Glückliche unglückliche Umstände – Teil 2

2. Teil: Der Vertraute

Nun musste ich mich aber beeilen. Es gab noch viel zu tun. Um halb drei war ich wieder daheim und hatte alles soweit vorbereitet. Ein wenig erschöpft kochte ich mir erst einmal einen Milchkaffee und nahm mir die Zeit, ihn in aller Ruhe gemütlich zu trinken. Aus dem Radio erklangen weihnachtliche Lieder und draußen tobte der Wind, ein paar Schneeflocken wehten durch die Luft; ob es noch weiße Weihnachten geben würde? Wie sehr ich das liebe!

Bevor ich aufbrechen würde, wollte ich nochmals duschen und mich passend kleiden. Schwer bepackt verließ ich gegen 16 Uhr meine Wohnung und stieg ins Auto. Der Weg war nicht all zu weit. Nachdem ich zweimal eine Runde gedreht hatte, fand ich in der Margaretenstrasse einen Parkplatz, ein Stück weit von Hausnummer 39 entfernt. Ich fluchte. Mit all den Sachen war es ein ganz schöner Akt… Schließlich stand ich vor der Eingangstür und drückte die Klingel mit dem etwas verblichenen Namensschild; D. Niehoff war dort zu lesen. Einige Zeit tat sich gar nichts und ich wurde etwas nervös. Was, wenn Daniel doch nicht daheim war oder erst gar nicht öffnete? Zweifel drängten sich an die Oberfläche meines Bewusstseins und plötzlich fand ich es einfach nur lächerlich, was für eine Show ich hier abzog. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich hatte mich mit meiner Mutter mehr oder weniger gestritten, hatte die Familie versetzt, so etwas tut man doch nicht zu Weihnachten? Was glaubte ich eigentlich, wer ich war? Und Daniel kannte ich auch kein Stück. Oh mein Gott. Was hatte mich getrieben? All mein Mut, all meine Courage zerfielen zu einem jämmerlichen Häuflein Staub. Wie lange stand ich hier nun? Was hatte ich zu verlieren? Die Kälte kroch mir gnadenlos in den Leib und lange konnte ich die ganzen Sachen auch nicht mehr tragen.

Ich drückte noch einmal lang und ausdauernd auf die Klingel. Letzter Versuch, sagte ich mir. Nach einer Weile hörte ich Daniels Stimme durch die Sprechanlage.

„Ja bitte?“ Fast könnte ich schwören, er hatte geweint.

„Hallo, ich bin es, Nathanael!“, rief ich möglichst fröhlich. „Hast du ein bisschen Zeit? Ich hab eine kleine Überraschung für dich.“ Puh, ich war schon ziemlich nervös. Wie würde Daniel reagieren?

Schon stand ich vor seiner Tür und wir musterten uns gegenseitig. Seine Augen wurden ganz groß, als er sah, mit wie viel Tüten und Taschen und Kartons ich bepackt war.

„Darf ich hereinkommen?“, fragte ich etwas verlegen.

„Was willst du hier? Bitte versteh es nicht falsch, ich freue mich schon, dich wiederzusehen, du warst wirklich sehr nett zu mir, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, was das jetzt hier werden soll. Kommst du wegen mir?“

Daniel war ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben und ich fand, dass er in seiner Unsicherheit noch viel niedlicher aussah als heute morgen. Er trug einen abgetragenen, schlichten, grauen Jogging-Anzug, aber sein Gesicht strahlte trotz seiner Blässe und Traurigkeit eine Schönheit aus, die mich – ganz persönlich mich – wie ein brennender Pfeil ins Herz traf und ein Feuer entfachte, dem ich mich nicht mehr zu entziehen vermochte. Wenn nun noch der Rest passte, der Charakter von annähernder Schönheit wie sein Gesicht wäre, würde ich mich vermutlich Hals über Kopf verlieben. Oh mein Gott, ich fürchtete mich ernsthaft, denn wie immer kam mir die Floskel in den Sinn: Der ist sicher nicht schwul; ihr kennt das alle doch nur zu gut!

Dennoch glaube ich an ein Schicksal, an eine Fügung, daran, dass irgendwie letztlich alles gut wird. Ich hatte heute morgen schon das Gefühl der Seelenverwandtschaft gespürt. Je mehr ich nachdachte, desto mehr schöpfte ich Hoffnung und begann, zu lächeln. Ich stand einfach dort in der Tür und lächelte ihn an, versuchte, all meine Sympathie, all meine Hoffnung und meinen Optimismus in dieses Lächeln hineinzulegen.

Daniel stand vor mir und ich hatte den Eindruck, er schmolz wie Eis in der Sonne. Er war wie ein trockener Schwamm, der jede Feuchtigkeit um sich herum aufsog, er litt unter Einsamkeit und vielen anderen Widrigkeiten. Jeder andere Mensch hätte ihm ein wenig davon geben können, was ich ihm in diesem Moment geben durfte. Es war so wenig, und doch so viel.

Schon ein wenig froher klang seine Stimme: „Mensch, ich Idiot, ich lasse dich hier einfach stehen, verzeih mir, ich bin total überrumpelt. Komm einfach rein. Herzlich willkommen. Allerdings… es ist nicht gerade toll hier, ich kann mir nichts besseres leisten und… ich habe nicht einmal etwas geeignetes im Haus, was ich dir anbieten könnte.“ Er schämte sich offensichtlich, und das tat mir richtig weh. „Wie lange willst du eigentlich bleiben, Nathanael? Deine Familie erwartet dich doch sicher bereits.“ Und schon zeichnete sich erneut das Unglück auf seinem Gesicht ab.

„Daniel, bitte, wenn ich das mal ganz schlicht so sagen darf: Ich bin wegen deiner Person da, nicht, um eine exklusive Wohnung zu besichtigen, und anbieten musst du mir auch nichts…“ Ich zwinkerte ihm vielversprechend zu. „Und wenn du mich so lange erträgst, dann feiere ich mit dir gemeinsam Weihnachten. Das war eine spontane Idee und meine Familie weiß Bescheid. Es tat mir so Leid, dass du alleine sein sollst und da dachte ich, ich kann dir eine kleine Freude damit machen. Vielleicht können wir sogar Freunde werden, wer weiß, ich denke, wir haben uns bisher ganz gut verstanden.“ Wieder lächelte ich ihm aufmunternd zu und hoffte, dass er sich ein wenig freuen würde.

Daniel war erst mal sprachlos. „Echt? Du willst….. Ehrlich?… Mit mir?“, stotterte er ungläubig. „Das kann ich doch nicht annehmen. Weihnachten ist das Fest der Familie! Stört es deine Angehörigen denn gar nicht, dass du heute bei einem Fremden deine Zeit verbringst? Also ich bin echt baff, damit hätte ich nie im Leben gerechnet…“ Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Nathanael, deine überaus liebenswürdige Art macht mir Mut, ich kann dir sagen, dass ich mich mehr als freue, dass du da bist und auch ich finde dich wirklich sehr nett, sehr nett… Es wäre mir eine große Freude, wenn wir vielleicht so etwas wie Freunde werden könnten.“

Diese Worte hatten Daniel enorme Überwindung gekostet, dessen war ich mir ganz gewiss. Sicher, jeder Mensch riskiert sich ein Stück weit, indem er dem anderen etwas von sich offenbart, vor allem, wenn er ihm seine Sympathie oder gar Liebe schenkt, so ist er dem Gegenüber völlig ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb, um von ihm emporgehoben oder hinabgeworfen zu werden, was für eine Chance, was für ein Wagnis. Daniel erschien mir in diesem Moment noch verletzlicher, noch zerbrechlicher, ich musste mich äußerst zusammenreißen, um nicht alle Tüten und Kartons fallenzulassen und ihn an mein Herz zu drücken.

Apropos Tüten und Kartons, die konnte ich nicht länger mit mir herumschleppen und mit einer gemurmelten Entschuldigung ließ ich sie am nächstbesten Ort mehr oder weniger sanft auf den Boden purzeln. „Sorry, ich musste das mal loswerden“, grinste ich. „Ansonsten kann ich nur sagen, dass meine Familie zugestimmt hat…“ – das war die halbe Wahrheit – „und dass ich mich freue, hier zu sein, ich bin mir sicher, dass wir uns einen richtig schönen Abend machen werden.“ Ich lächelte schon wieder, aber es fiel mir bei meinem Gegenüber auch nicht schwer, zumal er es einfach brauchte.

„Entschuldige, ich bin einfach überrascht…“ Daniel schloss die Tür und nahm mir meine Daunenjacke ab. Ich hatte mich entsprechend gekleidet, wollte ihn nicht beschämen mit edler Kleidung, sondern hatte schlichte, aber ordentliche Sachen gewählt, eine schwarze enge Jeans mit Schlag, meine schwarzen klobigen Wanderschuhe, die ich heute morgen schon getragen hatte, silbergrauer Rolli und schwarze Fleece-Jacke.

„Gut siehst du aus“, rutschte es Daniel heraus und er lief sogleich leicht rötlich an. Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf und war auf der Stelle glücklich. „Komm, wir gehen rüber, setz dich doch erst mal“, meinte Daniel und schob mich in einen der beiden kleinen Räume, die sich dem Flur angliederten. Die Wohnung schien aus einem winzigen Badezimmer, einem kleinen Schlafraum und einer etwas größeren Wohnküche zu bestehen. Sicher, es gab wahrlich nicht viel Platz und eine Renovierung hätte auch nicht geschadet, aber gemütlich war es dennoch, zumal Daniel da war. Die Möbel waren alt und nicht besonders teuer, das konnte man nach dem ersten Blick feststellen. Neben der Küchenzeile stand ein kleiner Tisch mit vier Stühlen und gegenüber eine Sitzgruppe bestehend aus einem Sofa und zwei Sesseln, zur linken ein längeres Regal mit ein paar Büchern, einem Fernseher und einigen anderen Kleinigkeiten. Das war alles.

Die Küche sah einigermaßen ordentlich aus, aber ansonsten schien Daniel nicht gerade der König der Ordnung zu sein, überall lag etwas herum. Ich musste grinsen und ich denke, er wusste warum. „Nathanael, es tut mir Leid, ich bin echt unordentlich und es ist armselig hier, es tut mir Leid.“

„Daniel, ich möchte von solchen Dingen nichts mehr hören, hast du kapiert? Du musst dich nicht für so etwas entschuldigen. Begreif das bitte endlich! Ich bin wegen dir da und nur wegen dir, deine Wohnung ist mir unwichtig und dein Chaos stört mich auch nicht“, lachte ich und ließ mich in einen der Sessel fallen.

„Okay, ich habe verstanden…“ ‚Mein’ Daniel lächelte mich an! Er reichte mir die Hand, als wolle er einen Handel besiegeln. Der Händedruck tat mir gut und ich genoss diese Berührung. Ich ließ nicht wieder los – und er ließ nicht wieder los. Ich meine, wir beide genossen diesen Moment und schauten uns lange in die Augen. Das Eis war endgültig gebrochen. Neue Hoffnung machte sich in mir breit. Vielleicht ist er doch……? Noch ließ sich dazu natürlich nichts sagen.

„Wie hast du dir den weiteren Tagesverlauf vorgestellt, Nathanael?“, fragte Daniel mich, indem er sich aus meiner Hand löste und es sich auf dem Sofa gemütlich machte.

„Lass mich überlegen…, ich würde vorschlagen, wenn du mir soweit vertraust und mich hier ein wenig allein lässt, dann geh du doch ganz in Ruhe rüber zum Duschen, zieh dir was an, äh, worin du dich wohl fühlst oder was du halt so hast, und in der Zeit kümmere ich mich etwas um die Wohnung, lass dich überraschen…“, ich grinste ihn an und zwinkerte ihm zu, „… und dann können wir uns einen netten Abend machen. Oh mann, da fällt mir ein, kann ich mal einiges bei dir im Kühlschrank unterbringen?“

„Klar kannst du das, ganz links die einzige Tür in Augenhöhe.“ Daniel zeigte in Richtung seiner Küche „Und natürlich können wir das so machen, was habe ich schon zu verlieren? Ich geh dann mal duschen.“ Ein wenig Bitterkeit kehrte in seine Stimme zurück, aber schon versuchte er ein Lächeln, erhob sich und verließ den Raum.

„Moment…, Daniel?“

„Ja?“

„Hast du eine Gelegenheit, Musik zu hören, einen CD-Spieler oder so etwas?“

Daniel blickte beschämt zu Boden. „Nein, leider nicht, nichts dergleichen.“

„Ist doch kein Problem. Ich hab an alles gedacht. Warte, ich lauf schnell noch mal runter zum Auto, machst du mir gleich wieder auf?“

Natürlich war letzteres nur eine rhetorische Frage gewesen. Im Vorbeigehen bemerkte ich, wie Daniel mich ein wenig erstaunt ansah. Ich hoffte, er würde sich freuen und Musik zumindest einen Bruchteil so lieben wie ich. Eine gute CD gehörte zu einem gemütlichen Abend einfach dazu. Darauf konnte ich nicht verzichten.

Wenige Minuten später betrat ich etwas außer Atem erneut Daniels Wohnung. Die Jacke hatte ich nicht extra übergezogen, das bereute ich bereits bitter und zitterte am ganzen Leib. „Puh, schnell rein in die gute Stube, sonst kannst du mich gleich zu Eiswürfeln verarbeiten.“ Wir lachten beide. „Wo wir schon einmal von frieren sprechen, sag mal Daniel, wie hälst du das hier aus in so einem arktischen Klima?“ Natürlich konnte ich mir denken, dass er sparen musste. So fügte ich mit fester Stimme hinzu: „Jetzt werden erst mal die Heizkörper richtig aufgedreht, ich leg dir einen Geldschein hin, und ich dulde keine Widerrede!“ Das meinte ich ernst, aber grinste Daniel dabei freundlich an. Er zögerte, nuschelte dann aber etwas wie „In Ordnung“ und verschwand im Schlafzimmer.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und tat alles, um für ein erträgliches Klima zu sorgen, die zwei Heizkörper im Wohnraum wurden bis zum Anschlag aufgedreht. Dann verstaute ich alle temperaturempfindlichen Vorräte im Kühlschrank, der bis auf den Quark, den ich heute morgen für Daniel gekauft hatte, fast leer war.

Es war dringend nötig, ein wenig den Wohnbereich in Ordnung zu bringen, also baute ich zunächst meine Kompaktanlage auf, die sonst bei mir im Schlafzimmer stand, und legte eine von meinen mitgebrachten CDs ein.

Die Sache begann, mir Spaß zu machen. Ich hatte eine Menge Kerzen und Teelichter mitgebracht. Aber erst einmal musste etwas Ordnung geschafft werden. Gesagt – getan…

Der Tisch wurde mit einer kleinen weißen Decke versehen, dort stellte ich auch meinen Adventskranz mit den Kerzen auf; noch ein paar sternenförmige Teelichter auf der anderen Seite des Tisches, fertig. In einem Duftlämpchen ließ ich ein wenig Duftöl verdunsten, es handelte sich dabei um eine sehr appetitlich riechende Melange aus Zimt, Orange, Zitrone, etwas Nelke und all diese guten Sachen. Der kleine künstliche, fertig geschmückte Tannenbaum fand seinen Platz auf dem Couchtisch. Ich weiß, ich weiß, ich bekenne mich schuldig, Kitsch ist absolut meine Sache, ich liebe das. Daneben gesellte sich noch mein antiker fünfarmiger Kerzenleuchter und eine Minikrippe mit total süßen Flausch-Schäflein. Dann drapierte ich noch möglichst geschickt einige Lichterketten im Raum, ganz locker, wie es sich ergab, nach einiger Zeit war ich damit zufrieden. Im Regal stellte ich noch ein paar Kitschfiguren auf. Aus einem Karton kramte ich einen großen tönernen Engel hervor, der viele Sternchen-Löcher hatte und in den man ein Teelicht stellen konnte. Der passte ideal in das Regal, in Augenhöhe. Den Stapel Zeitschriften nahm ich dafür heraus, einige der unteren Exemplare rutschten mir aus den Händen und fielen zu Boden. Als ich sie aufhob, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus.

Fast hätte ich vor Freude aufgeschrieen, aber das verkniff ich mir mühsam. Nun, was war mir da in die Hände gefallen? Ein schwules Magazin. Der gute Daniel war also genauso schwul wie ich oder hatte schlechtestenfalls zumindest keinerlei Berührungsängste mit Homosexualität. Mein Herz begann zu schlagen bis zum Hals, denn ich merkte wohl, dass ich Daniel schon zu diesem Zeitpunkt anziehender fand als mir lieb war; und ich war dankbar für dieses Zeichen. Schnell räumte ich den Stapel ordentlich zusammen und legte ihn neben das Regal auf den Boden. Der große Engel nahm seinen Platz ein und machte sich prächtig…

Nachdem alle Kerzen entzündet waren, schaute ich mich wohlwollend im Raum um, das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Erst jetzt fiel mir auf, dass schon einige Zeit vergangen sein musste und Daniel gar nicht vom Duschen zurückkam. Zögernd trat ich in Richtung Schlafzimmer und lugte um die Ecke. Da saß mein Held auf seinem Bett und schaute ganz unsicher in die Gegend.

„Hi, ich wollte dich nicht stören…“, murmelte er und schaute zu Boden.

Ach, wie niedlich, Daniel konnte ja richtig schüchtern sein; ich grinste ihn an und fand ihn schrecklich anziehend. Er hatte sich richtig schick gemacht, ordentliche blaue Jeans, enges weißes T-Shirt und einen dunkelblauen Pulli, nur umgehängt. Wow, was hatte dieser Kerl für eine tolle Figur, recht kräftig und durchaus gut proportioniert, wenn ich es genauer betrachtete. Mein Blick blieb an ihm kleben und wollte sich gar nicht mehr freiwillig von ihm lösen. Als Daniel das bemerkte, zuckte ich zusammen und meine Wangen röteten sich fatal, das konnte ich deutlich spüren.

„Kommst du?“, versuchte ich, abzulenken und verließ hastig den Raum in Richtung Wohnzimmer.

Dieses Mal wählte ich die Couch und beobachtete Daniels Reaktion, als er den Raum betrat. Er schwieg – und machte große Kulleraugen. Feucht begann es um seine Augen zu schimmern und er hielt die Tränen nicht auf, sie liefen über sein Gesicht und tropften zu Boden. Ich war wie gelähmt und brachte es nicht über’s Herz, zu ihm zu gehen und ihn zu umarmen, hatte regelrecht Angst, ihn zu überrumpeln, zu überfordern, ihn zu bedrängen, wahrscheinlich war ich einfach zu feige.

„Weißt du, Nathanael“, seine Stimme zitterte, „ich bin seit Jahren ziemlich einsam, seit Jahren sitze ich hier zu Weihnachten herum, allein, heule mir die Augen aus dem Kopf, einfach, weil ich so eine Sehnsucht habe, eine unbestimmte Sehnsucht, …, vielleicht doch nicht so unbestimmt, Sehnsucht nach Geborgenheit, Nähe, einem Freund, Sehnsucht nach Liebe und Sinn, so kitschig sich das alles anhören mag… Nun, ich bin sehr gerührt, du hast dir offensichtlich viel Mühe gegeben, es ist wunderschön hier. … – Ich, … ich habe schon lange aufgehört, mir irgendwie Mühe zu geben, habe längst aufgegeben…“, seine Stimme war immer leiser geworden und erstarb. Er ging zu einer Schublade, holte sich ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich lautstark die Nase.

Dann kam er zu mir hinüber. Einen Moment hatte ich die Hoffnung, er würde sich zu mir setzen, doch er ließ sich im Sessel neben mir nieder.

„Was hast du nun vor, Nathanael?“

„Ich habe ein paar Sachen mitgebracht. Hast du Lust, etwas zu kochen? Dann können wir in aller Ruhe gemeinsam essen, ein Glas Wein trinken, und dann sehen wir weiter, mh?“

„Fein“, strahlte Daniel, „das hört sich gut an und da ich sowieso keine Chance gegen dich habe, werde ich mich bemühen, mich einfach fallen zu lassen.“

Fallen lassen klang SEHR gut, am besten in meine Arme… Konnte man mir meine Gedanken übel nehmen?

„Okay, dann legen wir mal los. Was hälst du von einer selbstgemachten Rindfleischsuppe mit Mark-Klössen und Gemüse, die habe ich bereits gestern Abend zubereitet, meine Familie wird heute ohne auskommen müssen, jeder von uns bringt immer etwas mit; Nudelauflauf mit Hackfleisch, Champignons, Tomaten-Sahnecreme-Soße mit Wein abgeschmeckt, zum Dessert eine Dr. Oetker Mousse au Chocolat“, dabei musste ich lachen, jedoch hätte ich wohl kaum selbst eine zubereiten können, da hätte ich schließlich nur noch in der Küche gestanden, „und ich habe auch noch selbstgebackenen Kuchen mitgebracht, auf den meine Familie auch verzichten muss“, grinste ich unverschämt. „Akzeptiert? … Ach, Daniel, dir bleibt gar nichts anderes übrig.“

„Na dann, muss ich wohl damit leben. Klingt aber so, als wenn ich mich nicht besonders arg überwinden müsste“, witzelte Daniel und klang sehr locker und recht froh.

Was war ich erleichtert! Er taute wirklich auf und wir verstanden uns prima. Ich fühlte mich neben ihm wie zu Hause, mein Verlangen stieg ins Unermessliche, diesen Kerl in meine Arme zu schließen und nie wieder loszulassen. Ich weiß, ihr denkt, wie ich so etwas sagen konnte, obwohl ich Daniel noch nicht einmal richtig kannte. Schon richtig. Aber erst einmal hat man seine Gefühle nicht immer im Griff, wie man sollte, weiterhin war mir dieser Mann einfach nur sympathisch und attraktiv noch dazu, zuletzt denkt bitte darüber nach, was ich mit der „Seelenverwandtschaft“ sagen wollte. Nun werfe der, der ohne Schuld ist, den ersten Stein…

„Gut, Daniel, du hast frei, ich bekoche dich, allerdings darfst du mir das ‚Werkzeug’ reichen, denn in deiner Küche kenne ich mich nicht aus.“

Da die Heizung inzwischen ganz gut bollerte, ließ Daniel seinen Pulli vorsichtshalber im Sessel liegen und wuselte mit seinem engen T-Shirt vor mir herum. Mir wurde ganz schlecht und ich bildete mir ein, es immerzu knistern zu hören. Er sagte kein Wort, lächelte mich bloß ständig an und ich musste mich zusammenreißen, mich auf das Kochen zu konzentrieren, anstatt ihn anzuschauen und seine Nähe zu genießen. Ungefähr eine dreiviertel Stunde später brutzelte der Auflauf im Ofen, zum Glück hatte ich meine Überbackform mitgebracht. Dann deckten wir gemeinsam den Tisch und setzten uns.

Inzwischen lauschten wir der Musik, ich hatte Enigma eingelegt, beruhigend, vitalisierend und erotisch zugleich. Daniel mochte die Musik, sagte er zumindest, und das freute mich sehr, denn bei Enigma fühlte ich mich pudelwohl. Wir saßen uns gegenüber und schauten uns einfach nur an. Ich genoss den Zauber dieser Situation; ich spürte Daniels Nähe, wenngleich mich die Entfernung schmerzte, ihn nicht mit ganzem Leib zu spüren. Es war keine unangenehme Stille, auch Daniel lächelte. Eine Atmosphäre des Vertrauens wurde immer greifbarer, obwohl wir uns noch gar nicht so gut kannten.

Nach dem Essen, welches wir schweigend einnahmen, wohlig schweigend, uns immerzu unausgesprochene Botschaften der Zuneigung mit den Augen zuspielend, machten wir es uns in der Sitzgruppe gemütlich. Angenehme Wärme umgab uns, die Luft war geschwängert vom dezenten Geruch des Weihnachtsöls und leise drang der enigmatische Klang in unsere Ohren. Fast wagte ich es überhaupt nicht mehr, diesen Zauber mit einem gesprochenen Wort zu zerstören, doch war mir das Gespräch mit Daniel einfach wichtig, wir konnten ja nicht fortwährend schweigen, das war mir klar.

„Daniel? …“, fragte ich sanft.

„Ja?“ Immer noch umspielte ein leichtes warmes Lächeln Daniels Mund.

„Ich möchte dich kennenlernen, würde gern mehr von dir erfahren, es macht mir nichts aus, dass du arbeitslos bist, Trauriges zu berichten hast, nicht viel Geld hast, ich bin an dir interessiert, an deiner Person, ich möchte dich verstehen, mit dir lachen und weinen…“ War ich zu weit gegangen? Klang das nicht abgehoben, einfach doof, verriet ich zu viel? Besonders sicher war ich meiner Sache nicht.

Daraufhin belohnte mich Daniel mit einem überaus dankbaren, warmen Lächeln und wir redeten und redeten und redeten, tauschten uns aus über unsere Erfahrungen und erzählten uns unser ganzes Leben. Stop… Ein Thema wurde geflissentlich ausgelassen, nämlich unser beider Liebesleben und damit verbundene Sehnsüchte. Daher fühlte ich bald, dass in unserem persönlichen Austausch ein Loch klaffte, denn meine Homosexualität stellte in meinem Leben etwas dar, womit viele meiner Gefühle, inneren Kämpfe, Freud und Leid verbunden war.

„Daniel, ich habe in meinen bisherigen Erzählungen etwas Wichtiges ausgelassen, was ich Dir nicht vorenthalten möchte. Es waren nie Frauen, in die ich verliebt war, sondern stets haben mich Männer angezogen… ich bin schwul, das weiß ich im Prinzip schon mein ganzes Leben.“ Dabei schaute ich ihm fest in die Augen. Der Fund des Heftes stimmte mich optimistisch, und ich hatte nichts zu verlieren, nur zu gewinnen.

Einen Moment lang erwiderte Daniel nichts und schaute mich bloß verträumt an. „Oh mann, Nathanael, das gibt’s doch nicht. Nach so viel Pech fühle ich mich seit langem wieder glücklich, wirklich glücklich. Auch ich bin schwul und ich glaube, es ist mir nie etwas besseres passiert, als dir zu begegnen. Du hast mich bereits jetzt sehr glücklich gemacht… Es ist der schönste Abend seit langem, deine Gegenwart tut so unsagbar gut, ich fühlte mich wie ausgedörrt und genieße seit Stunden jede Sekunde, die du da bist, deine Gegenwart erfüllt mich mit Hoffnung und echter Freude, ich fühle mich einfach wohl. Das meine ich sehr ehrlich, bitte glaub mir das! Wie in einem Gefängnis habe ich mich gefühlt, aus dem ich mich nicht befreien konnte, war versackt in einem tiefen dunklen Loch, und nun ist mir, als hättest du den Schlüssel zu diesem Gefängnis, als würdest du mir ein Seil herablassen in die Tiefe… Du denkst sicher, ich trage dick auf, doch das tue ich gar nicht, der Mensch braucht den Menschen, deine liebevolle Zuneigung ist wie Wasser, was den gebrochenen verdorrten Boden aufweicht und neu belebt. Ein bisschen fühle ich mich wie neu geboren, zumindest ist es ein Anfang, ein Neubeginn, der mir Grund zur Hoffnung gibt, dass alles wieder gut werden kann.“ Tränen glänzten in Daniels Augen, ach was heißt in Daniels Augen, in meinen genauso, ich war gerührt.

Er stand auf und kam zu mir hinüber zum Sofa.

„Darf ich mich zu Dir setzen?“

„Natürlich!“

Zu meiner übergroßen Freude setzte er sich ganz nah zu mir und legte – zunächst zögernd – beide Arme um mich herum, was ich mir gern gefallen ließ. In dieser Position verharrten wir eine ganze Ewigkeit. Wenn doch die Zeit anhalten würde, dieser Moment sollte nie vergehen. Wir lehnten uns zurück und kuschelten uns ganz nah aneinander. Dann erzählten wir uns gegenseitig alle Lücken, über die wir bisher beide geschwiegen hatten, teilten unsere Erfahrungen und Sehnsüchte, was uns im Innersten bewegte. Da war sie wieder, diese Seelenverwandtschaft. Wir vertrauten uns, kannten uns scheinbar seit 100 Jahren, wir waren wohl beide glücklich wie nie. Keiner wagte es, weiterzugehen, den anderen gar zu streicheln, weil schon der Zauber dieses Moments ausgekostet werden wollte, förmlich danach schrie, wie ein tiefer unerschöpflicher Brunnen ausgetrunken zu werden. Die Nähe dieses Mannes war einfach wunderbar, ich spürte seinen starken warmen Körper, seinen ruhigen Herzschlag, eine beglückende Geborgenheit, konnte mich total fallen lassen. Am liebsten wäre ich auf der Stelle eins mit ihm geworden, hätte mich nie wieder aus dieser Umarmung gelöst.

Drei Ewigkeiten später näherten sich unsere Lippen einander, es muss mehrere Minuten gedauert haben, und in diesem Moment der Berührung durchfuhr es mich wie 30000 Volt, nur nicht tödlich, sondern im Gegenteil belebend, wahrhaft elektrisierend, unglaublich. Daniels Lippen waren warm und weich wie Samt, angenehm feucht, ich konnte kaum mehr an mich halten. Unsere Zeit lief nicht mehr in Sekunden und Minuten ab, alles stand still, endlos, das Universum begann, den Atem anzuhalten. Dort wollte ich verweilen, an Daniels Lippen hängend, diese Süßigkeit kosten, nie mehr aufhören.

Und ich begriff, dass dies erst der Anfang war, die äußere Schale der Frucht war freigelegt. Der Duft war betörend, aber die Frucht selbst lag noch vor mir…

ENDE

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