Freitag 09:00 est
Das Telefon klingelte. Ich wollte oder konnte mich nicht erheben. Der Anrufbeantworter übernahm es, das Gespräch anzunehmen. Nach dem Spruch knackte es. Ich hörte mit, es war Onkel Albert.
„Hallo, seid Ihr schon wach? Hier ist es schon Mittag durch. Alex, es geht um den Armreif. Er ist aus der Paloma-Serie. Deine Tante hätte ihn gerne in Silber. So, viel Spaß noch.“
Ich erreichte den Hörer noch rechtzeitig vor dem Auflegen.
„Ja.“
„Alex, bist du es?“
„Ja.“
„Habe ich euch geweckt.“
„Nein, ich war schon wach.“
„Wie, bist du alleine? Wo ist den Scott?“
„Er…“
Mir stockte der Atem.
„Alexander, was ist los?“
„Scott liegt im Krankenhaus.“
„Im Krankenhaus? Was hat er denn?“
„Er ist überfallen worden.“
„Was?“
„Was genau passiert ist, weiß ich auch noch nicht. Ich weiß nur, er liegt mit einem Stich in den Rücken auf der Intensivstation.“
Ich schluchzte. Ich hörte, wie auch der sonst so ruhige Albert schwer durchatmete. „Kann ich dir helfen?“
„Nein. Ich werde erst mal hier bleiben.“
„Geht klar. Ich kümmere mich hier um alles. Kann ich sonst was für dich tun?“
„Ich glaube nicht. Ich…“
„Bist du mit Lufthansa geflogen?“
Ich schaute irritiert.
„Wieso?“
„Ich werde dann von hier aus den Rückflug stornieren.“
„Mach das. Ich melde mich, sobald ich was Neues weiß.“
„Kopf hoch. Es wird schon.“
Er legte auf. Ich stand noch einige Zeit mit dem Hörer in der Hand und starrte ins Leere.
Das Haustelefon riss mich aus meinen Gedanken. Ich nahm den Hörer in die Hand und lauschte.
„Mister Millhouse for you.“
„It’s ok.“
Ich hängte ein. Keine zwei Minuten später klopfte es an der Tür. Ich öffnete und Sebastian trat ein. Er umarmte mich. Er hängte seinen nassen Trenchcoat an die Garderobe.
„Ah, du hast schon Kaffee gemacht. Darf ich?“
Ich nickte. Während er sich eine Tasse aus dem Küchenschrank holte sah er mich an.
„Du solltest dir was anziehen.“
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nur Shorts anhatte. Ich ging ins Schlafzimmer und fischte aus dem Schrank den Morgenmantel, den ich Scott aus London mal mitgebracht hatte.
Ich zog ihn über und stolperte dabei über meinen Aktenkoffer. Er sprang auf. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben und legte ihn aufs Bett. Mit der Tüte Weingummi kam ich wieder in die Küche.
„Hier.“
Sebastian, der mittlerweile am Küchentisch saß, schaute mich an.
„Danke. Wäre doch nicht nötig gewesen.“
Ich reichte ihm den roten Beutel. Sebastian hatte meinen mittlerweile kalten Kaffee gegen einen dampfenden ausgetauscht. Wir saßen uns gegenüber und schauten uns an.
Seine blauen Augen wirkten trübe, dass Feuer, das sie sonst so auszeichnete, war verloschen. Er nahm meine Hand und drückte sie leicht. Er atmete tief durch, bevor er seinen Kopf nach hinten warf und sich mit der linken Hand durchs Haar fuhr.
„Wie geht’s dir?“
„Ich fühle mich wie gerädert. Deine Tablette hat gar nicht gewirkt.“
„Konnte sie auch nicht, es war nur ein Placebo.“
Ich schaute ihn irritiert an.
„Meinst du, ich gebe dir, nachdem du was getrunken hast, Schmerztabletten?“
„Was ist passiert?“
Er schaute mich tief an.
„Wenn ich das wüsste, wäre mir auch wohler.“
Meine Verwirrung wuchs.
„Ich kann dir auch nur das sagen, was mir Richard erzählt hat. Aber das weißt du ja schon.“
Ich schüttelte mit dem Kopf.
„Ich habe kaum was verstanden.“
„Ach, da gibt es eigentlich nicht viel zu sagen. Die beiden waren bei den Rangers.“ Ich nickte.
„Nach dem Spiel sind sie zur Metro. Sie wollten wohl noch etwas trinken.“
„Woher weißt du?“
„Nun, das ganze ist an der 23sten Straße passiert. Und von da kommt man ins Village.“
„Stimmt. Wenn sie nach Hause gewollt hätten, wären sie zum Times Square gegangen.“
„Du sagst es. Aber sie kamen nicht an.“
Er ließ meine Hand los und erhob sich.
„Noch Kaffee?“
„Nein.“
Er goss sich noch eine Tasse ein.
„Wo sind meine Zigaretten?“
„Hast du immer noch das Laster?“
„Ja.“
„Ich rate meinen Patienten immer damit überhaupt nicht anzufangen.“
„Du bist Kinderarzt. Und als ich so alt war wie deine Patienten, habe ich auch nicht geraucht. Aber wie sieht es dann mit dem aus?“
Ich deutete auf den Beutel Weingummi, der vor ihm lag. Ich ging ins Schlafzimmer. Im Aktenkoffer lag ja die Stange, die ich in Frankfurt käuflich erworben hatte.
„Das ist Nervennahrung, reine Nervennahrung.“
Ich zündete mir eine an und zog den Rauch tief ein.
„Immer noch der Alte. Erst nach einer Zigarette kann man mit dir was anfangen.“ Zum ersten Mal an diesem Morgen umspielte ein Lächeln seinen Mund. Wir kannten uns jetzt elf Jahre, wenn auch mit einer Unterbrechung von mehr als der Hälfte.
Ich setzte mich wieder an den Küchentisch.
„Aber kannst du mir eine Frage beantworten?“
„Welche?“
„Wieso ging Scott ausgerechnet mit Richard zum Eishockey?“
Sebastian schaute mich fragend an. Ihn schien die Frage überrascht zu haben, denn er hatte keine Antwort parat.
„Richard mag doch kein Eishockey? Oder hat sich das geändert?“ Sebastian zog die Augenbrauen hoch.
„Nein, aber sie waren in letzter Zeit öfter gemeinsam aus.“
Diesmal war ich erstaunt.
„Sebastian, was geht hier ab? Gut, die beiden sind zwar verwandt, aber sag doch mal ehrlich, recht nahe haben sie sich nie gestanden, auch wenn sie gemeinsam die Schulbank gedrückt haben.“
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß auch nicht. Aber vielleicht hat Richard seinen Familiensinn entdeckt.“
Er trank den letzten Rest seines Kaffees.
„Wir sollten los.“
„OK. Ich mache mich fertig.“
Ich verschwand wieder im Schlafzimmer und zog mich an.
Richard war immer schon etwas komisch gewesen. Ich kann auch nicht sagen, warum, aber eine richtige Freundschaft zwischen uns ist in den letzten Jahren nicht entstanden.
Er war mir gegenüber immer reserviert. Vielleicht war es meine europäische Art, die ich nicht ablegen konnte oder wollte, die ihn störte. Ich habe ihn in der ganzen Zeit, in der wir uns kannten, nicht einmal richtig lachen oder weinen gesehen. Aber so war er halt.
Intermezzo
Wir kamen gegen kurz nach fünf aus der Oper. Sebastian, sein Freund Richard und ich. Es war der dritte Oktober gewesen. Wir hatten uns, wohl aus einer patriotischen Anwandlung heraus, für die Wagner Matinee entschieden.
Die Aufführung Lohengrins an der Met war zwar hervorragend und die Solisten konnten in ihren Rollen überzeugen, jedoch ließ der Chor wie so oft zu wünschen übrig.
Sebastian, der mir in den letzten Tagen die Stadt und besonders das Nachtleben gezeigt hatte, war heute etwas ruhiger. Ich wunderte mich zwar, sagte aber nichts.
Vielleicht war es die Anstrengung, denn neben seiner normalen Arbeit kam ja meine Betreuung für ihn hinzu. Aber das konnte eigentlich nicht die tiefen Ringe, die sich unter seinen Augen gebildet hatten, erklären.
Wir gingen den Broadway entlang in Richtung Central Park. Richard stoppte an einem der unzähligen Hot Dog Stände. Während er nach einem Imbiss anstand, nahm ich Sebastian beiseite.
„Was ist mit dir los?“
„Nichts.“
„Das kannst du mir nicht erzählen. Was ist los, Herr Doktor.“
Er schaute mich an.
„Es ist Richard.“
„Was ist mit ihm? Habt ihr Streit?“
„Ach, eigentlich ist es nichts.“
Ich hob die Augenbrauen.
„Und uneigentlich? Was ist los? Ist er sauer, dass du für mich den Fremdenführer spielst?“
„So ungefähr.“
Gut, Sebastian hatte zwar innerhalb der letzten zweiundsiebzig Stunden mehr Zeit mit mir als mit seinem Freund verbracht, aber wir waren meistens zu dritt unterwegs. „Er ist eifersüchtig.“
„Auf wen? Doch nicht etwa auf mich?“
„Doch. Auch wenn er es nie zugeben würde, aber er weiß, dass wir mal…“
„Das ist doch schon Ewigkeiten her.“ Er lächelte mich an.
„Aber es war eine schöne Zeit!“
„Und eine sehr turbulente dazu!“
Wir grinsten beide.
Richard, der immer noch wartete, blickte uns scharf an.
„Und da ist die andere Sache!“
„Welche?“
„Das wir Deutsch miteinander sprechen.“
„In was sollten wir uns denn sonst verständigen?“
„Na, Richard spricht kein Wort Deutsch. Und er meint, wir würden über ihn reden, wenn wir uns unterhalten.“
Sebastian sah seinen Freund liebevoll an.
„Ach.“
„Er meint, ich würde hinter seinem Rücken…“
„Um Gottes Willen! Wir sind alte Freunde, und was ist denn dabei, wenn die Geheimnisse und Probleme austauschen?“
„Du bist hier in den Staaten und nicht in Europa. Es ist halt was vollkommen anderes hier. Da geht man lieber zum Psychiater, als sich mit einem guten Freund auszusprechen.“
Ich schüttelte den Kopf, so etwas konnte es nur hier geben.
Richard hatte uns erreicht und biss genüsslich in das trocken aussehende Brötchen. Sebastian leckte sich über Lippen.
„Wenn ich das sehe, kriege ich Hunger.“
Ich nickte. Richard schaute uns fragend an.
„Let’s go out for Dinner.“
Sebastian hakte mich unter und wir setzten unseren Weg fort.
„Was machen wir heute Abend?“
Sebastian schaute erst mich und dann Richard an. Wir saßen bei einem kleinen Italiener in Soho und hatten jeder eine Pizza vor uns, die mich an alles, aber nicht an Italien und den Ursprung dieses belegten Brotes erinnerte.
Richard wischte sich den Mund ab.
„What about Townhouse?“
Ich schaute etwas irritiert. Ich hatte zwar schon etwas von diesem Club gehört, aber wir hatten ihn bisher auf unseren Exkursionen durch die Weltmetropole ausgelassen. Ich zuckte mit den Schultern.
„No problem. Is there a dress code?“
„It seems so. Suits and fine clothing welcome.“
Ich grinste, ich brauchte mich folglich nicht mehr umziehen.
Das Essen verlief relativ schweigend. Es wurde jedoch durch ein nervtötendes Pfeifen unterbrochen. Sebastian holte seinen Pieper raus und entschuldigte sich, er müsste einmal telefonieren.
Es dauerte keine fünf Minuten, da kam er wieder und verabschiedete sich. „Ich muss noch einmal ins Krankenhaus. Bei einem meiner kleinen Patienten gibt es Komplikationen.“
„Dann viel Spaß beim Arbeiten.“
Er übersetzte es noch einmal für Richard, der auch aufstand und in Richtung Garderobe ging, um die Mäntel zu holen. Ich blickte Sebastian von unten an.
„Alex, wir treffen uns dann um zehn vor dem Townhouse. Weißt du, wie du da hinkommst?“
„Dürfte kein Problem werden. Nötigenfalls kann ich ja fragen.“
Die beiden verließen das Lokal und ich aß schweigend den Rest der Mafiatorte. Die Kellnerin, die uns bedient hatte, wunderte sich, wieso ich denn da plötzlich alleine saß, so sah sie jedenfalls aus, gab mir die Rechnung.
Ich zahlte und verließ das Restaurant ohne den sonst üblichen Espresso.
Ich hatte also knapp drei Stunden, bis ich mich wieder auf den Weg machen musste, um die beiden in diesem Club zu treffen. Ich sog die frische Oktoberluft tief ein und lenkte meine Schritte in Richtung Hotel.
Erst einmal ein paar Runden Schwimmen und dann eine halbe Stunde in die Sauna, dann würde ich wieder frisch für den Abend sein, dachte ich so bei mir, als mich eine Hand streifte.
Ich schaute auf meinen Nebenmann, der ein Paket unter seinem rechten Arm trug und die Berührung wohl nicht registriert hatte. Er mochte so knappe zwanzig sein, schätze ich ihn ein.
Wir gingen schweigend zehn, zwölf Blocks den Broadway entlang in Richtung Central Park, bis wir an einer Ampel stehen blieben und uns zum ersten Mal richtig anschauten.
Nettes Gesicht, auch wenn die Nase etwas unvorteilhaft gebogen war.
„How are you doing?“
„Fine, thanks. And you?“
„Me too. What are you going to do?“
Ich schaute ihn fragend an.
„I am going to my hotel to have a rest and to prepare for the night.“
Er blickte auf seine Uhr, nickte zufrieden.
„OK. Let’s move.“
Dass ich nicht mehr in die Sauna ging und die anschließende Dusche nur in einer Art Katzenwäsche bestand, erwähne ich nur am Rande. Es war kurz nach zehn, als ich endlich am Townhouse ankam und die beiden auf der Straße stehen sah.
Sie waren nicht alleine, in ihrer Mitte stand eine bis dahin mir unbekannte Person. Ich konnte nur blonde Haare erkennen, die unter einer Schiebermütze hervorlugten. Richard stellte ihn mir vor.
„That’s my cousin Scott. Scott, that’s Alexander, a friend of Sebastian.“
Wir reichten uns die Hände, ein ziemlich kräftiger Händedruck. Er lächelte mich an und ich konnte nicht anders, ich blinzelte zurück. Sebastian räusperte sich.
„Ihr könnt ja drinnen weiter Händchen halten, mir wird langsam kalt.“
Erst da bemerkte ich, dass meine Hand immer noch in der seinen ruhte.
„Oh.“
Wir unterbrachen den Austausch menschlicher Wärme und wandten uns dem Eingang zu. Kaum auf der Hälfte der Treppe angekommen, wurde oben die Tür aufgemacht und ein freundlicher Portier ließ uns hinein.
Wir legten die Mäntel ab und da sah ich Scott in voller Pracht.
Freitag, 10:00 est
Wir waren mittlerweile wieder im Krankenhaus. Das Zimmer machte zwar durch das durch die halbgeschlossene Jalousie eindringende Tageslicht zwar einen freundlicheren Eindruck als in der Nacht zuvor, aber alle auch noch so heiteren Gedanken wurden, wie von einem Orkan, weggeblasen bei dem Anblick des Mannes, der da im Bett lag.
Irgendwie hatte es Sebastian geschafft, mir einen Stuhl zu organisieren, und irgendwie hat er es geschafft, mich an dem Drachen von Empfangsschwester vorbei zu lotsen. Ich wäre ja kein Angehöriger und dürfte daher nicht. Formalkram, der mich ankotzte.
Stühle auf Intensivstationen sind ungewöhnlich, auf Sterbezimmern findet man sie häufiger. Ich saß an der rechten Seite des Bettes, und versuchte, Scotts Hand zu halten, was aber durch die ganzen Schläuche, die da an seinem Handgelenk steckten, eher schwierig war. Ich hörte, wie von Ferne, Sebastians Stimme, wie er sich mit dem Diensthabenden Arzt unterhielt. Mir war es egal, mochten die Weißkittel doch denken, was sie wollten. Scott war der Mann meines Lebens, und ich hatte Angst, um ihn, um uns und um mich.
„Was murmelst du da, Alex?“
Ich starrte verstört auf und blickte in Sebastians Augen.
„Nichts. Entschuldige!“
„Wir sollten jetzt besser gehen und heute Nachmittag wieder kommen.“
„Nein!“
„Doch. Es ist besser für Scott und vor allem, besser für dich, mein Alter! Es nützt nichts, wenn du jetzt auch noch schlapp machst. Du musst jetzt stark sein für euch beide!“
Er drückte mich an der Schulter und ich erhob mich, mehr oder minder unfreiwillig. Nur schweren Herzens verließ ich meine Saftschubse. Naja, er nannte mich manchmal Winkeladvokat.
Wir gingen langsam Richtung Empfangsbereich. Der Arzt, mit dem sich Sebastian unterhalten hat, stand am Tresen.
„Sorry, to disturb you, Sir. But for our records: In which relation are you and Mr. McWilliams?”
Ich schaute irritiert, erst auf den Arzt, dann auf Sebastian und dann wieder auf den Arzt. Was sollte diese Frage? War die Szene vorhin am Krankenbett nicht Erklärung genug, musste jetzt auch noch dieser Formalkram sein?
„I am his friend.“
„Sorry, Sir, but friends are not allowed. You see …”
Ich war verwirrt. Meine Augen blickten starr auf den Arzt.
„Sir, friend not in the sense of going to school together, we are lovers, but we are more, much more.”
Der Arzt blickte mich fragend an. Ich las sein Namensschild: Samuel Rubenstein, MD. Vermutlich Jude.
„Do you know the Song of Solomon?“
Er nickte.
„Many waters cannot quench love, neither can the floods drown it!”
Er blickte diesmal etwas verwirrt, aber seine Antwort war klar.
„If a man would give all the substance of his house for love, it would utterly be contemned.”
Er hatte verstanden.
„But our records?“
„Sir, he is my intended.“
„That is not possible!“
Ich schaute ihn eindringlich an.
„Not in the U.S., but you see I am German and in Germany it is possible. So …”
Der Arzt blickte zwar noch verwirrt, aber ein Lächeln umspielte seine Lippen.
„Mr. van Aart, I draw you in as a family member. If you have the marital status over him or if you are like a stranger, it is not my problem. That’s a thing for our attorneys, not mine!”
Ich drückte ihm die Hand und verließ die Intensivstation, gefolgt von Sebastian.
Wir standen vor dem Aufzug.
„Was war den das gerade?“
„Nun, ich hab mich gerade verlobt und somit die Personensorge für Scott übernommen. Mehr nicht!“
„Bitte? Das war doch gerade was aus der Bibel. Die Lieder Salomons hab ich ja noch verstanden, aber …“
„Nun, ich hab gerade das Hohelied der Liebe zitiert, genauer gesagt das achte Kapitel; Vers sieben: ‚Kein Wasser kann die Glut der Liebe löschen, und keine Sturzflut schwemmt sie je hinweg.’
Und der Doktor antwortete mit den folgenden Zeilen: ‚Wer meint, er könne solche Liebe kaufen, der ist ein Narr, er hat sie nie gekannt!’“
Die Aufzugtür öffnete sich und wir betraten das stählerne Gefährt.
„Aber die Verlobung!“
„Wieso? Was ist damit?“
„Seit wann?“
„Noch gar nicht, aber ehrlich gesagt, ich habe keine Lust mehr, mich vor jeder kleinen Krankenschwester erklären zu müssen, wie ich zu Scott stehe. Und wenn nach amerikanischem Recht nicht zwei Männer nicht heiraten können, aber nach deutschem Gesetz kann man zumindest die Lebenspartnerschaft eingehen, und das will ich jetzt!“
Sebastian schaute mich schweigend an.
„Was willst du jetzt machen?“
„Nun, ich rufe Gordon an. Der ist ja hier am Generalkonsulat, in der Konsularabteilung. Der soll mir sagen, was nötig ist. Nötigenfalls mache ich eine Trauung oder was auch immer hier am Krankenbett! Ich hab da keine Probleme!“
„Alex!“
„Ja?“
„Du bist fast wieder der Alte! Das freut mich!“
Wir waren mittlerweile auf dem Vorhof angelangt, es herrschte emsiges Treiben.
„Nehmen wir ein Taxi?“
„Nein, Herr Doktor, wir laufen. Da kann ich wenigstens eine rauchen!“
Ich griff nach meinen Zigaretten und steckte mir eine an. Wenigstens das durfte man hier noch.
Wir gingen einige Meter, ich genoss den Geschmack, der sich da gerade in meinem Mund ausbreitete. Wir verließen die so genannte Stuyvesant-Town, deren Abschluss oder Eingang der Komplex des Bellevue-Hospitals bildete, je nachdem, aus welcher Richtung man kam.
An Architektur hatte ich im Moment eh kaum Interesse, denn mit dem Namen Petrus (oder Peter) Stuyvesant verbindet sich nicht nur der Name einer Zigarettenmarke, sondern auch der eines Stadtteils in New York, eher unbekannt und von weniger kulturellem oder touristischem Interesse.
Na ja, die Holländer haben ja auch hier nur ein paar Jahre hier geherrscht. Aber diesem holzbeinigen Stuyvesant verdankt die Nachwelt nicht nur das erste Rathaus, die erste Schule und das erste Gefängnis auf dem Stadtgebiet, auch ließ er, zum Schutze gegen die bösen Indianer noch einen Wall aufschütten. Das Gebiet heißt heute Wall Street.
Wir gingen auf die Erste Avenue zu.
„Nehmen wir die Metro?“
„Nein, Sebastian, lass uns lieber laufen. Ich brauche etwas Bewegung und die Luft tut mit gut.“
„Und du kannst rauchen!“
„Stimmt!“
Ich griff in meine Innentasche und zündete mir einen neuen Glimmstengel an.
Auf halber Strecke, kurz vor den Vereinten Nationen, packte mich mein alter Freund an der Schulter.
„Du solltest was essen!“
„Hab keinen Hunger!“
„Egal, du brauchst was in den Magen, auch wenn du es hinterher wieder wegbringst. Aber essen musst du!“
„Ja, Herr Doktor!“
Wir steuerten auf das nächste Restaurant, was am Weg lag. Es war eine Frittenschmiede, wie wir im Ruhrgebiet sagen würden.
„Was möchtest du?“
„Mir egal!“
„OK, dann bestimme ich das Menu.“
Er ließ mich auf den roten Plastiksitzen sitzen und steuerte Richtung Tresen, um seine, besser unsere Bestellung aufzugeben.
Ich saß auf dem Plastikleder und starrte gedankenverloren vor mich hin. Intermezzo
Ich hatte nur noch Augen für Scott. Es mag zwar unhöflich sein, aber ich war hin und weg, wie man so schön sagt. Wir betraten den großen Hauptraum des Lokals, deren eine Ecke eine Bar und in deren gegenüberliegendem Winkel ein Flügel stand. Wir machten es uns an einem kleinen Tisch gemütlich.
Das Townhouse ist eigentlich ein dreigliedriger Gastronomiebetrieb auf der 58.sten Straße Ost der etwas gehobeneren Art. Diese Preise sind etwas höher, als in den Szeneläden im berühmt-berüchtigten Village.
Neben einem vorzüglichen Restaurant im Nebenhaus sind Club und Bar ziemlich nobel eingerichtet. Vielleicht lag es daran, dass man hier nicht auf modische Szenehuschen sondern eher auf Anzug- und Krawattenträger traf.
Den Hauptraum betritt man durch eine kleinere, im Landhausstil eingerichtete Bar. Die Wände sind über drei Meter hoch. Oberhalb der Teakholzverkleidung war der Raum von Beigetönen geprägt, ab und an durch dunkelrote Brokatbahnen unterbrochen, und man fand Ölgemälde in der Art des späten William Turner.
Hätte man die Szene mit der Kamera eingefangen und die Musik, obwohl vom Flügel kommend, ausgeblendet, so hätte man sich in einen Londoner Club der ausgehenden 19. Jahrhunderts versetzt gefühlt. Es wirkte alles in allem eher edel und nicht plüschig.
Scott und ich saßen bequem auf zwei mit grünem Samt bezogenen Sesseln, Sebastian und sein Richard mussten mit Hockern Vorlieb nehmen. Es war ein Bild für die Götter. Zwei Lords auf behaglichen Sitzgelegenheiten, die Bediensteten zu ihren Füßen. Als Scott seine rechte Hand auf meinen linken Unterarm legte, vergaß ich alles.
Wir scherzten eine Weile, aber über was da geredet wurde, vermag ich nicht mehr zu sagen. Ich war einfach nur elektrisiert, von Scott, seiner Hand, der Atmosphäre, wie auch immer. Richard brachte noch die zweite Runde Wein.
Ich glaube, es war ein Pinot Grigio, aber ich werde keinen Eid darauf schwören. Ich hatte nur Augen für mein Gegenüber, dessen Grübchen ich unwiderstehlich fand und es heute auch noch tue.
Ich konnte der Konversation nicht mehr folgen, meine Gedanken kreisten nur noch um den blonden Engel, der mir gegenüber saß, und dessen Hand wie natürlich auf meinem Unterarm ruhte. Plötzlich ein Räuspern.
„Äh, Alex, entschuldige bitte!“
„Ja!“
„Äh, ich will dich ja nicht stören, aber Richard und ich wollen tanzen!“
„Tanzen?“
„Ja, die haben hier eine Disco. Zwar kleinerer Art und nicht so groß wie die, wo wir gestern waren, aber man kann hier auch nach moderner Musik tanzen.“
Er grinste, denn am Vortag waren wir in einer zur Disco mutierten Kirche gewesen. „Du entschuldigst uns, wenn wir euch jetzt alleine lassen?“
„Natürlich!“
„Mensch, Alex, du würdest jetzt alles entschuldigen. Du bist irgendwie …“
„Was bin ich?“
„Entrückt!“
„Von mir aus. Ihr geht also tanzen?“
„Ja, werden wir.“
Er kniff mir ein Auge zu.
„Also, falls wir uns nicht mehr sehen sollten, falls ihr noch was anderes vorhabt, …“ Er schmunzelte.
„Wir treffen uns morgen um drei zum Kaffee bei uns.“
„Ja, klar!“
Ich blickte auf Scott.
„Kannst ihn ruhig mitbringen, dann machen wir in Familie!“
Ich starrte ihn an. Da fiel mir ein, dass mein Engel ja der Cousin von Richard war. „Äh, ja. Ich bin auf alle Fälle morgen um drei bei euch. Dürfte ich denn …“
„Darfst du ruhig.“
Beide standen auf und verließen uns.
Scott schaute mich fragend an. Ich klärte ihn über die letzten Worte von Sebastian auf. Mein Flugbegleiter, als solcher hatte er sich vorgestellt, lächelte. Wir hatten uns zwar zwei Stunden miteinander unterhalten, aber mehr mit den Augen als mit der Zunge gesprochen.
Viel von dem vorhergehenden Gespräch mit Sebastian und Richard hatten wir beide wohl nicht mitbekommen.
Er beugte sich plötzlich zu mir hinüber: „Shall we go?“
„As you want!“
Er erhob sich und ich folgte ihm.
Wir gingen in Richtung Ausgang. An der Garderobe angekommen, reichten wir unsere Marken an das Gegenüber, einem italienisch wirkendem Jüngling in unserem Alter, die man uns beim Eingang gereicht hatte.
Ich dankte Gott oder wem auch immer, dass weder Sebastian noch Richard meinen Abschnitt eingesteckt hatte. Scott war inzwischen in seien Mantel geschlüpft, als mir das fast schwarzhaarige Etwas einen braunen Mantel brachte.
Ich schüttelte meinen Kopf.
„That’s not mine, I am afraid!“
Der Italo-Amerikaner stutze, schaute nochmals auf Bon und Gegenstück.
“Sorry, one moment!”
Er hing den Mantel wieder auf die Stange und gab mir mein, in Prag erworbenes, Kleidungsstück. Es war zwar keine Maßanfertigung, aber für mich, damals Referendar, ein exklusives Stück wärmenden Stoffes.
Ja gut, ich gebe es ja zu, ob es tatsächlich aus den türkischen Produktionsstätten des Bekleidungsherstellers aus Metzingen stammte, war aufgrund des Preises wohl eher unwahrscheinlich, aber immerhin, es prangte sein Label auf der Innenseite.
Es war mittlerweile zwei Uhr durch. Wo die letzten Stunden geblieben waren, wusste ich nicht, es kam mir vor wie ein Wimpernschlag. Wohl aber aufgrund der Kälte, die da draußen herrschte, kam der Praktiker in mir durch.
Das wir was unternehmen wollten war klar, jetzt galt es die Frage der Örtlichkeit unserer Zweisamkeit zu klären. Der erste Teil war ziemlich schnell abgehandelt. Wir entschieden uns für seine Wohnung und gegen mein Hotelzimmer.
Ich hatte ja eh nur Übernachtung gebucht und die Aussicht, mal nicht in einem der vielen Coffee-Shops seinen morgendlichen Kaffee trinken zu müssen, war auch nicht von der Hand zu weisen. Allerdings waren wir die Frage, wie wir die Strecke zurücklegen wollten, noch ungeklärt.
Mir fröstelte etwas, also war an die Fortbewegung per Pedes nicht zu denken, zumal jetzt auch noch ein leichter Wind einsetzte. Ebenso schied die Metro aus, denn der Weg zur nächsten Station, es wäre die bei Bloomingdales gewesen und dann der Weg von Grand Central zu Scotts Wohnung in der 44.sten, wären genauso lang gewesen, wie der direkte Fußweg. Scott winkte daher einen der vielen tausend gelben Wagen, sprich ein Taxi, heran.
Wir machten es uns auf der Rückbank bequem, während der wohl aus dem tiefsten Indien stammende Fahrer nach links auf die Zweite Avenue abbog. Scotts Hand ruhte in meiner.
Plötzlich, in Höhe der 50.sten Straße, ließ er sie los.
„Stop!“
Der beturbante Fahrer stieg abrupt auf die Bremse und murmelte so etwas wie „Damned faggots!“
Er war anscheinend genauso erstaunt ob des Ausrufs wie meine Wenigkeit.
Ich schaute Scott verwundert an.
„What’s up?“
„There’s an ATM.“
Ich verstand im ersten Moment nur Bahnhof, allerdings lichtete sich der Nebel ziemlich schnell, als ich das Schild sah, auf das Scott deutete. Ein Bankomat.
Mittlerweile ist mir der Begriff automated teller machine, oder einfach kurz ATM, auch in Fleisch und Blut übergegangen, aber was wollte mein neuer Freund mitten n der Nacht mit Bargeld, denn ansonsten machte der Stopp ja keinen Sinn?
Er liefert auch prompt die Antwort.
„I don’t have enough cash to pay the driver, Alex.“
Eine erneute Gehirntrübung setzte ein.
„But I can pay!“
Diesmal schaute er mich verwundert an.
„You?“
„Yeah, me!“
„No, that’s not possible! I asked you to come with me and not the other way round!“ Verstehe einer diese Amerikaner, mir war das zu hoch.
„Sorry, honey, but we are going to have some fun tonight, aren’t we?“
Er nickte.
„So, I can pay the cab!“
Wieder so ein Blick, der dem ungläubigen Thomas hätte Konkurrenz machen können.
„Darling, I am dreadfully European. And as an inhabitant of the old continent I tell you this: there is no logical reason for me not to pay this muleteer.”
Der Inder drehte sich um, denn er hatte unseren Streit bisher schweigend verfolgt. Ich blickte ihn finster an.
„What’s up? Go on, we want to do something different or should we do it here?”
Der Taxifahrer schüttelte leicht angewidert den Kopf und setzte, irgendwelche fremdländischen Bösartigkeiten murmelnd, die Fahrt fort.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass wir beiden, Scott und ich, in unseren Konventionen gefangen waren. Der blonde Hüne klärte mich später auf, dass es da, wo er herkam, also dem berühmt-berüchtigten Bibelgürtel der Vereinigten Staaten, durchaus üblich ist, dass derjenige, der einlädt, auch den ganzen Abend für den Eingeladenen die Zeche übernimmt.
Daher sollte man vorsichtig sein, wie man eine Einladung an seine Herzdame respektive Herzbuben anspricht, wenn man hinterher unangenehme Überraschungen in der Brieftasche vermeiden will.
Endlich in der 44.sten Straße angekommen erlebte ich die nächste Überraschung. Anstatt eines Hausschlüssels, den jeder Mitteleuropäer erwartet hätte, zückte Scott seinen Hausausweis. Der Doorman nickte nur und wünschte uns noch einen angenehmen Rest der Nacht.
Man darf sich nicht wundern, aber in dem Gebäude lebten viele Diplomaten der um die Ecke liegenden Vereinten Nationen und das ganze Gebäude wurde 24 Stunden am Tag Video überwacht.
Das hatte zwar den Vorteil, dass es kaum Einbrüche und Wandschmierereien gab, aber es kostete auch ein gewisses Maß an Privatsphäre. Den Wohnungsschlüssel brauchte man allerdings dann doch noch. Die Technik ging damals noch nicht soweit, dass man die Tür mittels Karte öffnen konnte.
In der Enge des anderthalb Quadratmeter großen Fahrstuhls fielen die ersten Hemmungen. Scott und ich küssten uns zum ersten Mal. Den Begrüßungskuss, denn wir vor mehr vier Stunden ausgetauscht hatte, zähle ich jetzt mal nicht.
Seine Lippen öffneten sich und gewährten meiner Zunge Einlass. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass sein Mund zum Staubsauger mutierte und meine Zunge quasi einsaugte. Mir wurde heiß in meinem Mantel.
Wir taumelten fast aus dem holzvertäfelten Lift. Scott hatte seinen Mantel unbemerkt geöffnet und hantierte hektisch in seiner Hosentasche. Wie ein Teenager, der zum ersten Mal angetrunken und zu spät nach Hause kommt, hantierte er nervös mit seinem Schlüsselbund. Erst beim vierten Versuch schaffte er es, den Bart im Loch zu versenken.
Aus einer Tür auf der linken Seite drang Licht. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, fielen auch unsere Mäntel und eine Kussorgie erster Kajüte begann. Wir taumelten mehr oder minder, immer noch eng umschlungen, ins Wohnzimmer.
An meinem Hemd fehlten am nächsten Morgen zwei Knöpfe. Irgendwie schafften wir es aber dennoch, einigermaßen bekleidet vor dem Kamin, der keine Attrappe war, unsere Münder voneinander zu lassen.
„Sorry, but I couldn’t stand it any longer!“
„No prob, Scott!”
Er schaute mich gefühlvoll an.
„Something to drink? I’ll take a Wodga and you?”
Ich spitzte meine Lippen und blickte ihn schelmisch an.
„I’ll take you!“
Ich ging auf ihn zu und der Orgie zweiter Teil nahm seinen Lauf. Allerdings konnte man der Lage der Kleidungsstücke am nächsten Morgen entnehmen, dass wir nicht wie Tiere noch im Wohnzimmer übereinander hergefallen sind. Meinen Slip entdeckte ich beim Erwachen auf dem Deckenventilator über dem Bett im Schlafzimmer.
Freitag, 12:30 est
Der Cheeseburger und die French Fries lagen mir etwas schwer im Magen, die Sebastian für uns geordert hatte. Ich weiß nicht, ob ich mit Appetit gegessen hatte oder einfach nur, weil der Burger gerade auf dem Tisch vor mir stand.
Mittlerweile hatten wir das Lokal, den ekelhaften obligatorischen Kaffee, der dazu serviert wurde, und die roten Plastiksitze hinter uns gelassen und waren auf dem Weg in Richtung Hauptquartier UN. An der Ecke First und 42.ste Straße nahm mich Sebastian in den Arm.
„Entschuldige, aber ich muss nach Brooklyn. Meine Patienten verlangen nach mir.“ „Kein Problem. Ich komm schon alleine klar.“
„Was willst du machen?“
„Telefonieren, vielleicht lege ich mich auch noch etwas hin, und heute Nachmittag den gleichen Gang noch mal.“
„Du willst wieder hin?“
„Wozu bin ich sonst da?“
„Soll Richard mitkommen? Ich kann ja nicht, ich hab Dienst.“
„Nein, ich bin ja schon groß und meinen Doktortitel hab ich auch schon. Falls es Probleme geben sollte, melde ich mich.“
„Aber dann sehen wir uns heute Abend?“
„Klar, hatten wir ja so abgemacht.“
„Das hast du mitgekriegt?“
„Sebi, auch wenn ich beim Essen etwas geistesabwesend wirkte, aber das ihr Babysitter spielen wollt, habe ich verstanden!“ Er grinste.
„Okidoki, dann sehen wir uns um neun.“
Wir küssten uns zum Abschied und ich sah ihm nach, wie er in Richtung Grand Central verschwand.
Ich bog gerade um die heimische Ecke und starrte gedankenverloren in die Auslagen unseres Chinesen, als Hong aus seinem Laden kam. Obschon ich nicht täglich bei ihm einkaufte, erkannte er mich.
„I heard what happened. This bastard …“
Ich blickte ihn mitleidsvoll an. Er umfasste meinen Arm.
„If you need anything, tell me and I will deliver it.“
Wie zur Bestätigung verstärkte er den Druck seiner Hand. Ich dankte ihm mit einem Blick und machte mich auf die letzten paar Meter.
In der Wohnung genehmigte ich mir erst einmal Cognac. Ich musste den Geschmack des Burgers, des Kaffees und des Krankenhauses aus dem Mund kriegen. Nach dem zweiten Glas klappte es auch schließlich, allerdings blieb mir der Geruch des Krankenhauses in der Nase hängen.
Ich wählte die Ouvertüre 1812 von Tschaikowsky, die irgendwie meiner Stimmung entsprach, ehe ich im Schlafzimmer meinen Aktenkoffer öffnete und mich mit meinem Terminplaner über das Telefon hermachte.
Mein erster Anruf galt Gordon. Ihn hatte ich auf einem meiner viele Flüge kennen gelernt. Er arbeitete in der Konsularabteilung des deutschen Generalkonsulats in New York, das im German House in Manhattan an der First Avenue und der 49. Strasse zu finden ist.
Der Eingang für die Besucher des Konsularreferats ist an der 49. Strasse, der Haupteingang jedoch an der First Avenue, allerdings nur für Besucher mit Termin.
Wir hatten uns ein paar Mal getroffen, entweder alleine oder zusammen mit Scott. Wir mochten uns, auch wenn Gordon, wie er immer pausenlos betonte, rein hetero-sexuell veranlagt sei.
Ich wählte seine Nummer im Büro und hoffte, ihn noch im Dienst zu erreichen. Die Arbeitszeiten des Diplomatischen Dienstes sind noch differenzierter als die des normalen öffentlichen Dienstes.
Aber, Gott sei Dank, ich musste ja nicht über die Zentrale des Generalkonsulats gehen, das dürfte um diese Uhrzeit bereits etwas schwieriger sein, da der Publikumsverkehr Wochentags spätestens um zwölf zu Ende war. Ich wählte die entsprechende Durchwahl.
„Levsen!“
„Gordon, Alex hier!“
„Alexander! Was macht mein Lieblings-Homo? Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?“
„Äh, ist was Dienstliches, meine Lieblings-Hete.“
Ich erklärte ihm, so kurz wie möglich, die Sachlage.
„So, und nun die Frage aller Fragen, mein Lieber. Kann ich als Deutscher mit einem US-Amerikaner die eingetragene Partnerschaft hier in den Staaten eingehen?“
„Du kannst Fragen fragen. Ich kenn ja noch nicht einmal das entsprechende Gesetz, so was kam bei uns bisher auch nicht vor. Aber ich werde mich kundig machen. Bis wann brauchst du meine Antwort?“
„Am besten bis gestern!“
„Dachte ich mir schon. Immer diese Juristen!“
„Danke!“
„Nu sei mal nicht so eingeschnappt. Ich werde ja Überstunden machen. Können wir uns morgen sehen? Ich hab da nämlich auch noch eine Frage, aber das klären wir später. Grüß auf jeden Fall Scott von mir, wenn du gleich wieder zu ihm gehst, ja?“ „Werde ich, aber erwarte bitte keine Antwort von ihm. Er liegt ja immer noch im Koma!“
„Kein Problem, aber ausrichten kannst du es ja?“
„Werde ich. Bis morgen dann. Meine Nummer hier hast du ja auch!“
„Habe ich. Bis morgen dann. Und Alex, …“
„Ja?“
„Kopf hoch!“
„Danke!“
Ich legte auf und lauschte etwas der lauter werdenden Musik. Es ging so langsam auf das Finale zu.
Der nächste Anruf galt Albert. Der geneigte Leser wird sich – spätestens hier und jetzt – wundern, weshalb ich bis jetzt nicht meine Eltern oder mir sonst nahe stehenden Personen angerufen habe.
Es liegt einzig und allein an der Tatsache, dass es mir an solchen Personen mangelt. Meine Eltern haben sich zwar mit mir und meiner Schwester ziemlich viel Mühe gegeben, aber beide weilten nicht mehr auf dieser Welt.
Sie sind vor knapp vier Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als sie in Thailand ihre zweiten Flitterwochen verbringen wollten. Die Reise zur Feier des 30. Hochzeitstages endete in einer Blechkiste
Meine zwei Jahre jüngere Schwester konnte den Verlust wohl nicht überwinden und flüchtete sich in eine Welt voll Drogen und anderer Stimulanzien. Sie starb knapp ein Jahr später an einer Überdosis
Von der Generation der Großeltern sind nur noch zwei übrig. Meine liebe Oma Maria, deren Vormundschaft ich im letzten August übernommen habe und die an fortschreitendem Alzheimer leidet und mich meistens für ihren Sohn hält und Opa Ferdinand, der seinem Hund lieber ein Filetsteak zum Fraß vorwirft als einen Euro in den Klingelbeutel schmeißt. Das er mit meiner Lebensweise nicht klar kommt, dürfte verständlich sein.
Von den drei Brüdern meiner Mutter leben zwei in Australien, der andere sitzt wegen Mordes an seiner Gattin lebenslänglich im Knast in Brasilien. Papas einzige Schwester ist Nonne geworden und irgendwo im tiefsten Afrika als Geburtshelferin tätig.
Also, wen sollte ich – jetzt aus familiärer Sicht anrufen?
Ich war gerade auf dem Weg ins Bad als das Telefon klingelte, es war Erdmute. Sie hatte ich total vergessen. Sie war bestürzt und erschüttert über das, was ich da von meinem Flugbegleiter erzählte.
Es waren wohl ihre mütterlichen Instinkte oder die Erfahrungen mit ihrem an Krebs gestorbenen Ehemann, ich weiß es nicht, jedenfalls meinte sie nur: „Du kannst sowieso nicht viel machen im Moment, du kannst nur abwarten und auf Gott vertrauen. Aber eines weiß ich!“
„Was?“
„Du brauchst Abwechslung. Also, keine Widerrede: Ich schick dir morgen um drei den Wagen, wir trinken einen Tee und fahren dann gemeinsam zur Hochzeit. Du bist schließlich mein Tischherr!“
Ich wollte zwar nicht, aber sagte schlussendlich doch zu, wahrscheinlich hatte sie Recht. Intermezzo
Ich wachte so gegen zehn Uhr auf. Ich blinzelte, denn die Umgebung war mir fremd. Langsam kamen jedoch die Erinnerungen wieder hoch und ich blickte auf die andere Seite des Bettes.
Da lag er, mein Flugbegleiter. Ich konnte einfach nicht anders, ich ließ meinen Augen freien Lauf und betrachtete das, was unter dem Laken lag.
Es war einfach zu süß oder skurril, je nach Blickwinkel. Da flieg ich über den großen Teich, um meine Liebe zu vergessen und was finde ich, eine Neue. Naja, neue Liebe? Wohl etwas viel!
Ich mochte den Blondschopf, der neben mir lag, soviel war klar, aber mehr als ein Urlaubsflirt konnte er nicht sein. Die typische Jungfrau, deren Logik ihr oftmals im Weg steht, kam wieder in mir durch. Ich entschied in diesem Moment, indem ich meiner Hand gestattete, auf Wanderschaft zu gehen, diesen Flirt zu genießen und nicht mehr an das Kommende zu denken.
Meine Hand berührte seinen beschnittenen Schwanz. Er war trocken. Ich zog meine Hand zurück, denn das neben mir liegende Etwas rekelte sich.
„Morning honey!“
Ein Grummeln war zu hören.
„Hope you slept well.“
Er kuschelte sich wieder an mich.
„Of course I did.“
Wir verbrachten noch einige Zeit mit Streicheleinheiten und ähnlich romantischen Morgenübungen, ehe er mich aus dem Bett hinaus und in die Küche hinein kolportierte.
Ich saß zum ersten Mal an dem kleinen Tisch in dem schlauchähnlichen Raum, der kaum Arbeitsfläche für seinen eigentlichen Sinn bot. Ich koche ziemlich gern und meiner Ansicht nach kann man nie Platz genug haben. Zugegeben, man muss hinterher auch zwar mehr saubermachen, aber die Vorbereitungen laufen in der Regel schneller und geordneter ab, als wenn man alle paar Minuten wieder Platz schaffen muss, um weiterarbeiten zu können.
Während wir da so bei Kaffee, Donuts und komisch schmeckenden amerikanischen Zigaretten saßen, unterhielten wir uns, wie wir den Tag gestallten wollten. Er hatte frei und bräuchte erst übermorgen wieder einen Flieger zu besteigen. Ich freute mich schon darauf, denn irgendwie waren wir uns mehr als sympathisch. Das Spiel der vergangenen Stunden hatte eine Vertrautheit gezeigt, die man bei One-Night-Stands eher sehr selten findet. Es passte irgendwie alles zwischen Scott und mir, egal wer nun in welcher Position egal was machte.
Wäre der Ausdruck nicht durch die tägliche Fernsehroutine zu sehr strapaziert, man hätte es Liebe auf den ersten Blick nennen können. Aber Liebe war ja eigentlich nicht das, was ich wollte. Die Reise nach New York trat ich ja an, um die Liebe zu vergessen. Der Trennungsschmerz von Felix war ja gerade unter einer leichten Kruste verschwunden, verheilt waren die Wunden noch lange nicht.
Ich starrte wohl gedankenverloren auf meinen Kaffee, als Scott mich liebevoll von hinten umarmte, sein kratziges Kinn an meiner Schulter rieb.
„Shower?“
„Good idea.”
Ich versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen, aber das Kinn hinderte mich daran.
Wir betraten gemeinsam die Dusche und mein Flugbegleiter stellte die Wassertemperatur ein. Der Waschvorgang dauerte zwar etwas länger, aber ich habe seine Hände an meinem Körper mehr als genossen. Das gleiche galt wohl für ihn, denn er kam, sehr zu meinem Leidwesen, relativ früh.
Wir trockneten uns ab und standen vor dem Spiegel und schauten uns gegenseitig an. Er öffnete den Badezimmerschrank und reichte mir eine in Zellophan eingeschweißte Zahnbürste und etwas Zahnpasta. Ich blickte auf den Aufdruck, es war der seiner Airline. Nettes Werbegeschenk, dachte ich. Scott klärte mich hinterher allerdings auf. Die Gäste in der First bekamen das als Service. Aber da die meisten Kunden das nicht nutzen, wanderten Zahnbürsten, Einwegrasierer, After Shave und sonstige Toilettenartikel in die Taschen des Personals. Auch eine Art des Geldsparens.
Und der ziemlich muntere Scott Allister McWilliams schlug tatsächlich vor, zum Rummel zu fahren. Na ja, der Rummelplatz, der ihm vorschwebte, war eine Kirmes der besonderen Art: Coney Island.
Der Vorschlag gefiel mir, war ich doch Ewigkeiten nicht mehr auf einer Kirmes. Der Ausflug auf die Kanincheninsel sollte also die Mittagszeit füllen, wir waren ja schließlich am Nachmittag bei Sebastian und Richard zum Kaffee eingeladen.
Ich ging, so wie Gott mich erschaffen, zurück ins Schlafzimmer und wollte meine Sachen zusammensuchen. Die Socken hatte ich gefunden, das Unterhemd auch, allerdings fand ich meine Unterhose nicht, bis ich an die Decke blickte.
Sie hatte sich um einen der Flügel des Deckenventilators gelegt. Mit einem kleinen Sprung schaffte ich es, eine Ecke zu greifen. Den Rest der Sachen musste wohl im Wohnzimmer liegen.
Ich nahm meine Unterkleidung in die Hände und roch daran. Na, frisch war etwas anderes. Scott, der auf leisen Sohlen mir wohl gefolgt war, stand erst im Türrahmen und griente, als ich meine Nase ob des Geruchs verzog.
Er ging zum Schrank und warf mir eine Boxershort und ein frisches T-Shirt zu. Ich blickte ihn dankbar an.
„Thanks.“
„Don’t worry! I have more of this shit. I don’t have to go naked!”
Ich schaute ihn an und nun war es an mir, zu lachen.
„Even if you would have to in my eyes it would not be a public offence, it would be a substantial event.”
Er fing an zu lachen. Einen nackten US-Boy nicht als öffentliches Ärgernis sondern als ansehnliches Ereignis zu bezeichnen kam wohl im prüden Amerika nicht häufig vor.
Ich zog also seine Sachen an. Ein komisches Gefühl. Sofort registrierte die zur Pedanterie neigende Jungfrau in mir, wie ich ihm die Sachen, möglichst gewaschen, zurückgeben konnte.
Ich taperte ins Wohnzimmer, wo ich meine Jeans fand und sie wieder anzog. Scott hatte sich derweil auch etwas übergezogen und brachte mir einen Pullover mit. Wir hatten ja ungefähr die gleiche Größe, jedenfalls vom Oberkörper her, auch wenn „mein“ Amerikaner etwa fünf Zentimeter kleiner war als Meinereiner.
Er grinste. Er hatte sich wohl gedacht, dass ich, nachdem ich meine verschwitzte Unterwäsche gerochen hatte, nicht auch noch in mein durch den Club nikotingeschwängertes und durch zu hastiges Ablegen leicht ramponiertes Hemd steigen wollte. Auch wenn das knallige Gelb des Sweatshirts nicht so ganz meinem Farbempfinden entsprach, ich bin eher der Typ für gedecktere Kolorite, ich nahm es dankbar an.
„Wait a minute.“
Scott drehte sich um und ging ins Schlafzimmer, um sich selbst etwas zum Anziehen zu suchen. Auf dem Sofatisch fand ich neben einer aufgerissenen Packung Kondome meine Zigaretten. Ich steckte mir eine Davidoff an und räumte etwas auf. Ich bin zwar kein Ordnungsfanatiker oder ein Reinlichkeitsapostel, aber gebrauchte Lümmeltüten, offene und leere Packungen von Irgendetwas haben am Morgen nach der Party nichts mehr am Ort der Festivität zu suchen. Die Gläser, wir mussten also noch was getrunken haben, stellte ich in die Spüle in dem Küchenschlauch. Den Aschenbecher entleerte ich im Mülleimer unter Selbiger, ebenso die zwei aufgerissenen Pariserpackungen.
Ich suchte nach einem Spültuch oder so etwas in der Art, um die Spuren auf dem Glastisch zu beseitigen und wurde auch fündig. Den Lappen vor mir her tragend ging ich zurück ins Wohnzimmer und beugte mich über das Wohnzimmermöbel. In dem Moment warf Scott mir ein Paar Socken zu. Ich schaute ihn an. „I can’t find yours!“
Den Lappen ließ ich liegen und widmete mich erst einmal meinen unteren Extremitäten. Wäre ich jetzt bei Felix, würde ich erst einmal wieder die Putzfrau spielen, fuhr es mir in den Sinn.
Während Felix im Büro weilte, bestand das Leben eines Referendars ja eher in Tätigkeiten am heimischen Schreibtisch. Ergo war es klar, wer die Hausarbeit machte. Aber Felix war Geschichte und ich hatte Urlaub, den ich genießen wollte. Also blieb der Lappen mitten auf dem Tisch liegen.
Nachdem ich mit meiner Fußbekleidung fertig war, kam Scott auf mich zu, nahm mich in die Arme und zog meinen Kopf zu sich hoch. Unsere Lippen trafen sich und es begann ein Spiel mit den Papillen.
Nach einiger Zeit ließen wir dennoch voneinander ab und machten uns fertig. Das Abenteuer Vergnügungspark konnte beginnen. Scott trug eine abgewetzte Lederjacke, die seine Schultern noch besser zur Geltung kommen ließ und ich hatte nur meinen Mantel. So gewappnet gegen Wind und Wetter machten wir uns auf den Weg zur Grand Central Station, um von dort aus die U-Bahn zu nehmen. Ich ging durch die Absperrung, indem ich meine Metrokarte, die ich, da mit internationalem Studentenausweis ausgerüstet, zum halben Preis ergattert hatte, durch den Schlitz zog. Ich wollte sie meinem Ami gerade reichen, aber er lehnte dankend ab. Er meinte nur, mein Ticket würde den Zugang erst wieder in einer Viertelstunde freigeben. Er kramte in seiner Innentasche und zerrte eine andersfarbige Karte hervor, ein Jobticket, und vollführte die gleiche Bewegung wie ich eine Minute zuvor.
Wir suchten den Bahnsteig, auf dem die Linie 5 fuhr, denn die sollte uns nach Brooklyn bringen. Dann Umsteigen in der Atlantic Avenue in die D-Line und ab bis Coney Island.
Wir fuhren mittlerweile oberirdisch. Ich hatte mir keine großen Gedanken gemacht, aber je näher wir Rummel kamen, desto mehr kam ich mir an Moskau oder Petersburg erinnert vor. Kyrillische Schriftzeichen an den Häuserwänden, fast so wie in ChinaTown, nur halt in anderen Zeichen. Erst später blätterte ich im Reiseführer und der berichtete, dass hier der bevorzugte Siedlungsplatz von Russen war und immer noch ist. Außerdem erfuhr ich dort, dass die Insel erst kurz zur Hälfte des letzten Jahrhunderts zur Halbinsel gemacht worden ist, indem dort Aufschüttungen erfolgten. So konnte man das Badeparadies besser erreichen.
Badeparadies war wohl übertrieben. Der Ort diente zuerst der Erholung reicher, geplagter Großstädter, dann dem Glücksspiel verbunden mit Wetten und Pferderennen, von der darauf folgenden Prostitution will ich gar nicht erst anfangen, bis hin zu … naja, jedenfalls verbringen heutzutage viele gestresste Einwohner von Manhattan hier ihre Freizeit am Meer, wenn das Wetter mitspielt.
Aus dem Fenster war zu erkennen, dass das an diesem 4. Oktober nicht unbedingt der Fall war. Draußen musste ein starker Wind herrschen, der die Wolken wie kleine Wattebällchen nur so vor sich her pustete.
Wir marschierten aus der Endstation an der Surf Avenue, die 1919 erbaut wurde und mit ihren acht Gleisen für die vier Linien, die hier enden, seitdem als der flächenmäßig größte U-Bahnhof der Welt gilt, in Richtung Strand, in Richtung Attraktionen.
Bei Nathans an der Stillwell kaufte ich uns je einen Hot Dog: Nicht irgendeinen Hot Dog, nein, ich kaufte den Vater aller Hot Dogs. Glaubt man der Firmenwerbung der Imbisskette Nathans, soll hier ein polnischer Auswanderer namens Nathan Handwerker 1916 den „Heißen Hund“ erfunden haben.
Allerdings stimmt das nicht so ganz. Erfunden wurde der Imbiss bereits 18 Jahre vor der Geburt Handwerkers im Jahre 1892. Während in Deutschland 1874 die obligatorische Zivilehe eingeführt wurde, wurde das Brühwürstchen im Brötchen und etwas Gemüse von einem gewissen Charles Feltman erfunden, der den Snack „Frankfurter“ taufte. Bei eben diesem Feltman, der ein Restaurant auf Coney Island besaß, arbeitete Nathan an den Wochenenden als Küchenhilfe, nachdem er 1912 in die USA ausgewandert war. Das schien ziemlich erfolgreich gewesen zu sein, denn inmitten des ersten Weltkriegs konnte er mit den Ersparnissen aus dieser Nebentätigkeit seine erste eigene Bude eröffnen, das berühmte Nathan’s. Mr. Handwerker verfeinerte jedoch Zubereitung, er grillte jetzt die Würstchen, denen er zusätzlich noch etwas Knoblauch beifügte, und änderte, aufgrund des Krieges, den Namen in Hot Dog. Das war es.
Ich zog mein Taschentuch hervor und tupfte den Mundwinkel meines Begleiters trocken. Der Ketchup rann aus der Ecke. Er grinste mich an.
„If you like lick it!“
„Here? In the public?“
„Why not?“
Ich zuckte mit den Schultern. Liebkosungen in der Öffentlichkeit am helllichten Tag waren nicht so mein Ding. Gut, man kann zwar Händchenhaltend am Strand spazieren gehen, aber ein Kuss in der Öffentlichkeit? Als Sohn eines Berufssoldaten eigentlich undenkbar, dachte ich, jedenfalls damals.
Der Wind pfiff mittlerweile leiser vom Atlantik, kein Wunder, denn wir hatten ja Anfang Oktober. Nur wenige der Fahrgeschäfte hatten noch geöffnet. Eigentlich ist mir ja eher nach Action und Achterbahn, aber ab und an kann Mutters Sohn auch seine romantische Ader hervorholen. Ich zeigte auf vor uns stehendes Riesenrad und bedeutete meinem blondem Begleiter, dass wir dort einsteigen sollten. Scott schaute mich zwar fragend an, aber er ließ es geschehen.
Ich zog ihn zum Einlass. Ich gab dem Mann am Eingang zwei Dollarscheine, der russisch wirkende Mann mittleren Alters nickte nur, ließ uns passieren und er stoppte das Rad.
Die Gondel hatte vier Ein- respektive Ausgänge und insgesamt 16 Sitze. Ich bestieg das metallene Gefährt und ließ mich nieder. Mein Platz hatte die Nummer 10, Scott ließ sich auf der 11 nieder. Wir waren die einzigen Personen in Gondel fünf.
Nicht nur das, wir waren die einzigen Menschen, die um kurz vor 12 in dem Millionenagglomerat namens New York City in diesem Riesenrad mit dem biblischen Namen Sinai saßen.
Der Wind war herrlich, frisch, kalt, aber dennoch erfrischend. Nach der zweiten Umdrehung stand Scott auf, ich wunderte mich zwar, aber ich sagte nichts. Ich war wohl noch zu benommen, die Nacht, der wenige Schlaf, oder was weiß ich! Meine Saftschubse griff die Hand des Russen als wir den Nullpunkt des Fahrgeschäfts erreichten, tuschelten etwas und wir fuhren wieder gen Himmel. Am höchsten Punkt angekommen stoppte das Riesenrad plötzlich.
„What have you done?“
„Nothing. Look and feel the sea!”
Ich versuchte aufzustehen, was mir auch erst gelang, aber eine Böe ließ mich leicht wieder zurücktaumeln. Ich griff hinter mich und konnte nur noch die Lehnen eines Sitzes ergreifen. Ich ließ mich nieder, mehr oder minder unfreiwillig, aber ich kam auf Sitz mit der Nummer 14 zu Platz.
„Scott!“
Mein Begleiter lachte.
„Smell it. It is marvelous.“
„It is too windy.“
„Are you cold?“
Ich nickte.
„Wait!“
Er benahm sich wie ein Seebär auf hoher See, der Wind, der da oben pfiff, war mir als Landratte jedoch eindeutig zuviel, aber er, so schien es, genoss das Spiel der Natur.
Er kam auf mich zu. Ich dachte, er würde die Hand um mich legen und mich wärmen wollen. Er aber? Meine Saftschubse kniete sich plötzlich vor mir hin und grinste schelmisch. Ich schaute in die stahlblauen Augen und wusste nicht so recht, wie ich die Situation deuten sollte.
Er öffnete meinen Gürtel und meine Jeans, zog die Boxer herunter und legte in dieser zugigen Umgebung meinen Schwanz frei. Ich dachte, ich spinn.
„In a minute you are warm again.“
Er öffnete seine Lippen und stülpte seine Lippen um mein bestes Stück. Das Gefängnis war warm und angenehm, er spielte mit seiner Zunge um die Eichel.
Es lag wohl an den äußeren Umständen, aber relativ schnell kündigte sich bei mir der Orgasmus an. Gut, ich bin zwar nicht prüde, aber es war das erste Mal, dass ich Sex in der Öffentlichkeit hatte und das in vierzig Meter Höhe auf einem Riesenrad, rechts vor mir der Atlantik, links das Häusermeer der Megacity.
Irgendwann kamen wir wieder nach unten. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Der Wind, das eben erlebte. Als die Gondel sich dem Ausgangspunkt wieder näherte, erhob ich mich und ging auf das Tor zu, das dem vermutlichen Ausgang am nächsten war. Allerdings bremste unser Transportmittel ziemlich unsanft, ich geriet mehr als leicht ins Wanken und blickte vor Schreck nach oben. Der Russe lachte laut, man konnte seine schlechten Zähne aufblitzen sehen. Dann folgte ein Blitz und er ließ die Polaroid sinken.
Scott reichte ihm einen Hamilton. Das Konterfeil des in einem Duell gestorbenen ersten Finanzministers der USA ziert die 10 Dollar Note. Er steckte sich das Bild in die Innentasche seiner Lederjacke. Vor meinem Abflug schenkte er mir es jedoch. Die Widmung habe ich ihm nie verziehen: „To remember your first public blowjob in Sinai 514 – With Love – Scott“