Das 12. Türchen – eine Adventsgeschichte

Carsten

 

„Bürschchen, ich schwöre dir eins, mach weiter so und du findest dich in einem Internat wieder.”

Die Augen meines Vaters waren eiskalt und ich bekam es mit der Angst zu tun. So hatte er sich noch nie verhalten.

„Dein Machogehabe geht mir so dermaßen auf den Wecker”, setzte er nach.

Ich atmete tief durch.

„Carsten ich kenn dich nicht mehr, du hast dich so verändert. Du bist so verschlossen geworden, erzählst nichts mehr.”

„Das hat… nichts mit euch zu tun”, sagte ich leise.

Es waren meine ersten Worte gegenüber meinem Vater. Seit einer viertel Stunde redete er nun schon auf mich ein, steigerte sich dabei regelrecht in Wortschwälle und wurde auch immer lauter. Mutter saß neben ihm, schaute mich traurig an und sagte kein Wort.

„Da bin ich mir nicht sicher!”

Ich seufzte und schaute wieder zu Boden.

„Und dann die Sache mit Fabian, das war ja deine größte Glanzleistung. Ich dachte immer, ich habe dich zu mehr Toleranz erzogen. Schon alleine, weil dein Onkel schwul ist. Komm bloß nie auf den Gedanken, ihm gegenüber so etwas zu äußern, wie du es bei Fabian getan hast.”

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht mehr weiter…, bin echt ratlos, was wir mit dem Jungen anstellen sollen…”

Er ließ sich wieder neben Mutter auf das Sofa fallen und schüttelte den Kopf.

„Ich… ich weiß, dass ihr… das nicht versteht…”, sprach ich leise weiter.

„Dann erklär es uns!”, fuhr mich mein Vater wieder an.

„Ich… kann es nicht…”, sagte ich fast unhörbar und fing an zu weinen.

„Und warum? Hast du Angst, ich habe dich nicht mehr lieb?”

Mittlerweile kniete mein Vater vor mir, seine Hände lagen auf meinen Knien.

„Es wird nie etwas geben, was sich zwischen uns stellen könnte”, sprach er mit weinerlicher Stimme weiter, „ich will nur wieder meinen Carsten zurück…”

Ich hob meinen Kopf und sah durch einen Tränenschleier zu meinem Vater.

„Gibt es ein zurück…?”

„Es gibt immer ein zurück, Carsten. Was ist passiert? Was hat dich so aus der Bahn werfen können, dass du zu so einem Monster mutiert bist?”

Ich wich ein Stück zurück… Monster? Mein Vater sah in mir ein Monster? Das wollte ich nie. Ausgesucht hatte ich mir das auf keinen Fall und vor allem wollte ich nie so sein, ich habe immer versucht, es zu unterdrücken.

Aber seit Fabian… war mir das nicht mehr möglich.

„Wegen dem… hier”, sagte ich leise und griff in meine Jeans.

Langsam zog ich an dem Lederband, bis es zum Vorschein kam. Dann hob ich es in die Höhe.

„Das Regenbogenamulett habe ich an Fabian gesehen, ist das seins?”, fragte Mutter.

Ich schüttelte den Kopf und meine Eltern sahen sich fragend an.

„Es ist meins…ich… ich bin schwul”, sagte ich mit erstickender Stimme und verfiel in ein lautes Schluchzen.

*-*-*

Florian

Wir saßen beim Abendbrot, als im Flur das Telefon klingelte.

„Nanu, wer ruft um denn die Zeit noch an? Für dich?”, fragte Mum und sah mich an.

Ich schüttelte den Kopf und biss von meinem Brot ab, während Dad hinauslief.

„Wenn es für mich wäre, hätte derjenige auf dem Handy angerufen.”

„Hm… da hast du wohl Recht.”

Dad kam wieder zurück und setzte sich an den Tisch.

„Und wer war es?”, fragte Mum und ich sah ihn gespannt an.

Er schwieg noch und bedachte uns beide mir einem durchdringenden Blick.

„Jetzt mach es doch nicht so spannend… ist etwas passiert?

„Kann man so sagen…”

Nun wurde ich doch neugierig und stellte meine Tasse Tee ab.

„Carstens Vater war am Telefon…, der Notarzt war grad bei ihnen.”

Ich verschluckte mich an meinem Bissen Brot.

„Oh Gott, was ist denn passiert?”, fragte Mum irritiert.

„Carsten hatte einen Nervenzusammenbruch…”

„So schlimm?”, fragte Mum weiter und schaute mich an.

„Und warum ruft er dann dich an?”, fragte ich und versuchte die Fassung zu bewahren.

„Er erzählte mir, dass er und Carsten sich gestritten hatten. Und dass er und seine Frau dabei auch den Grund erfahren haben, warum sich Carsten sich in den letzten Tagen so benommen hat.”

„Hat er dir den Grund gesagt?”, fragte Mum.

Dad schaute mich an, sein Blick wanderte nach unten.

„Was denn?”, fragte ich verwirrt.

Dad griff zu mir und nahm meinen Anhänger in die Hand.

„Carsten hätte so einen Anhänger heraus gezogen und gesagt, er wäre schwul.”

*-*-*

Die Verwirrung war nun komplett. Wir saßen im Auto, dick eingepackt und Dad schlitterte Richtung Carstens zu Hause.

„Ich weiß gar nicht, was ich großartig sagen soll”, sprach Mum plötzlich weiter.

„Ich um ehrlich zu sein auch nicht, aber warten wir erst mal ab, was sie denn wissen möchten”, erwiderte Dad.

Mich fragte wohl keiner, ob ich dahin wollte. Klar tat mir Carsten jetzt irgendwie leid, aber ich hatte auch noch nicht vergessen – kein Wort – was in der Dusche gelaufen war. Ein Warum? Stellte ich mir nicht mehr, ich hatte es aufgegeben, denn ändern konnte ich es sowieso nicht mehr.

„Da muss es sein”, riss mich Dad aus den Gedanken.

Der Golf rollte langsam die schmale Auffahrt hinauf und kam vor der Haustür endgültig zum Stehen. Das Haus war hell erleuchtet und im Vorgarten war allerlei Weihnachtsdekoration aufgebaut. Mit einem flauen Gefühl im Magen stieg ich aus dem Wagen.

Anscheinend wurden wir schon erwartet, denn als wir ausstiegen, wurde schon die Haustür geöffnet. Carstens Vater stand bleich unter der Tür und blickte uns erwartungsvoll entgegen.

„Fabian…, ich weiß, ich verlange viel von dir…, aber meinst du, du könntest zu Carsten hoch gehen und ihm etwas Gesellschaft leisten?”, fragte er gleich darauf.

Acht erwartungsvolle Augen schauten mich an. Ich seufzte.

„Deswegen bin ich ja wohl hier.”

„Du weißt noch, wo sein Zimmer ist?”, fragte Carstens Mutter.

Ich nickte und hängte meine Jacke an die Gardarobe. Während sich die Erwachsenen dem Wohnzimmer zuwandten, lief ich die Treppe hoch. Meine Schritte wurden jedoch immer kleiner, je näher ich an Carstens Zimmer kam.

Ich hob meine Hand um zu klopfen, hielt aber dann doch inne. Was mach ich hier eigentlich? Letzte Woche noch hatte mich dieser Kerl als einen Arschficker bezeichnet und jetzt steh ich hier, um ihn womöglich noch zu trösten.

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, dass dir es schwer fällt”, sagte jemand hinter mir.

Ich fuhr zusammen und drehte mich um. Vor mir stand Simone, Carstens ältere Schwester.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken und ich weiß auch, dass mein kleiner Bruder mal wieder Scheiße gebaut hat. Aber bitte gib ihm eine Chance, auch wenn er es in deinen Augen nicht verdient hat.”

Ich nickte ihr zu, sagte aber nichts. Danach verschwand sie wieder in ihrem Zimmer und ich war wieder an dem Punkt, an dem ich zuvor schon gewesen war. Erneut hob ich die Hand und klopfte diesmal. Keine Antwort.

Langsam drückte ich die Türklinke hinunter und schob die Tür etwas auf. Das Licht war sehr gedämpft und ich trat ein. Carsten schien wohl ein neues Zimmer bekommen zu haben, denn diese Einrichtung hier kannte ich nicht.

Das Bett stand nun am Fenster, wo vorher ein großer Schreibtisch viel Platz geraubt hatte. Ich konnte Carsten liegen sehen, zusammengekauert und ins Kissen gekuschelt. Er bewegte sich aber immer noch nicht, schien wohl zu schlafen.

Leise schlüpfte ich aus meinen Schuhen und lief zum Bett, um mich vorsichtig auf den Bettrand zu setzen. Da erkannte ich auch, dass Carsten einen Kopfhörer auf hatte und vermutlich deshalb nicht auf mein Klopfen reagiert hatte. Sein Kopf drehte sich und die Augen öffneten sich.

Dann hörte ich nur noch einen Schrei und befand mich schneller auf dem Boden, als ich schauen konnte. Wenige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und Simone stand im Zimmer.

„Ist etwas passiert?”, fragte sie besorgt.

Ich schaute zu Carsten.

„Nein… äh ja, ich hab mich nur sehr erschrocken…, hab nicht erwartet, dass… Fabian plötzlich hier ist”, erklärte er leise.

„Okay, dann… lass ich euch mal wieder alleine.”

Simone lächelte mich an und verschwand wieder.

„Was machst du denn hier?”, kam es von Carsten.

„Erst mal hallo. Dein Vater hat bei uns angerufen und erzählt, was passiert ist und uns gebeten vorbei zu schauen.”

Mit großen Augen sah mich Carsten an und ich spürte, wie er zitterte. Dann fiel er in sich zusammen und begann zu weinen.

„Es… tut mir… so leid, was… ich dir… angetan… habe”, schluchzte er.

Ich seufzte erneut.

„Schnee von gestern Carsten, ich habe nur eine Frage noch.”

Ich wunderte mich dabei selbst über mich, dass ich so gelassen bleiben konnte. Carsten zog ein Taschentuch aus der Box und putze sich die Nase.

„Und… die wäre?”, fragte er weinerlich.

„Wieso das alles? Du sagst, du bist schwul und behandelst mich aber wie Dreck.”

Carsten schien in eine neue Weinattacke verfallen zu wollen, aber ich legte meine Hände auf seine und sah ihm in die Augen.

„Hattest du solche Angst vor den anderen?”

Er nickte.

„Dann lieber einen anderen denunzieren und selber fein raus sein. Bloß nicht auffallen. Nur, mein Lieber, ist der Schuss nach hinten losgegangen, oder?”

Er nickte erneut und senkte dabei den Kopf. Ich zog ihn aber mit der Hand am Kinn wieder hoch, denn ich wollte ihm in die Augen schauen und nicht wieder auf irgendwas hereinfallen.

„Wenn du mich jetzt hasst…, verstehe ich das. Ich habe es gründlich vermasselt.”

„Ja hast du, aber ich habe nicht gesagt, dass ich dich hasse!”

„Nicht?”

In seinen Augen dachte ich einen Hoffnungsschimmer zu sehen und schüttelte den Kopf zur Antwort.

„Danke…”

„Für was?”

„Dass du mich nicht hasst…”

„Dafür brauchst du dich nicht zu bedanken, denn sauer bin ich allemal.”

Er zitterte immer noch und schwieg. Ich schwieg ebenso, denn ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Aber er schaute mich an. Seine verheulten blauen Augen funkelten im gedämpften Licht.

Langsam verlor ich mich in diesem Blick, versank immer tiefer, verlor mich in Träumereien.

„Fabi…?”

Ich zuckte zusammen. Er hatte Fabi gesagt, so hatte er mich schon lange nicht mehr genannt.

„Ja?”

„Die Gedichte…”

„Ja?”, fragte ich ein zweites Mal und musste sogar etwas lächeln.

„Ich… meine das ernst…”

Ein drittes -Ja?- wäre jetzt wohl unpassend gewesen, so sagte ich lieber gar nichts und wartete, ob er noch mehr offenbaren wollte. Noch immer hatte ich seine Hände in den meinen und konnte so spüren, dass sein Zittern allmählich nachgelassen hatte.

„Habe ich… noch eine Chance… auf einen Neuanfang?”

*-*-*

Ich fuhr aus meinem Bett hoch. Hatte ich das jetzt alles geträumt? Der Wecker piepte wie blöd und mit dem allmorgigen Ritual brachte ich ihn zum Schweigen. Mein Blick fiel dabei auf das kleine Bärchen, das neben dem Wecker saß.

Nein, ich hatte es nicht geträumt. Alles war so geschehen. Der Beweis war das Bärchen, das mir Carsten gestern zum Abschied geschenkt hatte und das, obwohl ich ihm eine richtige Antwort schuldig geblieben war. Ich hatte lediglich gesagt, dass ich Zeit bräuchte und damit hatte er sich zufrieden gegeben.

Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg zum Bus und hatte den Zettel aus meinem Adventskalender in der Hand. Ein Lächeln zierte meine Lippen.

Wenn Illusionen sterben,

erscheint aus der Asche Liebe.

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