Natürlich waren wir der Mittelpunkt. Auch wenn nicht viel in der Zeitung stand, wussten doch alle Bescheid, was geschehen war. Lesley wurde ständig mit Fragen gelöchert und mit Hilfe von Molly und Berry klärten sie unsere Mitschüler auf.
Nathaniel saß wie ich etwas abseits. Er war mit einer Krücke in die Schule gekommen. Timothy saß bei ihm und die beiden unterhielten sich leise. Mein Blick fiel wieder auf Berry. Er hatte den ganzen Morgen fast keine Notiz von mir genommen.
Aber konnte ich ihm das krumm nehmen? Ich hatte Tatsachen falsch verkettet und ihn dementsprechend misstraut. Also verdiente ich es nicht anders. Die Mittagspause hatte begonnen, so beschloss ich einfach nach draußen zu gehen.
Hunger hatte ich keinen und mit Schmerzen im Arm wollte ich auch niemand auf den Keks gehen. Ich saß an einem Baum gelehnt und mein Blick wanderte über das Schulgelände.
„Tut es sehr weh?“, schreckte mich eine Frage aus dem Gedanken.
Ich sah nach links und konnte dicht bei mir Zuhai entdecken, denn ich nicht bemerkt hatte.
„Es geht…, ertragbar.“
Er ließ sich neben mir nieder.
„Ich stell mir das schrecklich vor. Alles was da Lesley erzählt hat…, kannst du überhaupt ruhig schlafen?“
Ich nickte.
„Mich wundert, dass Timothy überhaupt so lachen kann, jetzt wo seine Mutter tot ist. Mir würde das schrecklich nachgehen.“
„Deine Mutter liebt dich?“
„Ja!“
„Für Timothy Mutter war er nur Besitz, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn so geliebt hat, wie deine Mutter dich.“
„Das ist heftig.“
Ich nickte.
„Du sprichst darüber, als hättest du schon so etwas selbst erlebt.“
Ich blickte Zuhai in die Augen.
„Meine Mutter ist gegangen, als ich klein war, mein Vater hat am Schluss nur noch getrunken und mir für alles die Schuld gegeben…“
„Sche…!“
„Ja… Scheiße. Das Timothy wieder bei seinem Vater ist und Nathaniel zum Freund hat…, nichts Besseres hätte ihm passieren können!“
„Und wie geht es dir? Du sitzt so abseits…, so alleine.“
„Ich wollte halt einfach alleine sein…“
„Oh, Entschuldigung… und ich nerve dich auch noch mit Fragen.“
Zuhai machte Anstalten sich zu erheben.
„Bleib sitzen, du störst nicht.“
*-*-*
Der letzte Gong erlöste mich aus meiner Starre. Wie die anderen, räumte ich meine Sachen ein und verließ das Klassenzimmer.
„Tom, soll Dad dich nicht abholen?“, fragte plötzlich Molly hinter mir.
„Nein danke Molly, das laufen tut gut.“
„Timothy hat erzählt, dass wir bei seinem Großvater eingeladen sind, hättest du nicht Lust mitzugehen?“
„Molly, heute nicht… vielleicht ein andermal, okay?“
Sie nickte. Ich ließ sie stehen, verließ die Schule. Als ich fast das Gelände verlasen hatte, hörte ich hinter mir jemand stark bremsen. Ohne mich umzuschauen wich ich zur Seite und konnte aus dem Augenwinkel heraus sehen, dass es Berry war, der gerade an mir vorbeifuhr und vor mir scharf bremste.
Er stieg ab und baute sich vor mir auf. Wir sahen uns in die Augen. Ich brachte keinen Ton über die Lippen. Ich hatte ihm weh getan und ich dachte, ein Einfaches entschuldige würde niemals ausreichen, dies zu kitten.
Als er ebenfalls nicht sagte und bewegungslos da stand, lief ich einfach weiter. Ich wollte mich nicht wieder mit ihm streiten. Mir war schlecht, der Kopf und der Arm tat weh. Ich wollte nur noch heim.
„Tom…“
Das war Berry, den ich hinter mir gelassen hatte. Ruckartig blieb ich stehen, drehte mich aber nicht um.
„Weißt du noch, was ich voll Stolz Timothy über dich erzählt hatte?“
Er hatte viel erzählt.
„Er hat mir gezeigt wie es ist, wenn einem ohne Vorbehalte jemand glaubt, zu ihm steht und zeigt, was Liebe ist.“
Danach hatte er mir einen Kuss gegeben. Aber nun stand er nur hinter mir und wartete auf eine Antwort. Ich atmete tief durch.
„… dass ich zu dir stehe“, begann ich leise, mit zitternder Stimme, „… an dich glaube ohne Vorbehalte und dich liebe…“
Ich stand immer noch mit dem Rücken zu ihm.
„Und warum ist es jetzt plötzlich anders?“
Sein Ton war immer noch ärgerlich. Ich drehte mich um.
„…es ist nichts anders“, antwortete ich kraftlos.
„Du misstraust mir!“
„… ich habe einen Fehler gemacht Berry…, dass tut mir Leid, aber ich misstraue dir nicht… ich liebe dich… brauche dich!“
„Kommt etwas spät… oder?“
Mit diesen Worten ließ er mich stehen und radelte los.
„Berry bitte“, rief ich ihn hinter her.
Er reagierte nicht. Langsam fing ich an zu laufen.
„Berriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii.“
Ich rannte ihm nach so gut ich konnte, doch irgendwann blieb mir die Luft aus und ich musste stoppen. Tränen liefen ungehindert über meine Wangen und ich sank auf die Knie.
„… Berry… bitte…“, kam es leise über meine Lippen.
*-*-*
Berry
Ich hörte ihn rufen, aber reagierte nicht. Mir war es im Augenblick egal. Er hatte mich so verletzt und sollte selber spüren wie das ist, wie weh das tut. Schneller als gewohnt war ich zu Hause.
Es war keiner da, so lief ich gleich hinunter in mein Zimmer, feuerte den Rucksack in die Ecke und schmiss mich aufs Bett. Oben ging die Tür und wenige Sekunden später stand Lesley in meinem Zimmer.
„Kannst du mir sagen, was der Scheiß soll?“
„Was geht dich das an?“, brummelte ich in mein Kissen.
„Draußen steht Molly mit einem aufgelösten Tom. Geh gefälligst nach oben und entschuldige dich bei ihm!“
Ich fuhr hoch.
„Ich mich entschuldigen?“, schrie ich ihn an, „wieso denn? Er denkt doch ich habe etwas mit Timothy, er misstraut mir doch!“
„Du benimmst dich wie ein kleines Kind!“, gab Lesley genauso laut zurück.
„Dass sagt der Richtige…!“
„Wie soll ich denn das jetzt verstehen.“
Ich lachte sarkastisch und drehte mich wieder zu ihm.
„Die Hauszicke bist ja wohl du!“, warf ich ihm an den Kopf, „wegen jedem Scheißdreck gleich beleidigt.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht“, kam es genauso giftig zurück und trat einen Schritt auf mich zu.
„Uh, ich bekomm Angst, willst du deinen kleinen Bruder jetzt vermöbeln oder was?“
„Jungs, es reicht!“
Molly stand im Türrahmen.
„Man könnte meinen, wir sind hier im Kindergarten. Berry, wenn du nichts mehr mit Tom zu tun haben willst, dann beende eure Freundschaft, denn das, was du gerade abziehst ist schlichtweg Scheiße.“
Molly hatte ihren Standpunkt vertreten und wütend mein Zimmer verlassen. Lesley schaute mich kurz an, schüttelte den Kopf und folgte ohne ein weiteres Wort zusagen Molly nach draußen.
*-*-*
Tom
Das Geschrei aus dem Haus war nicht zu überhören. Das war das Letzte was ich wollte, dass man sich wegen mir streitet. Erinnerungen kamen hoch. Ich griff nach meinem Rucksack, der auf Mollys Rad lag und machte mich auf den Heimweg.
Deprimiert und auch müde lief ich nach Hause. Nach Hause, ein Begriff, den ich die letzten Monate so schätzte. Es war so viel passiert, seit ich hier war. Der Gedanke drängte sich auf, ob dies alles ohne mich nie geschehen wäre.
Mittlerweile hatte ich das Grundstück erreicht. Georgs Auto stand auf dem Parkplatz, aber ich hatte keine Lust auch nur einem zu begegnen. So umrundete ich das Haus und betrat mein Zimmer über die Veranda.
Gustav war nirgends zu sehen. Ich stellte mein Rucksack ab und schaute mich in meinem Zimmer um. Bisher hatte ich mich hier immer sehr wohl gefühlt. Es war mein zu Zuhause. Ich verließ mein Zimmer wieder über die Veranda, schloss die Tür und lief Richtung Tiergatter.
Die Hunde zogen bellend an mir vorbei, Gustav voran. Ich musste lächeln. Wie unbeschwert doch deren Leben war. Die Pferde waren draußen im Gatter. Ich legte meinen gesunden Arm aufs Holz und meinen Kopf darauf.
Abbys Pferd kam angetrabt und stoppte kurz vor mir. Neugierig schnupperte es an meinem Ärmel.
„Tut mir Leid, aber ich habe kein Leckerli für dich.“
Als hätte mich das Pferd verstanden, trabte es wieder davon.
„Tom?“
Erschrocken fuhr ich herum. Georg stand vor mir und hob die Hände hoch.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“
Ich musste lächeln.
„Schon gut.“
„Ales klar mit dir?“
Für einen kurzen Augenblick hatte ich die Sache mit Berry vergessen, doch jetzt hatte ich alles wieder vor Augen. Ich drehte mich von Georg weg und starrte wieder auf die Koppel.
„Weißt du Tom, wenn man mit jemand zusammen ist, gibt es nicht immer Höhenflüge und irgendwann verschwindet auch der Blick durch die rosa Brille.“
Es hatte also schon die Runde gemacht, dass ich mich mit Berry gestritten hatte. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
„Meinst du Fred und ich sind immer einer Meinung gewesen. Wir sind jetzt acht Jahre zusammen und seit letzten Sommer verheiratet, aber auch bei uns gab es auch oft dunkle Wolken in unserer Beziehung.“
Ich drehte meinen Kopf und schaute ihn an.
„Was hältst du davon mit mir und Fred Abend zu Essen?“
Ich nickte.
„Dann komm!“
*-*-*
„Ich bin wieder zu Hause!“, rief Georg durch die offene Wohnungstür.
„Bin in Büro“, hörte ich Freds Stimme.
Georg machte eine einladende Bewegung in die Wohnung und ich trat ein.
„Soll ich dir aus der Jacke helfen?“, fragte er.
Etwas verlegen nickte ich.