Das 10. Türchen – eine Adventsgeschichte

Wenn ich die letzten Nächte viel zu kurz geschlafen hatte, so hatte ich diese Nacht fast kein Auge zugetan. Müde rieb ich mir die Augen und über das Gesicht. Das Gedicht wollte mir einfach nicht aus dem Sinn.

Wer sollte mir so etwas schreiben? Ich klettere mühsam aus meinem Bett und hätte mich am liebsten wieder hineinfallen lassen. Daher beschloss ich, schnell zu duschen, um dadurch vielleicht etwas wacher zu werden.

Als ich den Rollladen hochzog, konnte ich im Schein der Laternen sehen, dass es letzte Nacht neu geschneit hatte. Es war einiges an Schnee hinzu gekommen, die Straße war noch völlig weiß. Ich fuhr zusammen, als es an meiner Tür klopfte.

„Fabian… aufstehen! Draußen liegt Schnee, ich weiß nicht, ob der Bus fährt”, rief Mum.

„Bin wach”, rief ich zurück.

Ich schaute noch mal hinaus und erkannte anhand der Fahrspuren einiger Autos, dass es heute Nacht gewaltig runter gemacht hatte. Da war das Verkehrschaos schon vorprogrammiert. Duschen war da auch nicht mehr drin.

Das würde eine schöne Schneewanderung mit Gabriella geben. Kaum hatte ich diesen Gedanken fertig gedacht, fiepte mein Handy.

„Guten Morgen Schlafmütze, es hat geschneit. Zieh deine dicken Schuhe an, ich hole dich in einer viertel Stunde ab.”

Na toll. Jetzt wird man morgens auch schon in den Stress gestürzt. Ich tippte schnell ein *Okay* ein und schickte es zurück an Gabriella. Bereits zehn Minuten später stand ich fertig angezogen in der Küche und schlürfte an meinem Kaffee.

„Willst du dich nicht hinsetzen und wenigstens etwas essen?”, fragte Mum, die gerade in die Küche kam.

„Keine Zeit, Gabriella kommt mich gleich abholen.”

„Ihr lauft?”

„Was bleibt uns denn anderes übrig? Ich hoffe nur, dass die Straßenbahn wenigstens fährt, sonst komme ich heute zu spät in die Schule.”

„Ich würde dich ja fahren…, aber bei dem Schnee…”, sie schüttelte den Kopf.

„Nein, so etwas würde ich niemals von dir verlangen”, erwiderte ich ganz theatralisch, worauf Mum nur grinste und sich ebenfalls eine Tasse Kaffee einschenkte.

„Hast du gestern, als du zu Arbeit gefahren bist, jemanden an unserer Tür gesehen?”, fragte ich leise.

„Nein, wen soll ich denn da gesehen haben?”

„Ach nur so, ich bin dann weg.”

„Dein Adventskalender?”

„Oh, den hätte ich jetzt fast vergessen.”

Hastig suchte ich das Türchen mit der Zehn drauf, das ich in der oberen linken Ecke fand und riss es schon fast brutal auf, um an den Zettel ran zu kommen.

„Den lese ich später! Bye Mum, bis heute Mittag.”

Pünktlich auf die Sekunde klingelte es an der Haustür.

„Das wird Gabriella sein…”, und schon düste ich zur Haustür und öffnete sie mit gehörigem Schwung.

„Wow, das ist ja Spitzenrekord. Bist du früher aufgestanden?”

„Nein, aber das erzähl ich dir später unterwegs. Lass uns gehen, vielleicht erwischen wir die Straßenbahn am Ederplatz noch.”

„Okay, wenn du meinst. Dann mal los.”

*-*-*

Petrus meinte es nicht gut mit uns, denn ein kalter Wind hatte eingesetzt und trieb uns den Schnee in die Gesichter.

„An solchen Tagen sollten die uns schulfrei geben”, meinte Gabriella.

„Du glaubst an Wunder?”, fragte ich als Antwort und zog den Schal mehr ins Gesicht.

„Nein, eigentlich nicht. Auch nicht daran, dass bei dem Schneefall die Straßenbahnen fahren. Hier ist ja auch nichts sauber gemacht, warum sollten dann die Schienen frei sein?”

Bis auf ein paar Gehwege vor privaten Häusern, waren auch diese nicht geräumt. So stapften Gabriella und ich weiterhin durch tiefen Schnee.

„Dann werden wir es wohl nicht rechtzeitig in die Schule schaffen.”

„Das befürchte ich auch. Was meintest du vorhin eigentlich mit, du willst mir etwas erzählen?”

„Ach so ja, Moment, ich muss kurz etwas gucken.”

Ich zog meinen Handschuh von der rechten Hand und durchsuchte meine Jackentasche nach dem Zettel aus dem Adventskalender, den ich auch schnell gefunden hatte. Unter einer Laterne blieb ich kurz stehen und schaute nach, was darauf geschrieben stand.

„Was hast du da?”, fragte Gabriella.

„Von meinem Adventskalender.”

„Ein Zettel? Was steht da drauf?”

Der Geist, der allen Dingen

Leben verleiht,

ist die Liebe

„Aha”, meinte Gabriella.

„Den Adventskalender hat Mum für mich gebastelt. Jeden Morgen ist da ein Spruch drin und alle haben was mit Liebe zu tun.”

„Gibt es da etwas, wovon ich noch nichts weiß?”

„Eigentlich nicht… doch, wo du es jetzt sagst. Kannst du dich an den Briefumschlag erinnern, der auf unserer Eingangstreppe lag?”

„Ja, du meinst die Werbung?”

„Ja, aber es war keine Werbung.”

„Was dann?”

„Hm… wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, ein Liebesbrief.”

„Ein Liebesbrief?”, fragte Gabriella erstaunt und ich setzte mich wieder in Bewegung.

„Na ja, nicht direkt. Es war ein Gedicht.”

„Von wem?”

Warum hatte ich schon vorher gewusst, dass meine beste Freundin diese Frage stellen würde?

„Weiß ich nicht. Das Gedicht war mit nem Pc geschrieben und keine Unterschrift darunter.”

„Komisch!”

„Ja, das dachte ich auch.”

„Und du weiß nicht, wer es sein könnte?”

„Ich habe absolut keinen Plan.”

*-*-*

Etwa eine dreiviertel Stunde zu spät trudelten wir in der Schule ein. Die fast leere Fahrradgarage und einige andere Schüler, die mit uns ankamen, ließen die Vermutung zu, dass wir nicht die einzigen waren, die zu spät kamen.

Im Klassenzimmer kam dann die nächste Überraschung. Von Unterricht keine Spur und auch kein Lehrer weit und breit.

„Was ist denn hier los?”, fragte Gabriella und schüttelte ihre Jacke aus.

„Der Unterricht fällt aus!”, rief Cosmo, „weil so viele Lehrer fehlen.”

„Na toll und warum sagt uns das keiner? Dann wäre ich gleich zu Hause geblieben”, meckerte ich mehr zu mir selbst, aber blieb nicht ungehört.

„Der Rektor meinte, so lange es so heftig schneit, sollen wir hier in der Schule bleiben. Er hofft, dass sich das Verkehrschaos in der Stadt bis zu Schulschluss lichtet.”

Gabriella zuckte mit den Schultern. Ein Blick zur Tür verriet mir, dass soeben auch Marcel eintraf. Wenig später kam auch Thomas, aber der schien schon länger da zu sein, denn seine Sachen lagen schon auf seinem Platz.

„Hallo, auch einen Gewaltmarsch durch die weiße Hölle gemacht?”, fragte Marcel und zog seine Jacke aus.

„Ja, aber irgendwie fand ich es gut. So in Ruhe konnte ich mich schon lange nicht mehr mit Fabian unterhalten”, meinte Gabriella neben mir.

Das Verdrehen meiner Augen ließ Marcel kurz auflachen.

„Hallo ihr, hat jemand Lust in die Cafeteria zu sitzen?”, fragte Thomas.

„Hallo Thomas, ich denke, da haben wir kein Glück. Die macht doch erst um neun auf”, kam es von Marcel.

„Das ist eine Fehlinformation. Der Rektor hat angewiesen, sie gleich zu öffnen, damit wir uns ein zweites Frühstück gönnen können”, prahlte Thomas.

„Oh, das ist gut. Ein heißes Getränk wäre jetzt genau das Richtige”, äußerte ich.

So verließen wir zu viert wieder das Klassenzimmer. Dass der Unterricht ausgefallen war, merkte man kaum, denn auf den Fluren war es leer. Nur vereinzelt rannten aus den unteren Klassen Schüler über den Flur.

Anscheinend waren viele erst gar nicht in der Schule erschienen. Dunkle Vorahnungen, die Cafeteria wäre überfüllt, bestätigen sich auch nicht. Es waren noch etliche Tische leer. Umso mehr freute ich mich jetzt auf eine schöne Tasse heiße Schokolade.

Wenig später saßen wir vereint an einem Tisch und schlürften besagte heiße Schokolade.

Da beugte sich Gabriella sich zu mir rüber und flüsterte fast unhörbar: „Also von den beiden ist der Brief sicher nicht. Erstens kamen die nach mir an und keiner von beiden schenkt dir mehr Aufmerksamkeit als nötig.”

„Das habe ich auch nicht gedacht”, flüsterte ich ebenso leise zurück.

„He, was habt ihr da für Geheimnisse vor uns”, beschwerte sich Marcel.

„Du brauchst ja nicht alles wissen”, gab Gabriella zurück.

„Warum eigentlich nicht”, meinte ich.

Ich zog meinen Geldbeutel hervor und holte den Brief heraus, den ich vorsorglich heute Morgen mit eingesteckt hatte.

„Bist du sicher?”, fragte Gabriella.

„Von was redet ihr?”, kam es von Thomas.

Ich schaute mich kurz um, ob auch niemand zu dicht in unserer Nähe saß.

„Ihr erinnert euch doch vielleicht an den weißen Umschlag gestern?”

„Welcher Umschlag?”, fragte Marcel.

„Du meinst den, der auf der Treppe lag, die Werbung für deinen Vater?”, meinte Thomas.

„Genau der. Nur war es keine Werbung, sondern… ach lest selbst!”, sprach ich und reichte den Brief an Marcel.

Gabriella sprang auf, umrundete den Tisch und gesellte sich zu den Beiden. Wer war da wohl neugieriger? Sichtlich vertieft begannen alle drei zu lesen.

„Wow! Von wem hast du den denn bekommen?”, meldete sich Marcel als erstes zu Wort.

„Das weiß er nicht, ist ja keine Unterschrift darunter”, kam mir Gabriella zuvor.

„Krass!”, sagte Thomas, „so was würde nicht mal mein Bruder fertig bringen, der ist dazu viel zu oberflächlich.”

„Was meinst du?”, fragte Marcel.

„Mein Bruder ist nur mit sich selbst beschäftigt, achtet nicht auf andere.”

„Hört sich an, als wäre er ein Arsch”, meinte Gabriella und setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

Marcel gab mir das Blatt zurück, welches ich wieder verschwinden ließ.

„Klar, das ist sein zweiter Vorname… Arsch!”

Ich konnte nicht anders und musste kichern.

„Was denn, stimmt doch. Dem ist doch nur wichtig, dass seine Haare sitzen und seine Mode auf dem neuesten Stand ist.”

Gabriella und Marcel fingen nun auch an zu grinsen.

„Du hältst wirklich nicht viel von deinem Bruder, oder?”, fragte Marcel.

„Nicht die Bohne, der kann mir gestohlen bleiben!”

Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich eine Bewegung am Eingang der Cafeteria wahr und drehte automatisch meinen Kopf. Carsten kam herein, alleine, schaute kurz verstohlen zu uns und lief dann weiter zur Theke.

„Ach, Mr. Oberarschloch betritt die heiligen Hallen”, hörte ich Gabriela sagen.

„Dass der sich noch in deine Nähe traut”, meinte Marcel.

„Lasst ihn doch…”, entgegnete ich und nahm einen sehr traurigen Blick in meine Richtung wahr.

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