. Halb über die Balustrade gebeugt, bemerkte er nicht, wie sich Kal von hinten annäherte.

Er konnte kaum glauben, dass der forsche Geist in seinem Körper er selber war, als er seinen Drink auf einem der Tische abstellte und sich direkt hinter den anderen Jungen stellte. Sein Körper war keinen Zentimeter mehr von dem anderen entfernt, er spürte bereits dessen Wärme, als er mit der rechten Hand um Crispin herumfasste, ihm den Drink in die Hand drückte.

Crispin zuckte kurz überrascht zusammen, dann warf er einen Blick zurück, lächelte und nahm den Drink an. „Danke!“, flüsterte er, dann lehnte er seinen Rücken zurück, stellte den Körperkontakt her.

Kal musste einfach die Augen schließen. Seine Brust rieb an Crispins Rücken, ihre Jeans rieben aneinander, ein Schwall aus angenehmen Körpergerüchen und Hitze umfing ihn. Er hatte sich immer so einen Moment herbeigeträumt, unzählige romantische Diskussionen in seinem Kopf ablaufen lassen, aber jetzt spürte er, dass er keine Worte brauchte, um sich mitzuteilen.

Er sog die Luft tief ein, öffnete seine Augen wieder. Dann fasste er auch mit seiner anderen Hand um den warmen Körper vor ihm, legte seine Hand Crispin direkt auf sein Herz.

Es war ein wundervoller Moment. Perfekt, dachte Kal, so perfekt kann es doch gar nicht sein. So etwas passiert doch nur anderen Menschen. Wenn überhaupt. So etwas passiert nur in Liebesromanen oder Hollywoodschnulzen. Er öffnete seine Seele, saugte alles in sich auf, speicherte jede Berührung, jeden Duft, jeden Laut ab, wollte dieses Gefühl in sich auf Ewigkeit bewahren. Nie wieder werde ich trauern, sagte er sich, nie wieder an Gott zweifeln. Denn ich habe diesen Moment erlebt. Dafür hat sich alles gelohnt.

„Komm, lass uns nach unten gehen“, meinte Crispin nach einer herrlichen Weile und löste sich von ihm.

Kal folgte ihm lächelnd. Das Gefühl ewigen Friedens in ihm war unauslöschbar geworden.

Zusammen stromerten sie über die Tanzfläche, warfen Blicke auf die Angebote und Ausschenker an der Bar. Es gab einige Paare, die wild miteinander rumknutschend in den dunklen Ecken standen. Kal belächelte sie milde. Der Moment war vorbei, aber der Frieden blieb. Solange Crispins Lächeln anhielt. Solange diese Augen weiterhin strahlten.

„Und?“, fragte der andere plötzlich. „Glaubst du, es könnte etwas werden mit uns?“

Kal starrte ihn ob der plötzlichen Offenheit überrascht an. Dann begann er zu strahlen.

„Machst du Witze?“, antwortete er lachend. „Sehe ich aus, als würde ich auch nur eine Sekunde etwqas anderes denken?“

Crispin legte grinsend seine Arme um seinen Körper, zog ihn heran. Er musste seinen Kopf ein wenig senken, dann spürte er plötzlich die Lippen auf seinen. Sie küssten sich. Und obwohl es Kals erster Kuss war und sein Herz hämmerte, als müsse es jeden Augenblick zerspringen, war es doch, als wüsste er genau, was er zu tun hatte. Als sei er für diesen Moment geboren. Er öffnete seinen Mund leicht, streckte die Zunge ein wenig vor und ließ sich in den neuen Eindrücken treiben.

„Bist du verrückt?“, lachte er dann, als Crispins Mund sich wieder löste. „Mitten auf der Tanzfläche?“

Sein Freund nickte lächelnd, rieb dann seine Wange an Kals.

„Ich möchte, dass es jeder sieht. Ich möchte, dass es jeder weiß. Kein Tratsch, keine Vermutungen und Gerüchte. Wir gehören zusammen. Es gibt keine bessere Möglichkeit den anderen zu zeigen, wer ich bin und was ich will. Das müssen sie schlucken. Ich bin stolz auf dich!“

Ein weiteres Mal küsste er ihn.

Kal begriff, dass dies nicht nur ein Moment war. Es war eine Entscheidung.

 

Sie standen noch ineinander umarmt da, als sich die Projektion des falschen Schulballs und die Hologramme der anderen Schüler sich auflösten.

„Das war wundervoll“, meinte Crispin. „Es fühlte sich alles so echt, so real an. Aber ich bin erstaunt, wie schnell es ging. Wir kannten uns keine zwei Stunden vor dem ersten Kuss.“

Kal lächelte.

„Manchmal geht es so schnell. Der sprichwörtliche Blitz. Und es war wirklich so. Es ist eine echte Erinnerung von mir. Ich bin froh, dass ich sie mit dir teilen konnte.“

Crispin starrte ihn verwirrt an.

„Ich verstehe nicht? Du und der menschliche Crispin? Ihr habe euch doch erst auf der Akademie kennengelernt?“

Kal zuckte mit den Schultern.

„Ja das stimmt. Aber das hier war meine Erinnerung an meine erste Liebe. Ich musste sie umschreiben, denn damals war es natürlich noch ein Mädchen. Auf meinem vorletzten Schulball!“

Er lachte auf.

„Ich habe sie sehr geliebt. Aber es hat nicht hingehauen. Nach der Schule ging ich auf die Piloten-Akademie und sie zur Uni. Wir haben schnell den Kontakt verloren.“

Crispin sah auf einmal blass aus.

„Was ist?“, fragte Kal besorgt.

Crispin trat einen Schritt zurück.

„Ich…ich dachte immer, ich…Crisp… wäre deine erste Liebe!“, antwortete er. „Es schockiert mich…und es fühlt sich verdammt…furchtbar an.“

„Ach, Crispin. Nimm das doch nicht so ernst. Jeder Mensch hat eine erste Liebe. Das kannst du nicht mit uns vergleichen.“

Sein Freund trat noch einen Schritt zurück. Seine Stimme klang ängstlich gereizt.

„Ich komme damit nicht klar. Ich bin nicht programmiert, so zu empfinden. Ich…ich habe diese Liebe eben gespürt. Sie ging unglaublich tief. Es…es tut weh, Kal! Wer war diese Person? Und wie konntest du sie einfach aufgeben, weil es nicht hingehauen hat? Weil ihr unterschiedliche Ziele hattet?“

„Crisp!“, schrie Kalimero betörend. „Es war eine andere Zeit. Ich war ein anderer Mensch. Unsere Liebe war ein Irrtum. Damals wusste keiner von uns beiden, was wirkliche Liebe ist, und wie man damit umgehen sollte.“

„Nein!“, schrie Crispin zornig. „Ich habe es gefühlt. Du kannst mich nicht belügen, Kal. Sie war deine erste Liebe. Wenn du an wahre Liebe denkst, denkst du an sie. Und du hast diese Liebe verraten, Kal. Ich habe auf einmal das Gefühl, dich überhaupt nicht mehr zu kennen!“

„Crisp!“, schrie Kal, aber sein Geliebter hatte sich bereits aufgelöst.

 

Irgendwo in der Leere, Rob:

 

In genau diesem Moment blieb Rob Spato die Luft weg.

Er war durch den leeren Raum getrieben, hatte ab und zu mit den Steuerdüsen eines Anzugs den Kurz geändert und war dann mehr als erstaunt gewesen, als er begriff, auf welches Ziel er hinsteuerte.

Eine Singularität, hatte er erkannt, vielleicht erst hundert Jahre alt, noch zu klein, um Licht abzulenken. Aber genug, um Materie einzufangen. Um das winzige schwarze Loch kreiste ein Gürtel aus schroffen Strukturen. Felsen, Artefakte, Schrott. Und Raumschiffe. Zerbeulte, teilweise ausgebrannte, geplünderte Wracks. Ein Weltraumfriedhof.

Zum größten Teil terranische Raumschiffe. Kann es sein, fragte er sich, bin ich in Hailespond? War die Supernova, die die Menschheit selbst künstlich erzeugt hatte inzwischen in sich zusammengesunken und hatte die Singularität erzeugt?

Wie ein künstlicher Gürtel umkreiste der Ring aus Schrott die Schwerkraftquelle. Je mehr Materie das Loch einsaugte, desto stärker würde der Gravitationssog werden, bald würden alle diese Schiffe im Bauch des Monsters enden. Aber bis jetzt waren die Kreisbahnen, die die Trümmer zogen massiv.

Auch wenn die meisten der Wracks fremdartig aussahen, das größte von ihnen kam Spato mehr als bekannt vor. Es stand außerhalb jeder Frage, dass es sich hier um das von Kal beabsichtigte Ziel handelte.

Die Armageddon! Nein, je näher Rob kam, desto sicher wurde er, dass er sich irrte. Dieses Wrack war noch größer, als sein ehemaliger Flottenträger. Dann las er die Kennzeichnung am Bug.

Es war die Vindicator. Rob hatte von diesem Träger gehört, aber das Schiff war noch in Konstruktion gewesen, als sie das letzte Mal die Erde verlassen hatten. Der direkte Nachfolger der Armageddon. Hier also trieb der Kadaver des größten und modernsten Raumschiffes, das die Menschheit jemals konstruiert hatte.

Er konnte bereits eine Außenschleuse des riesigen Trägers erkennen, als er begriff, nicht Überraschung hatte seine Atemnot ausgelöst. Es gelangte keine Atemluft mehr in seinen Helm. Panisch starrte er auf seine Sauerstoffanzeige, presste seine Augenlider zusammen, um besser sehen zu können. Der Tank war nicht leer, trotzdem bekam er keine Luft mehr, egal wie stark er danach schnappte. Er presste seine Beine zusammen, aktivierte die Steuerdüsen, versuchte seinen Flug zu beschleunigen. Kein Schub. Die Kontrollen funktionierten nicht mehr.

„Kal“, krächzte er, dann brach er abrupt ab, weil jeder Ton den restlichen Sauerstoff in seinem Helm drastisch reduzierte. Seine Funkverbindung stand, aber es gab keine Antwort. Wo steckte er? Zwei Fehlfunktionen in derselben Sekunde, das konnte kein Zufall sein.

Inzwischen schnappte er wie ein Goldfisch auf dem Trockenen nach Luft. Beruhige dich, beschwichtigte er sich. Du warst ein Taucher. Du hast noch zwei Minuten. Und die Luftschleuse war schon beinahe in Reichweite.

In dem Moment, als sich seine Finger um den Handgriff an der Schleuse legten, wurde ihm schwarz vor Augen. Da hing er jetzt mit letzter Kraft, direkt vor der geschlossenen Öffnung. Er betrachtete den Öffnungsmechanismus, selbst wenn er noch Kraft in den Fingern gehabt hätte, ohne den richtigen Code würde er die Luke nie öffnen könnten.

Kal, schrie er ein letzte Mal innerlich. Seine Sinne schwanden, seine Lunge begann von innen zu brennen.

Da öffnete sich die Schleuse auf einmal wie durch Geisterhand. Nur für einen Sekundenbruchteil schöpfte er Hoffnung, dann riss ihn der Druck der entweichenden Innenluft von der Außenwand fort, trieb ihn wieder hinaus in den Weltraum.

Als ob sie ihn verspotten würde, wurde die offene Schleuse in seinem Blickfeld wieder kleiner, während er sterbend in den Weltraum hinaustrieb.

Er drehte sich herum, stellte den Kombi-Handstrahler auf Impuls, winkelte die Knie an, schoss eine kurze Salve. Seine Bewegung verlangsamte sich, stattdessen begann er zu trudeln und in der Schwerelosigkeit zu kreisen. Sich heftig konzentrierend, seine Besinnung nicht zu verlieren, wartete er auf den passenden Moment, drückte dann erneut den Abzug tief durch.

Der Rückstoß katapultierte ihn durch die geöffnete Schleusentür. Kaum war er im Inneren, schloss sich das Außenschott. Künstliche Schwerkraftfelder setzen summend ein, ließen ihn hart auf den Boden prallen. Aus Schlitzen in der Seite drang Atemluft in die Kammer ein.

Du wirst trotzdem sterben, dachte er. Zuwenig Kraft, den Helm zu öffnen. Du bist schon tot. Aber dann schüttelte er den Kopf, begann zu kämpfen. Es ist nur Schmerz, dachte er. Sie haben dir keine künstliche Lunge eingesetzt, die dieselben Schwächen einer biologischen hat. Auf den Kunsstoffbläschen in deiner Brust müssen immer noch Sauerstoffmoleküle haften. Dein Hirn bekommt noch genügend Energie. Es ist nur gottverfluchter Schmerz.

Trotz der Todesagonie und seiner in rhythmisch kontrahierenden Krämpfen zuckenden Lunge, schaffte er es, die Arme emporzuheben. Und dann hatte er endlich das Helmventil geöffnet. Sauerstoff drang erneut in seine Luftröhre.

Hustend und spuckend gelangte er auf die Knie. Er bemerkte, wie bei jedem Keuchen ein kleiner roter Sprühnebel auf dem Schleusenboden landete. Seine Lunge schmerzte, als ob er sie voll Wasser gesogen hätte.

Ich brauche dringend eine Krankenstation, begriff er.

Da schaltete sich auch schon die Innenbeleuchtung der Kammer ab. Gleichzeitig öffnete sich die Schleuse in den Träger.

„Kal?“, krächzte er in das Dunkel hinein. Es gab keine Antwort.

Aber dann, als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er das leichte helle Flackern aus dem rechten Gangende wahr. Jemand zeigt mir einen Weg, dachte er benommen. Es ist nicht Kal, aber irgendjemand hat mich hier hereingelassen.

Er kämpfte sich hustend und Blut spuckend auf die Füsse und folgte dem Gang.

 

Es war stockdunkel in den Korridoren. Er taumelte an der Wand entlang. Seine Lunge schmerzte wie von tausend Nadelstichen durchbohrt. Immer wenn er erschöpft innehielt, flackerte irgendwo weit entfernt eine Neonröhre auf, oder er hörte wie sich eine automatische Tür seufzend öffnete. Irgendetwas führte ihn.

Der größte Teil der Umgebung kam ihm vertraut vor. Die Vindicator ähnelte in ihrer Konstruktion so sehr der Armageddon, dass er das Gefühl hatte, sich hier blind zurechtzufinden.

Trotzdem war er überrascht, als sich auf einmal eine große Halle vor ihm auftat.

Briefing room, dachte er, Einsatzbesprechungs-Zentrale. Aber dieser Raum war um einiges größer, als das entsprechende Pendant auf der Armageddon. Und er konnte keinerlei Bildschirme oder Pulte in ihnen erkennen.

Er hatte das Gefühl, aus dem im Dunkeln liegenden Halle Stimmen flüstern zu hören.

Auf seinem Kombigewehr war auch eine kleine 2 Gigawatt Taschenlampe montiert, er aktivierte sie und ließ den ultrahellen Strahl durch den Raum wandern. Außer den teilweise vom Rost angefressenen Stahlwänden konnte er nichts erkennen.

Er betrat den Raum langsam und sofort hatte er das Gefühl, das Gemurmel würde an Intensität zunehmen. Beinahe schon hektisch drehte er sich herum, ließ den Strahl durch den Raum schnellen.

Es waren Menschen hier. Halbverweste Leichen. Sie lagen gestapelt auf dem Fußboden. Hatte er sie zuerst übersehen, weil er den Strahl nur über die Wände hatte gleiten lassen?

Auf einmal drang ein neues Geräusch an seine Ohren. Ein tiefer vibrierender Ton, als ob sich eine mehrere Decks unter ihm liegende Stahlplatte geräuschvoll verformen würde. Es wurde von einem noch lauterem Stampfen abgelöst, das sich in einer tiefen Frequenz, die seine Magenwände zum Vibrieren brachte, wiederholte.

Plötzlich fauchte eine Stimme neben ihm auf, direkt dort, wo sein Taschenlampenstrahl die letzte Leiche entdeckt hatte. Er schrak zusammen, fiel beinahe von den Füßen. Sofort verkrampfte sich seine Lunge erneut, er spuckte einen weiteren Batzen Blut auf den Boden.

Seine Sinne klärten sichg nur langsam. Er war ganz alleine in der Hallo. Es gab keine Leichen.

Was ist mit mir los, fragte er sich, sind das schon Todeshalluzinationen? Ich werde es wohl nicht mehr auf die Krankenstation schaffen.

Doch kaum senkte er den Strahl seiner Lampe wieder, erschallten wieder die Geräusche. Die Stimmen um ihn herum wurden lauter, deutlicher. Auch das Stampfen unter ihm wurde schneller, zorniger, so wie die Trommeln eines aufgebrachten Eingeborenenstammes. Wie hypnotisiert drehte er sich im Kreis, da war nichts im direkten Kegel seines Lichtstrahls, aber seitlich davon in den Halbschatten erkannte er jetzt Menschen, Terraner, in teilweise verschmorten Uniformen, mit grässlichen Wunden im Gesicht und wahnsinnigem Zorn in ihren Augen.

„Wer seid ihr?“, schrie er, auch wenn er es genau wusste. Das hier war sein persönlicher, wahrgewordener Alptraum.

Es war immer einfacher, sie zu erkennen, ihre blassen, weißen Gesichter, die verstümmelten Körper. Nicht nur eine einfache Sinnestäuschung. Die Toten waren gekommen, ihn zu holen.

Während er langsam in Entsetzen und Wahnsinn abglitt, erkannte er das Stampfen unter seinen Füssen. Zu dem monotonen Rhythmus hatten sich andere metallische Klänge gemischt. Immer mehr setzten sich die einzelnen Laute zu einem Ganzen zusammen. Es war…Techno.

Mindless, erkannte er. Er erinnerte sich nur zu gut an diesen Song. Um ihn herum flackerte es kurz auf, das Bild einer Armeehalle, mit Strahlern und riesigen Basstrommeln ausgestattet.

Nein, dachte er entsetzt. Die Geister hatten ihn direkt an einer seiner schmerzlichsten Erinnerungen gepackt. Er löschte die Lampe an seinem Gewehr, nur noch die Dunkelheit und die elektronischen Technoklänge umhüllten ihn.

„Hallo Rob!“, meinte eine klare Stimme direkt vor ihm.

Er hob den Kopf. Vor ihm stand eine bekannte, weiß flackernde Gestalt.

„Erkennst du mich wenigstens?“, fragte die Erscheinung zynisch.

„Derek!“, krächzte er kraftlos.

Die Gestalt lächelte. Die Geist des Piloten hatte sich im Gegensatz zu den anderen menschlichen Erscheinungen, die jetzt klar erkennbar um ihn herumstanden, kaum verändert. Er trug die graue Uniform der SFF, an seiner Seite hing ihm ein verschmorter Helm in der Hand.

„Immerhin“, lachte der Pilot bösartig. „Meinen Namen hast du behalten. Ich habe es kaum erwartet, so wie du mich behandelt hast. Du hast mich erst aus deinem Leben, dann aus deinem Gedächtnis gelöscht!“

„Nein!“, widersprach er kraftlos.

Der Geist trat einen Schritt vor. Rob konnte ihm jetzt in die Augen sehen. Und da war dann doch eine fundamentale Veränderung in Dereks Gesicht. Dieser Mensch war gebrochen worden. Dieser Mensch hatte sich selbst verloren.

„Derek, was ist nur…“

Das Gesicht des anderen schoss nach vorne, spuckte ihm beinahe ins Gesicht.

„Du hast mich zurückgelassen, Rob Spato. Du hattest mir versprochen, immer bei mir zu bleiben. Ohne dich war ich NICHTS. Der Rest meines Lebens war zu ständigem Scheitern verflucht. Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du…“

Rob sackte in sich zusammen. Aus den Augenwinkeln konnte er beobachten, wie ihn die anderen Geister zischend anstarrten. Seine Beine fühlten sich wie Pudding an. Er konnte diesen verdammten Ort nicht mehr aus eigener Kraft verlassen.

„Ich war verzweifelt, als ich deinen Namen auf der Abschussliste gelesen habe, Derek. Ich…ich habe dich nicht vergessen. Dein Tod hat mich geschmerzt, wie kein anderer.“

Die Worte waren ehrlich. Er hatte beinahe einen Zusammenbruch erlitten, als er den Namen Derek Sanders auf der Liste der im Krieg Gefallenen erkannt hatte.

„Wie tröstlich“, meinte der Geist bitterböse. „Eine kleine Träne zu meinem Tod ehrenhalber vergossen. Wie aufreibend. Wieviel mehr hätte es dich gekostet, dich einmal nach mir zu erkundigen. Ich bin zu den Stations-Patrouillen versetzt worden, Rob. Unterster Rang. Während du höher und höher klettertest. Abschusslistenführer. Versetzung auf das Flaggschiff. Bester und höchstdekoriertester Pilot der SFF. Major Spato, Held der Menschheit.“

Rob brach beinahe unter der Last der Worte zusammen. Doch bei den letzten Sätzen war etwas geringfügig anders in Dereks Ton. Beinahe ein kleines Funkeln von Stolz. Trotz des Vorwurfes war da noch etwas mehr zu erkennen. Ein Schatten der alten Liebe, die Derek einst empfunden hatte.

„Du hättest mich da rausholen können, Rob“, sprach seine Stimmer leiser, beinahe flehend. „Hast du vergessen, was ich für dich getan habe? Ohne mich, ohne meinen Vater, hättest du es nie in die SFF geschafft.“

„Es…es tut mir so leid, Derek“, stammelte Spato mit Tränen in den Augen. Er stellte sich vor, wie es für den Sohn von Admiral Sanders gewesen war, zu versagen. Wie er sich gefühlt haben musste, ihm einzugestehen, dass er die Prüfungen versaut hatte. Dass er es nicht auf ein Kriegsschiff geschafft hatte. War das wirklich ich, fragte er sich erschlagen. Bin wirklich ich für Dereks Versagen verantwortlich?

„Für Bedauern ist es jetzt zu spät, Rob“, meinte der verstorbene Pilot. Wieder glomm nichts außer Hass aus seinen Augen. „Es wird Zeit für dich, zu uns zu kommen!“

Wie auf ein Schlagwort hin, stürzten die Bilder der Verstorbenen alle auf ihn zu. Fäuste schlugen auf seinen Kopf, Beine traten ihm in den Magen. Und obwohl die Gliedmassen der Toten durch ihn hindurchdrangen, obwohl er keinen Schmerz der Berührung spürte, ging er unter dem Ansturm zu Boden.

Blut spuckend wurde er unter den Fäusten und den zu Krallen ausgestreckten Händen der kreischenden Untoten ohnmächtig.

 

Irgendwo in Kalifornien, SFF-Akademie, Rob&Derek:

 

Es war Mindless, sein Lieblingssong.

Nur wenn er die Augen schloss und sich von den Klängen umhüllen ließ, fühlte er sich wohl. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als ob er von den stark dahinwummernden Bässen gestreichelt wurde. Und ein kleines seliges Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Ja, solange er die Augen geschlossen hielt, war alles gut.

Er war allein in die Disco gekommen, und er würde allein wieder gehen. Obwohl es eine Menge Kameraden von ihm hier gab, hatte er sich abgesetzt, sich bis in die Mitte der Tanzfläche geschoben, um sich dort von den Rhythmen treiben zu lassen. Er wollte eins sein mit der Musik. Er wollte nicht von Bekannten beobachtet oder gar während des Tanzens angesprochen werden.

Es war merkwürdig, wie sehr er diesen Club inzwischen brauchte. Es war bereits beinahe drei Uhr nachts, wenn er nicht bald aufbrach, würde er morgen seine Ausbildung in einer schrecklichen Verfassung über sich ergehen lassen müssen. Aber nur hier in der mit Lichtblitzen durchzogenen Dunkelheit konnte er atmen. Fühlen. Frieden finden.

Mindless Stakkato setzte sich in seinen Beinen fort. Er fühlte den Schweiß auf seiner Stirn perlen. Es tat so gut.

Auf einmal breitete sich ein Frösteln auf seiner Haut aus. Lass deine Augen zu, sagte er sich, aber im Grunde genommen war es schon zu spät. Er spürte Dereks Blicke auch blind.

Er öffnete die Augen und sah seinen Kameraden über hundert zuckende Köpfe hinweg. Derek stand mit seiner blonden Mähne und seinem betörenden Lächeln an der Wand, einen Drink in der Hand. Das Lächeln galt nicht ihm. Er unterhielt sich lachend mit einem der Mädchen.

Rob schnaufte abfällig.

Es gab dreierlei Mädchen in dem Club auf dem SFF-Ausbildungsgelände. Da waren einerseits die Prostituierten, deren Grundeinkommen durch die Tausenden von frischen, jungen Auszubildenden gedeckt wurden. Frauen waren in der SFF zwar zugelassen, aber das Verhältnis der Piloten zu den Pilotinnen lag immer noch bei Hundert zu Eins. Dann gab es tatsächlich Animierdamen, die von der SFF eingestellt waren, um die Piloten einen geringen Eindruck der Normalität in ihrem Privatleben vorzutäuschen. Natürlich wurden diese Girls nicht dafür bezahlt, mit den Piloten zu schlafen. Aber den meisten genügte eh ein kleiner Flirt, ein Lächeln, um für einige Stunden zu vergessen, dass nach der Ausbildung nur noch ein harter Dienst auf hauptsächlich mit Männern besetzten Flugträgern auf sie wartete.

Und dann gab es da noch die dritte Kategorie, und Spato hielt dieses Mädchen an
Dereks Seite für genau so eine. Vom Alltagsleben gelangweilte Provinzteenager, die an den Wochenenden hier heraus kamen, wo es keinen Mangel an Party und Entertainment und frischem, knackigen Kadettenfleisch gab.

Mindless war verklungen und der Rhythmus blendete automatisch in einen anderen Techno-Smashhit über. Spatos Füße stampften aus Gewohnheit weiter. Der Song steckte noch in seinem Blut, er fühlte nichts, während er Derek und das andere Mädchen beobachtete.

Es gab eine kurze Berührung dort, dann ein intensiver Blick zwischen den beiden. Das Mädchen sagte etwas, aber dann schüttelte Derek den Kopf, trat einen halben Schritt zurück.

Sie zuckte mit den Schultern, ging, wirkte nur ein klein wenig verärgert. In diesem Moment drehte sich Dereks Kopf, und  er schaute Rob direkt in die Augen.

Er kannte diesen Blick nur zu gut.

‚Siehst du’, sagte der Blick, ‚ich habe verzichtet. Ich hätte mit ihr heute nacht Spaß haben können. Aber ich tue es nicht. Pass auf, was du tust, ich könnte es mir auch anders überlegen.’

Rob senkte den Kopf mit verschleierten Augen, ging nicht auf die unterschwellige Botschaft ein. Er verstärkte die Kraft und Schnelligkeit in seinen Bewegungen. Sein Körper fühlte sich bereits wie im Fieber an. Der Boden unter ihm federte unter seinen festen Tritten.

Als er wieder aufschaute, stand Derek noch an derselben Stelle. Er wirkte blasser und fester mit dem Rücken gegen die Wand gepresst. Sein Blick schien ihn hypnotisieren zu wollen.

Die Botschaft war klarer und dringender.

‚Komm endlich! Wir müssen reden!’

Rob drehte sich ohne eine Regung herum. Er verließ die Tanzfläche zielbewusst, kämpfte sich durch die biegenden Körper zur Garderobe hindurch. Es ist zu spät, fluchte er, schon drei durch. Ich muss los. Ich muss an mich denken.

Natürlich wollte Derek mit ihm reden. Irgendwo draußen, an die Wand einer Halle gedrückt, wo sie keiner sehen und hören konnte. Wo seine Augen leuchten und seine Lippen unbedeutende Versprechungen von sich geben würden. Wo sich ihre Münder treffen und ihre Hände ihre Körper erkunden würden. Und Derek für einige Stunden zu dem Jungen wurde, den Rob über alles liebte.

Er packte seine Jacke, stieß sich durch die Eisentür des Clubs ins Freie.

Und dann würde seinem heimlichlichen Geliebten wieder das Nichts ergreifen. Er würde Rob tagelang nicht ansehen, ihm aus dem Weg gehen, seinen Blick senken sobald sie sich auf den Korridoren sahen. Und Rob würde leiden und warten. Ungewiss ob der Derek, den er liebte, jemals wiederkehren würde. Zur Untätigkeit verdammt. Mit nichts als dem Wunsch in sich, sich selber in dieses Nichts aufzulösen. Und das konnte nur Techno und die Tanzfläche für ihn bewirken.

Er war keine hundert Meter weit gekommen, als er die schwere Tür in seinem Rücken erneut öffnen hörte. Er musste sich nicht umschauen. Seine Schritte beschleunigten sich, seine Füße verloren Bodenkontakt als er ins Laufen überging.

Noch eine Woche, dann war die Grundausbildung auf der Erde beendet. Die Sternenakademie Ullus Major wartete auf die Kadetten, die die Prüfungen bestanden. Zweierunterkünfte. Es stand außer Frage, dass er sich sein Zimmer mit Derek Sanders teilen würde. Sie waren das perfekte Team, das hatten selbst einige Ausbilder behauptet. Ihre Schwächen und Stärken ergänzten sich gegeneinander. Ohne Eingreifen von Dereks Vater…jawohl Admiral Sander…der gottesgleiche, übermannsgroße Admiral Sanders…wäre Rob nicht in die nächste Runde gekommen, nachdem er die Simulatorprüfungen vergeigt hatte. Und nur Rob schien in der Lage zu sein, Dereks Konzentration auf die Physik zu bündeln, ihn zum Lernen zu motivieren. Es schien unlogisch, dass sich diese erfolgreiche Kombination nicht auch in Ullus Major durchsetzen würde.

Ein Zweierzimmer in der fernen Akademie. Jede Nacht mit ihm verbringen, allein. Kein Verstecken…für die nächtlichen Stunden. Es klang wie ein Paradies.

Und wie die Hölle. Derek Sanders, der ihn nur lieben konnte, wenn das Licht gelöscht war. Der sich im Schatten seines Vaters stehend selbst verstümmelte, sobald er eine Prüfung nicht als Bester abgeschlossen hatte. Der sich für seine Freundschaft und Abhängigkeit zu Rob schämte, sobald die Sonne aufging.

Die Tränen schossen in seine Augen. Die Schritte hinter ihm waren abrupt, ja entsetzt, verklungen. Ich liebe ihn, fluchte Rob, und sein Gesicht fühlte sich heiß und nass an. Aber wenn ich auf ihn eingehe, kann ich nicht der bleiben, der ich bin. Ich werde untergehen an seiner Seite.

Ich werde es ihm erklären, sagte er sich verzweifelt. Dann hören wir damit auf.

Morgen!

Keine Ausflüchte, keine Verzögerungen mehr.

Endlich hatte Rob seine Unterkunft erreicht. Verschwitzt und aufgelöst warf er sich durch die Tür, ließ sich auf sein Bett fallen.

Am nächsten Vormittag sprang er mit einer defekten Tieftaucherausrüstung ins Polarmeer und starb er das erste Mal.

 

Vindicator, Rob&Crispin:

 

Seine Lunge brüllte noch immer, als er erwachte. Aber der Schmerz hatte sich verändert, fühlte sich stumpfer und gesättigter an. Als er sich aufsetzte, fühlte er keinen brennenden Stich mehr, nur noch ein dumpfes Pochen.

Er befand sich auf einer Liege in der Krankenstation.

„Es tut uns sehr leid, Rob!“, meinte eine leicht knisternde Stimme, deren Ursprung er noch nicht zuordnen konnte. „Wir haben diese Feindseligkeit nicht erwartet. Sie versuchen noch immer, euch zu töten. Wir dachten, die Geister wären alle wie Juan.“

Er brauchte einige Momente, um sich zu sammeln und die Worte zu verarbeiten.

Dann krächzte er desorientiert: „Wovon verdammt noch einmal redest du?“. Er erkannte den Ursprung der Stimme, einen Sockel, auf dem eine schwache Lichtgestalt zu sehen war.

Er hätte Crispin Dekker nicht erkannt, wenn er nicht von Kalimero erfahren hätte, dass die beiden zusammen unterwegs waren. Dekker war Icemans Kopilot auf der Armageddon gewesen, außer einigen flüchtigen Begegnungen hatten sie keine gemeinsame Vergangenheit.

Der miniaturisierte Körper des Piloten schwebte jetzt über einem dreidimensionalen Hologrammerzeuger, der sicherlich früher zu medizinischen Anschauungszwecken verwendet worden war.

„Wo ist Kal?“, krächzte er.

Der Mini-Crispin schaute ihn ernst an.

„Er kümmert sich um die anderen Geister. Für den Moment sind wir hier sicher, er hält sie ihn den elektronischen Verbindungsnetzen in Schach. Aber sie haben bereits Schaden verursacht. Auf einigen Decks wurden Schleusentüren geöffnet und die Atmossphäre herausgelassen. Wir sollten die Gefahr nicht ignorieren!“

„Geister?“, fragte Rob benommen. Er musterte das kleine Hologramm genauer. Es flackerte und die Farben waren sichtlich verfälscht, blasser und kontrastärmer. Die terranische Hologrammtechnik war zur Zeit des Untergangs noch nicht sehr fortgeschritten gewesen. Dieser Crispin sah unecht aus. Wie die gestaltlosen Angreifer in der Kommandozentrale, begriff er. Es waren Hologramme gewesen. Hologramme hatten ihn angegriffen.

Der falsche Crispin seufzte.

„Entschuldige Rob“, meinte er. „Ich versuche das ganze in die richtige Reihenfolge zu bringen. Erinnerst du dich an die Gruselgeschichten, die man sich auf der Erde erzählt hat? White noise, tote Menschen, deren Stimmen und Auren man durch elektronische Aufzeichnungsgeräte empfangen konnte? Im Grunde genommen sind Kal und ich nichts anderes mehr. Elektronische Geister. Und wir fanden heraus, dass wir nicht allein sind. Es gab tatsächliche andere Geister. Menschen. Zumindestens Fragmente, Reste ihrer Seelen. Zwei von ihnen, Juan und der andere, ihre Gedanken sind weitesgehend kohärent, du MUSST mit ihnen sprechen. Du würdest sonst nie glauben, was sie zu sagen haben.“

Rob blinzelte ungläubig.

„Geister? Ich habe Derek gesehen. Wie kann das sein?“

Er begriff auf einmal, warum seine Anzugskontrollen ausgefallen waren. Wer ihm die Luftschleuse geöffnet und den Weg gewiesen hatte. Es war nicht Kalimero gewesen. Sondern die anderen.

„Derek? Ich weiß nicht, wer das ist. Einige Geister haben nach dir persönlich gefragt. Wir haben angenommen, das hat mit deiner Rolle bei der Zerstörung der Erde zu tun.“

„Im Briefing Room sind Holoprojektoren, oder?“, verfolgte Rob seinen eigenen Gedanken weiter. „Darum habt ihr beide mich hierhergeholt. Damit ich mit den Geistern kommunizieren kann?“

Crispin nickte.

„Sie wollen nicht mit mir reden, Crispin. Sie wollen sich an mir rächen. Sie wollen mich töten!“

„Ich fürchte, da hast du recht. Wir haben nicht damit gerechnet, wie groß ihr Hass auf dich ist. Wir haben sie blind alle eingeladen. Es existieren doch sonst keine Terraner mehr außer uns vieren. Aber diese Geister sind nicht wie Juan. Sie wollen nur zerstören. Es tut uns leid, Rob. Wir haben die Gefahr für dich unterschätzt.“

In Robs Gehirn feuerten die Neuronen auf Höchsttouren.

Wenn er die Tatsache akzeptierte, dass es so etwas wie die Seelen verstorbener Menschen gab, so erstaunte es ihn nicht, dass diese ihn töten wollten. Er hatte den gesamten Planeten auf dem Gewissen. Und seine Begegnung mit Derek war von einer überzeugenden Feindseligkeit gewesen.

„Wer ist dieser Derek?“, fragte Crispin, den Blick immer noch schuldbewusst senkend.

„Er war meine erste Liebe“, seufzte Rob. „Und alles was er mir zu sagen hatte, waren Vorwürfe!“

„Ich dachte, Troy wäre deine erste Liebe gewesen?“

„Nein!“, meinte Rob verwirrt. „Ich meine…doch…ich…ich weiß nicht, ob Derek zählt. Er hat mich eigentlich nur unglücklich gemacht!“

Crispin beobachtete ihn sorgfältig.

„Die erste Liebe ist etwas besonderes, oder?“, fragte er kleinlaut nach.

Rob nickte.

„Ja, das kann man wohl sagen. Auch wenn ich nicht mehr viel über ihn nachgedacht habe…ich denke, die Liebe zu ihm war eine der kritischsten Definitionspunkte in meinem Leben. Die Gefühle waren einfach…zutiefst intensiv.“

„Also sagst du auch, die erste Liebe ist eine Dummheit, die keinen Wert hatte?“

Rob neigte nachdenklich den Kopf.

„Wir neigen dazu, zu verdrängen“, meinte er. „Dummheit? Ja, oft. Aber die Ehrlichkeit der eigenen Gefühle? Ich würde sie nie anzweifeln. Aber ich denke, du hast recht, viele Menschen stellen ihre eigene erste Verliebtheit lächerlich dar…weil es einfach zu schmerzlich ist, zu akzeptieren…dass man von den eigenen oder den Gefühlen des anderen betrogen worden ist.“

Crispin nickte besorgt.

Rob musste wieder husten, aber diesmal spürte er nicht den Blutgeschmack in seinem Mund. Dabei fiel ihm etwas auf, dass noch eine Menge offener Fragen im Raum standen. Wer hatte ihn auf die Krankenstation gebracht? Ein Hologramm wäre zu so etwas nicht fähig gewesen. Er spürte Crispins vorherigen Worten nach.

„Es gibt keine Menschen mehr außer uns Vier?“, hakte er nach. Es stand ausser Frage, dass sich Kalimero und Crispin noch als lebendige Menschen sahen, auch wenn sie nur noch Schemen ihrer selbst waren. „Wer ist der Vierte? Wer hat mich hierher geschafft?“

„Nun, damit meint er wohl mich“, überraschte ihn eine vertraute Stimme hinter ihm. Die Tür zur Station musste sich während der Unterhaltung mit dem Hologramm lautlos geöffnet haben.

Rob ließ sich von der Liege gleiten, wirbelte herum.

Sein Bruder stand ihm gegenüber.

„Aber ich hätte dich dort auf dem Fußboden liegen und verbluten lassen sollen, Bastard!“, meinte Chris O’ Connor und winkelte seinen Arm an. Seine Faust schnellte nach vorne und erwischte Robs Kinn völlig unvorbereitet. Der Pilot flog nach hinten und prallte gegen die Wand.

„Fünf Milliarden tote Menschen!“, fluchte Chris verzweifelt den Kopf schüttelnd. Rob sah den Wahnsinn in seinen geröteten Augen tanzen, als er von seinem Bruder am Kragen gepackt und erneut gegen die Wand gestoßen wurde. Für ihn war es klar, dass es ein weiterer Geist auf die Krankenstation geschafft hatte. Es kam ihm überhaupt nicht merkwürdig vor, dass dieser Geist ihn berühren und herumstoßen konnte.

„Warum hast du nicht getan, was ich dir aufgetragen habe? Wir haben uns alle auf dich verlassen, Rob. Wie konntest du uns alle verraten?“

Robs Kopf knallte gegen den Stahl der Wand. Ein blutiger Abdruck blieb hinter ihm zurück.

Die Gedanken und Gefühle überforderten ihn.

Derek meinte, er hätte ihn verraten. Sein Bruder wollte ihn töten. Fünf Milliarden Menschen waren wegen seiner Entscheidung gestorben. Der Erdball zu einer feurigen Kugel verpufft. Keiner der Geister der Toten ließ ihn in Ruhe.

„Chris! Lass ihn los!“, hörte er Crispins aufgeregte Stimme schreien.

Erneut stieß sein Kopf gegen die Wand. Ihm wurde schwarz vor Augen. Schwarz wie das All. Wie damals. Als er in der Kälte davontrieb…

Er hörte Mindless in der Dunkelheit raunen.

„Nein!“, flüsterte er heiser. Auf einmal überkam ihn eine eisige Ruhe. Es erinnerte ihn daran, wie er früher in die Musik, in den Frieden abgetaucht war. Er dachte an Derek.

„Nein!“, stöhnte er erneut.

„Es muss aufhören!“, sagte er und umgriff Chris schüttelnde Hände fest. Er zwang sie zurück, schob seinen Bruder mit einer unglaublichen inneren Stärke von sich.

„Ich lasse mir von euch keine Vorwürfe mehr machen, Chris!“, sagte er. „Ich bin nicht mehr euer Opfer. Ich habe keine Schuld!“

Der Zorn in den Augen seines Bruder ebbte überrascht auf und ab. Die Brüder rangen in stummen Vorwürfen miteinander.

Doch plötzlich griff Crispins Stimme ein.

„Hört auf, seid ihr wahnsinnig? Er hat recht, O’Connor“, meinte er. „Ihr wurdet beide betrogen. Wir alle wurden betrogen, die gesamte Menschheit. Deswegen mussten wir euch hierher holen, damit ihr es begreift!“

Rob war immer noch verwirrt, aber während er die Hände seines Bruders umfasst hieß, begriff er allmählich, wie real sein Gegenüber war.

„Du hast überlebt?“, krächzte er, „Chris, du verfluchter Bastard, wie hast ausgerechnet du es von der Erde geschafft?“

In seinen Augen sammelte sich eine Mischung aus Schmerzens- und Freudentränen.

Crispin fuhr fort: „Ihr müsst mit Juan sprechen, jetzt. Er hat die Antwort auf alle Fragen. Auch auf die wichtigste von allen.“

Rob stutzte.

„Warum diese verdammten Snirvellin ausgerechnet uns gerettet haben?“, fragte er misstrauisch.

Die Miene des Hologramms verzog sich schmerzhaft. Leicht schüttelte er den Kopf.

Chris begriff es schneller. Er brachte es auf den Punkt:

„Er weiß, wer Troy Parker geklont hat!“

 

Vindicator, Briefing Room, Juan:

 

„Sie haben uns von den Lastwagen gezerrt, erst mich, dann meine schwangere Frau!“, erzählte die blasse Figur Juans.

Im Grunde genommen war es Kalimero, der sprach. Spato verstand die mexikanischen Silben nicht, die dem Hologramms des ermordeten Mexikaners im Briefing Room aus dem Munde sprudelten. Aber Kal Vasquez übersetzte jedes Wort, das aus dem Mund des verstümmelten Geistes strömte.

Spato war mitgerissen von der Geschichte des armen Landarbeiters, der in den 1990ern auf der Erde gelebt hatte. Der Unglücksrabe hatte alle seine Habseligkeiten verkauft, um von einer Schleuserbande über die Grenze in die Vereinigten Staaten geschmuggelt zu werden. So dass sein Sohn als Amerikaner geboren werden würde.

„Im Grunde genommen habe ich es geahnt, als ich diesen Männern das erste Mal in die Augen geschaut hatte“, revokalisierte Kal die zornigen Worte des geschundenen Mannes. „Aber ich habe wider besseren Wissens an unserer einzigen Hoffnung festgehalten. Als sie uns zwangen, auszusteigen, fanden wir uns in den Bergen wieder, fern der mexikanischen Grenze. Einige Schleuser hatten Schrotflinten, die besser gekleideten amerikanische Grenzwächtergewehre. Sie lachten die ganze Zeit.“

Der Mexikaner versenkte sein Gesicht in den Händen. Rob senkte den Blick betroffen, versuchte nicht auf das faustgroße, blutumränderte Loch in der Brust des Toten zu starren.

„Ich sah die Angst auf den Gesichtern aller Flüchtlinge, mit denen ich die sieben Stunden im LKW verbracht habe. Ah, ich war so verzweifelt, versuchte nur, meine Frau hinter meinem Rücken zu verstecken, als ob das alles sei, was ich noch tun könne. Ich musste an die Brosche meiner Großmutter denken, sie war mehrere Hundert Dollar wert gewesen, und ich hatte sie für 80 verkauft, nur um mir und meiner Izell ein Ticket in die Hölle zu besorgen.“

Rob schluckte. Chris stand neben ihm, auch er war von der zerlumpten, in Leid versunkenen Figur des Geistes versunken.

„Die Männer erschossen sie zuerst“, berichtete Kal weiter. Er versuchte emotionslos zu bleiben, aber nicht einmal dem Hologramm gelang es, seine Sachlichkeit zu bewahren.

„Dann vergewaltigten sie die Frauen“, setzte Juan seine Leidensgeschichte fort. „Ich konnte es nicht ertragen, ich stürzte mich auf den Kerl, der sich an Izell zu schaffen machte.“

Er begann offen zu weinen.

„Aber sie hatten die Männer zuerst erschossen. Der Schmerz in meiner Brust zerriss mich, aber die Not und der Zorn in mir war gewaltiger, ich konnte mich von dem Anblick nicht fortreißen. Ich begriff schon, dass ich tot sein musste. Meine Leiche lag hinter mir. Trotzdem konnte ich nicht loslassen. Ich stürzte mich auf den Schurken. Meine Hände glitten einfach durch ihn hindurch. Er erdrosselte Izell während er in ihr grunzend ejakulierte. Ich sah sie hilflos und befleckt sterben. Ich konnte nichts tun. NICHTS!“

Der Mexikaner wirkte noch kleiner, noch schäbiger.

„Es ist schwer klar zu beschreiben, was ich noch war. Nichts außer Zorn. Nur noch gebündelte Rache. Ich konnte sehen, aber ich konnte nicht denken. Nur fühlen. Nur verdammen!“

Er krächzte weiter.

„Ich war ein Geist, ohne Verstand. Ich hing an diesem Typen, der meine Izell umgebracht hat wie eine unsichtbare, schwarze Pest. Aber ich konnte nichts bewirken. Erst über Jahre begriff ich, wie ich meinen Zorn bündeln, wie ich eingreifen konnte. Da war dieser Typ schon lange tot. Hatte sich bei einer Bandenschiesserei abknallen lassen. Doch ich war noch da. Meine Wut, körperlos, ungelenkt, unverstanden!“

Rob begutachtete Kalimero genauer. War sein Freund auch nur noch ein Geflecht aus Gedanken und Emotionen, wie dieses Wesen vor ihm? Für einen Moment fragte sich Rob, wo Crispin jetzt steckte. Als sie einen mexikanischen Übersetzer brauchten, hatten die beiden die Rollen getauscht. Irgendwo steckten immer noch die anderen Geister, die versuchten, sie alle umzubringen. Einer der beiden körperlosen Ex-Terraner musste sie ständig in Schach halten.

„Dann, als ich mich schon beinahe verloren hatte, erschienen die Lichtgestalten“, meinte Juan und auf einmal fuhr ein Schauer über Robs Rücken.

„Wunderschöne Engel! Sie sagten, es wäre Zeit für mich. Zeit für das jüngste Gericht. Sie fragten mich, ob ich mit richten würde. Den Rest der Menschheit. Natürlich wollte ich es. Meine Wut jauchzte endlich fröhlich auf. Wir…wir vereinten uns. Soviele jähzornige Geister auf der Erde. Soviele verlorene Seelen! Wir wurden eins. Und die Engel gaben uns Energie und Kraft und Körper. Sie versprachen uns die Apokalypse. Wir fielen auf die Erde herab. Überbrachten unsere Rache, versetzen die Menschen in Angst und Wahnsinn!“

„Schrecken!“, krächzte Rob begreifend. „Ihr wart die Schrecken! Die erste Welle der Ghosts!“

Wie treffend die Menschheit ihre Vernichter tituliert hatten.

„Wir vernichteten die Lebenden. Zerstörten erst die Kolonien, dann kümmerten wir uns um die Erde. Als wir…bekämpft wurden…halfen uns die höheren Wesen.“

„Unsere Jäger konnten die Schreckengespinste vernichten!“, übersetzte Spato bitter. „Wir haben euch ausgelöscht, ohne zu begreifen, gegen was wir kämpfen. Und dann begann die zweite Welle, die Tronarschiffe, die unsere Jäger angriffen, um die Spinsters zu schützen.“

„Die Seraphim!“, stimmte der Mexikaner zu. „Sie schufen ihre Körper aus reiner Energie. Sie leiteten uns, bewachten uns. Ich…ich weiß nicht wie lang es gedauert hat. Aber dann, auf einmal…lag sie unter uns. Die Erde. Endlich konnte unsere Wut entweichen. Wir konnten richten. Wir ließen das Feuer über sie kommen. Sie alle waren schuldig. Sie haben meine Izell geschändet. Sie haben meinen Sohn getötet. Wir kannten keine Gnade!“

Rob musste mit sich kämpfen, um auf den Füßen zu bleiben.

„Tronar!“, zischte er. „Dieser Typ ist ein Tronar!“

Das Hologramm verstand ihn nicht, ging nicht auf ihn ein.

„Als die Erde vom Feuer verschlungen wurde und die Schreie der sterbenden Geister verstummten, waren die meisten von uns zufrieden. Sie lösten sich einfach auf, vergingen, ihre Rache gestillt. Aber es gab noch einige, die vom Zorn so zerstört waren, dass sie zurückblieben.“

Juan schaute Kal in die Augen.

„Wir hörten euren Ruf. Wir folgten eurer Einladung hierher. Jetzt bin ich hier, um zu erzählen. Weil…meine Wut ist verschwunden mit der Zerstörung der Erde. Aber…ich fühle mich betrogen. Warum haben uns die Engel keine Erlösung geschenkt? Warum waren wir allein nachdem die letzten Menschen gerichtet waren?“

Kalimero nickte dem Mexikaner dankbar zu.

„Wir wurden alle betrogen“, sagte er ruhig. Er wählte seine Worte langsam und bedacht. „Wir danken dir für deine Geschichte, Juan. Du hast Licht ins Dunkel gebracht, deine Aufgabe hier ist erfüllt. Wir danken dir von Herzen und verzeihen dir!“

Robs Augen schienen entgegen Kals Worten zornig zu funkeln, aber Juan schien es nicht zu bemerken. Ein kleiner Hoffnungsschimmer glomm in den Augen des Geistes auf. Kalimeros Worte schienen ihn von einer Last erlöst zu haben. Er nickte kurz, damit flackerte sein Hologramm ein letztes Mal auf und er verschwand.

Die drei Terraner blieben schweigend zurück.

„Also wenn ich das richtig kapiert habe“, ergriff Chris dann das Wort, „Gab es nie irgendwelche Tronar-Aliens? Es waren Ghosts? Wir sind von unseren Toten vernichtet wurden?“

„Von unseren eigenen Sünden“, berichtigte ihn Rob.

Chris kommentierte den Einwand nur mit einem Augenbrauenzucken.

„Und diese Viecher, die jetzt hier durch die elektrischen Systeme kriechen, Luftschleusen öffnen und versuchen, uns umzubringen, sind die restlichen Geister. Also die lächerlichen Überbleibsel der Tronar?“

„Sie hassen mich gar nicht, weil ich die Erde zerstört habe“, glomm ein Funke der Erkenntnis in Rob auf. „Sie hassen mich, weil ich überlebt habe. Sie wollen ihre Aufgabe zu einem Ende bringen.“

„Und darum haben sie auch mich hierher gelockt“, führte Chris den Gedanken weiter. „Auch ich habe eine merkwürdige Einladung bekommen, zu diesem Wrack aufzubrechen. Du und ich, Rob. Die letzten lebenden Menschen.“

„Sind wir das denn?“, hakte sein Bruder nach.

„Beinahe!“, meinte Chris. „Ich bin mit einem Shuttle von der Erde geflohen und hatte einen Ingenieur dabei. Wir haben uns durch Todesschlaf retten können. Genau, wie ich dich durch die Blockaden gebracht habe.“

„Ich hätte mir denken müssen, dass du einen Plan B hast für den Fall, dass ich versage.“

Robs Stimme wurde wieder leiser, bissiger.

„Ja so gut kenne ich dich, Bruderherz“, fuhr Chris, ebenso gereizt, fort. „Zu konfus um einen einzigen Knopf zu drücken. Was ist schon das Überleben der Menschheit wert. Hast du uns für zu verabscheuenswürdig gehalten, um uns alle zu retten, Rob?“

„Schluss damit!“, unterbrach Kalimero lautstark die beiden Streitenden. „Sonst seid ihr nicht besser als die Geister in eurer Umgebung.“

Die beiden Brüder beruhigten sich ein wenig, funkelten sich aber immer noch zornig an.

„Chris, Rob hat nicht versagt“, sprach Crispin weiter,“Er hat die Supernova-Bombe gezündet. Dummerweise waren euch eure Gegner mehr als einen Schritt voraus. Es war nur eine Farce. Dein Plan hätte niemals funktioniert!“

Chris wirkte sichtlich schockiert.

„Du hast den Warp-Punkt im Hailespond geöffnet?“, gaffte er seinen Bruder überrascht an.

Rob ging nicht auf ihn ein. Sein Verstand hatte endlich die Konsequenz des Gesprächs begriffen, seine Augen starrten starr in die Dunkelheit.

„Unsere Gegner…“, krächzte er. „Kal, verstehe ich dich und diesen Mexikaner richtig? Wenn ich nicht auf den Auslöser gedrückt hätte…wenn ich mich gegen die Menschheit entschieden hätte…sie hätten uns trotzdem ausgelöscht? Die Tronar waren nur eine willenlose Armee, sie hätten die Erde niemals verschont?“

Kal nickte. Rob lächelte gequält auf. Ein dunkler Schatten verschwand aus seinen Augen, eine Last fiel sichtbar von seinen Schultern.

„Was redet ihr da?“, keifte Chris. „Wer? Wer sind die Drahtzieher hinter diesem ganzen Schwindel?“

Rob lachte boshaft auf.

„Lichtgestalten! Wunderschöne Engel!“, frohlockte er zynisch. „Natürlich! ‚Sie sind gut darin, Geister zurückzuholen’“, zitierte er sich selber. Dann grummelte er: „Ich hätte mehr von ihnen den Schädel einschlagen sollen, als ich die Chance dazu hatte.“

Chris blickte immer noch ratlos.

„Snirvellin“, ließ Kal das Wort in den Raum fallen. „Sie taten so, als seien sie nur Beobachter. Nur ein einziger Mensch sah sie, bevor die Erde zerstört wurde. Und das überlebte er nicht.“

„Troy“, begriff Rob. „Sie entführten und klonten ihn. Und ermordeten ihn dann.“

„Damit erreichten sie zwei Dinge“, fuhr Kal fort. „Sie bekamen dich von der Armageddon herunter, deren Schicksal Selbstzerstörung war. Und sie brachen dein Herz und deinen Verstand.“

Rob zitterte, während Kal weitererzählte.

„Dann sorgten sie dafür, dass du in den Hailespond reist, um die Tronar auszulöschen. Sie wollten DICH! Der einzige Mensch, der keinen Grund hatte, die Menschheit zu lieben. Der sein ganzes Leben nur Einsamkeit und Betrug und Verrat erfahren hatte.“

Rob starrte ihn blass an.

„Moment“, unterbrach Chris den Sermon, „Aber Rob nach Hailespond zu schicken war MEINE…“

Dann verstummte er auf einmal, errötend.

„Und wie kam dir diese Idee…O’Connor? War es eine göttliche Eingebung? Oder kam dir der Gedanke im Schlaf?“

Robs Bruder starrte nur verärgert zurück.

„Aber warum diese Komplexität, dieser Irrsinn?“, hakte Rob nach. „Was hatten die Snirvellin davon, mich zum Richter über die Menschheit zu bestimmen. Ich war sicherlich der erfolgreichste Kandidat, die Menschheit zu verdammen, aber warum haben diese verfluchten Fischköpfe nicht einfach selber die Erde bombardiert, ohne mich, ohne die Schrecken oder die Tronarjäger, ohne diese Scharade?“

„Diplomatie!“, krächzte Chris. Damit kannte er sich besser aus, als die anderen beiden. „Unsichtbare Regeln und Benimmcodes. Wir haben doch dieses Spiel selber die ganze Zeit gespielt. Nehmt doch einmal Afghanistan in den 80ern. Die Russen waren in ein fremdes Land eingefallen, und was machten die Amerikaner? Nein, sie schickten keine Truppen in das Land. Sondern Waffen und Ausbilder. Machen die Mujahedin zu ihrer Armee. So etwas gab es viele hundert Male. Die Tronar waren die Mujahedin der Snirvellin. Und jetzt kann ihnen niemand den Vorwurf machen, die Erde ausgelöscht zu haben. Wir waren es selbst. Wir haben uns selber vernichtet. Und Rob sollte die Gallionsfigur dieser Selbstzerstörung werden.“

„Was nicht funktioniert hat“, vollendete Kal das Bild.

Die Drei schauten sich schweigend an. Alles war gesagt worden. Jetzt mussten sie nur noch lebend von diesem Wrack entkommen.

 

„Mein Shuttle liegt an einer der vorderen Schleusen“, erklärte Chris, „Aber beim Landevorgang sind mir aus irgendeinem merkwürdigen Grund die Schaltkreise durchgebrannt.“

Rob zuckte nur gequält grinsend.

„Der direkte Zugang durch den Bugkorridor der zweiten Ebene ist nicht möglich. Die Ghosts haben dort bereits die Atmosphäre abgelassen. Aber wir könnten über den Korridor steuerbord ausweichen. Fragt sich nur, ob wir die Systeme reparieren können“, erläuterte Kal.

Rob schüttelte konzentriert den Kopf.

„Nein!“, sagte er, „Damit rechnen sie. Wenn wir Pech haben, blasen sie uns die Luft raus, sobald wir den Korridor betreten. Crispin kann nicht alle Luken gleichzeitig überwachen. Wir müssen sie überraschen. Sie sind nicht besonders intelligent!“

Damit drückte er den Abzug seiner Kombinationswaffe. Ein hauchdünner, zentimeterlang gebündelter Laserstrahl trat heraus. Er richtete ihn auf die metallenen Bodenplatten, die sofort flüsternd zerschmolzen.

„Drei Zentimeter Stahl“, erklärte er. „Dann die Gravitationsfeldelektronik. Noch ein paar Zentimeter Metall und wir kommen direkt durch die Hangardecke. Wenn dieses Raumschiff halbwegs wie die Armageddon gebaut ist.“

„Aber intakte Jäger werden wir dort nicht finden“, meinte Kal zweifelnd.

„Das nicht. Aber als ich die Armageddon verlassen haben, gab es sowieso nur noch wenige intakte Jäger. Der Rest war in Reparatur. Mich stört nicht, ob die Waffensysteme oder Schildgeneratoren zerstört sind. Hauptsache wir haben Lebenserhaltung.“

Er schaltete den Laserschweißer aus und warf ihn Chris entgegen.

„Mach du weiter“, meinte er unbesorgt, „Ich habe noch etwas zu besprechen. Kal, kannst du mir einen der Ghosts durchlassen?“

 

Vindicator, Briefing Room, Rob&Derek

 

Rob seufzte schwer auf.

„Also ist da wirklich nichts mehr von dir über außer Schmerz und Wut?“, fragte er prüfend das blasse Bild Derek Sanders.

„Du hast mich allein gelassen, Rob“, meinte die Stimme des Verstorbenen, „du hast…“

„Schluß mit dem Scheiß“, unterbrach ihn Spato unwirsch. „Ich hab dich nicht zu mir kommen lassen, um mir denselben Mist noch einmal anzuhören!“

Er warf dem Geist einen mörderischen Blick zu.

„Du warst ein Feigling, Derek. Wenn du einmal zu unserer Liebe gestanden hättest, wäre es nicht soweit gekommen. Aber es war deine Schwäche, die alles zerstört hat. Und das restliche Versagen in deinem Leben hast du derselben Schwäche zu verantworten. Ich habe damit nichts zu tun. Du hättest auch ohne mich einmal aus dem Schatten deines Vaters treten können. Oder deine Prüfungen zu Ende bringen. Ich habe dich nicht verraten, Derek. Das hast du dir alles selbst angetan.“

Der Gesichtsausdruck des toten Piloten war schwer zu deuten. Etwas anderes kämpfte mit der Wut in der verlorenen Seele.

„Du kriegst mich nicht an den Haken, Derek, das wollte ich dir nur sagen“, sprach Rob leiser weiter. „Ich lasse mich nicht mehr darauf ein, mich zum Sündenbock machen zu lassen. Wenn du denkst, du hattest es schwer ohne mich, dann hast du keine Ahnung, wie schwer ich es ohne dich hatte. Du warst meine erste Liebe, und ja, ich habe dich mit jeder Faser meines Körpers und meines Geistes geliebt. Ich musste auch ohne dich klarkommen. Und es gab niemand anderes für mich, zumindest zehn lange Jahre.“

Der Geist wollte erneut sprechen, aber Rob winkte ihn erneut ab.

„Ich wollte dir nur eins sagen, Derek. Meine Liebe war ehrlich. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich bedauere…dass es so gekommen ist.“

Trotz des wütenden Gesichtsausdrucks stahl sich eine Träne in Robs linkes Auge.

„Und ich verzeihe dir. All den Schmerz, den du mir zugefügt hast. Ich verzeihe dir. Und ich entschuldige mich dafür, wenn ich dich verletzt habe.“

Er meinte die Worte ehrlich. Er hatte aufgepasst, als Kalimero zu Juan gesprochen hatte, und tatsächlich, auch dieses Mal schien sich ein Hauch des Friedens über Dereks Gesicht zu legen.

„Und du meinst, das langt?“, fragte Derek. Trotz der anklagenden Worte war die Wut aus seiner Stimme verschwunden. Rob nickte traurig.

„Es muss!“, antwortete er. „Du warst meine erste Liebe. Die Erinnerung an diese Zeit ist immer noch wie ein Geist, der durch meinen Verstand spukt. Es ist unsere Entscheidung, an welchen Teil unserer Liebe wir uns erinnern. Ich würde mich auch gerne an die guten Seiten erinnern, Derek…es ist unsere Entscheidung!“

 

Vindicator, Briefing Room, Rob&Chris

 

Als Rob zu den anderen zurückkehrte, hatte Chris bereits die erste Stahlplatte freigelegt. Rob nahm ihm den Laser ab, entfernte mit wenigen Schnitten die darunter liegenden elektrischen Verbindungen, woraufhin die künstliche Schwerkraft versagte. Sich schwebend an den Plattenkanten festhaltend, arbeiteten sie weiter.

„Wer war der Bursche, kam mir bekannt vor!?“, fragte Chris neutral.

„Ich war mit ihm auf der Akademie“, antwortete Rob nüchtern, „Er starb zwei Jahre vor Kriegsende. Bei der Verteidigung einer der Versorgungsplattformen gegen die Tronar.“

„Ah“, meinte sein Bruder nur, half ihm dabei, die Grav-Platte herauszuhebeln. Sie zogen sich in den Deckenzwischenraum herab, brannten sich durch die letzte Schicht über der Hangardecke.

„Jetzt erinnere ich mich“, meinte sein Bruder, als sie beinahe hindurch waren. „Er war an deinem Krankenbett. Als wir dir die neue Lunge eingesetzt haben und du im Koma lagst!“

Rob starrte ihn entgeistert an.

„Drei Tage und Nächte hat er gewartet. Die Chancen für dich waren mehr als schlecht. Gut, dass er dann aufgegeben hat. Schließlich haben wir dich erst sechs Monate später wieder sicher zu den Lebenden zählen können.“

„Ich habe das nicht gewusst“, meinte Rob blass.

„War besser für ihn“, meinte Chris. „Er hätte nicht ewig auf dich warten können. Er war doch mitten in den Aufnahmeprüfungen für die SFF. Hast du ihn auf der Akademie wiedergesehen?“

„Nein“, meinte Rob mit Tränen in den Augen. „Als ich ein Jahr später nach Ullus Major kam, war er schon fort!“

 

Chris Finger zitterten unkontrolliert. Um sich zu beruhigen, klopfte er mit ihnen auf seinen Oberschenkeln herum. Er hasste es, untätig herumzustehen. Aber Rob fuchtelte im Inneren des Jägers herum, und von technischen Dingen hatte er wirklich keine Ahnung.

Sie hatten einen Jäger mit defektem Energieverteiler gefunden. Ein wichtiges Modul, das die Aufteilung der Energie über die inneren Systeme wie Waffen, Schilde, Antrieb und Kommunikation verwaltete. Schwer zu reparieren ohne das komplette System auszutauschen. Aber es war genau das, was Rob gesucht hatte, wie sein Bruder grinsend festgestellt hatte. Es war ein Kinderspiel, nun zumindest für einen SFF-Piloten, den Verteiler zu überbrücken und einen Kurzschluß zum Antriebsaggregat herzustellen. Danach musste er nur noch eine kleine Nebenlinie zur Lebensverhaltung aufbauen.

„Fertig!“, meinte Rob endlich und ließ einen stolzen Blick über den Jäger gleiten.

Es war ein Batoon, ein Ein-Mann-Kleinstjäger. Aber sie würden sich zu zweit hintereinander auf den Pilotensessel zwängen können. Die Lebenserhaltung würde einen weiteren Menschen verkraften können.

Chris beobachtete Rob sorgfältig. Er gewann langsam ein anderes Bild von seinem kleinen Bruder. Hier, auf einem Flottenträger und neben einem Jäger stehend, strahlte der Pilot ein Selbstbewusstsein aus, wie es Chris noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte.

Und noch mehr hat sich verändert, wurde ihm klar. Er hatte es in dem Moment bemerkt, als Rob ihn auf der Krankenstation fest gepackt und sich gegen seinen Angriff gewehrt hatte. Rob war verändert. Er ließ sich nicht mehr herumschubsen.

Und Chris O’Connor, einstiger Präsident von COC, der mächtigsten Gesellschaft auf dem verlorenen Erdenball, sah sich plötzlich an zweiter Position. Es war ein ungewöhnliches Gefühl für ihn. Aber ihm war klar, dass dieses ein Privileg war, welches er nur seinem Bruder gewähren würde.

„Dann lass uns endlich von hier fort!“, meinte er und drückte eine imaginäre Zigarette an seinem Bein aus.

 

Vindicator, Briefing Room, Kal&Crispin

 

Rob schob seinen Kopf ein letztes Mal durch die geöffnete Bodenplatte.

„Wir brechen jetzt auf. Bitte öffnet das Schott in fünf Minuten“, meinte er zu den Hologrammen. Crispin und Kalimero hatten sich beide auf dem Projektionsdeck zum Abschied eingefunden.

„Am besten treffen wir uns auf Myridia in zwei Tagen“, meinte er.

Kal schüttelte seinen Kopf.

„Kellan Prime“, schlug er vor. „Mitten in der Höhle des Löwen“

Rob legte den Kopf zweifelnd schief.

„Ohne Kommunikation können wir uns nicht identifizieren. Sie werden uns auf Kellan kaum landen lassen“

„Darum kümmern wir uns“, grinste Crispin. „Wir werden Stunden vor euch ankommen. Es dürfte kein Problem sein, euch eine temporäre falsche Identität zu verschaffen.“

Damit senkte Rob befriedigt den Kopf.

„Also gut“, meinte er. „Dann Kellan Prime. Wir sehen uns!“

Er verschwand aus ihrem Sichtfeld.

Sobald er nicht mehr zu sehen war, schälte sich eine dritte blasse Gestalt aus dem Dunkel.

„Ich verstehe nicht, wieso ich nicht mit ihnen sprechen durfte“, meinte der letzte Ghost. „Immerhin war ich es, der den Snirvellin gesehen hat. Ich war das wirkliche Opfer hier.“

Crispin schaute Kal an, dann richtete er seine Worte an den anderen.

„Es hätte ihn zu sehr verwirrt“, antwortete er, „Dieser Derek war schlimm genug. Dein Anblick hätte ihn aus der Bahn geworfen.“

Troy Parker legte verwundert seinen Kopf schief.

„Ich verstehe nicht?“, meinte er verwirrt, „Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen?“

„Aber er kannte dich“, meinte Crispin. „Zumindest deinen Klon. Ihr wart ein Liebespaar, bevor er dich sterben sah. Verstehst du jetzt?“

„Wir waren ein Paar?“, Troy Parker schaute irritiert und schockiert, „Wie kann das sein? Was sollte mich an diesem Menschen gereizt haben?“

Kal lächelte schmerzvoll.

„Er war sehr gut zu dir, Troy. Er hat sich um dich gekümmert.“

Der verstorbene Pilot stieß empört die Luft aus.

„Sehe ich so aus, als ob ich jemanden brauche, der sich um mich kümmert?“, fragte er. „Immerhin bin ich ein SFF-Pilot.“

Crispin verkniff sich ein Grinsen. Der junge Pilot sah wirklich aus, als ob er einen Aufpasser benötigte. Seine jugendliche Unbedarftheit wurde nur kaum von dem aufgesetzen Machoismus überdeckt. Und er starb bei seinem ersten Einsatz, dachte Crisp betrübt. Auch sein Klon wäre ohne Rob früh gestorben.

„Natürlich nicht!“, lächelte Crispin gütig. „Aber Rob hat dich wirklich geliebt, Troy. Und sich um dich gesorgt. Ist es nicht besser, wenn es jemanden gibt, der sich darum schert, wenn wir sterben?“, fragte er.

Der junge Pilot wirkte nachdenklich.

„Waren wir glücklich?“, fragte er nach einiger Zeit.

 

„Okay, es ist alles bereit, die Ghosts heulen vor Wut, sind aber in unkonstruktive Raserei und Zerstörung verfallen. Wir können abhauen!“, meinte Crispin.

„Ich habe den Kurs der Vindicator überprüft“, berichtete Kal. „Das Entweichen der Außenatmosphäre im Hangar hat das Schiff aus der Bahn geworfen. Es bricht früher als erwartet aus der Kreisbahn aus. In spätestens drei Monaten stürzt es in die Singularität!“

Crispin nickte. Auch er schien froh zu sein, die Vindicator zu Grabe zu tragen.

Gerade als er sich zu einem Datenstrom auflösen wollte, hielt ihn Kal zurück.

„Warte, Crisp! Erzähl es mir. Was ist los?“

Crispin lächelte gezwungen.

„Schwer dir etwas vorzumachen, was?“, meinte er befangen. „Es ist die Begegnung mit Troy. Die beiden waren ein inniges Paar. Aber der andere, der echte Troy, konnte sich kaum vorstellen, Rob zu lieben. Wegen einem winzigen unterschiedlichem Gen. Wegen einer Kleinigkeit in seiner körperlichen Gestalt.“

„Ja und?“, fragte Kal ängstlich.

„Und dann diese Erinnerungen von dir an deine erste Liebe. Berührungen. Gerüche. Alles körperliche Dinge. Ich…ich will das auch. Ich möchte es fühlen. Du hattest einmal einen Körper aus Fleisch und Blut, aber ich habe das nie erlebt.“

Er sah seinem Liebsten in die Augen.

„Ich will meine eigenen Erinnerungen, Kal. Ich möchte einen Körper. Ich kann nicht mehr einfach nur eins mit dir sein. Ich möchte mehr!“

Kal nickte. Er verstand alles, was sein Geliebter ihm erzählte. Er begriff die Konsequenzen dieses Wunsches. Crispins Worte überraschten ihn nicht.

„In Ordnung!“, meinte er. „Ich werde dir dabei nicht im Wege stehen!“

Er erinnerte sich plötzlich an den Jungen, der auf der Straße gestanden hatte, zu nervös, um den eigenen Schulball zu betreten. Jetzt, nach all der Zeit, verspürte er auf einmal wieder dieselbe Angst.

 

Hailespond, Chris&Rob:

 

Chris drehte sich herum und schaute der langsam kleiner werdenden Silhouette der Vindicator  hinterher.

Der kleine Jäger beschleunigte und ein flaues Gefühl einer düsteren Vorahnung breitete sich in seinem Magen aus.

„Wohin geht es nun, Rob?“, fragte er.

Sein Bruder schaute nach vorne. Ein kleines Lächeln hatte sich auf seinen Mundwinkeln ausgebreitet.

„Nur zwei Tage Flug, Chris. Dann haben wir ein Rendezvous mit der Zukunft.“

Seine Augen funkelten wie die unzähligen Sterne um sie.

 

ENDE

 

To Be Continued In Space Seven: KARMA KILLERS

 

 

 

 

 

 

 

Yllen:

 

Er hätte den Jungen nicht bemerkt, wenn er nicht zufällig ein Eichhörnchen beobachtet hätte, das zweihundert Schritt von ihm die frisch gefallenen Bucheckern vergrub.

Der junge Jäger trug einen Laubmantel, der ihn mit dem umliegenden Wald verschmelzen ließ. Seine Kapuze war tief heruntergezogen, seine Füsse steckten in dunkelgrünen Filzpantoffeln, mit denen er wie ein Storch flink und geschickt durch das Laub stakste. Auch wenn die trockenen Blätter zwei Hand hoch den Waldboden bedeckten, machte der Junge trotz seiner schnellen, fliessenden Bewegungen nicht einen Laut.

Hajol saß mit dem Rücken an einem der Sammlerbäume. Er hatte sein morgendliches Ritual längst abgeschlossen, war nun tiefer in den Wald gegangen, um sich neues Harz zu zapfen. In dem Baum in seinen Rücken war eine frische, spiralförmige Furche geritzt. Das Harz sammelte sich in ihr, rann zähflüssig an ihr herunter, um sich in einer kleinen Glasflasche am Stamm zu sammeln.

Der Holzfäller nutzte die Wartezeit um sich zu entspannen und den herrlichen Herbsttag zu geniessen. Die Luft roch aromatisch nach Zimt und trockenem Laub, in ihr steckte eine Energie, dass er nur einmal tief einatmen musste, um sich wieder wie ein junger kräftiger Mann zu fühlen. Er saß noch keine halbe Stunde hier, als der Junge an ihm vorbeihuschte.

„Tyriad!“, rief er erfreut und winkte.

Der Junge zuckte zusammen. Blitzschnell drehte er seinen  Kopf in Richtung des Holzfällers, durchbohrte ihn mit seinen tiefbraunen Augen. Dann erkannte er ihn und schenkte ihm ein breites, lautloses Lachen. Er schob seine Kapuze zurück, schüttelte sein zotteliges schwarzes Haar und winkte dem alten Mann zurück. Dann legte er beschwörend einen Finger auf seine Lippen, zog die Kapuze wieder fest und hastete weiter.

Hajol hörte die Äste weit über ihn in den Bäumen knacken und verstand. Er grinste in sich hinein. Er mochte den Jungen, seitdem er ihn das erste Mal im Kreise der Schwestern gesehen hatte. Tyriad war jetzt 15 Jahre alt, genau wie Fleys, den er sich letztes Jahr als Lehrling genommen hatte. Fleys war ernsthaft, geduldig und respektvoll. Er würde ein guter Holzfäller werden. Aber er war ein wenig langsam und ihm fehlte Tyriads inneres Feuer und seine erfrischende Unbekümmertheit. Für einen Moment bedauerte Hajol, dass Tyriad den Weg des Kenvelo, eines Verdammten, gehen musste.

Mit einem Seufzer des Bedauerns nahm der alte Mann die inzwischen nahezu gefüllte Flasche mit dem Harz auf. Er sprach ein kurzes Dankesgebet, streichelte die Stelle, an der er den Baum verletzt hatte, dann machte er sich wieder auf in Richtung Heiligtum.

Der  Junge lief weiter. Sein Lungen pumpten die klare, gewürzte Luft durch seinen Körper, er fühlte sich wie berauscht, nur ein kleiner Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet. An diesem Tag fühlte er sich auf eine merkwürdige Weise lebendiger als in den Tagen hervor. Er tat diese Vorahnung nicht als belanglos ab, er war ein Kenvelo, er konnte das Schicksal erspüren.

Trotzdem warnte ihn nichts, als auf einmal mit einem lauten Krachen seine Verfolgerin von oben durch die Äste auf ihn herabstieß. Die uralte Frau fiel wie ein Stein, er schaffte es gerade noch zur Seite zu hechten, als ihre Fußspitzen kräftig aber grazil tief in den weichen Boden eindrangen, wo er soeben noch gestanden hatte. Er verwandelte seine Hechtrolle in einen Überschlag, kam weich federnd auf den Füßen auf, sprang sofort herum.

Anusch-Baba steckte ihren Aufprall mühelos weg, verlor keinen Sekundenbruchteil an Zeit, setzte sofort nach. Ohne einen Laut von sich zu geben sprang sie ihn an, die Füße in Richtung seines Gesichts gezielt.

Er wehrte ihre Tritte mit dem linken Arm ab, nutzte ihren Schwung um hinter sie zu gelangen, ballte die Rechte zur Faust und schlug nach ihrem Hinterkopf. Seine Faust boxte ins Leere, sie war in der Luft herumgewirbelt, hatte dabei versucht eins ihrer Beine um sein Vorderes zu wickeln, ihn zu Fall zu bringen.

Er hüpfte einen halben Schritt nach hinten, entkam so dem Haken ihres Beines. Die beiden Jäger schauten sich ins Angesicht. Tyriad lauschte in sich hinein, hörte seinen eigenen Herzschlag. Er war ruhig und gleichmäßig, das Vorgeplänkel des Kampfes hatte ihn kaum angestrengt.

Die Jägerin griff erneut an. Tyriad wich aus, parierte ihre Schläge und Tritte, suchte nach Fehlern in ihrer Deckung um selber in den Angriff übergehen zu können. Aber die alte Frau war eisern, brachte ihn mit ihrer Perfektion zum Verzweifeln, auch wenn er selber keinen einzigen Schlag einsteckte.

Auf einmal brach sie ihren Angriff ab.

„Deine Reflexe sind ausgezeichnet, an deiner Kampftaktik ist nichts auszusetzen“, meinte sie resolut.

Er wäre beinahe wie von einem unsichtbaren Schlag zusammengefahren.

War das ein Lob gewesen? In den letzten zwölf Jahren hatte er nie ein zufriedenes Wort von seiner Ausbilderin gehört. Ihre Bitterkeit, ihre ständigen Belehrungen hatten zu seinem Leben gehört wie das harte Training und die ständigen schweren körperlichen Fleissaufgaben. Es war wirklich ein besonderer Tag heute.

„Danke!“, schluckte er ernsthaft.

Sie warf ihm wieder einen bösen Blick zu. So kannte er sie. Er beschwerte oder bedauert sich selbst nie. Auch wenn er die anderen Kinder in der Siedlung der Yllen betrachtete, die spielten oder faulenzten, er hatte nicht das Gefühl, unfair behandel zu werden. Er war ein Kenvelo.

„Komm!“, sagte sie und stampfte plötzlich mit den Bewegungen einer gebrechlichen Alten in den Wald hinein. Der Junge folgte ihr gehorsam.

Der Herbst war schon tief in den Wald eingedrungen. Trotzdem befanden sich noch viele Blätter in den Bäumen, das Licht beleuchtet zu hellen Strahlen gebündelt das grüne Moos und die bunten Blätter.

„Dein Körper ist ausgebildet. Dein Geist ist scharf und schnell. Es bleibt noch eine Seite, an der du arbeiten musst!“, stellte sie missmutig fest.

Sie hatten einen riesigen Llemenior-Baum erreicht. In seiner Größe unterschied er sich kaum von den Riesen im Heiligtum der Kalenderbäume. Trotzdem gab es viele dieser Llemenior im Wald, er unterschied sich ansonsten in keiner Weise von den anderen.

„Schau mit dem Herzen!“, meinte die Baba.

Tyriad schluckte. Langsam und ehrfürchtig näherte er sich dem Baum. Ich grüße dich, werter Wächter, dachte er und füllte seinen Geist mit Höflichkeit und Respekt. Er legte seine Arme um den Stamm, presste ihn an sich, berührte dann auch mit der Stirn die rauhe Rinde.

Langsam nahm er die Aura in sich auf und begann zu lächeln. Ein Gefühl der Stärke und Zuversicht durchflutete ihn. Die Freude brachte ihn beinahe zum Weinen.

„636 Jahre!“, antwortete er. Die Baba nickte bestätigend.

„Und…da ist noch mehr!“, erkannte er. „Liebe, eine Menge Liebe. Ich sehe…ein kleines Mädchen. Sie spielt hier im Wald. Ein Pakt. Sie haben einen Pakt gegenseitiger Liebe abgeschlossen!“

Als er den Baum losließ und sich zu seiner Lehrerin umdrehte, erschrak er beinahe. Anusch-Baba lächelte, außerdem funkelte eine kleine Träne unter ihrem linken Auge. Auch das hatte er nie zuvor gesehen.

„Du bist ein wahrer Kenvelo, Tyriad!“, meinte die Jägerin zufrieden.

Der Junge empfing auch ihre Aura, spürte den Stolz in ihrer Brust. Er lächelte, fühlte sich großartig. Sie las ihn ebenso leicht, wie er sie.

„Geniesse den Moment, aber stelle deine Freunde dann ein!“, sprach sie, sofort wieder in den Zustand der fordernden Bitterkeit verfallend.

„Du bist noch nicht am Ende. Du weißt, was fehlt!“

„Das Ritual der Öffnung!“, meinte er und erblasste.

„Ich spüre einen Schatten auf deiner Seele, Baba-Jan!“, erforschte sie ihn. „Du hättest dich längst öffnen können. Die Fähigkeiten sind vorhanden. Weswegen hast du Angst vor dir selbst?“

Er seufzte.

„Ich bin ein Kind!“, sagte er, so als ob das alles beantworten würde.

In gewisser Weise hatte er recht. Die Yllen schätzen die Kindheit. Es war eine Phase des Ausruhens, des Kräftesammelns. Kinder wurden geliebt und verhätschelt. Auch die nächsten 15 Jahre der Lehre waren leicht und angenehm. Tyriads Leben stellte eine Ausnahme dar. Trotzdem hatte er diese 15 Jahre der Jäger-Ausbildung genossen und ahnte, was ihn erwartete.

„Noch bin ich unschuldig!“, sagte er.

Die Baba schüttelte missmutig den Kopf.

„Du warst nie unschuldig, Tyriad! Du bist ein Mörder, wie ich eine Mörderin bin. Nur weil deine Erinnerung noch fehlt, hast du doch kein anderes Karma, Al’Kazenar!“

Manchmal glaubte er wirklich, dass sie ihn hasste.

„Wenn ich mich öffne, bin ich erwachsen“, gab er zögerlich zu. „Ich werde nie wieder den Frieden verspüren, den ich im Moment in meiner Seele empfinde!“

„Du bist, was du bist!“, wiedersprach sie ihm. „Jetzt und in jedem Moment deines Lebens!“

Er seufzte auf. Wo er vorher im Wald die Lichtstrahlen wahrgenommen hatte, bemerkte er jetzt die düsteren Schatten.

„Bist du endlich bereit?“, bedrängte ihn die Baba.

Er blieb stehen, blickte auf den Boden.

„Wie soll ich beginnen?“, fragte er.

Die Jägerin stellte sich ihm gegenüber, zwang seinen Blick in ihre Augen.

„Stell dich breitbeinig und bequem hin!“, forderte sie ihn auf. „Entspanne deinen Körper und leere deinen Geist. Achte nicht auf meine Aua oder die des Waldes. Lese deine eigene!“

Er schloss seine Augen, konzentrierte sich.

„Es beginnt immer mit einem Nightspear!“, flüsterte sie. „Kannst du ihn sehen?“

Tyriad ließ seinen Geist ins Dunkel fallen. Er hatte noch nie von einem Nightspear gehört oder ihn gesehen, aber das Wort löste sofort eine Assoziation aus. Ein einfacher hölzener Griff. Darin eine summende Nadel, vibrierend von aufgeladener Energie. Wie ein hauchdünner materialisierter Lichtstrahl.

„Ich sehe ihn!“, sprach er.

„Du bist ein Kenvelo!“, führte ihn seine Baba. „Der Nightspear ist in deiner rechten Hand! Was tust du mit ihm?“

„Ich habe ihn bereits dem Mann in die Brust gestochen!“, beschrieb er die Bilder in seinem Kopf.

„Zwischen die Rippen und durch das untere Drittel seines Herzens, direkt in den Chi-Punkt. Er zuckt vor mir und stirbt. Er ist…er ist gefüllt von Schwärze. Der Schmerz in ihm verbrennt das dunkle Chi, aber nicht kräftig genug. Ich nehme die Schmerzen durch den Spear in mich auf. Sie sind furchtbar, aber ich ertrage es. Sein negatives Karma geht in mich über!“

Die Baba spricht direkt in seinem Kopf.

„Was ist dann geschehen“, fragt sie ihn.

„Ich wende mich ab, gehe zu den anderen. Die Frau ist bereits gebrochen. Sein Werk, er hat sie zu seinem Spielzeug gemacht. Ihre Seele ist leer, ihr Körper nur noch ein zweckloses Gefäss. Ich töte sie mit einer Handbewegung!“

Er sieht sie nicht, spürt die Baba trotzdem nicken.

„Weiter!“, drängt sie ihn.

„Ich nehme die Tochter. Wegen ihr bin ich gekommen. Ihre Seele ist weiß und unschuldig!“

Er schluckt.

„Sie hätte keine Chance gehabt. Er spielt bereits mit dem Gedanken, sie zu schänden. Sie wäre befleckt gewesen, noch bevor sie ihren ersten klaren Willen entwickelt hätte.“

Seine Stimme zitterte. … Al’ Kazenar hatte gewusst zu welchen Verbrechen Männer fähig sind. Für Tyriad war dieses Wissen jedoch neu und schockierend.

„Ich spreche die Gebete und Segnungen für sie. Beende ihr Leben und führe sie ins Seelenheil. Ihre Reinkarnation sollte bereits erfolgt sein. Dann gehe ich wieder zu dem Mann…ein Fürst?! Er leigt im Sterben. Die Schwärze verbrennt weiterhin in ihm und in mir. Ich zwinge mich zu Mitleid, erlöse ihn durch den Todesstoß, segne ihn. Jetzt ist sein dunkles Karma komplett in mich übergegangen. Ich…ich…“

„Du hast sein Karma akzeptiert und in dir aufgelöst. Dann hast du dich selbst zerstört, um es endgültig zu bannen. Du bist wiedergeboren worden ohne auch nur den Fleck einer Schuld zu hinterlassen. Du hast die Seele eine unschuldigen Kindes gerettet. Hervorragend, … Al’Kazenar. Du hast das Kameo makellos durchgeführt.“

Trotz der lobenden Worte troffen die Worte der Jägerin vor zynischer Bosheit.

„Selbstaufopferung ist die größte Pflicht des Kenvelo!“, rezitierte Tyriad getroffen den Satz, den er jeden Abend vor dem Schlafengehen chantete.

Zum ersten Mal spürte er die Bitterkeit der alten Frau auf seiner eigenen Zunge. Seine Angst hatte sich bewahrheitet. Der glückliche Junge Tyriad schien ihm so fern wie nie, nachdem er sich der Erinnerungen seines Falars, seines früheren Lebens, geöffnet hatte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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