Sonntag, 09:00 est
Ich hätte den Wecker verfluchen können, aber er klingelte unbarmherzig. Das erste Summen hatte ich ja weggedrückt, aber nach fünf Minuten klingelte das Mistding erneut und noch lauter und schriller als vorher. Aber das geschah mir ganz recht, denn schließlich hatte ich selbst dieses Weckinstrument käuflich erworben, meine Schuld also.
Aber ich kam schon immer schlechter aus dem Bett als in das Nachtlager hinein. Meine Mutter charakterisierte das einmal mit den Worten: Abends nicht ins Bett und morgens nicht aus dem Bett.
Die Nacht war kurz, zu kurz, um erfrischt den neuen Tag beginnen zu können. Ich hatte gerade einmal etwas mehr als drei Stunden geschlafen. Um einigermaßen vernünftig mein Tagwerk zu beginnen, würde ich noch mindestens zweieinhalb Stunden in der Horizontalen benötigen, aber soviel Zeit hatte ich ja nicht.
Einen dicken Schädel hatte ich zwar auch nicht, aber Bäume ausreißen oder Bänke umwerfen hätte ich auch nicht können. Irgendwie war ich lustlos, matt und niedergeschlagen. Ich wusste sowieso nicht, was die folgenden Stunden bringen würden.
Aber ich wusste, ich musste funktionieren, denn Scotts Eltern wollten ja kommen. Schlaf trunken, wie ich war, schlug ich dann doch die Bettdecke weg und stolperte er erst einmal in Richtung Badezimmer.
Der Typ, den ich im Spiegel sah, gefiel mir überhaupt nicht. Er sah ziemlich mitgenommen und übernächtigt aus. Ein kalter Schwall Wasser linderte zwar etwas die Anspannung in meinem Gesicht, aber besser sah die Gestalt, die mich da stoisch anstarrte, dadurch auch nicht aus.
Die nächsten Aktionen liefen mehr oder minder mechanisch ab. Die Kaffeemaschine wurde befüllt und fing an, tröpfchenweise ihrer Bestimmung gemäß zu arbeiten. Neben dem Glas Orangensaft lagen zwei Bagels, die noch vom Vortag übriggeblieben waren.
Ich ging erst einmal zurück ins Schlafzimmer und fischte aus meinem Mantel die Packung Ersatzzigaretten und aus der Nachtkonsole zwei Aspirin. Die Teilchen waren ziemlich trocken, ich hatte vergessen, sie vernünftig einzupacken.
Aber mit dem ersten Schluck Kaffee ging es dann doch einigermaßen den Hals runter. Die Tabletten folgten mit dem O-Saft. Gedankenverloren starte ich vor mich hin, mit den ersten inhalierten Zügen kamen so langsam die Lebensgeister wieder. Meine Großmutter würde mit mir schimpfen, wenn sie mich so sehen könnte, ich rauchte während der Nahrungsaufnahme.
Mit einer weiteren Tasse des braunen Gebräus in der Hand machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Ich griff mir das Telefon und rief erst einmal bei Sebastian an. Seine Fröhlichkeit am frühen Morgen war erschreckend.
Die beiden waren auch nicht untätig gewesen, sie hatten gestern für Barbara und Paul ein Zimmer in einer Frühstückspension in ihrer Nähe besorgt. Wenigstens das Unterbringungsproblem war geklärt. Ich war mehr als erleichtert, brauchte ich doch mich nun selbst nicht mehr darum zu kümmern.
Gut, sie hätten ja auch zur Not hier schlafen können, aber dann hätte die Wohnung noch aufgeräumt werden müssen. Sie, die aus dem Bibelgürtel kamen, hatten zwar keine Probleme mehr damit, dass Scott und ich ein Paar waren, aber ich wollte ihre Toleranz auch nicht über Gebühr strapazieren.
Wir hatten zwar nichts zu verheimlichen, sie konnten sich sicherlich denken, was wir im Bett veranstalteten, aber ich finde, eine gewisse Privatsphäre muss gewahrt bleiben.
Mit gewisser Belustigung erinnerte ich mich an das entsetzte Gesicht meiner Mutter, als sie, fünf Jahren nach meinem Outing, mich in Münster einmal besucht hatte und auf dem Regal einen Marzipanschwanz entdeckte, ein sehr phantasievolles Geschenk meiner Freunde zum Geburtstag. Wie sollte Barbara erst reagieren, wenn sie unsere Spielzeugsammlung entdecken würde?
Meine Schwiegereltern würden so gegen halb drei in La Guardia landen. Der Flughafen ist der kleinste der Stadt und wird hauptsächlich für Inlandsflüge genutzt, für Langstreckenflüge sind einfach die Start und Landebahnen zu kurz.
Wir wollten uns um viertel nach zwei im C-Bereich des Zentralterminals treffen, um die beiden Landeier, wie mein Göttergatte seine Produzenten in deren Abwesenheit betitelte, abzuholen.
Der nächste Anruf galt Gordon, aber außer dem Tuten in der Leitung war von meiner Lieblingshete nichts zu vernehmen. Ein Freizeichen war auch bei Albert zu hören, anscheinend waren er und seine Angetraute wie jeden Sonntagnachmittag auf dem Golfplatz.
Da ich ihn da nicht stören wollte, hinterließ ich eine kurze Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Ich rief im Plaza an und ließ mich mit Mutzi verbinden. Sie wartete auf ihre Tochter, denn man wollte zum letzten Programmpunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten, einem Brunch im Central Park.
Wir verabredeten uns für den morgigen Montag zum Kaffee, sie flog Dienstag zurück nach Deutschland. Ich schaute auf die Uhr, es war kurz nach zehn, und rief bei Günther an. Er klang bestürzt, als ich ihm eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse lieferte, aber er meinte, ich solle mich erst einmal um meinen Liebsten kümmern.
Er würde auf der Arbeit schon alleine klarkommen und alles regeln. Mit einem frischen, heißen Kaffee bewaffnet, startete ich Scotts Laptop. Nach einer Zigarette war es soweit, ich konnte meine E-Mails abrufen.
Viel Weltbewegendes war nicht dabei, nur Thomas, mein Backgammonpartner, war leicht säuerlich, dass ich mich auf seinen Anruf nicht gemeldet hatte. Ich antwortete ihm in Telegrammstil, ein genauer Bericht würde nach meiner Rückkehr erfolgen.
Den Absender einer Mail kannte ich nicht.
Aber da es im Betreff weder um Viagra, Penisverlängerungen, Billiguhren oder Glücksspiele ging, öffnete ich die Post. Sie war von Peter, dem Steward, der mich auf dem Hinflug nach New York so hervorragend bedient hatte.
Er würde sich freuen, mich in der Heimat bald mal privat wieder zu treffen, er hätte etliche Fragen. Ich war erstaunt, hatte ich so einen guten Eindruck auf ihn hinterlassen? Ich antwortete ihm nur kurz, dass ich mich auch freuen würde, aber aufgrund gewisser Umstände noch nicht genau sagen könnte, wann ich denn wieder in Deutschland sei.
Ich würde mich auf alle Fälle bald wieder bei ihm melden. Gegen halb elf machte ich mich fertig. Ich wollte mit meiner Saftschubse noch einmal alleine sein, mit ihm unter vier Augen sprechen, auch wenn die Kommunikation mit ihm eher einem Selbstgespräch mit einem stummen Gegenüber glich.
Barbara würde sicherlich kaum von seiner Seite weichen wollen, wenn sie erst einmal hier wäre. Gut, das war verständlich, aber die Einsicht, dass ihr Küken mit über dreißig schon längst flügge geworden war, fällt einer Glucke wie ihr immer schwer.
Barbara ist eine der liebenswertesten Personen, die ich kenne, aber ihre Liebe kann ziemlich erdrückend sein. Sabrina, Scotts älteste Schwester, selbst Mutter dreier Kinder, wurde von ihrer Mutter immer noch wie ein pubertierender Teenager behandelt.
Im Gegensatz zu ihren Geschwistern hatte sie es nie geschafft, aus der kleinen Stadt in South Carolina herauszukommen. Allerdings war das auch kein Wunder, sie wurde mit achtzehn vom Sohn des Bürgermeisters schwanger und ehelichte diesen dann auch.
Das Paar schlug dann, keine drei Häuser von Mutter Barbara entfernt, die eigenen Zelte auf.
Sein Bruder James, der in die Fußstapfen seines Vaters getreten war und ebenfalls Polizist geworden ist, war dem Landleben entflohen.
Er ist Lieutenant bei der Polizei in Charlotte, Sittendezernat, und somit über siebzig Kilometer von Muttern entfernt. Er ist zwar nicht verheiratet, aber fest liiert mit seiner Rebecca, der Tochter eines Pfarrers.
Die wilde Ehe zwischen den beiden dauert mittlerweile fast vier Jahre an, wenn es nach Babara gehen würde, sollte dieser unmoralische Zustand am besten gestern noch geändert werden.
Die dritte im Bunde, Elisabeth, genannt Lis, ist Lehrerin in einem Vorort von Atlanta und somit Dreihundert Kilometer von den Rockzipfeln ihrer Mutter entfernt. Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter hat sie keinen festen Partner, sie ist eher wie die Biene, die von Blumen zu Blume fliegt.
Aus einem dieser Bestäubungsversuche hat sich David entwickelt, mein Patenkind, ein süßer kleiner Fratz, und der ganze Stolz der alleinerziehenden Mutter. Um kurz vor zwölf saß ich wieder in diesem schrecklichen Gebäude aus Glas und Beton an dem Krankenbett meines Liebsten und wir hielten Händchen, so gut es mit den Schläuchen, die in seinem Handrücken steckten, ging.
Die Jalousien waren geöffnet und die Vorhänge nur halb zugezogen. Licht durchflutete den Raum, er sah auf den ersten Blick nicht so bedrohlich aus, aber die vielen Geräte, die um das Krankenbett gruppiert waren, erzählten eine andere Geschichte.
Ich erzählte meinem Liebsten vom gestrigen Tag, vom Tee mit Erdmute, ihrem Testament, der Hochzeit, dem Bankett und der Nachfeier. Ich berichtete ihm in allen Einzelheiten, angefangen vom Brautkleid bis hin zum Essen, allerdings ließ ich die Episode mit Brady auf dem Klo außen vor.
Ich würde sie ihm hinterher irgendwann einmal erzählen, im Moment erschien es mir nicht so angebracht, da er ja nicht antworten konnte. In aller Ausführlichkeit berichtete ich ihm jedoch von seinem Kollegen von der Lufthansa und dessen Mail.
Dem Geplänkel und dem Kuss hatte ich eigentlich keine große Bedeutung beigemessen, bei Peter schien es jedoch etwas anderes zu sein. Ich fragte meine Saftschubse, wie er es denn halten würde, wenn sie ein männlicher Fluggast anbaggern würde, aber eine Antwort bekam ich leider Gottes nicht.
Ich hatte ja nicht gebaggert, jedenfalls nicht bewusst oder gewollt, ich war auf dem Flug einfach nur ich selbst. Um kurz vor eins kam eine Schwester herein, sie lächelte mich an und grüßte freundlich, als sie ins Zimmer trat.
Sie hantierte an den Geräten, notierte einige Messwerte und tauschte eine der Infusionen aus. Diese Dame in Weiß hatte ich bisher hier noch nicht gesehen, aber ich konnte auch nicht das gesamte Personal kennen.
Sie blieb, als sie fertig war, eine Weile im Türrahmen stehen, ihr Blick lag auf unseren ineinander verschränkten Händen. Sie lächelte mild. „Pray with and for him!“
Was sollte den das bedeuten? Er war doch auf dem Weg der Besserung, er würde es schaffen, da war ich mir sicher! Denn schließlich und endlich brauchte ich diesen Kerl, den an ihm hing mein Herz. Ein Leben ohne ihn war unvorstellbar für mich.
Intermezzo
Der Sitz neben mir war frei. Das Flugzeug nicht ganz ausgebucht, jedenfalls nicht in der Klasse, in der ich, aufgrund der Rücksprache meines Liebsten, schließlich saß. Dank des wirklich bequemen Sessels verbrachte ich die meiste Zeit des Rückflugs schlafend.
Zum einen lag das an der bleiernen Müdigkeit, die langsam über mich kam, viel geschlafen hatte ich die Nacht vorher ja nicht, zum anderen aber wir flogen in die Nacht. Ein Blick durch das Fenster zeigte nur ein großes Nichts, kein Land, keine Lichter am Boden, keine Wolken, keine Sterne, lediglich die Schwärze der Nacht war zu sehen.
Wir waren das zweite Flugzeug, das an diesem Morgen in Düsseldorf landete. Zehn Minuten früher als geplant setzten die Räder auf der Rollbahn auf. Auch das Aussteigen verlief relativ zügig und keine zwanzig Minuten später hielt ich meinen Koffer in den Händen.
Meine Eltern standen in der Ankunftshalle und begrüßten mich ziemlich stürmisch. Ich war doch nur zwei Wochen fort gewesen, sie freuten sich aber so, als ob sie mich zwei Jahre nicht mehr gesehen hätten.
Nach etlichen Umarmungen, die anderen Leute guckten schon leicht verwundert, gingen wie er in Richtung Ausgang. Mein Vater trug meinen Koffer, meine Mutter hatte mir mein Handgepäck abgenommen.
Am Wagen angekommen brachte ich erst einmal ein Rauchopfer dar, Zigaretten waren ja sowohl im Flugzeug als auch im Gepäckbereich strikt verboten. Auf der Rückfahrt fragte Mutter mir ein Loch in den Bauch, sie wollte wirklich alles wissen.
Wie das Hotel gewesen sei? Was ich gegessen hätte? Was ich getrunken hätte? Welche Shows ich mir angeschaut hätte? Ob ich viel Geld ausgegeben hätte? Was, was kosten würde? Ob das mit der unterschiedlichen Mehrwertsteuer stimmen würde?
Das volle Programm, aber so sind Mütter halt. Kurz vor der heimischen Abfahrt, die acht Uhr Nachrichten im Radio hatten gerade begonnen, stellte mein Vater mir die einzige Frage: „Junge! Hat es dir Spaß gemacht?“
Ich bejahte und er äußerte lapidar, dass das die Hauptsache sei. Zu meiner Mutter gewandt meinte er: „Ulrike! Jetzt lass den Jungen mal in Ruhe.
Wenn wir gleich beim Frühstück sitzen, kannst du ja das Verhör fortsetzen. Aber gönn ihm jetzt eine Pause.“
Schmollend puffte sie ihn in die Seite, aber wenigstens stellte sie ihre Fragerei für die nächste Viertelstunde, denn so lange dauerte die Fahrt bis zu meinem Elternhaus noch, ein. Im heimischen Dorf, mittlerweile Teil einer Großstadt, aber die ländlichen Strukturen hatten sich erhalten, erwartete uns ein reich gedeckter Frühstückstisch.
Oma hatte sogar Krabbeln gemacht. Diese Hefeteilstücke werden in Fett ausgebacken und erinnern an ganz normale Berliner, allerdings ist die Füllung eine andere, sie besteht aus ganzen Früchten.
Die morgendliche Mahlzeit war ziemlich üppig, genau wie die Neugier meiner beiden Damen. Mit ihrer Mutter an ihrer Seite kitzelte meine Mutter mir alle Informationen aus der Nase, die sie im Auto vorhin nicht bekommen hatte. Mein Vater grinste die ganze Zeit über seine Zeitung hinweg, anscheinend war er mehr als froh, mal nicht im Mittelpunkt der morgendlichen Unterhaltung zu stehen.
Gegen kurz vor zehn machte er sich dann langsam auf, er wollte wohl endlich in die Einsamkeit seines Büros verschwinden. Allerdings verlief sein Abgang nicht so, wie er es geplant hatte.
Mutter bestand darauf, dass wir zusammen die Stadt führen, denn ich bräuchte ja für die bevorstehende Hochzeit von Stefanie, Mutters Patenkind, noch einen neuen Anzug, den wolle sie mir hier und heute auch kaufen.
Wenn ich den Kauf selber in die Hand nehmen würde, würde ich ja eh nur wieder modischen Schund aus Chemie anbringen, den man nur einmal tragen könne, vom Waschen ganz zu schweigen! Sie hatte gesprochen!
Mein Vater und ich stöhnten im Duo. Aber wir holten brav und folgsam, wie wir waren, mein Gepäck aus dem Wagen. Den Koffer trug ich direkt in den Waschkeller, die Geschenke nahm ich vorsichtshalber beiseite.
Meinen Liebsten überreichte ich die mitgebrachten Mitbringsel, ehe wir den Wagen wieder bestiegen. Es waren zwar nur Kleinigkeiten, aber sie freuten sich trotzdem. Ich merkte wieder einmal, Kleinigkeiten wirken manchmal mehr als überteuerte Geschenke, die ohne Sinn und Verstand und nur um des Schenkens Willen unter das Volk verteilt werden.
Eine einfache Rose, die von Herzen kommt, wirkt oftmals stärker als ein Geschmeide aus Gold, das einfach nur teuer ist. Mein Vater setzte seine Frau und mich in der Innenstadt ab und ermahnte uns, besser gesagt meine Mutter, nicht zu viel Geld auszugeben.
Meine Mutter hauchte ihm nur ein Kuss auf die Wange, sie würde schon wissen, was sie tue. Aber, zu ihrem Leidwesen, aus dem von ihr geplanten Einkaufsmarathon wurde nichts. Wir wurden schon im zweiten Laden fündig.
Ein dunkelgrauer Dreiteiler wechselte den Besitzer. Mit dem Wollprodukt in der Tüte schlenderten Mutter und ich frohen Mutes durch die Fußgängerzone. Ich lud sie auf einen Kaffee ein und wir setzen uns, das milde Herbstwetter ausnutzend, in den Außenbereich des Bistros und beobachteten die vorbeigehenden Passanten.
Der Blick meiner Mutter verharrte auf dem Schaufenster des gegenüberliegenden Reisebüros, in dem für einen Weihnachtseinkauf in New York geworben wurde.
Ich blickte auf den Preis und meinte nur: „Zu teuer!“
Sie, die ihren Kaffee immer schwarz trank, spielte mit dem Löffel.
„Würdest du denn wieder fliegen wollen?“
„Ich werde wieder nach New York fliegen, dass steht fest, nur das Wann ist noch offen.“
Sie blickte mich fragend an, ich grinste zurück. Ich erzählte ihr von dem Angebot von Maximilian Bendler. Sie war erstaunt, ein Jobangebot in einem Kaffee bekommen zu haben, allerdings im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wäre ja nichts unmöglich.
Mit einem Augenaufschlag fragte sie: „Und sonst?“
Ich blickte sie irritiert an.
„Was meinst du?“
„Nun erzähl mir nicht, du hättest gelebt wie ein Mönch. Du bist mein Sohn, Alexander. Also! Ich höre!“
Mütter! Ich druckste herum.
„Na ja, ich habe da Jemanden kennengelernt.“
Ich konnte das Fragezeichen in ihren Augen erkennen. Auch wenn sie immer abstritt, neugierig zu sein, wissbegierig war sie schon. Ihre Reaktion auf die Schilderung von Scott überraschte mich doch sehr.
„Ich hoffe, er ist kein Schwarzer!“
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Nach Atem ringend schaute ich sie tadelnd an.
„Mama! Seit wann bist du denn unter die Rassisten gegangen?“
In dem Moment wusste sie wohl, was sie da gerade aus dem Mund gelassen hatte. Ihre Augen signalisierten eine Entschuldigung für das Gesagte.
„Aber ich kann dich beruhigen, Scott hätte mit seinen blonden Haaren und blauen Augen weniger Probleme mit dem Arier Nachweis als ich.“
Verschämt blickte sie mich an.
„So war das ja nicht gemeint. Mit wem du glücklich wirst, ist deine Sache, mein Großer. Aber meinst du nicht auch, die Distanz könnte zum Problem werden?“
Sie hatte zwar den Nagel auf den Kopf getroffen, aber welcher Mann über fünfundzwanzig lässt sich schon gerne in Liebesdingen von seiner Mutter beraten? Ich jedenfalls nicht.
„Mutterherz, da habe ich mir bis jetzt noch keine Gedanken darüber gemacht. Es war eine schöne Zeit, ob eine noch Schönere folgen wird, wer weiß? Ich lass es auf mich zukommen. Wie heißt es so schön? Schauen wir mal, dann sehen wir weiter!“
„Das ist mein Sohn! Nie den Kopf hängen lassen. Anscheinend hast du ja die Trennung von Felix gut überstanden.“
Woher wusste sie das schon wieder? Wir hatten bis jetzt ja noch nicht direkt darüber gesprochen, aber sie konnte sich wahrscheinlich ihren Teil denken.
„Aber Hauptsache ist, du hast deinen Urlaub genossen!“
Urlaub! Felix und ich waren in den knapp fünf Jahren, in denen wir zusammen waren, nur einmal richtig im Urlaub gewesen: vierzehn Tage Gran Canaria im letzten November – im Regen!
Wir hatten uns kennengelernt, als er kurz vor seinem ersten Examen stand. Danach kam sein Coming out, wenn man die Offenbarung vor der engsten Familie so nennen möchte und der Beginn seines Referendariats.
Ein halbes Jahr später folgte mein erstes Staatsexamen und ich wurde Doktorand an der Uni. Nach seinem zweiten Examen begann die Jobsuche, die ihn – und somit mich – nach Bonn führte.
Ich lag in den letzten Zügen mit meiner Doktorarbeit, als er anfing, für die Regierung zu arbeiten. Nach bestandenem Rigorosum, wenn auch nur „mit cum laude“, aber immerhin, kam daher nur der November für die erste große gemeinsame Sommerfrische in Frage, denn ab Januar begann mein eigenes Referendariat im Bundesdorf.
Gut, wir waren ab und an auf Wochenendtouren gewesen, aber auch dann nur, wenn er keine Parteitermine hatte oder diese als vermeintlichen Grund vorschob. Das war von jeher ein Knackpunkt zwischen uns gewesen.
Während ich ziemlich locker mit meiner Homosexualität umgehe, obwohl ich zwar nicht mit einem Schild um den Hals herumlaufe, durfte es von seinen Parteifreunden niemand wissen. Aus der Szene kannte ich zwar etliche seiner Mitstreiter, aber er gefiel sich anscheinend in der Rolle der politischen Schrankschwuchtel.
Den Abend verbrachte ich im Kreise meiner Familie, sogar meine Schwester beehrte uns mit der großen Gnade ihrer Anwesenheit, was sonst nur an ziemlich hohen Feiertagen vorkam. Am nächsten Morgen fuhr ich dann wieder mit frisch gewaschener Wäsche nach Bonn in mein kleines Appartement.
Ich war mehr als verwundert, aber sämtliche Blumen blühten noch, die Post lag geordnet auf meinem Schreibtisch und auch der Kühlschrank wies einen verwertbaren Inhalt auf. Ich hatte Felix vorher gebeten, während meiner Abwesenheit nach dem Rechten zu schauen und ich musste feststellen, er hatte seine Aufgabe hervorragend gelöst.
Ich rief ihn an, erreichte allerdings nur seinen Anrufbeantworter. In der Nachricht, die ich ihm hinterließ, bedankte ich mich für seine Dienste und lud ihn für den kommenden Nachmittag, sprich Samstag, zum Kaffee ein.
Während ich meine elektronische Post las, klingelte das Telefon. Es war Jan.
„Alex! Gut, das ich dich erreiche! Ich brauch dich heute Abend! Du hast doch hoffentlich noch nichts vor?“
Ich war etwas verwundert, wieso sollte Jan mich brauchen?
„Was ist denn los? Ich bin gerade erst gelandet und froh, wieder in meinen eigenen vier Wänden zu sein.“
Stimmte zwar nicht ganz, aber die Ankunft in Bonn vor einer Stunde konnte man ja auch als Landung bezeichnen.
Ich räusperte mich: „Wie kann ich dir denn helfen?“
„Du müsstest heute Abend spielen!“
„Wie? Was soll ich den spielen? Canasta? Rommé? Bridge? Mensch ärgere Dich nicht? Du müsstest schon etwas genauer sein, mein Lieber!“
Ich konnte zwar sein Gesicht nicht sehen, aber meine Antwort schien ihn zu amüsieren. Die anfängliche Hektik in seiner Stimme legte sich.
„Entschuldige, ich vergesse immer wieder, dass du Jurist bist, den man mit Fakten füttern muss. Also…“
„Ich höre!“
„Du kennst doch Andreas?“ Ich überlegte, ich kannte mehrere Träger dieses Namens, mindestens sieben, aus den verschiedensten Lebensbereichen.
„Welchen Andreas meinst du?“
„Die italienische Köchin!“
Ein Stöhnen drang aus meinem Mund, er meinte Andrea Gabriele di Santa Irgendwas, ein Kotzbrocken erster Kajüte. Wir hatten uns so circa zwei Wochen vor meinem Urlaub zufällig im „Calogero“, meiner schwulen Stammkneipe getroffen.
Nach zwei Getränken obergäriger Brauart, sprich Kölsch, war – zumindest mir – klar, dass wir nie gute Freunde werden würden. Ich habe zwar nichts gegen Designer-Klamotten, aber wenn man sie schon für sein Selbstwertgefühl braucht, dann sollte auch der Rest der Erscheinung stimmen. Schwarze Fingernägel und fettige, zu einem Zopf zusammengebundene Haare, passen meiner Ansicht nach nicht zu D&G, Versace, Armani und Konsorten.
Er, der Sohn eines italienischen Pizzabäckers und einer bergischen Gastwirtstochter, hatte vor kurzem sein Studium der Ökotrophologe erfolgreich abgeschlossen und nun seine erste Stelle als Hauswirtschaftsmeister bei einer der zahlreichen politischen Bildungseinrichtungen im Bundesdorf angetreten.
Da der Umzug der Regierung bereits beschlossene Sache war, fungierte er in Ermangelung eines echten Kochlöffelschwingers eher als Koch als ein Manager des Hausbetriebs, von daher war sein Spitzname auch kein Wunder.
Außer das seine Eltern 1960 die Beatles für ihren Hagener Tanzschuppen abgelehnt hätten und die Pilzköpfe darauf nach Hamburg gegangen wären, hatte er nur Geschichten von irgendwelchen Einkaufsorgien in Mailand, Paris und London auf Lager. Ein vernünftiges Gespräch war mit ihm leider nicht zu führen.
„Was will der denn?“
„Wir sollen ihm seinen Arsch retten!“
„Wie?“
Der Sachverhalt war relativ einfach: an diesem Wochenende tagte der Stiftungsrat, sein Arbeitgeber, nebst dazugehörigem Anhang, insgesamt knapp dreißig Personen. Diesen Termin hätte er von seinem Vorgänger übernommen und sich auch brav um das Essen für das Wochenende gekümmert, jedoch das obligatorische Rahmenprogramm, das unweigerlich dazu gehört, schlicht und einfach vergessen.
Während man das Damenprogramm am Samstag nötigenfalls mit einem Ausflug zum Drachenfels oder einer Bootstour auf dem Rhein bewerkstelligen könnte, war das Rahmenprogramm für Freitag etwas schwieriger.
Karten für Theater, Oper oder sonstiger kultureller Erbauung waren in benötigter Anzahl so kurzfristig nicht mehr verfügbar. Der Satz von Gorbatschow bestätigte sich wieder einmal: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, in diesem Fall das Ticketcenter.
„Und was will er nun von uns?“
„Er hat wohl im Zentrum das Plakat von unserem Kurt-Weill-Abend gesehen.“
Das war das Sommerkonzert unseres Chores gewesen, ein zweistündiger Liederabend, der ziemlich erfolgreich für die Chorkasse war und uns einen Wochenendausflug nach Brüssel finanzierte.
„Aber du kriegst doch jetzt den Chor nicht mehr zusammen! Wir haben Wochenende, mein Lieber! Schon vergessen?“
Wir waren schließlich über zwanzig Leute und die unter einen Hut zu kriegen, war ein Unterfangen, was mindestens ein Vierteljahr Vorbereitung benötigt, im günstigsten Falle!
„Nein! Das habe ich nicht vergessen. Ich dachte auch eher an Solo mit Klavier. Du spielst und ich singe. Ich kann die Gage gut gebrauchen, sehr gut sogar. Meine alte Möhre muss durch den TÜV, und das kostet!“
Jan fuhr einen alten FIAT, der eigentlich nur noch vom Rost zusammengehalten wurde.
„Und was springt dabei für mich heraus?“
Stille am anderen Ende der Leitung.
„Jan? Noch da?“
„Ja!“
„Für meinen letzten Auftritt als Tastenquäler hab ich knapp 130 $ bekommen. Also! 200 Mark für mich, dann deine Reparatur und der Rest geht in die Chorkasse, die kann es gebrauchen!“
„Wieso?“
„Wir haben eine Einladung zu einem Festival in New York!“
„Äh??“
„Pass auf! Die Einzelheiten erkläre ich dir gleich! Du rufst jetzt die italienische Köchin an, sagst ihr zu und handelst eine vernünftige Gage aus. Wenn du dann in einer halben Stunde mit einer Pizza Hawaii hier vor der Tür stehst, erkläre ich dir den Rest, während wir das Programm für den heutigen Abend durchgehen!“
„OK, dann bis gleich!“
Der Niederländer stand mit dem italienischen Teigprodukt, keine fünfundzwanzig Minuten später vor meiner Tür. Für sich selber hatte er nur einen kleinen Salat mitgebracht. Während des Essens erzählte ich ihm von New York und den Eindrücken, die ich dort gewonnen hatte.
Meine Saftschubse nahm natürlich einen besonderen Platz ein. Er war jedoch weniger an Scott interessiert, verständlicherweise nahm die Einladung von Simon zu dem Chorfestival einen höheren Stellenwert auf seiner musikalischen Aufmerksamkeitsskala ein.
Gegen kurz nach sieben machte ich mich fertig. Gott sei Dank hatte ich den Smoking in Bonn, Jan war schon ich Sangeskluft, sprich Frack, gekommen. Wir fuhren gemeinsam mit meinem Wagen nach Bad Godesberg.
Denn dort unterhielt Andreas Arbeitgeber seine Bildungseinrichtung, die bald nach Berlin umziehen würde. Die italienische Köchin begrüßte uns überschwänglich, sie war augenscheinlich mehr als froh, dass wir ihr ihren Arsch werden würden.
Er führte uns in den – meiner Ansicht nach zu übertrieben geschmückten – Festsaal. Die Damen und Herren des Vorstandes speisten bereits. Ich setzte mich ans Klavier, öffnete den Deckel und begann mit leichten Fingerübungen.
Die Gespräche der Anwesenden verstummten sogleich. Der Zopf tragende Koch kam, wie von der Tarantel gestochen, auf mich zu.
„Um Gottes Willen! Euer Programm startet erst um neun.“
Ich blickte auf Jan, er schien ebenso irritiert zu sein wie ich.
„Und wieso sollten wir um acht Uhr hier sein?“
„Na ja, ich dachte, ihr spielt so etwas wie Tafelmusik!“
„Das war nicht ausgemacht! Komm, Alex, wir sind dann um neun wieder hier!“
Ich blickte zuerst auf Jan, dann auf den Löffelschwinger.
„Für einen Hunderter mehr, spiele ich dir jedes Klavierkonzert!“
Er wirkte wie versteinert, gab aber nach.
„Von mir aus! Halsabschneider!“
3 Kommentare
hi
eine schön geschriebene Geschichte mit viel Inhalt…..wen auch iel etwas gewöhnungsbedürftig geschrieben…..smile
Schade ist nur dar dieser versprechende Stoff bislang kein Fortführung gefunden hat……sehr schade
aber wie sagt man die Hoffnung stirbt zuletzt!
lg. Ralph
Eine deiner schönsten Geschichten, schade, dass dir anscheinend die Ideen ausgangen sind.
LG
joeey
(habe die Hoffnung auf eine Fortsetzung noch nicht aufgegeben)
Eine wirklich schöne Story! Ich hoffe doch sie wird eines Tages weitergeführt!?!
Ich würde mich sehr freuen.
Danke bis hierher.
Liebe Grüße aus Berlin
Joachim