Das 6. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Was wollen die denn hier?”, fragte Dad ärgerlich und war schon im Begriff aufzustehen.

Ich versuchte zwar noch, ihn zurückzuhalten, aber das war nur ein Wunschtraum meines Denkens. Er war natürlich wie immer viel stärker.

„Sie wollten kurz mit Fabian reden und sich anscheinend auch entschuldigen.”

„Hört, hört. Hätten Sie nicht an den Scheiß ihres Sohnes geglaubt, wären wir nicht in dieser bescheidenen Situation und unser Sohn würde sich nicht so elend fühlen.”

„Dad, mir geht es soweit gut, jetzt übertreib bitte nicht.”

„Ja, Fabian hat recht. Hören wir uns doch erst einmal an, was sie wollen. Dann kannst du sie immer noch rauswerfen, wenn es dir nicht passt”, sagte Mum zu Dad.

Ich musste unpassenderweise bei diesem Gedanken grinsen, denn ich konnte es mir richtig bildlich vorstellen, wie Dad den Vater von Carsten packte und dieser zur Tür hinaus segelte.

„Kann ich sie herein bitten ohne dass du gleich ausflippst?”, fragte Mum.

Dad nickte schweigend und setzte sich wieder zu mir. Demonstrativ nahm er mich wieder in den Arm und zog mich zu sich.

„Ich muss mich jetzt aber nicht auf deinen Schoss setzen, oder?”, witzelte ich und Mum fing an zu kichern, als sie das Wohnzimmer verließ.

Mein Dad schüttelte leicht verwirrt den Kopf und ich atmete noch einmal tief durch. Denn eigentlich war ich schon froh darüber, dass ich so bei Dad sitzen konnte.

Die Stimmen an der Wohnungstür kamen näher und Mum betrat als erstes wieder das Wohnzimmer, gefolgt von Carstens Eltern. Ich spürte, wie sich die Muskeln meines Dad’s anspannten, ganz so, als wollte er sie gleich anspringen.

„Entschuldigen Sie, wir wollen auch nicht lange stören”, begann Carstens Mutter zögerlich.

Ich erschrak ein wenig bei ihrem Anblick, denn ich hatte sie etwas anders in Erinnerung. Normalerweise war sie immer sehr gepflegt und gut angezogen gewesen, aber nun hingen ihre Haare wirr durcheinander und hatten an Farbe und Glanz verloren. Sie war sogar richtig grau geworden. Ihr Mann dagegen war ganz korrekt im Anzug gekleidet.

„Setzen Sie sich doch”, meinte Mum und verwies auf die großen Sessel.

Ganz gegen die Art meines Dad’s stand er diesmal nicht auf, um die Gäste mit einem Handschlag zu begrüßen. Das wunderte mich, da er bei so etwas eigentlich immer sehr darauf achtete, Höflichkeit spüren zu lassen. Im Augenblick war alles still, alle schauten sie auf mich und ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Gab es etwas Peinlicheres?

„Fabian…”, Carstens Vater ergriff das Wort und ich spürte, dass es ihm schwer fiel, hier zu sprechen, „es tut mir Leid… dass wir unserem Sohn geglaubt haben ohne die ganze Geschichte zu kennen.”

„Die ganze Geschichte?”, hakte mein Dad nach.

„Ja, wir wussten nichts von dem Vorfall im Duschraum. Was mein Sohn da abgezogen hat, ist unentschuldbar.”

Während ich noch immer nicht fähig war, mich an dem Gespräch zu beteiligen, meinte meine Mutter: „Ja, oft kennt man seine eigenen Kinder nicht mehr.”

„Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist”, sprach nun Carstens Mutter weiter, „wir haben ihn nie irgendwie in solch einer Richtung erzogen. Wir dachten, er ist tolerant genug… gegenüber allem.”

„Jeder ist anders im Umsetzen von Erlerntem.”

„Sie meinen, ich habe in diesem Punkt nicht versagt?”

„Nein, Frau Kammerer, sicher nicht. Ich kenne das freundschaftliche Umfeld Ihres Sohnes nicht. Jeder Einfluss kann ihren Sohn ändern.”

Die Kammerers schauten sich verzweifelt an.

„Wir…”, Herr Kammerer sprach weiter, „wir wollten nur, dass du weißt, dass du von uns keinen Ärger mehr zu erwarten hast. Was unseren Sohn betrifft, kann ich dir leider nichts sagen, denn er ist seit gestern verschwunden…”

„Verschwunden?”, fragte Dad überrascht.

Frau Kammerer nickte stumm, noch immer mit Verzweiflung in den Augen.

„Haben Sie das schon der Polizei gemeldet?”

„Ja, aber die meinten, dass sie jetzt noch nichts tun könnten… wegen vierundzwanzig Stunden und so”, sprach Herr Kammerer.

„Und Sie haben keine Ahnung, wo er vielleicht sein könnte?”

Herr Kammerer schüttelte den Kopf.

„Wir haben schon überall angerufen, aber keiner hat etwas von ihm gehört oder gesehen”, sagte Frau Kammerer.

Dad’s Blick fiel zu mir.

„Was?”

„Hast du keine Idee, wo er noch sein könnte?”

Etwas verärgert erwiderte ich Dad’s fragenden Blick. Der hatte Nerven! Wegen Carsten hatte die ganze Scheiße doch erst angefangen und jetzt sollte ich auch noch darüber nachdenken, wo der Sack sich aufhalten könnte! Früher hätte ich das gewusst, aber heute… ich atmete tief ein und hörbar wieder aus.

„Wir waren früher immer am alten Steinbruch, vielleicht ist er dort…”, gab ich dann von mir.

„Könntest du uns vielleicht zeigen, wo genau das ist?”

Mum schaute mich mit einem Lächeln an und hatte diesen komischen Blick, den sie immer aufsetzte, wenn sie etwas von mir wollte. Gleichzeitig spürte ich Dad’s Hand auf meinem Rücken, wie sie sanft darüber streichelte.

„Ich fahr auch mit”, meinte Dad, als könne er meine Gedanken lesen.

Ich seufzte kurz auf und bewegte mich vom Sofa runter.

„Ich muss mir aber schnell noch etwas anziehen”, meinte ich knapp und verschwand ohne eine Antwort abzuwarten aus dem Wohnzimmer.

Verärgert über meine Eltern, aber noch mehr über mich selbst, lief ich nach oben in mein Zimmer. Warum tat ich das? Alles war besser, als nach diesem Kerl zu suchen. Ich verstand mich selber nicht.

Hastig schlüpfte ich in meine Jeans und zog einen dicken Pulli aus dem Schrank. Hm… im Steinbruch würde es sicher nass und rutschig sein, so entschied ich mich dafür, meine Dockers anzuziehen. Zuletzt griff ich noch nach meiner dicken Jacke und dem Schal, bevor ich die Treppe hinunter zurück zu den anderen rannte.

Dad stand bereits fertig angezogen im Flur und hatte den Wagenschlüssel in der Hand.

„Fahren Sie einfach hinter uns her”, sagte Dad zu den Kammerers.

Die verabschiedeten sich noch von meiner Mum und schon wenige Minuten später waren wir unterwegs.

„Dir ist nicht wohl bei der Sache, oder?”, fragte Dad nach einer Weile.

Ich schüttelte den Kopf.

„Du und Carsten wart doch einmal so gute Freunde…”

„Waren! Das ist lange vorbei… irgendwie hatten wir plötzlich andere Interessen, wie das halt mal so ist im Leben.”

Dad kicherte neben mir.

„Du redest grad wie ein alter Mann.”

Ich warf ihm einen gespielt empörten Blick zu, kommentierte seinen Satz aber nicht. Die folgende Fahrt verlief schweigend. Es hatte irgendwann auch angefangen zu schneien, doch der Schnee blieb  noch nicht auf der Straße liegen.

„Mistwetter”, hörte ich meinen Dad sagen.

*-*-*

Dad ließ den Wagen ausrollen und die Kammerers kamen dicht neben uns zum Stehen.

Als alle ausgestiegen waren, hielten wir uns nicht mehr lange auf und ich meinte: „Wir müssen da entlang.” Dabei deutete ich auf einen kleinen Trampelpfad zwischen dem Gebüsch. Dad hatte an alles gedacht und sogar eine starke Taschenlampe dabei.

„Gerlinde, willst du nicht lieber im Auto bleiben?”, fragte Herr Kammerer, doch die Angesprochene schüttelte nur den Kopf, während sie ihren Mantel zuknöpfte.

„Dann mal los”, forderte Dad auf und folgte mir ins Gebüsch.

Es dauerte eine Weile bis wir, dem engen Pfad folgend, die Stelle erreichten, an der Carsten und ich uns immer getroffen hatten.

„Da liegt sein Fahrrad”, meinte Frau Kammerer plötzlich.

Dad’s Lampe folgte der gezeigten Richtung und tatsächlich war Carstens Fahrrad zu sehen.

„Und wo müssen wir jetzt hin?”, fragte Dad.

„Da rauf”, antwortete ich.

„Das sieht gefährlich aus”, stellte Herr Kammerer fest und mein Dad nickte zustimmend.

„Bleiben Sie doch einfach hier und ich schaue mit meinem Sohn nach, okay?”

„Wird uns nichts anderes übrig bleiben, denn mit unserem Schuhwerk kommen wir da nicht hinauf”, antwortete Carstens Vater.

„Also los, Fabian.”

Es dauerte etwas, vor allem, weil der Untergrund so rutschig war, aber fünf Minuten später befanden wir uns auf dem kleinen Felsvorsprung. Dad’s Schein der Taschenlampe streifte etwas rotes, was ich als Carstens Jacke erkennen konnte.

„Wer ist da?”, hörte ich erschrocken Carstens Stimme.

„Ich bin es… Fabian mit meinem Vater, deine Eltern…”

„Was willst du dreckige Schwuchtel von mir?”, unterbrach mich Carsten barsch.

„Halt junger Mann! Nicht in diesem Ton”, warf Dad ein.

Carsten schwieg.

„Carsten… ich weiß nicht, was ich dir getan habe. Warum du mich plötzlich so hasst… aber können wir trotzdem reden?”

„Was gibt es denn da noch zu reden?”

„Warum du dich so aufführst?”

Carsten fing laut an zu lachen, was in einem starken Husten endete.

„Fabian, ich würde sagen, wir gehen wieder runter und Carsten geht mit. Es bringt nichts, in seinem Zustand mit ihm zu reden”, schlug Dad neben mir vor.

„Die ganze Zeit… warst du immer der Mittelpunkt”, begann Carsten plötzlich zu reden, „selbst im Volleyball bist du der Beste von uns. Und jetzt ziehst du diese Schwulennummer ab… willst du dich noch interessanter machen?”

Ich traute meinen Ohren nicht, was ich da zu hören bekam. Ich … der Mittelpunkt?!

„Und dabei vergisst du deine Freunde… deine wahren Freunde.”

Carstens Stimme wurde weinerlich. Ich schaute ratlos zu Dad, der aber nur mit den Schultern zuckte.

„Ich habe nie jemanden vernachlässigt… und dass ich schwul bin… das habe ich mir nicht ausgesucht… ich bin es eben!”

„Warum hast du mir das nie gesagt? Bin ich nicht vertrauenswürdig genug?”

„Häää… vielleicht aus dem Grund, das nicht erleben zu müssen, was hier grad abläuft?”

Dad beugte sich vor und zog Carsten hoch.

„Komm Junge, du holst dir hier noch den Tod.”

*-*-*

Fassungslos saß ich in der Küche und wärmte mich an meiner Tasse gefüllt mit heißer Schokolade. Das war schwere Kost gewesen, die für mich nur schwer zu verdauen war. Dachten alle so von mir? Warum war Carsten dann so ausgetickt.

„Na Sohnemann, wie sieht es aus. Es ist nach zwölf, es ist wohl Bettzeit angesagt”, meinte Dad, der in die Küche kam.

„Gleich Dad, nur noch meine Schoko leer trinken. Ob ich schlafen kann, ist eine andere Frage.”

„Verständlich! Machst du noch dein Türchen auf?”

„Hm?”

Dad zeigte auf meinen Adventskalender. Stimmt, wir hatten ja eigentlich schon den nächsten Tag, also stellte ich meine Tasse ab und öffnete ein weiteres Türchen am Kalender.

In jeder Minute,

die man mit Ärger verbringt,

versäumt man

sechzig glückliche Sekunden

Da war was Wahres dran…

„Okay, ich geh dann mal schlafen. Mal sehen, was mich morgen in der Schule erwartet.”

„Gute Nacht Fabian.”

„Gute Nacht Dad und danke noch mal… für alles.”

„Dafür nicht!”

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