Lebenspartner auf Umwegen – Teil 3

3. Micha – Frustration

Mit einem Seufzer rutschte ich auf dem Sitzplatz herum, bis ich eine bequemere Position gefunden hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es noch fast zweieinhalb Stunden bis zum Erreichen des Münchener Hauptbahnhofes zu überbrücken galt. Gemütlich lehnte ich mich zurück, schloss die Augen … und schlief ein.

Unsanft weckte mich ein Stoss am Ellenbogen. Ein älterer Herr zerrte einen riesigen Koffer durch den Mittelgang des Zuges und rempelte mich damit an. Nicht einmal ein kurzes „Entschuldigung“ war drin, ärgerte ich mich ein wenig. Ein Blick aus dem Fenster und ich zuckte zusammen. Dort stand in großen Lettern „München Hbf“. Na, hat also alles sein Gutes, dachte ich, zog Jacke und Mütze an, schnappte meinen Rucksack und verließ beherzten Schrittes den Zug.

Plötzlich war sie da, die Nervosität. Mit Ungestüm holte sie mich ein und ich begann trotz der klirrenden Kälte zu schwitzen. Enrico. Würde er pünktlich sein? Er wollte mich abholen. In Fahrtrichtung sollte ich dem Bahngleis folgen und am Ende warten. Schnell merkte ich vor Ort, dass das eine prima Idee war, man konnte sich auf keinen Fall verpassen, was mich ein wenig beruhigte. Noch war Enrico nicht da. Kein Problem, der Zug war sehr pünktlich, mir schien, fast überpünktlich. Es war gerade 13:04 Uhr. Die Verspätung von Hannover war scheinbar aufgeholt worden, wie auch immer. Aber schon wenige Minuten später überkam mich ein komisches Gefühl.

„Er kommt nicht…“ begann ein Gefecht in meinem Kopf.

„Hör auf, Micha, es ist gerade mal zehn nach eins.“

„Man kommt zu so einer Verabredung einfach nicht zu spät.“

„So ein Quatsch, du weißt doch selbst, wie das manchmal ist. Bist du nie zu spät? Ist das nicht mal was völlig normales?“

„Trotzdem, er weiß genau, dass ich extra wegen ihm komme und mich nicht hier auskenne.“

„Ja ja… Micha, der Nabel der Welt“ höhnte die Gegenstimme.

„Sei still! So was macht man einfach nicht. Außerdem mache ich mir einfach Gedanken. Lässt er mich hängen? Vielleicht ist ihm eingefallen, er will sich doch nicht mit mir treffen?“

„Nun hör auf herumzuheulen wie ein kleines Mädchen. Warte doch einfach mal ab. Er kommt schon noch.“

„Kommen, ja das wäre nett.“ Über die abgedroschene Zweideutigkeit musste ich einfach grinsen.

Nach einer halben Stunde wurde ich wirklich nervös. Irgendetwas lief hier schief. Bisher hatte ich es für unklug erachtet, in diesem doch recht großen Bahnhof herumzulaufen, da wir uns so leicht verpassen konnten, aber nun machte ich mich auf den Weg. Zuvor beschloss ich, Enrico jetzt doch auf dem Handy anzurufen. Na toll, abgeschaltet. Wofür hat man eigentlich ein Handy??? Wut stieg in mir auf und ich tat nichts, um sie zu unterdrücken. Nach zwei Runden durch den Bahnhof war ich genauso klug wie vorher auch: von Enrico keine Spur. Wenn nur nichts passiert ist, dachte ich, und meine Wut verwandelte sich in Sorge, wenn auch nur zum Teil.

Zum Glück hatte ich mir seine Adresse auf einen Zettel geschrieben und in den Geldbeutel gesteckt. Es war annähernd drei Uhr am Nachmittag, als ich vor dem großen Häuserblock in München Laim stand. Bis hierhin hatte ich mich durchgefragt und natürlich die U-Bahn benutzt. Augen hatte ich leider für gar nichts, obwohl ich das Gefühl hatte, München sei eine sehr schöne Stadt, zwar urban, aber unheimlich viele Grünflächen und nicht so hohe Häuser, soweit ich das beurteilen konnte.

Mit leicht zittrigen Händen, und das nicht nur wegen der Kälte, drückte ich den Klingelknopf. „Enrico Hansen“ war dort auf einem sehr akkurat gefertigten Schildchen zu lesen. Die Spannung in mir stieg; er würde nicht zu Hause sein, dachte ich mir, warum soll er hier sein? Eine Minute verstrich, zwei Minuten… Warum auch musste das dermaßen kalt sein. Eisig wehte mir der Wind ins Gesicht und das Überdach bot kaum Schutz. Es war nun eh egal, ich klingelte Sturm, immer wieder, aber es rührte sich gar nichts.

In diesem Moment stiegen mir Tränen in die Augen. Hatte ich mich denn so in ihm getäuscht? Wir hatten uns so gut verstanden und ich hatte extra die Fahrkarte nach München besorgt, das ist ja nicht mal eben nebenan. Fast fünf Stunden hatte ich gebraucht, um herzukommen. Ich tat mir ehrlich gesagt einfach selbst leid und eine Mischung aus Traurigkeit, Enttäuschung und Wut begann die Oberhand über mich zu bekommen. Mit aller Wucht traf mich die Erkenntnis:

„Er hat nur mit dir gespielt, Micha“ spukte es durch meinen Kopf.

„Wer weiß…“

„Nein, dafür gibt es keine Entschuldigung! Seit Stunden wartete ich und geistere durch die Gegend.“

„Gib ihm noch eine Chance, warte noch ein wenig…“ regte sich die gute Stimme in mir.

„Er hat dich nicht abgeholt, hat dich hängen lassen, und er wird auch nicht mehr kommen. Entweder ist er gar nicht zu Hause oder er sitzt da oben und hat die Türklingel abgestellt, er amüsiert sich anderweitig.“

Verstohlen wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Immerhin konnte ich das auf die Kälte schieben, das fiel nicht so auf. Apropos Kälte, ich fing an zu frieren, aber richtig. Etliche Minusgrade und schneidender eiskalter Wind, wer sollte das lange aushalten?

Wenige Minuten später näherte sich eine ältere Frau dem Hauseingang. Sie schleppte in jeder Hand voll gestopfte Einkaufsbeutel. Die schickt der Himmel, dachte ich und wagte den Schritt nach vorn. Freundlich ging ich auf sie zu, lächelte sie an, so gut ich es in dieser Situation vermochte und fragte:

„Guten Tag! Ich bin ein Bekannter von Herrn Hansen. Er hat sich wohl aus irgendeinem Grund verspätet, wir sind verabredet. Darf ich Ihnen die Taschen tragen und dann vor seiner Tür warten? Ich friere hier noch ein in der Kälte.“

„Grüß Gott, junger Mann. Machens nur, vergelt’s Gott für Ihr Angebot. Is’ ja nit zum Aushalt’n die schnoadn’d Kält’.“

Ihr Lachen war natürlich und aufrichtig. Also nicht so eine zickige alte Schachtel, wie ich sie bei mir im Haus zu hauf wohnen hatte. In Süddeutschland muss wohl doch alles besser sein, nicht nur die wirtschaftliche Situation, sinnierte ich noch.
Dankbar lächelte ich sie an und nahm ihr ihre Einkäufe ab. Meine Güte, die gute Frau musste für mindestens mehrere Wochen eingekauft haben, wie die das alles bis hierher geschafft hatte, war mir ein Rätsel.

Etwas außer Atem stellte ich alles vor ihrer Etagentür ab, nachdem sie mir den Weg gewiesen hatte. Möglichst unauffällig schielte ich derweil nach Namensschildern an den Türen, da ich ja gar nicht wusste, wo Enrico wohnte. Seine Klingel war irgendwo in der Mitte gewesen. Da ich aber noch nichts gefunden hatte bisher, verabschiedete ich mich von der gütigen alten Dame, die mir noch einen heißen Tee oder Kaffee anbot, den ich aber dankend ablehnte. Ein Stockwerk höher wurde ich dann fündig, hier war also Enricos Wohnung. Penetrant betätigte ich die Etagenklingel und horchte an der Tür ins Innere. Nichts war zu hören, kein Laut. Seufzend setzte ich den Rucksack ab und ließ mich auf dem Boden nieder, den Rücken an den Eingang gelehnt.

Um 18 Uhr war mir klar, dass Enrico nicht mehr kommen würde. Die Minuten waren geschlichen wie Diebe in der Nacht. Sein Handy blieb erbarmungslos ausgeschaltet. Ein dicker Kloß saß mir im Hals und noch einmal flossen mir Tränen übers Gesicht; zu groß war die Enttäuschung. Es half alles nichts, ich musste zurück nach Hannover. Was bliebe mir sonst? Übernachten? Niemals, ich könnte München nicht genießen, zu tief war der Schmerz, den ich in diesem Moment empfand. Ich wollte einfach nur noch weg hier.

Kraftlos erhob ich mich, schulterte meinen Rücksack und wie gelähmt stakste ich die Treppen hinab und verließ das Haus, was ich nie wieder betreten würde. „Andere Eltern haben auch hübsche Söhne…“ Was für ein idiotischer Gedanke, er schmeckte einfach nur schal. Ich konnte es nicht verstehen, wollte es auch nicht. Wir hatten uns doch so gut verstanden, richtig verknallt hatte ich mich in Enrico, soweit das virtuell überhaupt möglich ist. Die Chemie stimmte, ich war mir so sicher, dass wir gute Chancen gehabt hätten uns zu mögen, ja uns zu lieben. „Wie einfältig du wieder bist, richtig naiv!“ schimpfte mich meine innere Stimme. Sie hatte ja Recht, ich konnte nichts einwenden.

„Das ganze war ein Flop, such dir einen gescheiten Kerl. Ruf doch mal wieder Sebastian an, du weißt genau, der mochte dich. Ist der so übel? Wach auf und nimm das, was dir geboten wird, du wirst merken, das ist ein netter Kerl und der meint es auch gut mit dir. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Die ganze Aktion hier war der pure Reinfall.“ Wieder konnte ich nicht widersprechen. Meinen Gedanken nachhängend erreichte ich, nachdem ich erfreulicherweise auf Anhieb die richtige U-Bahn erwischt hatte, auf die ich nicht einmal warten musste, bald den Hauptbahnhof.

So unwahrscheinlich es auch war, immer wieder hielt ich Ausschau nach Enrico, doch ich wurde wiederum bitter enttäuscht, was nicht anders zu erwarten war. So suchte ich einen geeigneten Zug heraus, es fuhr gut eine halbe Stunde später noch ein durchgehender ICE, ohne umsteigen zu müssen; na wenigstens in dieser Hinsicht lief alles glatt.

Als ich einstieg, konnte ich es einfach nicht fassen. Bis hierher hatte ich noch heimlich gehofft, Enrico zu erwischen. Nichts.

Die Rückfahrt war der reinste Horror, die Enttäuschung, lähmend, vereinnahmend, regelrecht vernichtend. Es gelang mir einfach nicht, das abzuschütteln. Traurig kramte ich im Rucksack nach meinem MP3-Player und betäubte mich den Rest der Fahrt mit Musik, den Lautstärkeregler drehte ich ziemlich auf, egal, sollten sich die Leute doch notfalls beschweren.

Meinen leeren Magen merkte ich nicht, zumindest ignorierte ich, dass ich den letzten Happen am späten Vormittag zu mir genommen hatte. Der Appetit war mir eh komplett vergangen. Noch im Münchener Bahnhof schrieb ich Sebastian eine SMS, in der ich mich erkundigte, wie es ihm ging und ob wir uns mal wieder treffen könnten. Das Handy schaltete ich dann ab, ich würde es eh nicht mehr brauchen. Lethargisch schaute ich während der Fahrt aus dem Fenster, doch sahen meine Augen nichts von der Umgebung, viel mehr zog ich mich zurück in meine innere Gedankenwelt und träumte von schönen nackten Männern, mit denen ich an einem malerischen Strand entlang lief, herumtollte, im Wasser planschte und schließlich eine der angenehmeren Sachen dieser Welt trieb. Irgendwie musste ich mich ablenken, und das kam mir gerade in den Sinn, so oberflächlich es auch war.

Endlich schloss ich die Eingangstür meiner Wohnung hinter mir. Wütend schmiss ich meine Sachen in die Ecke und beschloss, doch etwas gegen das Vakuum in meinem Bauch zu tun. Missmutig schob ich dann einfach eine Tiefkühlpizza in den Ofen und nahm eine schnelle sehr heiße Dusche. Völlig erschöpft ließ ich mich knapp eine Viertelstunde später auf einen Stuhl fallen und verspeiste gierig die Pizza. Dazu genehmigte ich mir ein Glas Wein, besser gesagt, es wurden mehrere Gläser, um nicht zu sagen, zu viele Gläser. Aber das war jetzt genau richtig.

Um kurz vor zwei Uhr in der Nacht verzog ich mich wie ein geprügelter Hund ins Bett, und im selben Moment war ich schon eingeschlafen.

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