Ein anderes Leben – Teil 23

„Bleib sitzen!“, meinte Hyun-Woo, der in der Küche, für uns einen Tee zubereitete.

„Aber…“

„Nichts aber“, fiel er mir einfach ins Wort, „wenn sie unsere Hilfe brauchen, werden die beiden uns schon rufen!“

Wie immer hatte Hyun-Woo Recht. Also blieb ich im Schaukelstuhl sitzen und starrte weiterhin zur Wendeltreppe. Besonders angetan waren So-Woi und Jack nicht, als sie uns vorhin mit Jacks Onkel in der Lobby unten antrafen.

Recht wortkarg waren die drei im Fahrstuhl verschwunden und uns blieb nichts anderes übrig, wieder in unsere Wohnung zurück zukehren.

„Hier, dein Tee“, riss mich Hyun-Woo erneut aus den Gedanken.

„Danke!“

Hyun- Woo ließ sich neben mir auf der Lehne der Couch nieder.

„Das Regal ist zu klein, für all die Bücher“, zog Hyun-Woo nun meine Aufmerksamkeit auf sich.

Mein Blick wanderte zum Regal, dass mit Büchern und Deko bereits gut gefüllt war.

„Was denkst du, sollen wir hinter die Couch ein Regal aufstellen, so als Raumteiler?“

Wieder sah ich zu meinem Schatz.

„Nein, dass verdeckt die freie Sicht zur Küche…“, antwortete ich, „und ich möchte mich auch weiterhin mit dir ungestört unterhalten können, wenn du kochst und ich sitze hier auf der Couch…“

„…oder im Schaukelstuhl!“, grinste Hyun-Woo und nippte an seiner Tasse.

„… oder im Schaukelstuhl. Genau! So ein Raumteiler würde den ganzen Raum kleiner machen und vieles kommt dann nicht mehr zur Geltung.“

Mein Sichtfeld wanderte erneut durch das Zimmer und blieb wieder an der Wendeltreppe hängen.

„Die Wendeltreppe gefällt mir nicht“, meinte Hyun-Woo plötzlich, der meinem Blick wohl gefolgt war.

„Das hättest du vorher sagen sollen, wo So-Woi die Idee aufbrachte!“

„Nein, das meine ich nicht. Die Idee ist nach wie vor gut, nur dieses nackte Metallgerüst gefällt mir nicht. Es passt irgendwie so gar nicht in unser Wohnzimmer.“

Wieder hatte er unser gesagt, ich musste mich wirklich daran gewöhnen, aber jetzt, wo Hyun-Woo dies ansprach, musste ich ihm Recht geben. Es wirkte kalt.

„Außer…“, redete Hyun-Woo weiter, stand auf und lief zur Treppe, „…wir lassen uns ein Regal hin bauen…“

„Wohin?“, meinte ich und stand umständlich von meinem Schaukelstuhl auf, weil ich keinen Tee verschütten wollte.

„Na, hier hin“, meinte Hyun-Woo und zeigte auf den Boden rund um die Wendeltreppe.

„Da könnten wir problemlos deine Bücher unterbringen und es wäre noch Platz für ein paar kleine Pflanzen. Es würde die Treppe verdecken und mit dem Grün darin auch noch gut aussehen.“

Ich war zu ihm gelaufen und versuchte mir das alles vorzustellen. Hyun-Woo dagegen, bewegte sich weiter zum großen Fenster.

„… und hier würde dein Schreibtisch hinpassen…“

„Mein Schreibtisch?“, fragte ich verwundert.

„Ja, irgendwo wirst du dich ja hinsetzten müssen, wenn du zu studieren beginnst und irgendwelche Sachen machen musst!“

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Auch hier hatte er Recht, irgendwo musste ich ja lernen können.

„Du schaust so skeptisch…“, meinte Hyun-Woo.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, mir fiel gerade auf, dass ich daran noch gar nicht gedacht habe. Aber du hast Recht, ich brauche einen Platz zum Lernen.“

„Du könntest auch den Esstisch entfremden, oder wir opfern eins der Gästezimmer aufgeben…“

„Ungerne…“, fiel ich ins Wort und Hyun-Woo grinste mich an.

Ich drehte mich zu dem großen Fenster, wohin mein Schatz den Schreibtisch eingeplant hatte. Hyun-Woo lief zum Esstisch und nahm einen Stuhl, mit dem er zu mir zurück kehrte. Den stellte er dort ab, wo er selbst vorher noch gestanden hatte.

„Setz dich!“

Ich tat wie geheißen.

„So wäre deine Aussicht, wenn du an deinem Schreibtisch sitzen würdest“, sagte Hyun-Woo und legte seine Hände auf meine Schulter.

„Herrlich! Mein PC hätte Platz und würde trotzdem nicht die Sicht, nach draußen verdecken.“

„Ich denke, du solltest den Monitor an der Wand anbringen.“

„Wieso?“

„Ich kenne mich zwar mit deinem Studium und dem Thema absolut nicht aus, aber musst du nicht irgendwelche Skizzen anfertigen?“

Wiedermal überraschte mich Hyun-Woos Wissen und sein Organisationstalent. Er dachte mit und vor allem im Voraus.

„Schon…, also wäre ein normaler Schreibtisch, wie deiner im Büro wohl ungeeignet.“

„Ja, das war mein Gedanke. Du benötigst wohl einen Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche kippbar ist und vielleicht auch höhenverstellbar, falls du im Stehen arbeiten willst oder musst.“

Ich zog Hyun-Woo am Nacken herunter und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Du bist einfach genial, Schatz, weißt du das?“

„Danke!“, war alles, was Hyun-Woo dazu lächelnd äußerte.

Das brachte mich auf den Gedanken, wo ich all die Utensilien unterbringen sollte, die ich zum Studium brauche. Der Platz für Bücher wäre, mit dem Regal wohl da, aber der Rest? Rollcontainer wäre keine Lösung, die gefielen mir nicht.

„Über was denkst du nach?“

„Wie ich Sachen, wie Papier, Stifte oder Ähnliches unterbringen soll.“

Noch immer stand Hyo-Woo hinter mir und hatte eine Hand auf meiner Schulter liegen. Plötzlich zeigte er zur Wendeltreppe.

„Hinter die Wendeltreppe können wir eh nichts stellen“, begann Hyun-Woo und verließ nun seinen Platz, „wir könnten doch vom Regal bis zur Wand, ein Schrankelement einfügen, mit Fächer und Schubladen…“

Das Ganze versuchte er mit Handzeichen zu unterstreichen.

„… und zu dem werden wohl weitere Bücher, oder anderes Material dazu kommen, dann wäre die Lücke zur Wand komplett geschlossen.“

„Wo geht es dahin?“, hörte ich plötzlich eine Stimme.

Gleichzeitig schauten wir die Treppe hinauf.

„Da geht es zu den Privaträumen von So-Wois Geschäftspartner Cho Hyun-Woo.“

Das war die vertraute Stimme von Jack. Er musste wohl oben mit seinem Onkel an derselben Stelle wie wir stehen. Hyun-Woo versuchte mich zum Aufstehen zu bewegen.

„Was denn…?“, flüsterte ich leise.

„Ich will nicht, dass jemand denkt, wir würden lauschen!“, kam es postwendend genauso leise zurück.

„Jack würde so etwas nie von uns denken!“

„Ich meine auch nicht Jack!“, entgegnete mir Hyun-Woo, lief zur Küchenzeile und stellte dort unsere Tasse ab.

Ich folgte ihm mit dem Stuhl, stellte ihn wieder an den Tisch und ließ mich dann auf einen der Hocker der Theke nieder. Grimmig schaute mein Schatz drein und machte sich am Kühlschrank zu schaffen.

„Bist du mir jetzt böse?“, fragte ich.

„Nein, warum sollte ich“, antwortete Hyun-Woo und zog eine Tüte mit irgendetwas Grünem drin aus dem Fach.

„Ich kenne diesen Blick, wenn dir etwas missfällt!“

War dies Staudensellerie, was Hyun-Woo gerade vor mir etwas unsanft auf die Arbeitsfläche donnerte?

„Ich mag es nicht, wenn jemand in unserer Privatsphäre herumstochert. …und was anderes tut dieser Onkel nach meiner Meinung gerade nicht! Wenn der Privatdetektiv Bilder von Jack gemacht hat, waren wir beide bestimmt mit drauf.“

Hyun-Woo schien wirklich richtig sauer zu sein, aber er hatte Recht. Wir waren oft mit Jack zusammen oder unterwegs. Mein Schatz riss die Verpackung auf, so heftig, dass etwas Grün durch die Luft flog.

„Dafür kann der Staudensellerie nichts!“, grinste ich.

„Hm?“

Ich zeigte auf das vor ihm liegende Gemüse, dass jetzt etwas ramponiert aussah.

„Schatz, ich versteh dich voll und ganz. Seit ich durch So-Woi in der Öffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit errege, ist es mir auch unangenehm ständig fotografiert zu werden. Aber wie du schon gesagt hast, das da oben, geht uns nichts an, auch wenn wir indirekt mit hinein gezogen werden!“

„Hyun-Woo“, rief es plötzlich laut und ich zuckte zusammen.

Das war nun So-Wois Stimme. Automatisch drehte ich mich zur Treppe, wo wenig später im oberen Bereich unser Freund ins Sichtfeld trat.

„Ja!“, antwortete Hyun-Woo hinter mir laut.

Mit dem großen Küchenmesser in der Hand, schaute er jetzt etwas gefährlich aus. Ich griff über die Theke und legte meine Hand auf die noch freie Hand von Hyun-Woo.

„Hättet ihr etwas dagegen, wenn Jack seinem Onkel hier die Räumlichkeiten zeigt?“

„So-Woi!“, hörte ich Jacks Stimme leise von oben.

„Wenn es sein muss…“, knurrte Hyun-Woo leise.

Ich schaute zuerst durchdringend meinen Schatz an, bevor mein Blick wieder zu So-Woi wanderte.

„Kein Problem!“, rief ich, „wir haben nichts zu verbergen!“

„Danke!“, meinte So-Woi und verschwand kurz.

„Was soll das, Lucas?“

„Ganz ruhig, Schatz, lass mich das bitte machen!“

Darauf sagte Hyun-Woo nichts und fing das Gemüse an zu schneiden. Ich dagegen stand auf und holte mir aus einen der noch belegten Kartons mein Schreibzeug und legte es auf die Theke.

Schnell war eine grobe Skizze der Wendeltreppe gemalt. An der Treppe wurde es lauter, und Hyun-Woo hatte zu schneiden aufgehört.

„Was hast du vor?“, fragte er flüsternd.

Ich grinste ihn nur an und stand erneut auf. Dieses Mal lief ich zur Wendeltreppe, wo unsere unerwarteten Gäste gerade unser Stockwerk erreichten.

„Entschuldigt, die Unordnung, aber ich habe noch nicht alle meine Sachen unterbringen können“, begrüßte ich die drei.

„Onkel“, begann Jack plötzlich, „das ist Lucas Dremmler, unser Freund aus Deutschland, der im Herbst, hier in Seoul zu studieren beginnt.“

Artig streckte ich meine Hand aus und machte einen Diener, sprich ich verbeugte mich mal wieder. Ganz vorbildlich.

„Seit wann habt ihr einen Schaukelstuhl?“, fragte So-Woi.

„Den hat mir Papa mit geschickt, der gehörte meiner Großmutter und stand bisher in meinem alten Zimmer in Deutschland.“

Hyun-Woo hatte die Küchentheke mittlerweile verlassen und war zu uns getreten.

„Und dass ist So-Wois Geschäftspartner, Cho Hyun-Woo. Den hast du in der Lobby schon kennen gelernt!“, sprach Jack weiter.

Eine unnötige Bemerkung, ich war mir sicher, dass Jacks Onkel bereits seine Erkundigungen eingezogen hatte. Auch mein Schatz machte nun eine leichte Verbeugung und streckte seine Hand aus. Dass er dies mit einer gewissen Abneigung tat, spürte ich aber sofort.

„Hallo Mr. …“

„Kim…, Kim  Chang Yul ist mein Name“, gab Jacks Onkel von sich.

Stimmt, unten in der Lobby, hatte er sich nur als Jacks Onkel vorgestellt.

„Freut mich sie kennen zu lernen“, sagte Hyun-Woo.

Wieder begann ich zu grinsen. Mein Schatz log, ohne rot zu werden.

„Was sind das für Bücher?“

Diese Frage kam von So-Woi, der mittlerweile vor dem großen Regal stand, wo wir notdürftig, die ganzen Bücher auf den Boden gestapelt hatten.

„Das sind alles Bücher über Naturwissenschaften.“

„Die hast du alle gekauft? Ich dachte, du hast dich erst hier für das Studium entschieden…“

„Nein, von meinem Großvater geerbt. Papa meinte, ich könne sie vielleicht für mein Studium zum Landsschaftsarchitekt brauchen.“

„Die passen aber nicht alle ins Regal.“

„Ja, darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht. Hyun-Woo hatte die tolle Idee, ein Regal um die Wendeltreppe herum zu bauen. Da wäre einerseits Platz, für all die Bücher und ich hätte noch eine helle Stelle, wo ich Grün oder Hängepflanzen züchten kann.“

Selbst Hyun-Woo sah mich nun erstaunt an.

„Großvater ist mir sicher behilflich, wenn es um die Setzlinge geht“, sprach ich weiter.

Mittlerweile stand ich dort, wo vorher am Fenster der Stuhl gestanden hatte.

„Ihr Großvater stammt von hier? Ich dachte sie stammen aus Deutschland…“, war das erste, was Jacks Onkel von sich gab.

Einfach auf dumm stellen, als wüsste er das nicht bereits, das konnte ich auch.

„Mein Vater ist Deutscher, meine Mutter aber Koreanerin, wie man unschwer erkennen kann“, lächelte ich und zeigte auf mein Gesicht, „und ihre Familie lebt hier in Seoul. Mein Großvater führt ein gutlaufendes Obst und Gemüsegeschäft und hat daher gute Beziehungen zu den Bauern, die ihn ständig beliefern.“

„Dürfte ich den Namen ihres Großvaters wissen?“

Warum fragte er das alles? Ich war mir sicher, dass er auch darüber Erkundigungen eingezogen hatte.

„Onkel Chang Yul, bitte…!“

Die Befragung war Jack anscheinend nicht recht.

„Kein Problem, Jae-Yun, ich gebe gerne Auskunft. In der Vergangenheit wurde so viel Falschmeldungen über mich in die Welt gesetzt, da ist es mir lieber, dein Onkel erfährt es aus erster Hand!“

Ich hatte Jack mit Absicht mit seinem koreanischen Namen angesprochen. Die Reaktion war dementsprechend. Etwas verwirrt schaute mich Jack an, dann wandte ich mich wieder an seinen Onkel.

„Mein Großvater heißt Park Sun-Min und ist seit Kindertagen mit So-Wois Großmutter Jeong Shin-Sook freundschaftlich verbunden!“

Dass dies so nicht stimmte, brauchte ich ihm ja jetzt nicht auf die Nase zu binden. Wie in Korea üblich, setzte ich den Familiennamen vor den Vornamen. Die Wirkung dieser Auskunft, ließ nicht lange auf sich warten.

Jacks Onkel zog verblüfft die Augenbrauen nach oben. Anscheinend hatte er nicht wirklich seine Hausaufgaben gemacht, wie einige schon vor ihm. Nur wenige waren da etwas gründlicher gewesen. Hyun-Woo, der bis jetzt im Hintergrund stand, begann zu grinsen.

Er hatte bemerkt, dass ich mich von Jacks Onkel sicher nicht einschüchtern ließ, dazu war in der Vergangenheit einfach zu viel geschehen. Ich wollte dem Onkel keinerlei Angriffsfläche geben, die eventuell Jack schaden konnte.

„Und warum studieren sie dann hier? Ein deutsches Studium wird doch sicher höher angerechnet, als eines hier in Korea?“

„Die Kultur! Die Kultur beider Länder ist unterschiedlich! Während in Deutschland reichlich fundiertes Wissen vermittelt wird, fließen hier doch viele Einflüsse der Familie ein…“

Ich wusste nicht, warum mir heute immer die richtigen Worte einfielen. Der Umgang mit meinen Freunden schien wirklich Früchte zu tragen.

„… und Familie ist wichtig! Auch wenn ich aus Deutschland stamme, nicht hier geboren bin, halten die Geschwister meiner Mutter uneingeschränkt zu mir und unterstützen mich, soweit es ihnen möglich ist!“

Dieser Seitenhieb musste jetzt sein! Auch wenn ich mich bis dahin nicht dazu geäußert hatte, der Mensch vor mir war mir völlig unsympathisch. Er hatte in der Vergangenheit Jacks Mum, seine eigene Schwester einfach im Stich gelassen.

Warum er jetzt plötzlich auf der Matte stand? Ich kannte seine Beweggründe nicht und um ehrlich zu sein, sie gingen mir zehn Meter am Hintern vorbei. Der Onkel bedankte sich plötzlich für die kleine Einsicht in unserer Wohnung und unsere Gäste verabschiedeten sich wieder.

Auf dem Weg nach oben, grinste mich So-Woi an und hielt seinen Daumen nach oben.

„Bist du sicher, dass du das mit den Pflanzen hinbekommst?“, fragte Hyun-Woo hinter mir.

Ich drehte mich zu ihm.

„Ich weiß nicht, mir ist das einfach so eingefallen und ich habe keinerlei Idee, ob ich das überhaupt machen will“, antwortete ich Hyun-Woo grinsend.

*-*-*

Der Rest des Abends hatten wir damit verbracht im Internet nach passenden Möbeln zu schauen. Auch die Beleuchtung über dem Schreibtisch war ein Diskussionspunkt. Die beiden Herren, die das Stockwerk über uns bewohnten, ließen sich nicht mehr blicken.

So beschlossen wir einfach früh ins Bett zu gehen. Am nächsten Morgen wachte ich deswegen ohne Wecker auf und konnte wie gewohnt mit Hyun-Woo frühstücken. Während Hyun-Woo anschließend ins Büro fuhr, wollte ich meinen Großvater besuchen.

Mein Schatz wollte mich zwar dort absetzten, das war aber nicht das, was ich vorhatte.  Ich wollte endlich mal aus eigener Kraft mich in Seoul fortbewegen, sprich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.

Bevor Hyun-Woo ging, lief er noch kurz ins Schlafzimmer und kam nach wenigen Augenblicken wieder. Er strecke die Hand aus.

„Hier, damit dich nicht gleich jeder erkennt“, sagte er und hielt mir ein kleines Päckchen hin.

Verwundert nahm ich es entgegen und riss es auf. Zum Vorschein kam ein schwarzer Mundschutz.

„Davon habe ich noch einige aus KBS Zeiten, da musste ich die Dinger öfter tragen.“

„Falle ich damit nicht erst Recht auf?“

„Seit in Südkorea, die ersten Fälle über den Virus bekannt geworden sind, laufen recht viele mit diesen Teilen herum, so wirst du auch nicht auffallen.“

„Praktisch…, aber ich wusste gar nicht, noch mehr Fälle aufgetreten sind.“

„Leider und anscheinend auch in Nachbarländern.“

„Das wird hoffentlich nicht schlimmer.“

Hyun-Woo legte seine Stirn in Falten.

„Das weiß leider keiner!“

*-*-*

Die Fahrt zu meinen Großeltern gestaltete sich doch etwas schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich sehnte mich plötzlich nach dem Fahrdienst im Haus zurück, mit dem alles einfach schien.

Nach mehrfachem Umsteigen, musste ich den Rest des Weges, von der Haltestelle bis zu Großvaters Haus laufen. Wenigstens wusste ich nun, wie ich mit Hilfe meines Handys ungehindert zu Großvater kommen konnte.

Die Maske, die ich schon die ganze Zeit trug, erfüllte ihren Zweck voll und ganz. Niemand sprach mich an, oder machte irgendwelche Bilder von mir. Die Basecap, die ich trug, verdeckte zudem meine Augen und somit war mein Gesicht vor neugierigen Blicken geschützt.

Einzig, den Berg hinauf, das letzte Stück, welches ich gehender weise erklommen hatte, war mit der Maske hinderlich, weil sie mich beim Atmen störte. So trat ich etwas außer Atem im Laden ein.

„Hallo Lucas!“, begrüßte mich meine Tante Min-Sun.

Ich zog meine Maske ab und stopfte sie notgedrungen in meine Hosentasche.

„Hallo Tante Min-Sun“, lächelte ihr entgegen und begrüßte sie wie gewohnt mit einer Umarmung.

„Du bist außer Atem, stimmt etwas nicht?“

„Nein, das liegt daran, dass ich heute zum ersten Mal alleine und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hier her gefahren bin und den Rest hier hoch musste ich leider laufen…“

„Du hast nicht den kleinen Gästebus benutzt?“

„Gästebus?“, fragte ich verwundert

„Ja, der wurde zwar hauptsächlich wegen den älteren Einwohnern eingerichtet, wird aber sehr gerne von allen benutzt.“

Verständlich.

„Hong-Sik und Un-Sook nutzen ihn regelmäßig, nur Tae-Young läuft den Berg hinauf, er meint, das hält ihn fit!“

„Nein, von dem wusste ich nichts und konnte auch auf dem Handy darüber nichts finden.“

„Das nächste Mal weißt du es“, lächelte mich meine Tante an.

Ich schaute mich im Laden um.

„Du bist alleine hier? Keine Kundschaft heute?“

„Ach ich weiß auch nicht, die letzten Tage ist es etwas ruhiger geworden.“

Mir fiel der Virus ein.

„Aber hoffentlich nicht, wegen dem Virus.“

„Könnte sein, darüber haben wir auch schon gesprochen und beschlossen, ab morgen tragen wir alle eine Schutzmaske, so wie du eine anhattest.“

„Die hatte ich eher an, dass niemand mein Gesicht erkennen kann, ein Vorschlag von Hyun-Woo übrigens.“

„Gute Idee, schützt dich aber auch irgendwie vor diesem Virus. Die Zahlen steigen von Tag zu Tag und man weiß nicht, wohin das führen soll.“

Also machte man sich auch hier Sorgen.

„Geh aber ruhig nach hinten, Mutter wird sich freuen, dich zu sehen.“

„… dein Mann und Tante Min-Ri?“

„Die sind mit Vater irgendwo hin gefahren, müssten aber bald wieder da sein.“

„Gut, dann gehe ich nach hinten…, bis später.“

Ich ließ die lächelnde Min-Sun im Laden zurück und lief den schmalen Flur hindurch zu den hinteren Wohnräumen. Dort angekommen, fand ich aber niemanden.

„Großmutter?“, rief ich, bekam aber keine Antwort.

Ich zog meine Basecap ab und verstaute sie im Rucksack, den ich immer noch geschultert hatte. Ich legte den Rucksack auf dem Tisch ab und begab mich in die Küche, wo Großmutter die meiste Zeit verbrachte. Aber auch hier war niemand.

„Wer von euch hat hier seinen Rucksack liegen lassen?“, hörte ich plötzlich Großmutters Stimme, „ihr wisst ganz genau, dass ich das nicht mag!“

„Das war ich“, rief ich und lief in den Wohnbereich zurück, „entschuldige Großmutter, das ist meiner!“

Dort stand Großmutter mit einer Schüssel voll Grünzeug.

„Lucas?“, sagte sie überrascht.

Ich zog den Rucksack vom Tisch und stellte ihn auf einen Stuhl. Dann wandte ich mich zu ihr.

„Hallo Großmutter“, meinte ich nur und umarmte auch sie.

Die Schüssel hatte sie mittlerweile auf den Tisch gestellt.

„Das ist aber eine Überraschung, mein Junge… hallo Lucas… oder ist irgendetwas geschehen?“

„Nein Großmutter, ich wollte euch einfach nur besuchen und habe heute zum ersten Mal die Verkehrsmittel von Seoul benutzt.“

„Aber Junge, du hättest Sung-Ja, deinen Onkel anrufen können, er hätte dich bestimmt gerne abgeholt.“

„Setzten wir uns, Großmutter… ich hätte auch den Fahrdienst von So-Wois Haus nutzen können, aber ich wollte einfach ausprobieren, wie ich alleine zu euch kommen kann. Ohne die Hilfe der anderen.“

„Aber da hätte auch etwas passieren können, irgendwelche verrückte Mädchen oder so…“

Natürlich hatte Großmutter mit bekommen, dass ich in Seoul nun einen eigenen Fanclub besaß. Ich zog meine Maske heraus.

„Die habe ich getragen und noch eine Mütze, niemand hat mich erkannt“, lächelte ich sie an.

Ob das Großmutter beruhigen würde, wusste ich nicht.

„Zudem, wenn ich im Herbst anfange hier zu studieren, ist es ganz gut, wenn ich mich etwas besser in der Stadt auskenne.“

„Trotzdem mein Junge, du musst auf dich aufpassen! Ich möchte nicht, dass dir wieder etwas passiert!“

„Keine Sorge, Großmutter. Ich bin nach wie vor gut bei meinen Freunden gut aufgehoben. Du weißt selbst wie sehr Hyun-Woo über mich wacht!“

„Ja, aber etwas Sorgen mach ich mir trotzdem.“

„Was kochst du heute?“, fragte ich, um sie von dem Thema abzulenken.

„Japchae, das hat sich Un-Sook gewünscht.“

„Das habe ich schon mal gehört, ein Nudelgericht oder?“

„Ja“, lächelte Großmutter, „die Nudeln werden aus Süßkartoffeln hergestellt und werden mit frischen, feingeschnittenem Gemüse und Fleisch serviert.“

„Hört sich lecker an, ist da vielleicht noch eine klitze kleine Portion für mich übrig?“, fragte ich frech.

Um das Ganze zu unterstreichen, hob ich Daumen und Zeigefinger etwas auseinander, um die winzige Menge anzuzeigen.

„Klar kannst du mitessen!“, meinte Großmutter lächelnd und stand wieder auf.

„Ich kann dir gerne helfen.“

„Musst du nicht Lucas!“

„Würde ich aber gerne. Bei uns kocht immer Hyun-Woo. Ich weiß, er macht das gerne, aber ich würde ihn auch mal gerne, ab und zu, etwas kochen.“

Großmutter lächelte mich breit an. So ein kleiner Kochkurs bei ihr, könnte da nicht schaden.

„Hat dir Min-Ja denn nichts beigebracht?“

„Mama? Doch schon, aber eben leichte Gerichte und eher was wir in Deutschland so essen. Nudeln mit Tomatensauce zum Beispiel, oder so etwas Ähnliches. Etwas was schnell geht.“

„Dann kannst du ja doch schon etwas kochen.“

„Aber ich kenne eure Küche noch nicht, das heißt ich kenne sie schon, das was Mama halt gekocht hat. Aber wie man es zubereitet, weiß ich nicht.“

„Dann komm mal mit in die Küche!“

*-*-*

Wie erwartet hatte das Japchae hervorragend geschmeckt. Ich war fast schon gewillt, eine zweite Schüssel zu essen. Aber meine spannende Hose riet mir es nicht zu tun. Schnell leerte sich der Tisch nach dem Essen und irgendwann saß ich mit Großvater alleine am Tisch.

„Großvater, kennt du vielleicht jemanden, der Grünpflanzen selbst zieht?“

„Warum fragst du?“

„Dad hatte die verrückte Idee, mir sämtliche Bücher über Naturwissenschaften seinen Vaters mitgeschickt.“

„Also ich finde das einen netten Zug deines Vaters!“

Ich nickte ihm zu.

„Aber wegen Platzmangels, um die die wirklich vielen Bücher unterzubringen, hatte Hyun-Woo die Idee, um die Wendeltreppe herum ein weiteres Regal zu bauen, damit ich die Bücher alle unterkommen und das bisherige Regal nicht so voll gestopft aussieht.“

„Ich sehe schon, ich muss dich irgendwann mal besuchen, damit ich weiß wovon du redest. Aber warum fragst du dann nach Grünpflanzen?“

„Da dann genügend Platz da ist, hatte ich die Idee, vielleicht ein paar Zimmerpflanzen selbst zu ziehen, die man ins Regal stellen könnte. Hyun-Woo hatte dann noch den Einfall, dass ich dort meinen Schreibtisch hinstelle, irgendwo brauche ich ja einen Platz, wenn ich mit dem Studieren anfange.“

„Ich sehe, ihr macht euch richtig Gedanken darüber. Das zeigt mir, wie Ernst du es meinst. Ich habe da einen Freund, der züchtet Zimmerpflanzen selbst, den könnte ich fragen. Was er da groß zieht, weiß ich allerdings nicht.“

„Könnten wir ihn nicht einfach besuchen?“

„Wie gesagt, da muss ich erst nachfragen. Er lebt in Goyang.“

„Das wäre lieb von dir. Ist das weit weg?“

„Das liegt nördlich von Seoul…, schon ein Stück.“

Das können wir dann immer noch regeln, wenn es soweit ist.“

Großvater lächelte mich breit an.

„Du sprühst regelrecht vor Energie!“

*-*-*

Am späten Mittag erreichte ich endlich wieder das Hochhaus von So-Woi. Als die Tür ins Schloss fiel, atmete ich tief durch. Wenn das immer so sein würde, musste ich mir das noch einmal überlegen, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen.

Ich litt sicherlich nicht unter Platzangst, aber dieses Gedränge an den Haltestellen und Ubahnstationen war heftig dicht. So schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich zog meine Maske ab und dachte an die vielen Menschen, die mir mittlerweile mit Masken im Gesicht entgegen kamen.

Ob es an dem Virus lag, oder ich vorher es einfach nicht wahr genommen hatte, ich wusste es nicht. Ich zog den Rucksack ab, entledigte mich meiner Winterhaut und den Schuhen, bevor ich in den Wohnraum lief.

Ohne darüber nachzudenken, schaltete ich den Fernseher ein, bevor ich in die Küche lief. Es lief dort irgendeine Unterhaltungsshow, wo irgendwelche Showgrößen, mit Kochen gegeneinander antraten.

Sollte ich auch etwas kochen? Der Kühlschrank war immer noch mit den Leckereien von Hyun-Woos Mutter gefüllt. Wir konnten es zwar reduzieren, aber es war immer noch genügend da.

Besonders die Behälter, mit eingelegtem Gemüse, nahmen den meisten Platz in Anspruch. Ich ärgerte mich ein bisschen, dass ich nicht besser kochen konnte. Als mein Vorhaben nach Korea zu gehen, Formen annahm, hätte ich nie gedacht, dass ich auch mal etwas kochen sollte.

Ich nahm mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und schloss ihn wieder. Lautes Gelächter ließ meine Aufmerksamkeit wieder zum Fernseh wandern. Ich griff mir ein Glas und die Flasche und setzte mich auf die Couch.

Ich kannte solche Sendungen aus Deutschland und hier schienen sie auch anzukommen. Das Publikum klatschte oft und es wurde viel gelacht. Ein Spruchbanner lief durch den unteren Teil des Fernsehers.

Es war aber leider viel zu schnell. Ich konnte es nicht richtig lesen. Ich hörte die Tonfolge des Schlosses unserer Wohnungstür und schaute in die Richtung. Wenig später wurde sie aufgezogen und Hyun-Woo kam herein.

„Hallo Schatz!“, rief ich.

Er schaute in meine Richtung und lächelte.

„Hallo Lucas, wartest du schon lange…, ich habe mich extra beeilt!“

Er zog seine Schuhe aus und schlüpfte in die Latschen.

„Das hättest du nicht brauchen, ich bin auch gerade nach Hause gekommen.“

„Warst du so lange bei deinen Großeltern?“

„Nein, aber du vergisst wohl, dass ich heute mit den Öffentlichen unterwegs war!“

Er kam zu mir und legte seine Tasche auf dem Tisch ab.

„Stimmt und wie war es?“

„Naja, etwas voll, aber wie du siehst, bin ich heil zurück“, grinste ich ihn an.

Er beugte sich nach vorne und gab mir einen Kuss.

„Das hätte ich dir vorher sagen können“, grinste er zurück.

Er lockerte seine Krawatte.

„Hast du Hunger, soll ich uns etwas kochen?“, fragte Hyun-Woo und lief schon Richtung Küche.

Ich stellte mein Glas auf dem Couchtisch ab.

„Was hältst du von der Idee, dass du dir etwas Bequemeres anziehst und wir dann gemeinsam kochen?“

Hyun-Woo legte seinen Kopf leicht schief.

„Das brauchst du nicht…“

„… ich möchte aber…, schau“, ich zeigte aufs Fernseh, „selbst die können alle kochen…! Bringst du es mir bei?“

Mein Schatz schaute zum Fernseh und wollte etwas sagen, aber er hielt inne. Ich folgte seinem Blick.

„Die Flughäfen sind dicht! Es kommt keiner mehr rein oder raus! Nur noch Sonderflüge, die hinaus gehen.“

„Was?“

Es war das Kleingedruckte, welches am unteren Bildschirmrand entlanglief, welches mir zu schnell war, um es lesen zu können.

„Wegen dem Virus?“

„Ja… und ich den Nachbarländern werden anscheinend ebenso Vorkehrungen getroffen.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht.“

„Du erinnerst dich an die Frau, die sie im Krankenhaus isoliert haben?“

„Du meinst die erste Bekannte mit der Erkrankung?“

„Ja…, sie ist daran gestorben. Du siehst, mit dieser Krankheit ist nicht zu spaßen! Sie ist hoch ansteckend. Es war vielleicht gut, dass du die Maske getragen hast.“

„Das ist heftig, vor allem das Personal im Flughafen, die mit der Frau zu tun hatten. Die können sich doch dann auch angesteckt haben.“

„Weiß ich nicht, Lucas! Über diese Krankheit ist noch nicht viel bekannt. Aber das wird sich sicher bald ändern. Wir sollten uns überlegen, wie wir uns schützen können.“

„Also ich hatte während der ganzen Fahrt meine Maske auf und mir ist aufgefallen, viele andere auch.“

„Ich sollte mit So-Woi reden, ob wir eventuell, das in der Firma auch handhaben.“

„Wäre vielleicht ratsam.“

„Deshalb sollten wir uns unbedingt mit So-Woi und Jack kurzschließen, was wir machen werden, wenn das zunimmt.“

„Und was hältst du von meiner Idee?“

„Zusammen kochen? Warum nicht…“, lächelte Hyun-Woo.

*-*-*

„Das Essen war wie immer super, Hyun-Woo! An dir ist echt ein Koch verloren gegangen“, meinte So-Woi und rieb sich über seinen Bauch.

„Der Dank gilt nicht mir alleine, Lucas hat kräftig mitgeholfen.“

Ich strahlte Hyun-Woo an.

„Was anderes So-Woi, Lucas hat mich darauf gebracht, er war heute das erste Mal alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs“, sprach Hyun-Woo weiter.

„Wieso, wir haben hier doch einen Fahrdienst!“, fragte So-Woi ernst.

„Den ich aber nicht immer nutzen möchte“, mischte ich mich einfach  in das Gespräch ein, „… aber das ist glaube nicht das, worüber mein Schatz mit dir reden möchte.“

Hyun-Woo nickte.

„Es geht um die ersten Krankheitsfälle im Land, wegen diesem Virus. Lucas hat erzählt, dass viele schon Masken tragen würden. Ich wollte dich fragen, wie wir das in der Firma handhaben wollen, wenn dies zunimmt.“

„Darauf hat mich Jack auch schon aufmerksam gemacht, als ich mich wegen unserer Japanreise kundig gemacht habe. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt dort hinfliegen können, weil Japan schon über Einreisebeschränkungen verfügt.“

„Ja, im Fernseh brachten sie, das die Flughäfen von Seoul dicht seien“, erklärte ich und stellte schon das erste Geschirr zusammen.

Das war wohl ein Zeichen für Jack, der aufstand und es mir gleich tat.

„Wirklich? Die waren doch noch nie geschlossen, naja vielleicht bei Unwetter, aber das war nur für Stunden.“

Hyun-Woo schaute auf seine Uhr und lief dann zur Couch. Er nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Er zappte sich durch die Sender, bis er bei einer Nachrichtensendung das Programm beließ.

Im Hintergrund des Sprechers standen Zahlen von Menschen, die sich bereits angesteckt hatten und auch über die ersten Todesfälle. Man sagte, wenn jemand starke Erkältungserscheiungen hätte, oder seinen Geschmackssinn verloren hätte, sollte er sich umgehend im Krankenhaus melden.

Es wäre auch ratsam das Haus nur noch mit Maske zu verlassen.

„Dann ist die Frage nach der Maskenpflicht in der Firma schon geklärt. Jack würdest du dich darum kümmern, dass eine Nachricht an unsere Bediensteten geschickt wird, das ab morgen Maskenpflicht besteht?“, fragte So-Woi.

Jack nickte und zog sein Handy heraus.

„Dann werde ich wohl meine Pläne zum Japanfeldzug erst einmal auf Eis legen“, entgegnete So-Woi.

Ich konnte nicht anders und fing an zu kichern. Im Gedanken ploppte plötzlich ein So-Woi in so irgendeiner altertümlichen Rüstung hervor, wie man sie früher hier getragen hatte. Jack schaute mich verwundert an. Ich stellte meine Sachen auf der Spüle ab.

„Kannst du dir So-Woi in so einem Soldatenkostüm vorstellen, wie er Japan überfällt?“

Er schüttelte grinsend den Kopf.

„Ich denke, wir sollten gleich weiter im Voraus denken, welche Schutzmaßnahmen wir noch einführen können“, hörte ich Hyun-Woo sagen.

Im Fernseh wurden erste Vorschläge gebracht, wie man sich zusätzlich schützen konnte. Alle schauten den verschiedenen Ausführungen zu.

„Dass das solche Ausmaße annimmt, hätte ich nicht gedacht…“, sagte ich leise.

„Unser Vorzimmer sitzt recht dich zusammen“, fing So-Woi plötzlich wieder zu reden an.

„Also mir würde es nichts ausmachten, wenn So-Ri mit in meinem Büro sitzen würde, man müsste nur seinen Schreibtisch zu mir hineinstellen“, schlug Hyun-Woo vor.

So-Woi nickte und schien weiter zu grübeln.

„…wir brauchen eine Reinigungsfirma, die alles desinfiziert und wir sollten in jedem Raum und im Eingangsbereich Spender mit Desinfektionsmittel bereitstellen“, redete So-Woi unvermittelt weiter.

„Darum kümmere ich mich“, kam es von meinem Schatz.

„… und ich werde mich mit Grandma kurzschließen“, meinte So-Woi und zückte sein Handy.

„Und was mache ich?“, fragte ich.

„Das Geschirr weiter abräumen…“, grinste Hyun-Woo.

*-*-*

Trotz der späten Stunde saß ich nun mit den anderen im Wagen. Man hatte sich entschlossen noch einmal in die Firma zu fahren. Von den Nachrichten aufgeschreckt, waren auch Juen und So-Ri mit von der Partie.

Man fuhr mit zwei Wägen, damit es im Auto nicht zu voll wurde. So-Ri saß bei uns im Wagen, während Juen bei Jack und So-Woi  mitfuhr. Trotz der vorgerückten Stunde war immer noch mächtig Verkehr und auf den Gehwegen viele Leute unterwegs.

Auch sah ich, dass an verschiedenen Läden, wie Apotheken und anderen Shops, sich kleine Schlangen vor den Geschäften gebildet hatten. Mir fiel plötzlich Papa ein. Ob es in Deutschland auch schon Infektionen gab?

Ich musste ihn unbedingt anrufen, wenn ich dazu kam.

„Du bist so nachdenklich?“, riss mich Hyun-Woo aus den Gedanken.

„Ich dachte gerade an Papa und Mum, ob in Deutschland auch schon Fälle bekannt sind…“

„Du kannst anrufen…“

„Werde ich, wenn wir wieder zurück sind.“

„Das kann länger dauern!“

„Egal, eure Firma geht erst einmal vor!“

Hyun-Woo lächelte verhalten und konzentrierte sich wieder auf den Straßenverkehr. Als wir später den Parkplatz der Firma befuhren, war ich verwundert, dass dort bereits andere Fahrzeuge parkten.

Hatte Jack noch mehr Leute herbeordert. Vor dem Eingang konnte man eine kleine Gruppe entdecken. Wie Jack parkte mein Schatz den Wagen ein. Ich wollte schon aussteigen, als Hyun-Woo mir etwas vors Gesicht hielt.

„Zieh sie bitte an“, meinte er nur.

Es war eine Maske. Ich nahm sie, ohne etwas zu sagen entgegen und zog sie an. Dann verließ ich wie die anderen beiden den Wagen. Auch So-Ri trug nun eine Maske. Zwei weitere Wägen befuhren den Parkplatz.

Ob das als Überstunden galt und So-Woi das auch zahlte? Oder kamen die alle freiwillig, um zu helfen. Ich blieb im gewissen Abstand zu den anderen stehen. So-Ri und auch Juen, gesellten sich zu mir.

„Die haben im Fernseh gesagt, dass es vielleicht zu Schließungen kommt“, sagte So-Ri leise.

„Wie zu Schließungen?“, fragte ich, weil ich es nicht verstand.

„Dass alle Betriebe für eine gewisse Zeit dicht gemacht werden, um ein weiteres Ausbreiten, des Virus vorzugreifen.“

„Wie stellen sich die das vor? Man muss doch auch noch Lebensmittel einkaufen können, oder…“

„… die wichtigen Sachen bleiben geöffnet“, fiel mir Juen ins Wort, „lasst uns hinein gehen, vielleicht können wir auch etwas helfen.“

*-*-*

Spät nach Mitternacht waren wir zurück gekommen und müde ins Bett gefallen. Mein Schlaf war durchdrängt von Masken und dem Virus. Etwas gerädert stand ich kurz hinter Hyun-Woo auf, denn ich wollte nicht liegen bleiben.

Als ich den Wohnraum betrat, lief bereits der Fernseher. Es schienen Nachrichten zu sein, denn ich konnte zwei Personen hinter einer Theke stehen. Beide standen am Rand und hatten eine Trennwand zwischen sich.

„Morgen Schatz!“

„Guten Morgen Lucas, warum bist du nicht liegen geblieben.“

„Wollte nicht liegenbleiben. Ich habe eh schlecht geschlafen!“

„Wegen dem Virus.“

„Schon…“

„Hast du deinen Vater angerufen?“

Abrupt blieb ich stehen.

„Mist, das habe ich total vergessen!“

„Dann solltest du das heute Mittag tun!“

„Warum heute Mittag?“

„Weil deine Eltern um diese Zeit vielleicht noch schlafen…!“

Wie immer hatte ich die Zeitumstellung vergessen. Hier war es kurz nach sieben, als war es in Deutschland kurz nach eins, also mitten in der Nacht.

„Ich erinnere dich gerne daran“, grinste Mich Hyun Woo an.

Er stellte eine Tasse Kaffee auf die Theke.

„Danke!“, meinte ich und setzte mich.

„Hast du heute etwas geplant?“, fragte Hyun-Woo, mir mit dem Rücken zu gewandt.

„Eigentlich nicht, aber wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne mit dir fahren.“

„Weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

„Ich möchte einfach nicht alleine bleiben…“

Hyun-Woo lächelte leicht.

„Ich habe zwar eine Menge Arbeit, aber die Gesellschaft mit dir tut mir auch gut.“

„Ich werde dich nicht stören. Ich nehme mir einfach mein Laptop mit und ein paar andere Sachen, dann habe ich Beschäftigung genug.“

„Okay“, meinte Hyun-Woo, „leider musst du dann die ganze Zeit die Maske tragen…“

„Da ich mich eh an das Ding gewöhnen muss, ist das vielleicht ganz recht“, entgegnete ich und begann Reis zu essen.“

Hyun-Woo hielt kurz inne und starrte auf den Fernseher, dann seufzte er.

„Die Regierung plant noch mehr Einschränkungen…“

Ich schaute nun auch zum Fernseher.

„Ist es wirklich so schlimm?“

„Du siehst ja selbst, wie schnell die Zahlen der Angesteckten steigen.“

Er setzte sich zu mir.

„Wenn das wirklich so weiter geht, ist die Firma bald dicht.“

„Wieso?“

„Lucas, es wäre einfach zu gefährlich jeden Tag in die Firma zu fahren, denn du kannst nicht jeden, der in der Firma arbeitet, überwachen. Und davon ausgehen, dass jeder einzelne dann genauso vorsichtig ist, wie wir… undenkbar!“

„Sorry, daran habe ich nicht gedacht. So langsam mache ich mir wirklich Sorgen und Dad, er ist Arzt…, ist er dann nicht noch mehr der Gefahr ausgesetzt, sich anzustecken?“

„Um deinen Vater brauchst du dir sicher keine Gedanken zu machen. Wie du sagst, er ist Arzt und wird schon wissen, wie er sich schützt.“

*-*-*

In der Tiefgarage standen wir vor dem nächsten Problem. Dort standen Soo-Ri und Juen. Wie ich trugen beide ebenfalls ihre Masken. Normalerweise fuhren beide mit Hyun-Woo, aber mit mir, war das Auto voll besetzt.

Das hieß, wir saßen dicht beieinander auf engsten Raum. Trotz der Maske, konnte ich Soo-Ris Angst erkennen, zu sehr hatte sich dieser Blick seinerseits bei mir eingebrannt.

„Fahren wir einfach mit zwei Wagen, so gehen wir vorerst allem aus dem Weg“, schlug Hyun-Woo vor und zog sein Handy heraus.

Er bestellte einen Fahrer und erfuhr dabei, dass zwei Leute nicht zur Arbeit erschienen waren. Ein leises Pling riss mich aus meinen Gedanken, der Fahrstuhl war angekommen. Die Tür öffnete sich und So-Woi und Jack kamen heraus gelaufen.

„Nanu, ihr seid noch da… guten Morgen“, rief uns So-Woi entgegen.

„Morgen So-Woi!“, rief ich zurück, während ich aus dem Augenwinkel heraus mitbekam, dass sich Soo-Ri leicht verbeugte.

„Hast du die Nachrichten gesehen?“, kam es von meinem Schatz.

„Ja, leider…“, antwortete ihm So-Woi, der uns mit Jack nun erreicht hatte, „…ich habe deswegen schon ein langes Gespräch mit Großmutter gehabt. Sie macht sich große Sorgen.“

„Machen wir uns das nicht alle?“, fragte ich.

Ich bekam keine Antwort.

„Ich bin ehrlich gesagt ratlos, wie wir weiter verfahren sollen. Wenn die Zahlen weiter so rasant steigen und die Regierung ihre Maßnahmen umsetzt, ist der Laden zu. Aber ich gebe zu, wir können auch nicht jeden einzelnen kontrollieren, dazu kenne ich die familiären Hintergründe unserer Mitarbeiter zu wenig.“

„Es ist ja nicht nur das“, begann mein Schatz plötzlich zu reden, „es sind ja auch unsere Zulieferer betroffen, woher sollen wir unsere Materialien bekommen, wenn diese nicht liefern können?

Hyun-Woo dachte wie immer weiter. Wie umfassend das alles war, wurde mir nun erst bewusst. Erneut machte sich der Aufzug bemerkbar und der bestellte Fahrer trat heraus. Fragend schaute uns So-Woi an.

„Ich habe ihn geordert, weil wir getrennt fahren wollten“, sagte Hyun-Woo.

So-Woi drehte sich zu dem Fahrer.

„Wir haben unsere Meinung geändert.“

Der Fahrer nickte und verbeugte sich leicht.

„Jack wird sich nachher mit euch in Verbindung setzten, wenn wir uns Gedanken gemacht haben, wie es weiter geht. Ich denke es ist eventuell zu gefährlich, wenn ihr alle da oben auf einen Haufen zusammen seid!“

„Danke!“, sagte der Fahrer verbeugend und lief zum Aufzug zurück.

„Ähm…“, begann Hyun-Woo, aber So-Woi redete einfach weiter.

„Fühlt sich einer von euch schlecht oder krank?“

„Etwas müde…“, rutschte Juen an, was mich grinsen ließ.

„Wir nehmen den großen Van und lassen die Fenster geöffnet, damit genug Frischluft in den Wagen kommt.“

„Denkst du, das ist richtig?“, fragte nun Jack.

„Komm Jack, wir sind die einzigen Bewohner dieses Hauses…“

So war diese Frage, meinerseits, ebenso geklärt.

„… keiner von uns hat Krankheitssymthome. Verfahren wir also so, als wären wir sechs eine Familie, die sich nach außen abschirmt. Aber das beinhaltet eben auch, das wir zusammen bleiben und größere Kontakte zukünftig meiden müssen.“

„Das beinhaltet aber auch, dass die Firma für unbestimmte Zeit geschlossen werden muss, damit wir uns und auch unserer Mitarbeiter nicht unnötig einer Gefahr aussetzten“, sagte Hyun-Woo.

„Daran können wir leider nichts ändern. Aber fahren wir erst mal dort hin und reden einfach mit den anderen!“

*-*-*

Dort angekommen, war ich froh, den Van zu verlassen. Diese Stille im Wagen, während der Fahrt war irgendwie erdrückend. Mein Handy machte sich bemerkbar. Onkel Min-Chul.

„Guten Morgen, Onkel Min-Chul!“, nahm ich das Gespräch an und trat etwas zur Seite.

„Hallo Lucas, alles okay bei euch?“

„Ja…, warum rufst du so früh bei uns an.“

„Ähm deine Großmutter hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du die nächste Zeit nicht bei ihr wohnen möchtest.“

„Warum das denn?“

„Damit du bei der Familie bist und dir nichts passiert!“

Was sollte jetzt die Übervorsicht?

„Onkel Min-Chul, du weißt selbst, ich bin hier sehr gut aufgehoben!“

„Ich weiß, Lucas, aber bist du dir sicher…, das könnte nämlich bedeuten, dass wir uns eine Weile nicht sehen?“

War da etwas, was er wusste und wir nicht?

„Wieso sollte ich euch nicht mehr sehen können?“

„Moment Lucas…“

Ich hörte Türgeräusche und plötzlichen Lärm der von einer Straße heran drang.

„Lucas, ich darf darüber normalerweise nicht reden“, sprach Onkel Min-Chul weiter, „aber es bestehen Pläne alles herunter zu fahren, was unnötige Ansteckungsgefahren mit sich bringt. Das heißt auch, dass wir unseren privaten Kontakte außerhalb der Familien stark einschränken müssen!“

„Davon wurde in den Nachrichten aber nichts gesagt. Nur wegen diesem Virus? Ist das nicht etwas übertrieben?“

Hyun-Wo war neben mich getreten, denn ich war etwas lauter geworden.

„Nein ist es nicht, Lucas! Ich bin Polizist und bekomme Informationen eben aus erster Hand. Überlege dir bitte meinen Vorschlag noch einmal. Ich muss wieder hinein, du hörst dann wieder von mir! Bye!“

„Bye…“

Das Gespräch war beendet.

„Alles in Ordnung?“, fragte Hyun-Woo und strich mir dabei sanft über den Rücken.

„Lass uns hinein gehen, mir wird kalt“, meinte ich nur und lief zum Eingang.

*-*-*

Angepestet hatte ich mir mit dampfenden Tee in der Hand auf der Couch in Hyun-Woos Büro einen Platz gesucht. Im Raum war nur noch Soo-Ri. Er saß an seinem Schreibtisch neben der Tür und Hyun-Woo war drüben bei So-Woi.

Natürlich hatte ich erzählt, was mir Onkel Min-Chul erzählt hatte. Nun war ich verärgert, weil Hyun-Woo natürlich gleich sich auf die Seite meines Onkels gestellt hatte und seinen Vorschlag gut hieß.

Dass ich ihn dadurch vielleicht dann auch für eine Weile nicht sehen würde, schien ihn anscheinend nicht weiter zu bekümmern. Hyun-Woo kam zurück. Er schaute kurz zu Soo-Ri und kam dann zu mir.

„Habe ich dich irgendwie verärgert?“, fragte er und setzte sich auf einer der Sessel, nicht neben mich.

„Verärgert? Wie kommst du darauf?“, fragte ich sarkastisch.

Meine Maske blähte sich etwas auf, weil ich wütend meinen Atem abließ.

„Lucas… ich meine es doch nur gut mir dir, es ist vielleicht das Beste…“

„Das Beste…?“, fiel ich ihm ins Wort, „… du bist das Beste, was mir bisher wiederfahren ist. Ich will nirgendwo anders hin!“

Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg und wurde von der Maske sofort aufgesaugt. Nun stand Hyun-Woo auf und setzte sich neben mich. Er griff nach meiner Hand.

„Ich will doch nur nicht, dass du auf deine Familie nicht verzichten musst.“

Ich schaute ihm lange in die Augen.

„Du bist jetzt meine Familie… ich liebe dich und will nicht mehr ohne dich sein“, kam es leise aus meinem Mund.“

Weinend fiel ich ihm um den Hals.

 

 

 

 

 

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