Tomaso zeigte immer noch keine Reaktion, schaute stur auf sein Essen.
„Hast du noch Hunger?“, fragte mich Placido.
Ich schüttelte den Kopf.
„Dann räume ich mal ab.“
Placido erhob sich und nahm die Platte mit Salami und die Schale mit Peperoni und Oliven in die Hand. Ich wandte mich wieder zu dem Jungen, hob meinen Arm und streichelte ihm sanft über den Hinterkopf.
„Du musst das nicht mit dir alleine ausmachen! Du kannst jederzeit unsere Hilfe in Anspruch nehmen.“
„… ich habe Angst…“, hörte ich Tomaso sagen.
„… Angst?“, fragte ich sanft, „… Angst vor was?“
Der Junge atmete tief durch. Dann strich er sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich aufrecht hin.
„… dass ihr eines Tages die Nase voll von mir habt und auch weg seid!“
Er schaute zu mir und ich zuckte leicht zusammen. Sein Blick war heftig. Placido kam von der Theke zurück. Er räumte aber nicht weiter ab, sondern stellte sich hinter Tomaso.
„Tja mein Junge, ich muss dir leider sagen…“
Was hatte Placido jetzt vor?
„… dass du uns von nun an, an der Backe hast uns nicht mehr so schnell los kriegst. Vielleicht wirst du dir sogar ab und zu wünschen, dass wir nicht in deiner Nähe sind!“
Erstaunt schaute ich meinen Schatz an. Tomaso fuhr herum.
„Das würde ich nie tun!“
Placido machte einen Schritt nach links, so dass er sich neben Tomaso hinknien konnte.
„Ach komm, du bist jetzt in einem Alter, da ist es ganz normal!“
Der Junge schüttelte seine. Kopf. Ich verstand immer noch nicht, was Placido vorhatte.
„Darf ich dich etwas fragen?“, kam es von meinem Schatz.
Tomaso schaute ihn nur an, gab aber keine Antwort.
„Liebst du Nino?“
Der Teenager nickte.
„Denkst du auch bei ihm, dass er dich verlassen wird?“
„Dass… das würde Nino nie tun, er hat mich lieb!“
„Warum denkst du dann das von uns? Bist du vielleicht der Ansicht, Davide und ich haben dich nicht so gern und könnten dich deswegen alleine lassen?“
„… ich weiß nicht…“
Placido sagte nichts dazu, sah ihn nur durchdringend an.
„… ich… ich kenne euch nicht gut genug…noch nicht so lange.“
Da hatte Tomaso Recht, lange kannten wir uns nicht. Wir hatten ihn zwar bei allem und jeden mit einbezogen, aber davon alleine, lernte man sich noch nicht richtig kennen.“
„Vertraust du mir ein wenig?“
„… ja…“
Auch wenn Placido neben Tomaso kniete, wirkte Placido immer noch größer als der Junge.
„Wie viel? So…?“, Placido hob die Hand und deutete mit Daumen und zeige Zeigefinger ein Stück an.
„Oder so viel…, oder so?“
Sein Daumen und der Zeigefinger wanderten dabei immer weiter auseinander.
„Oder so?“
Placido hob die Arme und streckte sie auf beiden Seiten voll aus. Fast hätte er dabei Tomasos Glas vom Tisch gefegt. Dann ließ er sie wieder sinken.
„Tomaso, mir ist klar, dass wir nicht von heute auf morgen, eine kleine Familie, auch kann ich nicht sagen, was die Zukunft bringt, aber eins kann ich dir ganz sicher sagen…“
Tomaso schaute auf.
„… ich habe dich sehr lieb, denn du bist mir sehr schnell ans Herz gewachsen… und ich kann offen und ehrlich behaupten, dass ich wohl die zwei süßesten Männer auf der Welt um mich herum habe.“
Wieder dieses Haifischgrinsen, dem auch ich fast nicht wieder stehen konnte. Tomaso schien es ähnlich zu ergehen, denn er warf sich Placido mit solch einer Wucht an den Hals, dass dieser fast nach hinten kippte.
Placidos große Hand strich über Tomasos Hand und ich wurde fast ein wenig neidisch deswegen. Dann drückte er den Jungen etwas weg. Du musste uns schon sagen, wenn etwas stimmt, denn ich kann genauso wenig wie Davide da hineinschauen!“
Dabei zeigte er auf Tomasos Herz. Der Junge zuckte etwas zusammen.
„Was ist?“, fragte Placido.
„… ähm… das… kitzelt.“
„Das kitzelt?“
Wieder pikste er mit seinem Finger in Tomasos Rippen und dieses Mal gab Tomaso Laut von sich.
„Da auch… und da… hier?“
Der Junge finge laut an zu lachen und Placido kitzelte ihn weiter. Tomaso ging nun ebenso auf die Knie und versuchte sich gegen meinen Mann zu wehren. Aber keine Chance, Placido war nun mal der Stärkere.
Irgendwann hörte Placido auf und nahm Tomaso erneut in den Arm. Der atmete schwer.
„Ich weiß, das mit deinen Eltern heute war heftig, aber du solltest es vielleicht mal so sehen…, sie haben sich die Mühe gemacht, dir etwas zu schenken und ein paar Zeilen zu schreiben! Ich denke, du bist ihnen nicht egal und sie haben dich immer noch lieb!“
„Denkst du das wirklich? Warum haben sie mich dann verlassen?“
„Ich weiß nicht, ob es Recht ist, wenn ich das sage und gleich deine ganze Wut auf mich ziehe…“
„Was meinst du…?“
„Wollen wir ehrlich sein, Tomaso. Der Commissario hat erzählt, dass deine Eltern polizeilich gesucht, weil sie ein paar Sachen gemacht haben, die nicht gut sind.“
Ob das richtig war, dem Junge dass so direkt zu sagen.
„Das weiß ich!“
Placido schaute genauso erstaunt wie ich.
„Woher?“, fragte mein Schatz.
„Monsignore Viccario hat es mir erzählt…“
„Wenn dir das der Monsignore erzählt hat, müsstest du es auch verstehen, warum dich deine Eltern zurück gelassen haben?“
„Nein…, ich verstehe es eben nicht?“, kam es trotzig von Tomaso.
„Was denkst du, wenn deine Eltern verhaftet worden wären und du wärst bei ihnen?“
Tomaso zuckte mit den Schultern.
„Du wärst von ihnen getrennt und in ein Heim gesteckt worden!“
„Das bin ich doch auch so!“
Tomaso hatte wieder diese wimmernde Stimme.
„Da ist der große Unterschied Tomaso, denn dieses Heim wäre anders gewesen, als das, in dem du jetzt warst.“
Ich war mir nicht sicher ob das stimmte. Im Kinderrecht kannte ich mich überhaupt nicht aus.
„Wieso?“
„Deine Eltern haben Verbrechen begangen, so besteht die Gefahr, dass du genauso bist, wie sie.“
„Das bin ich nicht. Ich…“
Tomaso brach mitten im Satz ab und ich verstand, auf was Placido hinaus wollte. Und der Junge schien auch langsam zu verstehen, warum seine Eltern so gehandelt hatten. Placido zog den Jungen erneut in seine Arme.
*-*-*
Er schläft“, meinte Placido, als er in die Küche zurück kam. Ich hatte mittlerweile alles verräumt und sauber gemacht.
„Hat er noch etwas gesagt?“
„Nein…!“
„War es nicht etwas zu drastisch, wie du mit den Jungen geredet hast?“
„Nein, ich denke nicht…, es musste sein, sonst hängt Tomaso das ewig nach. Ich habe meine Eltern zwar durch einen Unfall verloren, aber ich weiß selbst, wie oft ich sie danach vermisst habe, wie sehr sie mir fehlten und das ist heute ab und zu auch noch so.“
„Das wusste ich nicht.“
„Ich weiß, weil ich auch nie viel über meine Familie geredet habe. Das Tomaso, seine Eltern ebenso vermisst, ist mir klar, aber bei ihm kam eben die Ungewissheit dazu, warum sie ihn verlassen haben! Deshalb habe ich das klar gestellt.“
„Und du denkst, er versteht es jetzt etwas besser?“
„Das ist meine Hoffnung! Die Zeit wird es zeigen…“
Ich zog Placido zu mir und umarmte ihn.
„Wer hätte vor einem Jahr, als ich dich kennen lernte, daran gedacht, dass wir uns um die Probleme eines siebzehn jährigen kümmern müssen.“
„Schlimm?“
„Nein, es ist eben alles neu! So gesehen bin ich jetzt ein Papa und muss versuchen, Tomaso so viele Hilfestellungen wie möglich zu geben, dass er sein Leben irgendwann meistern kann.“
„Ich weiß, ich habe dir mit meiner Idee eine große Bürde aufgehalst.“
„So würde ich das nicht sagen! Zu einem hatte ich selbst die Idee, sie stammt also nicht nur von dir… und ich sehe es nicht als Belastung an, eher als eine Herausforderung!“
„Danke!“
*-*-*
Der Samstag hatte den Vorteil, dass zwar Tomaso in die Schule musste, ich aber frei hatte. Noch ein Vorzug, seit ich in Letizias Abteilung arbeitete. Gut es gab Ausnahmen, wenn eine Veranstaltung aufs Wochenende fiel, aber dies hielt ich in Grenzen.
Nachdem ich Tomaso mit Nino in der Schule abgeliefert hatte, fuhr ich direkt anschließend zum Markt. Jetzt war es noch weitgehend ruhig, was sich in etwa einer Stunde sicher ändern würde und alles zum Markt strömte.
Das gleiche Spiel im Supermarkt. So konnte ich ohne viel Stress, alles einkaufen, was wir am Wochenende benötigten. Placido hatte die Idee, weil es eins der letzten warmen Wochenenden war, mit allen zusammen zu grillen.
Gut, er hätte mit mir einkaufen gehen können, aber es war besser, er blieb zu Hause und kümmerte sich um andere Dinge, wie die Getränke oder den Grills. Mit vollem Auto machte ich mich auf dem Heimweg, denn ich wollte pünktlich sein, denn Mama hatte sich angekündigt, mir in der Küche zu helfen.
Fleisch und Fisch mussten eingelegt werden, Gemüse geschnippelt und noch ein paar Dinge, die Zeit zur Vorbereitung benötigten. Papa wollte später zu uns stoßen, er wollte erst die Mädchen von der Schule abholen.
Letizia hatte den Part übernommen, die Jungs nach der Schule mitzunehmen. So war jeder irgendwie an diesem Morgen beschäftigt. Tomaso war an diesem Morgen wie ausgewechselt. Beim kurzen Frühstück, vor der Schule war er fröhlich wie nie.
Als ich ankam, stand das Tor offen, so konnte ich ungehindert den Hof befahren. Da ja die Stühle und Tische vom Bistro standen, brauchten wir uns um die Sitzgelegenheiten nicht zu kümmern.
Um aber auch nicht mit dem Tagesgeschäft des Cafés zu kollidieren, hatte Emilio den Vorschlag gemacht, im kleinen Garten, neben der Zeichenschule ein Pavillon aufzubauen, wo man Getränke und Essen besser vorbereiten zu können, ohne eventuelle Gäste zu stören.
Mit Emiliano zusammen hatte Emilio sich fürs Grillen verpflichtet. So hatte ich das auch aus dem Kopf.
Ich war froh, dass mir Dana half, die ganzen Sachen hoch zu tragen, denn die anderen schienen mich gar nicht wahrzunehmen. Zu sehr waren die mit dem Aufbau des Pavillons beschäftigt.
„Was hast du denn alles gekauft? Wer soll das alles essen?“, fragte Dana, die gerade drei Tüten auf dem Tisch abstellte.
„Was man so zum Grillen braucht“, antwortete ich und ließ meinerseits die Tüten auf die Theke sinken.
„Wenn wir erst mal alles gerichtet haben, ist es nicht mehr so viel…, dass sieht nur so aus.“
„So, meinst du… mit was fangen wir an?“
„Ich würde sagen mit den Marinaden, damit wir Fisch und Fleisch einlegen können. Das Gemüse und Salate können wir später machen.“
„Okay, dann lass uns mal deine Einkäufe verteilen, damit wir genug Platz haben und alles finden, was wir brauchen.“
So machten wir uns ans Werk. Fisch und Fleisch kamen in den Kühlschrank und das Gemüse kam auf den Tisch. Während ich begann, die Kräuter zu waschen und gleich zu zerkleinern, übernahm Dana die unerfreuliche Aufgabe, den Knoblauch zu schälen und in feine Würfelform zu bringen.
„Hoffentlich werde ich den Geruch wieder los, das hängt mir bestimmt noch ein paar Tage nach!“
„Komm Schwesterchen, etwas Zitrone darüber beim Waschen und man deine Hände duften wie immer!“
„Apropos Zitrone, hast du genügend eingekauft? Und Olivenöl?“
Ich lachte.
„Vorhin meinte noch jemand, das ist viel zu viel, aber keine Sorge, es ist genug von allem da.“
Ich verteilte die Kräuter, wie Thymian, Rosmarin und Oregano in den jeweiligen Schüsseln, wo der Fisch und das Fleisch eingelegt werden sollte.
„Was für Fisch hast du bekommen?“
„Doraden, Tintenfisch und Garnelen, auch etwas Lachs.“
„Das hört sich gut an, ich bekomm jetzt schon Hunger.“
Während ich mich dann dem Fisch widmete, fing Dana an Paprika und Zucchini klein zu schneiden, denn die mussten ja noch in den Ofen. Jakob kam herein.
„Davide, da ist ein Anruf in deinem Büro?“
„Wer denn?“
„Weiß nicht, er meinte nur er sei ein Freund.“
Ich wusch mir die Hände und folgte Jakob verwundert.
*-*-*
Mit Hilfe von Letizia und den beiden Jungs wurden wir endlich fertig. Ich zog das letzte Blech mit Foccacia aus dem Ofen. Ich hoffte nur, die Fladenbrote waren ausreichend. Die Damen richteten die Antipasta und den Tomatensalat in Schüsseln an, während die Jungs das eingelegte Grillgut anfing hinunter zu tragen.
„Ist irgendetwas?“, fragte Letizia, „du bist so ruhig?“
Ich wusste nicht, ob ich die beiden einweihen sollte. Der sogenannte Freund am Telefon war niemand anderes als Tomasos Vater gewesen. Er bat am Abend um ein kurzes Treffen, bevor er und seine Frau endgültig Italien den Rücken kehren wollten.
„Etwas müde…, habe letzte nacht schlecht geschlafen“, antwortete ich.
„Dann leg dich doch noch eine Stunde hin, nicht dass du beim Abendessen einschläfst“, meinte Dana.
„Geht schon, ich spring nachher noch kurz unter die Dusche, dann geht es wieder. Komisch, wollte Mama nicht kommen und uns helfen?“
Ich wechselte absichtlich das Thema, denn mein Entschluss stand fest, niemand sollte über den Anruf Bescheid wissen.
„Mama wird schon ihre Gründe haben, wenn sie noch nicht hier ist.“
„Fehlt noch etwas?“, fragte ich.
„Nicht dass ich wüsste“, sagte Dana.
*-*-*
Selbst Placido hatte ich nichts gesagt, es war die ausdrückliche Bitte von Tomasos Vater. Ich war hin und her gerissen. Mein Verstand sagte, ruf die Polizei an, mein Herz bat, Tomaso diese letzte Chance seine Eltern zu sehen zu zustimmen.
Aber wie würde Tomaso selbst dies verkraften, mutete ich da Tomaso nicht zu viel zu? Oder unterschätze ich den Jungen auch? Fragen über Fragen, die in meinem Kopf für Chaos sorgten.
Mittlerweile hatten sich alle eingefunden, am Grill herrschte bereits Hochbetrieb. Der Grund, warum Mama nicht gekommen war, sie hatte mit den Mädchen zusammen für selbstgemachtes Tiramisu gesorgt und alle angenehm damit überrascht.
„Alles in Ordnung Davide?“
Mama hatte sich zu mir an den Tisch gesetzt.
„Ja… warum nicht… ein gelungener Abend.
Sie legte ihre Hand auf meine.
„Dich bedrückt doch etwas?“
„Wie… kommst du da drauf?“
„Davide, ich kenne dich gut genug, um zu sehen, wenn dich etwas schwer beschäftigt!“
Sie wusste leider immer sofort, wenn etwas nicht mit mir stimmte. Ich atmete tief durch.
„Ich weiß nicht Recht… wo ich anfangen soll.“
„Am besten von vorne!“
„Das würde den ganzen Abend dauern…, Mama ich denke, ich bin dabei einen riesen Fehler zu begehen…“
„Hast du Ärger… weiß Placido davon?“
Ich schüttelte den Kopf und winkte mit der Hand ab.
„Nein! Es geht um Tomaso und seine Eltern?“
„Was ist mit seinen Eltern, wollen sie ihn zurück?“
„Nein Mama…, seine Eltern wollen ihn noch einmal sehen, bevor sie das Land endgültig verlassen!“
„Wann… wo?“
Ich schaute auf meine Armbanduhr.
„Eine viertel Stunde…draußen auf der Straße…“
Mama schaute um sich, aber im Augenblick war niemand in unserer Nähe, die meisten standen drüben beim Pavillon.
„Wie stellst du dir das vor? Du hast erzählt, die beiden werden polizeilich gesucht…“
Ich schaute Mama durchdringend an.
„Das… ist eben mein Problem!“
Ich nahm einen Schluck Rotwein.
„Und wenn sie es sich plötzlich anders überlegen und Tomaso mitnehmen wollen?
An diese Möglichkeit hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, sie war irgendwie total abwegig.
„Du musst die Polizei rufen!“
„Und was ist, wenn Tomaso erfährt, dass ich ihm diese letzte Chance verwehrt habe?