Das 11. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Dass du den auch noch in Schutz nimmst, nachdem er so ein Theater vollführt hat”, meckerte Gabriella.

„Das ist ja wohl meine Sache, oder?”

Ich schien das wohl etwas zu giftig gesagt zu haben, denn Gabriella zog eine Schnute.

„Entschuldige…, sollte nicht so rüberkommen, wie es sich angehört hat.”

„Angenommen! Aber verstehen tu ich es trotzdem nicht, dem gehört doch in den Ar…”

„Gabriella, lass es einfach ruhen. Ich will nicht noch mehr böses Blut…”

„Okay…”

Allerdings klang das ganz und gar nicht nach einer Bestätigung von meiner Freundin. Ganz im Gegenteil, sogar der Blick, den sie Carsten schenkte, war ein total anderer. Ich sagte aber nichts mehr dazu, sondern atmete nur tief durch und widmete mich wieder meiner heißen Schokolade. Die Reaktion von Carsten in dieser Nacht auf dem Felsen und nun auch noch dieser Brief ließen mir keine Ruhe.

Wir verbrachten die nächste halbe Stunde schweigend und ich konnte es nicht verhindern, dass mein Blick immer wieder an das Ende des Saals wanderte, wo sich Carsten einen Platz gesucht hatte. Er saß direkt am Fenster und starrte einfach nur nach draußen. Bevor ich auch nur noch einen einzigen Gedanken fassen konnte, stellte ich meine Tasse ab und stand auf.

„Wo willst du hin?”, fragte mich Gabriella, aber ich gab keine Antwort darauf, sondern durchquerte den Saal, bis ich bei Carsten angekommen war.

„Darf ich mich setzen?”, fragte ich leise.

Carsten fuhr zwar zusammen, drehte sich aber nicht um.

„Wieso willst du bei einem Looser sitzen?”

Ich sagte nichts darauf, sondern zog nur einen Stuhl näher zu Carsten und setzte mich darauf.

„Was ist schief gelaufen?”, fragte ich.

Sein Blick blieb weiterhin steif in Richtung Fenster gewandt.

„Ich weiß es nicht…, sag du es mir!”

„Ich wusste nicht, dass ich dich ausgeschlossen hätte aus meinem Leben… irgendwann warst du einfach nicht mehr erreichbar.”

„Hör auf, dir etwas vorzumachen Fabian.”

„Ich wüsste nicht, was ich mir vormachen würde.”

Nun drehte Carsten seinen Kopf doch noch in meine Richtung und ich konnte in zwei total gerötete Augen sehen. Er wischte sich eine einzelne Träne aus dem Gesicht.

„Du bist so was von selbstgefällig… merkst nicht mal, wie du anderen weh tust!”

„Bitte? Wem tu ich weh?”, fragte ich entsetzt.

„Ist jetzt auch egal… kann man eh nichts mehr dran ändern.”

„Wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich natürlich nichts ändern.”

„Lass es gut sein… ich kann nicht mehr…”, sagte er sehr leise, sprang plötzlich auf und rannte aus der Cafeteria.

Verwirrt schaute ich ihm erst nur hinterher und lief dann an den Tisch zu den anderen zurück.

„Dem hast du es jetzt aber gezeigt”, meinte Gabriella triumphierend.

„Gar nichts habe ich…”

„Und warum ist er jetzt so Hals über Kopf hinaus gestürmt?”

„Das weiß ich selber nicht”, meinte ich nachdenklich und ließ mich auf meinen Stuhl fallen.

„Was hast du denn gesagt, wenn ich fragen darf?”, kam es von Marcel.

„Ihr wisst nicht, was in der Zwischenzeit gelaufen ist.”

„Wie denn auch, du hast rein gar nichts erzählt”, sagte Gabriella.

„Carstens Eltern waren am Freitag bei uns.”

„WAS?”, kam es fast gleichzeitig aus drei Mündern.

„Nein, nicht was ihr sicher denkt. Sie waren gekommen, um sich zu entschuldigen und…”

„Das ist auch recht so, aber mit einer Entschuldigung ist es nicht getan!”, unterbrach mich Gabriella.

„Nein, was ich eigentlich sagen wollte. Sie haben dann erzählt, dass Carsten schon seit Stunden verschwunden wäre…”

„Was interessiert dich das?”

„Hat es nicht, bis mein Dad mich fragte, ob ich wüsste, wo er sein könnte.”

„Das ist ja wohl ausgekochte Affenscheiße! Sorry… spinnt dein Dad?”

„Gabriella, nein er spinnt nicht. Ich hatte ne Ahnung wo er sein könnte und führte Carstens Eltern da hin.”

„Was hast du?”

„Er saß am alten Steinbruch, an der Felskante… wo wir früher immer gespielt haben. Er warf mir vor, ich hätte mich verändert… ich hätte meine Freunde vernachlässigt.”

„Hat der einen an der Waffel?”

„Du und Carsten wart mal Freunde?”, fragte Thomas erstaunt, „das kann ich mir gar nicht vorstellen.”

„Ich ehrlich gesagt auch nicht”, gab Marcel seinen Senf dazu.

„Ich weiß nicht, was uns auseinander gebracht hat… andere Interessen oder andere Freunde.”

„Du bist ihn los, sei froh und hier wird er sich sicher keine Schnitzer mehr erlauben”, sagte Gabriella.

*-*-*

Ich war froh, als ich endlich die Haustür hinter mir schließen konnte. Sorgsam entledigte ich mich meiner nassen Kleidung, um ja nicht Mum’s Flur dreckig zu machen und stampfte danach in mein Zimmer, um mir etwas Bequemes anzuziehen. Erst dann räumte ich meinen Rucksack aus, als ein Briefumschlag aus der Tasche fiel. Verwundert hob ich ihn auf und öffnete ihn.

Sehne mich nach deiner Liebe,

obwohl ich sie nicht verdiene.

Sehne mich nach deiner Nähe,

obwohl du nicht bei mir sein willst.

Sehne mich nach einem liebevollen Blick,

obwohl du mich nicht anschaust.

Sehne mich nach deiner Freundschaft,

die nicht mehr vorhanden ist.

C.

C.? C wie Carsten? Mir viel vor Schreck das Blatt herunter. Er sehnt sich nach meiner Liebe? War ich jetzt komplett im falschen Film? Ich ließ mich aufs Bett fallen, war total konfus. Nach einigen Minuten beugte ich mich vor und hob das Blatt vom Boden auf, um den Text noch einmal zu lesen.

Cosmo fängt auch mit C. an, aber… nein Cosmo konnte das nicht sein, der Text bezieht sich auf mich und das konnte nur Carsten wissen. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte und ließ mich wieder nach hinten fallen.

*-*-*

Dass ich bald darauf eingeschlafen sein musste, merkte ich an der Kleidung, die ich immer noch trug, als ich mitten in der Nacht aufwachte. Etwas verpeilt erhob ich mich und wankte durch das dunkle Zimmer.

Mein Radiowecker, augenblicklich die einzige Lichtquelle in meinem Zimmer, zeigte etwas nach drei Uhr an. Ich schlich leise ins Bad, weil der Druck meiner Blase schon recht heftig war. Etwas später wieder im Zimmer zog ich mich dann aus und ließ mich wieder ins Bett fallen.

Da sah ich das Blatt auf dem Boden liegen und es kam die Erinnerung zurück. Die Erinnerungen an die Worte, die auf diesem unscheinbaren Blatt Papier geschrieben waren. Carsten…

Ich schloss die Augen und versuchte das Bild seiner traurigen Augen aus meinem Kopf zu kriegen.

Doch das Gegenteil war der Fall. Erinnerungen an Carsten und mich liefen wie eine Filmspule in meinen Gedanken ab. Kleinigkeiten, die mir früher nie aufgefallen waren, traten jetzt in den Vordergrund.

Carsten schwul? Wie konnte das sein? Und warum hatte er dann so einen Zirkus veranstaltet? Fragen über Fragen, die ich nicht lösen konnte. Verwirrt kuschelte ich mich in meine Decke und starrte auf die Zahlen meines Weckers.

Ich hatte immer behauptet, Carsten wäre nicht mein Typ, aber dennoch hatte ich sein Aussehen ganz klar im Gedächtnis, konnte ihn haargenau beschreiben. Ich merkte, wie ich langsam ins Schwärmen kam. Erinnerte mich daran, wie ich ihn immer verstohlen beim Duschen beobachtet hatte.

Sein Körper war perfekt. Durchtrainiert und leicht behaart. Seine hellbraunen Haare, die ihm wirr ins Gesicht fielen unterstrichen seine frechen Augen. Ich seufzte. Was machte ich hier eigentlich? Ich schwärmte gerade intensiv von Carsten.

Die Welt drehte sich irgendwie falsch heute.

*-*-*

Dieses Klingeln wurde immer penetranter, bis ich begriff, dass es mein Wecker war. Etwas säuerlich holte ich aus und schlug nach dem Wecker, was zur Folge hatte, dass er krachend auf dem Boden landete.

Ein paar Sekunden später wurde meine Tür aufgerissen und das Licht ging an. Ich konnte gerade noch mein Gesicht vor der grellen Lampe in Sicherheit bringen, indem ich es in das Kissen drückte.

„Was ist denn hier los?”, hörte ich die Stimme meines Erzeugers.

„Nichts!”, brummte ich ins Kissen.

Ich versuchte ein Auge zu öffnen, aber irgendwie wehrte sich alles in mir.

„Dein Radiowecker liegt auf dem Boden…”

„Ich weiß…”, gab ich genervt von mir.

„Wir sehen uns später”, meinte Dad und verschwand wieder.

Augenblicklich wurde es wieder dunkel im Zimmer und ich erhob mich nun endlich seufzend aus dem warmen Bett. Mein Körper fühlte sich so gerädert an, aber es half nichts. Ich musste raus, es war ja Schule. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, dass heute Nacht kein weiterer Schnee mehr gefallen war, was mich annehmen ließ, dass die Schulbusse wieder fahren würden.

Müde tapste ich zum Badezimmer und lief dort angekommen erst mal voll auf. Jemand hatte die Tür verschlossen und ich war nun frontal dagegen gerannt. Meine Stirn schmerzte und mein rechter Fuß auch.

„Ich bin doch gleich fertig!”, hörte ich Mum rufen.

„Schon okay”, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihr.

Also lief ich humpelnd und leicht fluchend in mein Zimmer zurück und bereute es, an diesem Morgen aus dem Bett gekrochen zu sein. Der Tag fing ja auch so toll an. Nachdem ich mich grummelnd angezogen hatte und wieder auf den Flur trat, stand die Badezimmertür wenigstens wieder offen.

Im Spiegel betrachtend fand ich, dass es so nicht weiter gehen konnte. Die ersten Anzeichen von Augenringen machten sich sichtbar. Ich kam mir wie gerädert vor und überhaupt hätte ich noch sicher einige Stunden durchschlafen können.

Aber es war Schule angesagt, doch die Ferien waren zwar schon in greifbarer Nähe, aber an diesem Morgen half mir das recht wenig. In meine Grübeleien hinein hörte ich mein Handy fiepen und lief deswegen wieder zurück in mein Zimmer, um es zu suchen. Auf dem Schreibtisch neben Carstens Brief fand ich es dann auch.

Natürlich, wer sollte mir sonst so früh eine SMS schicken? Gabriella. Sie schien Gefallen daran gefunden zu haben, mich schon morgens zu quälen. Sie wollte mich wie gestern in fünfzehn Minuten abholen.

Ich atmete tief durch, schnappte mir meine Sachen und lief hinunter. Keiner sollte vorerst wissen, was für eine Entdeckung ich gemacht hatte. Ich wusste, wie alle auf Carsten reagieren würden, wenn ich jetzt noch so eine Bombe platzen lassen würde.

Nein, das blieb erst mal mein Geheimnis.

„Morgen Schatz. Na, wie war deine Nacht?”, fragte Mum, die sich gerade einen Kaffee einschenkte.

„Weiß nicht… hab geschlafen”, meinte ich mit einem verwunderten Blick zu ihr.

„Recht unruhig, ich habe dich ein paar Mal im Schlaf sprechen hören.”

Ich riss entsetzt meine Augen auf.

„Keine Sorge, ich habe nichts verstanden.”

Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich holte mir beruhigt ebenso eine Tasse Kaffee.

„Willst du nichts essen?”

Ich schüttelte den Kopf und nippte an meinem Kaffee.

„Du bist heut Morgen nicht sehr gesprächig.”

„Tut mir Leid Mum, ich bin müde.”

Wie jeden Morgen fiel mein Blick auf den Adventskalender, heute war die Elf dran. Mum folgte meinem Blick und grinste. Wenige Augenblicke später hatte ich den neuen Zettel in der Hand.

Kein Licht leuchtet so hell in meiner Seele, wie deine Gegenwart.

Ich seufzte. Ein Freund wäre schön… jemanden, an den man sich kuscheln konnte. Jemanden einfach nur für mich. Carsten. Oh man, wieso kam mir ausgerechnet jetzt Carsten in den Sinn?

„Stimmt etwas nicht Fabian?”, fragte Mum.

„Alles in Ordnung, ich glaub, ich schlaf noch halb.”

Und damit war meine Erklärungsbereitschaft auch schon erschöpft.

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