Gone, but not forgotten – Teil 4

4. Das Haus am See

Marc

Goldenes Sonnenlicht tauchte den Schlafraum in Farben von Honig und Karamell. Ich konnte den süßlichen Duft förmlich riechen, zumindest in der Fantasie. Ausgiebig räkelte ich meinen müden Körper und setzte mich auf. Schön war es hier, einfach zum Wohlfühlen.

Drew schien ausgeflogen zu sein. Auf dem Küchentisch fand ich schließlich einen Zettel:

„Bin mit Paul unterwegs

Essen ist im Kühlschrank, alles andere findest du schon

Klamotten sind oben, bedien dich

Bin bald wieder zurück

Gruß, Drew“

Auf dem Weg nach oben schaute ich mich intensiv um. Im Treppenhaus bemerkte ich Bilderrahmen, die – so vermutete ich – Familienangehörige zeigten. Auf einigen Fotografien erkannte ich Paul und Andrew, als Kinder und Erwachsene, ebenso ein älteres Ehepaar, wobei es sich eindeutig um die Eltern handeln musste.

In Drews Schlafzimmer besorgte ich mir ein paar Anziehsachen, da ich selbst kaum welche zur Verfügung hatte. Auf der Kommode mit Wäsche stand ein Holzbilderrahmen, der ebenfalls ein Foto von seinen Eltern enthielt. Es war so ein bauchiger Klapprahmen, in dem man etwas verstauen kann. Neugier überkam mich, ich konnte nicht anders und schaute hinein. Im Inneren befand sich ein sorgfältig ausgeschnittener und zusammengefalteter Zeitungsausschnitt. Schnell begriff ich, was los war. Drews Eltern waren in einem See ertrunken, wie tragisch! Beschämt richtete ich alles wieder so her, wie ich es vorgefunden hatte, nahm die Kleidungsstücke und ging nach unten, um eine Dusche zu nehmen.

Als ich gerade frühstückte, hörte ich die Tür, und schon stand Drew im Raum.

„Hallo, Drew, ich dachte, du müsstest arbeiten?“

„Ich arbeite ja auch“, lächelte er mich an, „ich muss gleich zum See runter, hast du Lust mitzukommen?“

„Ja, gern“, freute ich mich, nicht allein bleiben zu müssen.

Hastig stopfte ich den letzten Bissen in den Mund und trank meinen Kaffee aus.

Kurze Zeit später saßen wir im Jeep.

Drew

„Du hast wieder diesen Blick drauf“, bemerkte ich beiläufig.

„Wie meinst du das?“ Marc klang überrascht.

„Na ja, du wirkst … angespannt“, versuchte ich zu erklären und zog grinsend eine Grimasse, die Marc nachahmen sollte.

Der lachte und meinte, so sähe er sicher nicht aus. Fröhlich gefiel mir mein Sorgenkind gleich viel besser.

Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss, aber nichts regte sich.

„Mist, dieses Auto bringt mich noch um den Verstand!“, schimpfte ich. „So geht’s bald nicht mehr weiter. Das passiert immer öfter.“ Entnervt sackte ich in den Sitz zurück.

„Warte, ich schau mal“, schlug Marc vor, stieg aus und nachdem ich die Entriegelung der Motorhaube betätigt hatte, beugte er sich ins Wageninnere.

„Versuch mal“, rief er mir zu.

Schon schnurrte der Motor, als wenn nie etwas gewesen wäre.

„Wow, Marc, wie hast du das geschafft?“ Ich war beeindruckt.

„Keine Ahnung, ich wusste es einfach“, grinste er mich schelmisch an.

„Hey, du bist sicher Automechaniker oder so was.“

„Na hoffentlich schmeißt du mich jetzt nicht raus und ich muss mir einen Job suchen.“ Marc lachte herzlich.

***

Ganz sicher würde es Marc am See gefallen. Er war wunderschön, klares blau-türkis-farbenes Wasser, umgeben von märchenhaften Wäldern, Wiesen übersät mit Blumen in allen Farben, ein Paradies, wenn nicht die Sache mit meinen Eltern gewesen wäre. Doch wischte ich den Gedanken schnell beiseite.

Ich knotete das kleine Motorboot los und schon tuckerten wir hinaus ins Blau. Marc schien sichtlich nervös zu sein, sein Gesicht deutlich verkrampft.

„Hey, was ist los? Bleib ganz locker, es passiert dir nichts“, versuchte ich Marc zu ermuntern.

„Ähm, ich BIN locker“, bekräftigte mein Gegenüber wenig überzeugend.

„So siehst du aber gar nicht aus“, stellte ich mit einem Augenzwinkern fest.

Auf dem See stoppte ich das Boot, erhob mich und fing an mich zu entkleiden.

„Was machst du da?“, stellte Marc eine durchaus überflüssige Frage.

„Du glaubst doch nicht, dass wir hier bloss im Boot herumsitzen werden, oder? Los, komm, wir schwimmen eine Runde“, beantwortete ich das, worauf Marc hinauswollte.

„Schwimmen? Ist das Wasser nicht etwas arg kalt?“, kam es argwöhnisch von ihm.

„Nun, es gibt nur einen Weg, das herauszufinden“, grinste ich frech.

„Du machst Witze.“ Marc schien nicht besonders erbaut von meiner Idee zu sein.

Als ich schließlich nackt war, sprang ich abenteuerlustig ins Wasser.

„Sehr erfrischend“, jappste ich und hoffte, Marc nicht noch mehr zu verschrecken. „Worauf wartest du?“

„Danke, ich verzichte.“

„Komm schon, das ist eine einmalige Chance“, lockte ich beharrlich. „Entweder du ziehst dich jetzt freiwillig aus, oder ich hol dich mit Klamotten ins Wasser“. Natürlich lachte ich dabei, es machte mir Spass, diesen süßen Kerl herauszufordern.

„Und wenn ich nicht schwimmen kann?“, zweifelte Marc penetrant.

„Dann rette ich dich“, versprach ich. „Na komm, ich lass dich schon nicht ertrinken.“

„Das Wasser ist wirklich nicht kalt?“

„Ehrenwort“, was natürlich eine dreiste Lüge war.

Seufzend stand Marc von seinem Sitzplatz auf und begann sich in Zeitlupentempo zu entkleiden.

„Marc, du machst dir viel zu viele Gedanken. Spring einfach rein.“

„Ich komme ja schon.“ Er verdrehte die Augen und folgte zuletzt meiner Aufforderung.

„Ahhhhhhhhh, DAS soll nicht kalt sein??? Du hast mich reingelegt“, jammerte Marc und sah wirklich zum Anbeißen aus, wie er sich zierte.

Herzlich musste ich lachen. „Nein, es ist definitiv nicht kalt hier drin, es ist Saukalt.“

Natürlich rächte er sich, schwamm auf mich zu und tauchte mich unter Wasser. Eine ganze Weile balgten wir herum und hatten unseren Spass. Es war einfach schön, diesen Mann zu spüren und ich war glücklich.

 

Marc

Nachdenklich ließ ich meinen Blick über den See gleiten. Wir hatten uns mehr oder weniger erfolgreich getrocknet, angekleidet und waren ans Ufer zurückgekehrt.

„Sag mal, Drew, und wenn uns dein Bruder gesehen hätte? Müsstest du nicht eigentlich arbeiten?“

„Paul? Der kommt niemals her zum See.“

„Wieso nicht?“

„Er überlässt mir den See ganz einfach“, wich Drew der Frage aus.

„Ist es wegen eurer Eltern?“ Der Satz rutschte mir eher unbeabsichtigt heraus und schnell fuhr ich fort:

„Ich habe den Zeitungsartikel gefunden. Bitte entschuldige, ich wollte ehrlich nicht schnüffeln“, und warf Drew einen flehentlichen Blick zu.

„Nicht so schlimm, du kannst es ruhig wissen. Komm mit, ich zeig dir was.“

Wir fuhren mit dem Auto ein Stück um den See herum. Nach einer Weil tauchte ein stattliches Haus vor uns auf. Es wirkte ein wenig heruntergekommen, als wenn seit vielen Jahren niemand mehr darin wohnen würde. Beim Näher kommen erkannte ich, dass es sich um kein normales Wohnhaus handeln konnte, dafür war es viel zu riesig. Ich schwieg, wenn dann würde Drew von sich aus anfangen zu reden.

Drew stoppte den Wagen vor dem Haus und begann zu erzählen:

„Das hier alles gehörte meinen Eltern. Es war ihr ganzer Lebenstraum. All ihr Geld haben sie hier herein gesteckt – und viel Herzblut. Unten im Haus war eine kleine Gaststätte. Gelebt hatten sie natürlich auch hier, zusätzlich gab es etliche Fremdenzimmer. Schau dir die Umgebung an, wie schön es hier ist. Sicher, das Dorf ist ein Stück weit, hier ist verhältnismäßig wenig Zivilisation. Aber doch lief es recht gut und war sehr begehrt.“

Schweigen.

„Steht es schon lange leer?“, durchbrach ich die Stille.

„Ein Ehepaar hatte es nach ihrem Tod übernommen. Aber der Schrecken dieses bösen Unfalls lag wie ein Schatten auf der ganzen Umgebung. Vier Menschen starben auf mysteriöse Weise. Es lief gar nicht, und sie gaben bald auf. Das ganze Anwesen ist noch im Besitz von Paul und mir. Keiner von uns hat das Haus seit damals je wieder betreten.“

„Warst du dabei, als deine Eltern … starben?“, fragte ich vorsichtig.

„Nein, Paul und ich waren dort drüben im Haus. Meine Eltern gönnten sich kaum eine freie Minute. Ich überredete sie, sich endlich einmal einen Tag frei zu nehmen. Sie gingen zum See… und kamen nicht wieder zurück.“ Drews Stimmte stockte.

„Tut mir wirklich leid.“ Ich spürte, wie sehr Drew immer noch unter der Sache litt.

„Sie wollten einem älteren Ehepaar helfen, die mit ihrem Boot kenterten. Irgendetwas lief schief. Keiner konnte das verstehen. Alle vier sind ertrunken. Es war genauso tragisch wie rätselhaft. – Nie werde ich den Moment vergessen, als uns die Polizei die Nachricht überbrachte. Lapidar hieß es dann: ‚Tja, Unfälle passieren halt…’“ Seine Stimme versagte.

„Klar, und du leidest immer noch darunter, stimmst’s? Hast dir sicher gedacht: ‚Warum mussten meine Eltern für die sterben’.“

„Diese blöden Touristen. Sie gerieten sicher in Panik. Ich schwor mir, wenn ich je in dieselbe Lage komme, für niemanden in den Tod zu gehen“, meinte Drew bitter.

„Verständlich.“ Was sollte ich sonst dazu sagen? Er tat mir von Herzen leid.

„Es ist einfach unfair. Na ja, die Situation ist nicht mehr zu ändern. Paul und ich haben uns seit diesem tragischen Unfall sehr verändert. Ich denke, er gibt mir die Schuld an dem ganzen Dilemma, weil ich es war, der meine Eltern dazu brachte, sich mal freizumachen von ihrem Stress.“

„Deswegen hast du doch keine Schuld am Unfall!“, erwiderte ich bestürzt.

„Ich fühle mich aber schuldig deswegen.“ Drew seufzte. „Wir waren halbe Kinder, was hätten wir tun können? Und dennoch…“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

„Aber eines Tages werde ich das hier wieder aufmachen, werde es nach meinen Eltern benennen – und ihr Werk fortsetzen.“

„Das finde ich sehr anständig von dir.“

„Aber auch egoistisch“, meinte Drew lächelnd, „ich sehne mich nach Ruhe, irgendwann muss die Sache auch mal vergessen sein, muss es weitergehen.“

„Du solltest das wirklich machen“, versuchte ich ihn zu ermuntern, „ich denke, es ist ein gute Idee.“

„Wirklich?“ Drew schien überrascht. „Du bist der erste, der an mein Vorhaben glaubt. Sehr nett von dir, danke.“

„Machst du dich gerade über mich lustig?“ Es erschien mir merkwürdig, dass Drew so reagierte.

„Nein, das ist mein voller Ernst!“ Fast klang das ein wenig beleidigt. „Mein ganzes Leben lang fühlte ich mich schon anders als andere und dachte, ich sei ein schlechter Mensch. Wenn ich mit dir zusammen bin, ist es nicht so. Da kann ich mich so geben, wie ich bin. Das … tut mir richtig gut.“

Lange schauten wir uns in die Augen. Dann startete Drew den Motor des Geländewagens und wir fuhren heim. Keiner sagte mehr ein Wort.

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