Sinai 514 – Teil 4

Samstag, 08:15 est

Das Telefon klingelte unaufhörlich. Wie von Sinnen tastete ich noch schlaftrunken nach dem Mobilknochen und stöhnte ein Hallo in den Hörer. Am anderen Ende vernahm ich eine freundliche Stimme. „Hier ist der automatische Weckdienst des deutschen Generalskonsulats New York für spezielle Gäste. Wir wünschen einen guten Morgen. Das Wetter wird sonnig werden, gegen Nachmittag können leichte Wolken aufziehen, mit Regen ist aber erst in den Abendstunden zu rechnen.“ Ich stöhnte in den Hörer. „Danke für den Wetterbericht!“ Ich starrte auf den Wecker. Da stand eine acht und eine siebzehn.

„Guten Morgen, mein Lieber. Ich sollte dich doch wecken.“ „Stimmt, Gordon, solltest du. Mein Dank ist dir gewiss.“ Ich tastete auf dem Nachttisch nach meinen Augengläsern. „So, ich werde mich dann jetzt gleich aus dem Bett stehlen und Altbausanierung betreiben.“ „Spät geworden mit Sebastian und Richard?“ „Nein, die sind noch weiter in die Szene gezogen. Kurz nach zwölf war ich wieder hier und hab mich in Orpheus Reich begeben.“ „Aha. Was macht Scott?“ „Dem geht es besser!“ „Wie?“ „Erzähl ich dir später. Ich brauch jetzt erst einmal einen Kaffee.“ „Immer noch der Morgenmuffel. Deshalb ruf ich dich ja auch an!“ „Wegen meines Kaffees?“ „Nein, wegen der anderen Sache.“ Manchmal bin ich morgens etwas langsam. „Welcher Sache?“ „Ich wollte dir doch jemanden vorstellen!“ „Stimmt, deine neue Flamme!“ „Genau. Also: C.D. hat Zeit. Treffen wir uns also später zum Lunch?“ „Gern. Sagen wir mal um zwölf vor Tiffanys.“ „Was willst du denn da?“ „Muss noch was für meine Tante besorgen. Und da in der Ecke gibt es ja genügend Möglichkeiten, eine Kleinigkeit zu essen.“ „Wieso nur eine Kleinigkeit?“ „Ich bin später auf einer Hochzeit, mein lieber Gordon. Da schlag ich mir mittags nicht den Bauch voll.“ „Stimmt auch wieder. Dann bis später.“ Das Tuten drang an meine Ohrmuschel.

Ich quälte mich aus dem Bett in Richtung Küche. Die nächsten Handgriffe verliefen automatisch: Kaffeemaschine mit Kaffee und Wasser gefüllt, das Paket Bagels auf den Tisch, Tasse aus dem Schrank geholt, Aschenbecher ausgeleert und sauber wieder neben die Tasse. Nach der Befriedigung des morgendlichen Harndranges und einer kleinen Waschung der vorderen Extremitäten fiepte die Kaffeemaschine in ziemlich hohen Tönen, denen jedwede Harmonie fehlte. Ich bin zwar kein Technikfeind, aber ein akustisches Signal ist zuviel des guten, finde ich. Erst einmal sieht man es, wenn der Kaffee durchgelaufen ist, und zweitens, was viel wichtiger ist, es duftet ziemlich angenehm.

Ich trank die ersten Schlucke und verschlang das polnische Teigprodukt. Es wird zwar nicht mehr wie im 17.ten Jahrhundert produziert, wo der Teig zuerst gekühlt wurde, um am nächsten Tag in Honigwasser gekocht und dann erst gebacken zu werden; heute geht das in knapp einer Stunde vor sich, aber sie schmecken gut und füllen ziemlich schnell den Magen. Für jemanden, der wie ich eher unter der Woche zur Gattung der Schnellfrühstücker gehört, ein sehr gelungenes Produkt, was durch jüdische Auswanderer seinen Siegeszug antrat und zur amerikanischen Küche gehört wie Maisbrot, Ahornsirup und Kürbiskuchen.

Irgendwoher drang das Klingeln des Telefons an mein Ohr. Ich erhob mich und taperte ins Schlafzimmer, denn da hatte ich das Mobilteil liegenlassen. Eine mir unbekannte Männerstimme begrüßte mich mit dem obligatorischen Hello. Das Erstaunen auf der anderen Seite schien genauso groß zu sein. „Scott?“ „No, Alex here, his friend.“ „Oh, the guy from Germany. Hi Alex, I am Jason. Scott didn’t told me that you come over.” Ich konnte das Grinsen auf der anderen Seite fast hören. „So, my love birds, I don’t want to disturb you more than necessary. Darling, can you tell Scott that I have to cancel next Wednesday; I have an audition for an OBP. He should call me to make a new appointment. Bye, sweetie!”

Damit war das Gespräch auch schon beendet. Ich war baff erstaunt und hielt den Telefonhörer wie einen unbekannten Gegenstand fragend in der Hand. Was war das gerade? Ein gewisser Jason, anscheinend auch schwul, allein der Stimme und der Wortwahl zufolge, verschob einen Termin mit meinem Scott wegen eines Castings am Mittwoch. Meine Person war ihm anscheinend nicht unbekannt, also musste mein Gatte über mich mit diesem Jason geredet haben. Aber was ist ein oder eine OBP?

Ich griff mir meine Zigaretten nebst Feuerzeug und angelte meinen Organizer aus dem Aktenkoffer neben dem Bett. Zusammen mit dem Telefon ging ich zurück in die Küche. Mein Blick fiel auf den Küchenkalender. Da stand für nächsten Mittwoch um acht wieder Richard.

Der Kaffee war mittlerweile kalt, aber kalter Kaffee soll ja bekanntlicherweise schön machen: Also runter damit, man weiß ja nie, für was es gut ist. Ich schüttete mir nach und ließ mich auf den Küchenstuhl fallen. Ich steckte mir einen Glimmstängel an und inhalierte tief. Sollte ich jetzt sofort Sebastian anrufen? Der würde sicherlich noch im Bett liegen und sein freies Wochenende genießen. Was sollte ich ihm sagen? Die Gedanken schwirrten mir durch den Kopf: Scott – Richard – Jason. Was trieben die da hinter meinem respektive unseren Rücken? Eine klare Antwort hatte ich nicht.

Was hilft gegen wirre Gedanken? Körperliche Ertüchtigung oder eine stupide Routinearbeit! Aber da ich keine richtige Arbeit hier hatte – gut, ich hätte zwar die Küche einer Säuberung unterziehen können, aber danach war mir in dem Moment wirklich nicht – und ich es eigentlich auch nicht Babe Levy alias Dustin Hoffman im Marathon-Mann gleichtun wollte, der seine ausgedehnten Joggingrunden im Central Park drehte, musste halt das Telefon herhalten, denn das kann auch ablenken. Es gab ja noch einiges für den Nachmittag zu regeln.

Ich schlug meinen Organizer auf und suchte nach Georgs Nummer. Anstatt der Durchwahl des Concierges wählte ich einfach die Null in der Erwartung, dann an der Rezeption des Plaza zu landen. Es klappte tatsächlich, ich landete dort, wo ich gehofft hatte. Die freundliche Dame verband mich mit Erdmute Konstanze Belzheim bzw. ihrem Zimmer, was sich am späteren Nachmittag als eine der Seniorsuiten des Hotels herausstellen sollte.

„Belzheim!“ „Van Aart! Einen wunderschönen guten Morgen, meine Liebe!“ „Alex, schon wach? Was macht Scott?“ „Dem geht es schon besser, aber das erzähl ich dir später.“ „Gut, freut mich, dass es ihm besser geht. Was kann ich für dich tun? Du willst doch wohl nicht absagen? Das kannst du mir nicht antun, Herr Doktor. Meine Tochter glaubt nämlich, du bist ein billiger Erbschleicher, der es nur auf mein Geld abgesehen hat!“ Sie lachte und ich fiel kurze Zeit später einfach mit ein, ihr Lachen war wirklich nur ansteckend.

„Nein, liebste Erdmute! Ich doch nicht!“ „Nicht Erdmute, das klingt erstens zu formell und zweitens fühl ich mich dabei ziemlich alt und tatterig. Nenn mich einfach Mutzi wie mein seliger Gatte!“ „Gut, Mutzi, es geht aber um die Hochzeit!“ „Du willst wohl doch absagen?“ „Nein, ich will nur wissen, ob es einen Dresscode gibt? Mehr nicht!“ „Du würdest auch in Shorts gut aussehen, mein Junge, aber da würde wohl meine Tochter nicht mitspielen, mein Enkel zwar schon, aber um den geht es ja leider nicht.“ Sie kicherte.

„Kann ich mir denken! Also: Das kleine oder besser das große Schwarze?“ „Äh, was meinst du damit?“ „Smoking oder Frack?“ „Schatz, wo denkst du hin? Wir gehen auf keinen Staatsempfang! Frack wäre zu übertrieben. Warte mal bitte kurz, ich hohl mir mal die Einladung.“ Der Hörer wurde beiseite gelegt, es dauerte eine Weile, bis ich wieder ihren Atem hörte. „Da bin ich wieder! Warte mal: Blablabla Reynolds blablabla Tippling blablabla. Tut mir leid, ich finde da nichts.“ „Steht meistens unten rechts in kursiver Schrift.“ „Ah, da. Morning Dress wanted, was immer das auch heißen mag. Ein Smoking sollte es auch tun.“ „Danke, das wollte ich wissen.“ „Gut, es bleibt also dabei. Ich schick dir dann um drei einen Wagen. Ich muss jetzt auch gleich zum Frisör hier. Bis später dann, mein Lieber. Wir sehen uns dann zum Tee.“

Das erste Gespräch war beendet. Jetzt brauchte ich noch das passende Outfit für den heutigen Abend. Ich hatte zwar einen kleinen Vorrat an Klamotten bei Scott im Schrank, aber außer dem Anzug, mit dem ich gekommen war, eigentlich nichts für eine Hochzeit. In meinem Düsseldorfer Kleiderschrank hing zwar ein Smoking, der hier in den Staaten als Dinner-Jackett firmiert, aber das nutzte mir hier und jetzt ziemlich wenig.

Ich überlegte kurz, wer hier von meinen Bekannten mir mit einer solchen Garderobe aushelfen könnte, aber das Ergebnis war gleich Null. Außer dem Snob Richard fiel mir keiner ein, und bei Sebastians Lebensgefährten gab es nicht nur figürliche Unterschiede zu meiner Person. Also müsste ich mir das Passende leihen, in New York ja eigentlich kein Problem.

Aber wo krieg ich jetzt einen Abendanzug her? Ich hätte zwar die Gelben Seiten auf der Suche nach einem Frackverleih durchblättern können, aber dass hätte zuviel Zeit in Anspruch genommen. Ich rief also erneut im Plaza an, diesmal allerdings mit der Durchwahl des Concierges. Ich hoffte, Georg zu erreichen, denn dem dürfte die Suche nach einem solchen Kleidungsstück sicherlich kein Kopfzerbrechen wie mir machen. Ich hatte Glück, der sonore Bariton meldete sich am anderen Ende der Leitung.

„Mein lieber Georg, ich hab ein riesiges Problem!“ „Was ist denn los?“ Ich erklärte ihm kurz die Sachlage, dass ich als Tischherr einer älteren Dame auf Hochzeit ihres Enkels gehen würde und dafür, wenn auch nur leihweise, einen Smoking benötigen würde. „Wie heißt die Dame?“ „Erdmute Konstanze Belzheim, sie wohnt bei dir im Plaza.“ „Äh, Belzheim? Moment mal! Alex, die ist hier zur Tippling-Reynolds Hochzeit, der Empfang ist später auch hier im Wintergarten. Da reicht kein einfacher Smoking.“ „Äh, Mutzi meinte, ich bräuchte keinen Frack, sie meinte was von Morning Dress, was immer das auch sein mag.“ „Stimmt, einen Frack brauchst du nicht, denn den trägt man ja erst ab Einbruch der Dunkelheit, aber Tippling-Reynolds ist nicht irgendeine Hochzeit, der Gouverneur hat sich angesagt, da muss schon etwas mehr her.“ „Spenzer?“ „Noch zu wenig!“ „Stresemann?“ „Nein, den Bonner Anzug kannst du auch vergessen. Die Trauung fängt ja erst um spätnachmittags an, da ist noch Cut angesagt.“ „Wenn du meinst, aber wo krieg ich jetzt noch einen her?“ „Moment!“ Ich hörte, wie er mit Papier raschelte. „Alex, geh zu Timothys. Der Laden liegt an der Zweiten zwischen 29.ster und 30.ster. Sag Tim einen schönen Gruß und das du von mir kommst. Kennst du dich da in der Ecke aus?“ „Ja, da muss ich eh gleich hin?“ „Wieso?“ „Scott liegt im Bellevue!“ „Oh, das wusste ich nicht. Was hat er denn?“ „Er ist niedergestochen worden!“ „Ach, du heiliger Herr Gesangsverein. Was soll ich sagen? Kann ich dir sonst irgendwie helfen?“ „Im Moment können wir nur abwarten. Sebastian und Richard kümmern sich rührend um mich, seine Eltern kommen morgen. Es wird schon wieder, so Gott will.“ „Dann drück ich ihm alle Daumen. Wenn irgendetwas ist, egal was, du weißt, wie du mich erreichen kannst.“ „Danke dir, mein Lieber.“ „Kein Problem, dazu sind doch Freunde da!“

Ich trank den Kaffee aus und genehmigte mir noch einen Bagel und eine Zigarette, ehe ich mich im Bad fertig machte. Nach dem Rasieren schüttete ich mir den Rest des Türkentranks in eine Tasse und trank die Neige ohne sie zu süßen – grausam.

Über das Haustelefon orderte ich beim Portier ein Taxi, ich wollte noch vor dem Krankenhaus bei besagtem Frackverleih vorbei.

Die Fahrt dorthin verlief relativ schnell, es war, welch Wunder, nicht viel Verkehr auf den Straßen. Der Laden war noch geschlossen, es war noch keine neun Uhr dreißig. Ich klopfte an die Scheibe und eine Frau mittleren Alters trat an selbige und deutete auf ihre Uhr. Lust auf eine Viertelstunde Wartezeit hatte ich eigentlich nicht. Durch das Glas trug ich mein Anliegen vor, die Frau erbarmte sich schlussendlich und öffnete.

Ich sagte brav meinen Spruch auf, dass Georg vom Plaza mich geschickt hätte und ich mit einem Tim sprechen wollte. Aus dem Hintergrund des Ladens hörte ich, wie ein Vorhang beiseite geschoben wurde und ein Mann Anfang 60 mit silberweißem Haar den Verkaufsraum betrat. „You must be Alex.“ Er schüttelte mir die Hand. „George allready informed me. The Tippling-Reynolds Wedding. Morning-Dress.“ Den Rest verstand ich nicht mehr. Ich spürte seine Hände an meinen Schultern, dann an meiner Taille. Er hatte, wie aus dem Nichts, plötzlich ein Maßband in der Hand und legte mir selbiges erst einmal um den Hals, dann an den Arm. Schlussendlich ging er vor mir auf die Knie und maß die Länge meiner Beine und dann noch einmal die Länge meiner Oberschenkel.

„Wait a minute!“ Er ging wieder in den hinteren Teil des Ladens, kam mit einer schwarz-grau gestreiften Hose zurück, an der schon Hosenträger angebracht waren. Er deutete auf eine der beiden Kabinen, die ich auch brav betrat und mich aus meiner Jeans pellte. Seine Stimme füllte den Raum. „The vest? Single or double-breasted?“ Ich bin ja eher der Typ für Zweireiher, also war die Antwort klar. „Double please.“ Es reichte, wenn der Cut einreihig zu knöpfen war.

Durch den Vorhang reichte er mir eine silbergraue Weste, die ich ihm abnahm. Ich zog den Stoff beiseite und ging mit Hose und Weste mitten in den Laden zwecks Begutachtung durch Tim. Die Dame war verschwunden.

„OK, can you tie an ascot?“ Ein Pferderennen verbinden? Ich schaute den Alten fragend an. „Pardon me!“ „You call it plastron.“ Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, er musste die spezielle Krawatte meinen, normale Krawatten sind ja kein Problem für mich, aber ich hatte keine Vorstellung, wie man ein Plastron, den Vorläufer der heutigen Langbinderkrawatte binden, falten oder was auch immer sollte, aber dessen trotz sagte ich dennoch lauthals Ja.

„Catherina, the rainbow ascot and the suitable pocket square, please.“ Ich vernahm ein zustimmendes Gemurmel aus dem Hintergrund. Kurze Zeit später kam sie mit einem weißen Stehkragenhemd in ihrer Rechten und dem von Fäden in Regenbogenfarben durchwirktem silbergrauen Plastron und dem passenden Einstecktuch in ihrer Linken zurück. Ich zog die zugegebenermaßen etwas enge Weste wieder aus, das Hemd über mein T-Shirt, um mich dann wieder in die Weste zu zwängen. Tim schüttelte den Kopf, murmelte etwas und reichte mir eine etwas größere Unterjacke. Die passte wie angegossen.

Er half mir in den Gehrock und ich betrachtete mich, halbfertig angezogen, im überdemissionierten Spiegel des Ladens, der edle Stoff gefiel mir. „You look smart!“ Tim schielte über seine randlose Brille und ich sah seine Lachfältchen deutlich hervortreten.

„What about shoes?“ Ich verneinte, schwarze Lederschuhe nannte ich mein eigen. Ich ging zurück in die Kabine und zeigte mein Paar Budapester wie ein Schuljunge dem väterlichen Verkäufer. Er legte die Stirn in Falten und schüttelte das weiße Haar. „Not possible, we need a pair of Oxford! Size?“ Ich schwanke zwischen 44 und 46, je nachdem, wie der Schuh von der Stange ausfällt. Also meinte ich 10 oder 11. Er verschwand wieder in den Katakomben des Ladens und kam mit drei Kartons zurück.

Er reichte mir das erste Paar in Größe 11. Es passte zwar, aber falls Erdmute mich zum Tanzen auffordern würde, wäre es doch etwas eng auf Dauer geworden. Ich verzog leicht das Gesicht. Tim grinste und verschwand samt Kartons wieder und brachte mir ein Paar in 11,5, der passte wie ein Pantoffel. Wie sich bei einem Blick auf den Karton feststellen ließ, war es in den Staaten Größe 11,5, im Vereinten Königreich 11, in Deutschland 46.

Ich hatte also alles bis auf die obligatorische Chrysantheme im Knopfloch, die zum Cutaway gehört wie das Salz in der Suppe. Aber die konnte ich mir ja später noch bei einem Blumenhändler käuflich erwerben.

Ich verzog mich wieder in die Kabine und zog mein Räuberzivil wieder an. Fertig angezogen wandte ich mich wieder Tim zu, der sich hinter eine Glasvitrine, die fast eine Seite des Verkaufsraumes einnahm, zurückgezogen hatte. Er fragte mich, ob ich alles leihen wollte. Ich überlegte kurz, die Schuhe gefielen mir eigentlich und das Hemd dürfte sicherlich auch nicht zuviel kosten. Die schwarzen Kniestrümpfe, die mittlerweile auch auf der Theke lagen, dürften mein Budget ja auch nicht zu sehr strapazieren.

Der bebrillte Mann nahm meine Hand, taxierte sie und drehte sich dann zu einer der hinter ihm befindlichen Schubladen um. Er reichte mir ein Paar grau gebürstete Wildlederhandschuhe und lächelte. Dann zauberte er das Maßband wieder hervor und vermaß meinen Kopf. Er schüttelte sein weises weißes Haupt. „Sorry, we have to omit the top hat. Your head is to big.“ Kein Wunder, ich habe Hutgröße 65, da gibt es kaum Hüte von der Stange. Also würde ich darauf verzichten müssen, allerdings ist das Weglassen der Kopfbedeckung mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert.

Während ich die Handschuhe anprobierte, fing der alte Mann an zu rechnen. Er blickte kurz auf, musterte mich und fragte dann, ziemlich unvermittelt, was mir die ganze Sache wert sei. Ich stutzte. Was sollte das bedeuten? Wollte er mir die Sachen verkaufen? Er wollte.

Obwohl ich für ein großes Handelshaus arbeite, habe ich von Preisen kaum eine Ahnung, die Preisgestaltung macht eine andere Abteilung. Im hintersten Winkel meines Gehirnkastens überschlug ich dennoch Schuhe, Hemd, Handschuhe, Strümpfe. Ich müsste dafür wohl so 150 Dollar ausgeben und bot daher für das gesamte Outfit mit Hose und Rock das Doppelte.

Timothy schüttelte den Kopf. Er meinte, auch wenn er, d.h. seine Firma, sich aufgrund der Billigkonkurrenz aus Asien aus dem Verleihgeschäft zurückziehen wollte, die Sachen wären als Neuware mindestens mehr als das Vierfache wert. „Sorry, but they are not new.“ Gegen dieses Argument hatte er keine Erwiderung parat, er zuckte nur leicht mit den Schultern. Ich blickte mich um. Neben der Glasvitrine, vor der ich stand, entdeckte ich in einem Glaseimer eine Sammlung von Gehstöcken. Sie sahen zwar ziemlich ähnlich aus, aber einer fiel mir ins Auge. Er war etwas größer als die anderen, anstatt der normalen Handauflage ging das obligatorische Silber am Schaft des Stockes in eine Art aufgeschraubte Billardkugel aus Elfenbein über. Ich legte den Stock auf den Tresen, schaute Tim tief in die Augen und meinte: „OK, 500 and you will deliver these things!“ Er grinste mich an und nickte. „That is the cane of Sir Lawrence Olivier, a very good choice.“ Er streckte mir seine Hand entgegen, ich ergriff sie und wir besiegelten so den Kauf. Ich griff in meine Gesäßtasche, holte mein Portemonnaie hervor, suchte eine meiner Kreditkarten heraus und gab sie ihm. Er dankte und fragte nach der Lieferadresse,

Um kurz vor zehn verließ ich den Laden und machte mich auf in Richtung Krankenhaus. Die afroamerikanische Krankenschwester vom Vortag hatte wieder Dienst, es gab also keine Probleme mit dem Einlass zu meinem Liebsten.

Ich rückte mir den Stuhl zurecht, ergriff seine Hand und fing an zu erzählen, was ich heute schon alles erlebt hatte und was ich an noch machen wollte. Da waren ja noch Barbara und Paul, Scotts Eltern, die im Laufe des Sonntags eintreffen würden. Das wann und wo musste allerdings noch geklärt werden, was bei der Anzahl der Fluggesellschaften und der möglichen Landeplätze in der Umgebung kein leichtes Unterfangen war. Auch musste ja noch geklärt werden, wo die beiden untergebracht werden sollten. Unsere Wohnung fand ich etwas unpassend. Erstens hätte ich auf das Sofa umziehen müssen, was ich meinem Rücken eigentlich nicht antun wollte, und zweitens hätte ich die Wohnung noch aufräumen müssen. Es war zwar nicht unordentlich, aber irgendwie war mir bei dem Gedanken, meine aus dem Bibelgürtel der USA stammenden Schwiegereltern könnten etwas entdecken, was nicht für die Augen von Eltern bestimmt ist, nicht ganz wohl. Sie wissen zwar, dass Scott und ich nicht gerade die Bibel im Bett lasen, aber man muss es ja auch nicht übertreiben, wie ich finde. Ich bin zwar nicht verklemmt, aber ein Dildo gehört nach Gebrauch nicht offen ins Regal gestellt.

Der Abschied fiel mir schwer, denn der Nachmittagsbesuch würde der Hochzeit zum Opfer fallen und ob ich den in den Abendstunden nachholen würde, war mehr als zweifelhaft. Ich kannte mich. So sagte ich nur leise: „See you tomorrow, my love!“ und verließ das Zimmer.

Intermezzo

Die nächsten Tage mit Scott, meinem neuen Liebhaber, oder wie soll man das ausdrücken, denn Urlaubsbekanntschaft wäre ja eindeutig zu wenig, verliefen wie im Fluge. Ich schwebte ob all der Umstände, auf Wolke sieben, hatte die berühmten Schmetterlinge im Bauch. Mein Ex war vollkommen vergessen, ich hatte nur noch Augen für meine Saftschubse.

Er hatte es irgendwie noch geschafft, seinen Dienst teilweise zu tauschen, aber leider nur teilweise. Zweimal in der uns verbleibenden Zeit erwachte ich morgens allein im Bett, fand einen Zettel vor mit der Uhrzeit, wann er wieder im Hause sein würde. Ich wurde durch ihn erst im Nachhinein aufgeklärt, was das für ihn bedeutet hatte. Er, der internationale Flight Attandant, hatte sich für den Rest meines Aufenthalts, auf Kurzstrecken einsetzen lassen. Kurzstrecken bedeuten zwar Arbeitsstunden, bringen aber für das Gehalt relativ wenig; Spesen, Auslandszuschläge usw. bringen nur internationale Flüge. Auf dieses Zubrot hat er mir zuliebe freiwillig verzichtet.

Am Montag fand ich einen Zettel vor, dass er um acht Uhr wieder da sein würde. Ich verbrachte den ersten Teil des Tages mit einem musikalischen Motto: „Moeney makes the world go arround“. Zugegeben, Cabaret ist zwar nicht das beste Musical, aber der Song bestimmte den ersten Teil meines Tages, ich wandelte im Finanzdistrikt der Stadt umher.

Der Name Wall Street stammt übrigens wirklich von einem Wall, den die Niederländer damals 1652 zum Schutz gegen Briten und Indianer aufgeschüttet hatten. Erst schloss ich mich einer Tour durch den New Yorker Ableger der Federal Reserve Bank an und nach einer etwas längeren Stippvisite auf der Besuchertribüne der größten Börse der Welt genoss ich ein kleines Sandwich auf dem Friedhof der Trinity Church in unmittelbarer Umgebung des Grabes von Alexander Hamilton.

Normalerweise isst man ja nicht auf Kirchhöfen, aber es soll ja nicht nur in der Karibik Kulturen geben, in denen man auf Friedhöfen ganze Partys veranstaltet. Nach dem Imbiss überlegte ich, wie ich den Nachmittag verbringen könnte. Meinen ersten Gedanken, jetzt die Bilder zu fertigen, die ich gestern nicht gemacht hatte, verwarf ich nach einem kurzen Blick nach oben. Der Himmel hatte sich zu gezogen, vom Atlantik her trieben dunkle Wolken in Richtung Stadt.

Es hatte aber noch nicht angefangen zu regnen, daher entschloss ich mich, den Broadway entlang zu flanieren. Ich schaffte es bis zum Rathaus, obwohl dieser Begriff eigentlich die falsche Übersetzung ist. Der Amtsitz des Bürgermeisters dieser kleinen Gemeinde am Hudson liegt in einem idyllischen Park, die eigentliche Stadtverwaltung, Bauten, die keiner näheren architektonischen Betrachtung lohnen, auf dessen rechter Seite. Ich ging um das Gebäude herum und es stimmte wirklich, was in jedem Reiseführer zu lesen ist. Während die Vorderseite des Gebäudes aus weißem Marmor gefertigt ist und die Fassade wirklich imposant aussieht, fast wie das Weiße Haus oder andere herrschaftliche Behausungen, gereicht die Rückseite des Gebäudes wirklich nicht im Geringsten den Ansprüchen eines Amtsitzes eines Bürgermeisters einer Megacity. Daran hat auch die Ummauerung der Rückseite mit Alabama-Kalkstein in der Mitte der Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts nichts geändert.

Als man das Gebäude 1802 plante, umfasste New York nicht mehr als den Südzipfel Manhattans, der neue Amtsitz wurde daher an den Stadtrand gebaut. Wohlgemerkt aus Kostengründen waren die Stadtoberen der Meinung, man könne auf eine vernünftig gestaltete Rückfassade verzichten, die Stadt würde eh nicht mehr wachsen. Man verwandt daher billigen Backstein und keinen Marmor. Sie hat zwar ihre Einwohnerzahl seit damals mehr als verhundertfacht, von damals 80.000 auf heute 8.000.000, aber auf den Gedanken, die Rückseite auch einer Vermarmorung zu unterziehen, ist keiner der Nachfolger des damaligen Bürgermeisters Edward Livingston gekommen.

Ich verließ nach einigen obligatorischen Bildern den Park und folgte dem Broadway in Richtung Soho. Die Schreibweise darf nicht verwundern, denn das Akronym kommt von „South of Houston Street“. Das Laufen war kein Problem, die Luft war angenehm frisch. Es ging nur ein leichter Wind. Das Schauspiel am Himmel bot allerdings ein anderes Bild, die Wolken hatten sich nicht weiter wegblasen lassen, sondern anscheinend beschlossen, sich über der Metropole zu versammeln. Der Himmel war in ein sehr diffuses Grau getaucht, mit wenig blauen, dafür umso mehr dunklen Farbanteilen.

Ich überlegte kurz, wo sich die nächste Metrostation befinden würde, denn einen Schirm führte ich leider Gottes nicht mit, auch sonstiger Regenschutz war nicht griffbereit. Aber ich war ja auf dem Broadway, dem alten Indianertrampelpfad, den die Holländer zu einer Straße ausbauten und ihn dann „Breede Weg“ nannten. Fast alle Metro-Linien kreuzen irgendwann diese 30 km lange Straße, man braucht sich also keine großen Sorgen zu machen, man findet fast immer einen Unterschlupf.

Was mit einigen Tropfen begann entwickelte sich ziemlich schnell zu einem wahren Platzregen englischer Ausprägung. Mein Schritttempo erhöhte sich merklich, als vor mir plötzlich eine Tür geöffnet wurde. Ich stoppte abrupt, um einer Kollision zu entgehen. Anstatt, wie von mir erwartet, auf die Straße zu stürmen, verharrte die Person im Türrahmen. Dann meinte der Unbekannte zu mir mit freundlicher Stimme: „Come in.“

Ohne großartiges Nachdenken folgte ich wie das Kaninchen der Schlange. Ich sah mich um, ich war in einer der unzähligen Galerien von Soho gelandet. Ich nahm mein Nasenfahrrad ab und unterzog es erst einmal einer Trocknung. Die freundliche Stimme gehörte einem jungen Hispano mit grünen Haaren und roten Augenbrauen. Ich schaute ihn verwundert an und setzte meine, die Sehschärfeminderung optimal korrigierenden Augengläser wieder auf. Mein Eindruck hatte mich tatsächlich nicht getäuscht, vor mir stand einer der unzähligen Kunstjünger, jedenfalls ging ich aufgrund der Verschiedenfarbigkeit seiner Kopfbehaarung davon aus, dass es sich um einen Vertreter der Gattung Künstler handelt.

„Hi. I am Alex.“ Ich hielt ihm meine Hand hin, er nahm sie und schüttelte sie kräftig. Er stellte sich als Esteban vor. Seiner Tante würde die Galerie gehören und er würde hier ab und an aushelfen, heute zum Beispiel als Aufbauhelfer für eine morgige Vernissage. Ich blickte mich um. Einige Bilder waren schon an den Wänden, die meisten standen jedoch noch auf dem Boden oder lehnten wie wild an Stellwänden. Insgesamt konnte man das ganze Interieur des Schauraumes als schlecht organisiertes Chaos beschreiben.

Ich schätzte mein freundliches Gegenüber auf Mitte Zwanzig, nettes Gesicht, fast schwarze Augen. Esteban kam meiner Frage zuvor, den Künstler, der morgen mit dem obligatorischen Sekt und den noch üblicheren Lachshäppchen auf Kräutertoast in die New Yorker Kunstszene eingeführt werden sollte, kenne er auch nicht, irgendein postmodern malender Mexikaner. Seine Tante Carmen sei spezialisiert auf Künstler dieser Region. Mir sagte das alles überhaupt nichts. Ich meine zwar von mir selber, einen relativ guten Geschmack zu haben, aber was Kunst im Allgemeinen und das Verstehen derselben im Besonderen, angeht, bin ich ein relativer Laie.

Unter Warhol kann man sich ja wenigstens noch etwas vorstellen, Lichtenstein und Kandinsky sind keine Unbekannten für mich, aber bei Boys hatte ich mich damals im Kunstunterricht schlicht und einfach geweigert, seine Werke zu interpretieren. Ich sah in einer verdreckten Badewanne alles, aber keine Kunst.

Esteban lächelte mich an. Er könne mir eh nichts verkaufen, er wäre ja nur zum Aufbauen hier und außerdem sei naive Malerei auch nicht seine bevorzugte Art von Kunst. Ich blickte aus dem Schaufenster, es regnete immer noch Bindfäden. Vor die Wahl gestellt, zwischen nassem Regen oder einem Gespräch über Kunst, entschied ich mich, uneigennützig wie ich bin, für letztgenannte Alternative.

Er wäre zwar auch Maler, aber eine Staffelei würde er nicht benötigen. Ich stutzte und sah in ein grinsendes Gesicht. Mit einem lachenden Auge meinte er, er sei ein Sprayer, ein Graffitikünstler. Oder ein Vandale und Sachbeschädiger, konterte ich mit einem Grinsen auf den Lippen. Der süße Hispano grummelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart. Voller Stolz und Inbrunst meinte er, über dieses Stadium sei er längst hinaus, die Zeiten, wo er im Schutze der Dunkelheit U-Bahn-Wagen oder Unterführungen auf eigene Kosten verziert hätte, seien längst vorbei. Er würde mittlerweile nur noch Auftragsarbeiten fertigen und davon könne er ganz gut leben. Ich war erstaunt, dass man damit Geld verdienen konnte, aber warum nicht? Möglich ist ja alles.

Bei einer Tasse Kaffee zeigte mir einige Bilder von ihm verschönerten Hinterhöfen und Fabrikwänden. Ich staunte nicht schlecht, denn es hatte wirklich was. Ich meinte, es sei schade, dass ich seine Kunst nicht mitnehmen könne. Diesmal schaute er mich verdutzt an und fragte nach dem Warum. Ich grinste nur: „How many bricks can you put in a suitcase?“ Er lachte schallend.

Was ich den noch vorhätte, wollte er wissen. Ich antwortete ihm wahrheitsgemäß, dass ich das noch nicht wüsste, da ich die Pläne meines Liebsten für den heutigen Abend noch nicht kennen würde. Ich wusste ja nur, er wollte wieder um acht in der Wohnung sein. Den möglichen Austausch von Zärtlichkeiten ließ ich in diesem Moment unerwähnt. Er grinste mich mit seinen fast schwarzen Augen an. „Gay?“ Ich nickte. „Shit!“ Ich stutzte, mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Er kam grummelnd auf mich zu und umarmte mich einfach. „Someone discovered you before me!“

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile, wobei sich nicht nur sein Gesicht erhellte, sondern ebensolches mit dem Himmel draußen geschah. Er lud mich zur Vernissage am nächsten Tag ein, als wir uns an der Tür zum Abschied tief in die Augen blickten und uns einen Abschiedskuss gaben.

Mir blieben noch gut drei Stunden bis zur Ankunft meines Geliebten. Ich schlenderte in Richtung UNO-Plaza und an der Ecke zu Scotts Wohnung entdeckte ich einen kleinen Lebensmittelladen. Ohne großartig nachzudenken, betrat ich den Tante-Emma-Laden, der eigentlich eher ein Onkel-Wong-Landen war und kaufte ein. Ich wusste nicht, was Scott alles in der Küche hatte, also musste der Einkauf doch etwas größer ausfallen.

Ein Schweinefilet, vier Tomaten, eine kleine Schlangengurke, ein mittelprächtiger Eisbergsalat, eine Packung geriebener Käse, ein Beutel Naturreis, eine Packung Wallnüsse, eine Schale Champignons, zwei Becher Sahne, ein Joghurt und drei mittelgroße Zwiebeln wanderten in meinen Einkaufskorb. An der Kasse staunte der Chinese Bauklötze, als ich ihm die 15 Dollar, soviel waren die Einkäufe wert, in bar gab. Anscheinend ist die Zahlung mit Kreditkarte auch bei kleinen Beträgen üblich und je weniger Bargeld in der Kasse, desto geringer die Gefahr eines Überfalls. Mittlerweile haben wir bei Hong, wie der Ladenbesitzer mit Vornamen heißt, ein eigenes Kundenkonto.

In der Küche meines Liebsten entdeckte ich eine Auflaufform. Ich überlegte kurz und entschied mich für eine Eigenkreation: Zwei Zwiebel klein schneiden, zusammen mit den geputzten Pilzen kurz anschwenken. Danach das ganze in die gebutterte Auflaufform, das mit Pfeffer und Salz gewürzte und in vier Teile geteilte Filet darauf legen und mit Tomatenscheiben bedecken. Die Sahne mit etwas Worcestersauce, ein paar Kräutern, etwas Pfeffer und Paprikagewürz verrühren und auffüllen. Obendrauf der geriebene Käse und das ganz bei 180° für eine Dreiviertelstunde in den Backofen. Dazu gab es Reis und einen kleinen Salat mit Joghurtsauce und gehackten Wallnüssen.

Mein Göttergatte staunte nicht schlecht, als er mit einem Dinner überrascht wurde. Ich mag zwar Restaurants, aber ab und an stelle ich mich auch mal gern selber in die Küche. Macht zum einen Spaß, na ja, bis auf den Abwasch danach, aber für was gibt es Spülmaschinen? Was aber meiner Ansicht nach viel wichtiger ist, der Weg zum Schlafzimmer für das Dessert der besonderen Art ist nicht so weit.

Samstag, 12:05 est

Der Verkäufer hatte etwas länger gebraucht, um mit dem richtigen Armreif zu finden. Die Kollektion von Paloma Picasso, samt des von Tantchen begehrten Armreifs, lag zwar in den Vitrinen von Tiffanys, allerdings nur in Gold und die auch nur im Erdgeschoß. Silber gibt es in der Hauptfiliale des 1837 gegründeten Unternehmens nur im zweiten respektive im dritten Stock, je nach Zählweise.

Etwas in Eile verließ ich daher den Art Deco Bau aus dem Jahre 1940 durch den Hauptausgang zur 5th Avenue. Unter dem Uhrwerktragenden Atlas schaute ich mich um und suchte nach einem mir bekannten Gesicht. Gordon und eine mir bis dahin unbekannte Dame an seiner rechten Seite standen auf der anderen Straßenseite. Ich überquerte todesmutig durch den eher stehenden Verkehr den Asphalt, nickte dem Konsularbeamten nur kurz zu und ergriff die mir ausgestreckte Hand einer knapp 170 Zentimeter großen Brünetten, die zwar nicht einem Rubensgemälde entsprungen war, aber dennoch etwas mehr Körperfülle aufwies als Gordons sonstige Gespielinnen, jedenfalls die, die ich kannte.

„Hi, I am Alex.“ Sie nickte brav wie eine Debütantin auf dem Wiener Opernball und lächelte. Sie sah wirklich putzig aus, jedenfalls fand ich den Aufzug für ein lockeres Treffen zu einem kurzen Mittagessen etwas übertrieben. Ich hatte zwar keine Putzfrau mit Kittelschürze und Kopftuch erwartet, aber einen weißen Hosenanzug mit Fellbesatz am Kragen und einem breiten Gürtel, auf dessen Schnalle zwei Buchstaben eines italienischen Designerduos prangten, fand ich doch etwas merkwürdig. Ich schätzte die Frau, von der ich nur ihre Initialen kannte, auf Mitte 20. „I am Carla. Nice to meet you.“

Der Frage nach der Örtlichkeit der Essensaufnahme kam der bemantelte Beamte des Auswärtigen Amtes zuvor. Er fasste Carla mit seiner Rechten am Ellenbogen und deutete mit der Linken in Richtung Park. Auch nicht schlecht, Essen im Park, aber außer Hot Dogs gab es dort ziemlich wenig und nach einem heißen Hund war mir eigentlich nicht.

Aber bereits einen Block später führte uns der Weg wieder nach links in die 58.ste Straße. Kurze Zeit später betraten wir eine indianisch angehauchte Tapasbar. Die Dame setzte sich schon, während Gordon und ich an der Garderobe standen.

„Na, wie findest du sie?“ „Kann ich dir jetzt noch nicht sagen, die Konversation beschränkte sich ja bis jetzt auf ein Hallo. Und ich schieße nur ungern ins Blaue! Aber das Outfit ist etwas, na ja …“ Ich ließ ihn stehen und begab mich zum Platz.

Die Unterhaltung verlief relativ schleppend, denn Carla Dominica, dafür stand also das D in ihren Initialen, war eher darauf bedacht, die dickflüssige rote Salatsoße nicht mit dem Weiß ihres Hosenanzuges in Berührung kommen zu lassen. Ich erfuhr jedoch immerhin, dass sie 27 Jahre auf der Erde weilte und die Familie Castafiore aus Malta stammte. Sie hat Wirtschaft an der Universität in La Valletta studiert und würde seit zwei Jahren für eine maltesische Bank hier arbeiten.

Sie hatte anscheinend ihren Salat genug mit der Gabel traktiert, denn sie wurde urplötzlich redseliger. Sie schwärmte in warmen Worten von ihrer Heimat und dem Licht, was dort herrschte. Malta hat den gleichen K-Wert wie Los Angeles, also können Außenaufnahmen sehr gut gemischt werden. Nicht umsonst würde Malta als das Mini-Hollywood bezeichnet werden, genügend Filme seien dort gedreht worden. Gordon verdrehte bei all ihren Äußerungen die Augen, er war verliebt, dass stand fest. Mir jedoch kam das Lichtgeplänkel eher spanisch vor, ich achtete kaum darauf. Ihren Familiennamen hatte ich irgendwo schon gehört. Nur wo?

Malta kannte ich nur von einem Geschäftstermin her, einen Urlaub hatte ich dort noch nicht verbracht. Aber bei solchen Terminen ist es oftmals üblich, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht am Konferenztisch, sondern beim Essen oder in anderer Umgebung getroffen werden.

Die Reise auf die Mittelmeerinsel ist mir deshalb sehr gut in Erinnerung geblieben, weil bei dem Touristischen Programmteil, einem Besuch der blauen Grotte im Süden der Insel, mein Versuch, das Boot, dass uns in die Höhlen bringen sollte, zu betreten, mit einem nicht ganz freiwilligem Bad im Hafen des malerischen Fischerdorfs mit einem unaussprechlichen Namen endete.

„So, you are Maltease?“ Sie nickte und fuhr mit ihrer Familiengeschichte fort. Ihr Urgroßvater sei damals von Sizilien aus auf die Insel gekommen und hätte auf Gozo ein kleines Uhrmachergeschäft aufgemacht. Ihr Bruder wäre nun in vierter Generation dort der Inhaber und sie sei die erste Akademikerin. Sie würde ihn und ihren im Rollstuhl sitzenden Vater jedoch nach Kräften unterstützen, denn die Geschäfte liefen mehr schlecht als recht und beide seien froh, monatlich eine kleine Finanzspritze ihrerseits zu erhalten. Gordon hing förmlich an ihren Lippen.

„And your mother?“ Ihr Mund versteifte sich und sie starrte mich grimmig an. Ich konnte wirklich nichts Böses an der Frage entdecken, obwohl sie ein Fettnäpfchen zu sein schien. Gordon legte zärtlich seine Hand auf ihre Schulter und murmelte beruhigend auf sie ein. Ich zog die Stirn in Falten und schaute ihn an. „War wohl die falsche Frage, oder?“ Er nickte und zog sie näher an sich. „Sorry, Carla, …“ Sie blickte auf, tupfte mit einem Taschentuch eine Träne weg, anscheinend hatte sie sich wieder gefangen. „Doesn’t matter. You can’t know what Bianca did to my familiy!“

Bianca Castafiore musste folglich ihre Mutter sein. Irgendwie, ich wusste auch nicht, der Name sagte mir etwas. Ich blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Auf der Straße herrschte geschäftiges Treiben, ein Hundesitter kämpfte mit einem Rudel von kleinen und mittelgroßen Kläffern, deren Leinen sich um eine Laterne ge- oder verwickelt hatten. Nur ein kleiner weißer Terrier stand abseits und betrachtete das Kampfknäuel seiner Artgenossen. Da machte es Klick und ich grinste innerlich. Ich war auf ihre Geschichte gespannt, die jetzt folgen sollte.

Ihre Mutter hätte, als sie gerade mit dem Studium angefangen hat, eine Liebesaffäre mit einem englischen Armeeangehörigen, einem Captain, begonnen, diese sei allerdings ziemlich schnell aufgeflogen und es wäre zum Skandal in dem kleinen Dorf gekommen. Die Mutter hätte daraufhin die ganze Familie zugunsten dieses Offiziers verlassen, ihr Vater sei in dem sich entspinnenden Rosenkrieg in Depressionen verfallen und Alkoholiker geworden. Nach der endgültigen Scheidung hätte er versucht, seinem Leben ein Ende zu machen. Er überlebte zwar den Unfall, säße aber seitdem gelähmt im Rollstuhl. Erst die Geburt seines Enkels vor vier Jahren, der zwar mit einem schlimmen Herzfehler auf Welt kam und deshalb bald operiert werden müsse, hätte ihm wieder neuen Lebensmut gegeben.

Gordon drückte die Hand seiner Liebsten: „Wir schaffen das schon!“ Sie schaute ihn dankbar, aber dennoch fragend an. „We will manage this.“ Ihr Lidaufschlag war bühnenreif. Ich stand auf und entschuldigte mich, soviel Zärtlichkeit wollte ich einfach nicht stören.

Als ich vom WC wiederkam, stand auch schon die Kellnerin am Tisch. Ich tippte der Dame auf die Schulter. Diese drehte sich erschrocken um, erkannte mich aber wohl als Gast wieder und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Sorry, I will pay. Here!“ Ich griff in meine Gesäßtasche und reichte ihr eine Kreditkarte.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen, Alex. Ich wollte gerade zahlen.“ Gordon war wieder einmal zu großherzig. Carla, die anscheinend kein Deutsch verstand, blickte fragend von ihrem Liebsten zu mir. Ich setzte mich wieder und meinte zur Brünetten, er solle doch sein Geld besser für die OP sparen, die ja anstehen würde. Sie nickte zustimmend, die OP könne ja nur hier in den Staaten erfolgen und wäre unheimlich teuer.

„Yes Carla, a heart surgery is very expensive. The attorney you need is much more cheaper!” Ich grinste, sie starrte mich an und Gordon entglitten gerade sämtliche Gesichtszüge. „Why should I have to retain a lawyer?“ „Call it confidence trickery, imposture or simply subreption!“ Ich steckte mir eine Zigarette an und blies ihr den Rauch direkt ins Gesicht. Sie begann zu husten und drehte sich angewidert von mir ab und ihrem Liebsten zu.

„Alexander van Aart. Du entschuldigst dich sofort!“ Ich nahm meine Brille ab und schaute Gordon in die Augen. „Warum sollte ich? Weil ich mir eine Zigarette angesteckt habe? Wir sitzen im Raucherbereich, mein Lieber!“ Ich schnippte die Asche ab. „Das weißt du ganz genau!“ „Nein, ich wüsste nicht, wofür ich mich bei dieser weiblichen Ausgabe von Felix Krull entschuldigen sollte.“ Man sah es Gordon an, sein Gehirn arbeitete.

„Carla ist doch keine …“ „Doch Gordon, leider! Sie ist eine Hochstaplerin!“ „What has he said?“ Gordon blickte auf seine Holde. „He thinks you are a scammer!“ Sie schüttelte wie gleichgültig den Kopf. Ich nickte ihr freundlich zu und setzte mein Nasenfahrrad wieder auf, ehe ich ihre Geschichte auseinander nahm. „Ich kann nur für dich hoffen, dass du dieser Betrügerin nicht aufgesessen bist und ihr noch kein Geld gegeben hast.“

Gordon schüttelte sein Haupt und wirkte dennoch wie versteinert. „Ich wollte sie zwar unterstützen, aber sie wollte kein Geld von mir nehmen!“ „Noch nicht, mein Lieber! Noch nicht! Ihre Geschichte hat leider einen elementaren Fehler! Scheidungen auf Malta sind schlicht und ergreifend verboten. Es gibt sie nicht, so einfach ist das. Ergo kann es auch keinen Unfall gegeben haben, da es nie eine Scheidung gab.“

Er schaute starr mich an. „Scheidungen sind nicht möglich?“ „Nein, sie sind gesetzlich nicht vorgesehen. Bliebe eine Scheidung nach Kirchenrecht, aber da können Ehen nur annulliert werden, soviel ich weiß. Das kann ich mir aber auch nicht so recht vorstellen, da schon durch ihre Anwesenheit auf Gottes Erdboden die Ehe ja mehr als vollzogen wurde. Also nix mit Impotentia coeundi.“ Gordon nickte stumm und hörte unbeeindruckt weiter zu.

„Unter gewissen Umständen jedoch wäre eine Scheidung dennoch denkbar, aber auch nur dann, wenn die Eheschließung in einem Land mit Scheidungen erfolgt ist und einer der Ehepartner Staatsangehöriger eines Landes mit der Möglichkeit der gerichtlichen Auflösung einer Ehe ist.“ „Wie meinst du das denn jetzt?“ „Das ist tiefstes Internationales Privatrecht. Ohne jetzt darüber eine Vorlesung halten zu wollen, die Grundregel ist, dass das materielle Recht des Staates zur Anwendung kommen soll, zu dem der Vertrag die engste Verbindung aufweist und die Ehe ist ja ein Vertrag.“ Mein Gegenüber nickte.

„Also, wenn ein Malteser eine Deutsche in La Valletta nach maltesischem Recht ehelicht und beide auf der Insel auch leben, ist eine Scheidung nicht möglich, denn es gilt maltesisches Recht, also keine Scheidung. Treten die beiden aber in Wuppertal in den heiligen Stand der Ehe, sieht die Sache etwas anders aus. Es kommt dann auch auf den Lebensmittelpunkt der beiden an. Aber selbst wenn dem so wäre, dass eine Scheidung möglich gewesen sei, dann müsste Carla bereits in der Stillphase zu Uni gegangen sein, was wiederum ebenfalls unmöglich ist.“

Gordon fiel fast die Kinnlade auf den Tisch. „Wie das?“ „Wenn ich mich nicht irre, zogen die letzten Britten noch vor 1980 ab. Sie ist heute 27, also wenn die Affäre nach ihrem Studienbeginn begann, hätte sie sich bereits als Krabbelkind immatrikulieren müssen. Das wäre dann durch die Weltpresse gegangen!“ Ich drückte den Glimmstängel im Aschenbecher aus.

„Aber der Kapitän, der Liebhaber?“ Gordon stammelte. „Deine Carla sprach von der Armee, also vom Heer, und da ist ein Captain ein Hauptmann und kein Oberst, was er bei der Marine wäre. Aber das Nato-Flottenkommando auf Malta wurde schon Anfang der 70er Jahre nach Neapel verlegt. Dann wäre sie pränatal zur Uni!“ Ich grinste über beide Backen und blickte ihn an. „Noch Fragen?“ Ein Stöhnen war vernehmbar. „Du bist dir sicher? Wirklich sicher?“ „So sicher, wie ein Quadrat vier Ecken hat!“ Gordon erhob sich und steuerte, wie ferngelenkt, die Garderobe an. Er warf mir meine Jacke zu. „Raus hier!“

Ich rief eine der gelben Droschken. Während ich dem Chauffeur meine Adresse nannte, sackte Gordon auf dem Rücksitz zusammen. „Warum passiert das immer mir?“ Ich legte meine Hand um seine Schulter und zog meine Lieblings-Hete zu mir. „Psst.“ Er schluchzte. „Woran hast du sie erkannt?“ „Ruhe, mein Großer, wirst du gleich hören.“

Nach knapp 12 Minuten waren wir da. Ich bezahlte das Taxi und bugsierte ihn am Portier vorbei in den Fahrstuhl. In der Wohnung angekommen setzte ich den sichtlich erschütterten Konsularbeamten in einen Sessel, goss zwei Weinbrand in dazugehörige Schwenker und kredenzte ihm einen davon.

„Wie hast du es herausgefunden?“ Er klang ziemlich bedrückt. „Dreimal darfst du raten!“ Seine Augen schauten mich fragend an. „Na, erst einmal fand ich ihren Aufzug etwas … sagen wir mal merkwürdig. Es mag ja sein, dass Designerklamotten in Banken angesagt sind, aber ich kenne kaum jemanden, der zu einem privaten Essen an seinem freien Tag freiwillig seine Arbeitskleidung trägt.“ Ich nippte an meinem Glas.

„Dann war da der Gürtel. Sah zwar nett aus, war aber ein Fake.“ „Wieso?“ „Na, die beiden Designer heißen Dolce und Gabbana und nicht Gabbana und Dolce. Die Buchstaben auf der Schnalle waren vertauscht.“ Ein weiterer Schluck rann durch meine Kehle. „Man könnte das ja noch als netten und trendigen Hingucker durchgehen lassen, wenn der über einem normalen Outfit getragen worden wäre, aber der Gürtel zu dem Kostüm? Nein! Das ist ja so, als wenn man an einen Mercedes SLK einen Fuchsschwanz anbringt.“

Zum ersten Mal war so etwas wie ein Schmunzeln auf Gordons Gesicht zu entdecken. „Na, und der Rest war einfach.“ „Sagst du, aber ich dachte nicht, dass ihre Geschichte falsch ist. Es klang alles so stimmig. Wer kennt sich denn mit maltesischem Recht aus?“ „Ich jedenfalls nicht!“ Er war mehr als erstaunt. „Aber du hast doch …“ „Gordon, ich bitte dich! Ich kenne zwar viel, aber ich kann nicht alles wissen und maltesisches Recht wird nicht gerade häufig an deutschen Universitäten gelehrt. Allerdings weiß ich, dass es dort keine Scheidungen gibt. Das mag zwar merkwürdig sein, aber es gehört zu den juristischen Kuriositäten in Europa. Das ist mir aufgefallen, mehr nicht!“

Er blickte mich an. „In Belgien, nur mal so als Beispiel, dankte der König für einen Tag ab, da er als gläubiger Katholik Schwangerschaftsabbrüche ablehnt und das Gesetz darüber nicht unterschreiben wollte. In England ist es Frauen verboten, Schokolade in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Pasteten am 25. Dezember zu essen. In Frankreich darf man sich auf Bahnübergängen offiziell nicht küssen. Soll ich jetzt mit der EU anfangen oder den lustigen Gesetzen hier?“ „Ne, besser nicht!“ „Und mir kam es, ehrlich gesagt, etwas viel vor, was ihr da an Unbill passiert ist. Sie scheint das Pech ja richtig anzuziehen: der gelähmte Vater, die böse und egoistische Mutter, der drohende Ruin und dann als Krönung der behinderte Neffe, der nur teuer operiert werden kann. Wenn sie da etwas weniger dick aufgetragen hätte, wäre es glaubhafter gewesen.“

Ich trank die Neige und schaute ihn an. „Tja, und dann war da ihr Name, der mich mehr als beschäftigt hat. Ich wusste, ich kannte ihn, aber erst das Hundeknäuel auf der Straße hat mich auf die richtige Spur gebracht.“ Er schaute mich an wie der ungläubige Thomas, denn als das Gebell am Tisch zu hören war, hatte er nur Augen und vor allem Ohren für seine ehemalige Herzdame.

Ich ging zur Anlage und suchte eine bestimmte CD. Kurze Zeit später erklang aus den Lautsprechern die Juwelenarie aus Gounods Faust. „Weißt du eigentlich, wer Bianca Castafiore ist?“ „Die Mutter von Carla, wieso?“ „Nein, mein Engel. Bianca Castafiore ist eine berühmte Opernsängerin der Mailänder Scala.“ Ich lächelte ihn an. „Allerdings ist sie nur eine Kunstfigur!“ „Ähh?!“ „Kennst du die Comics von Tim und Struppi?“ Er überlegte. „Nein, kenne ich nicht!“ „Solltest du mal lesen, sind von Hergé und echt gut, auch wenn sie ziemlich alt sind. Hier dürftest du sie unter Tintin finden.“ Er blickte mich ungläubig an und stürzte das braune Getränk in einem Zug die Kehle hinunter.

Das Haustelefon klingelte. Der Portier teilte mir mit, dass ein Paketbote für mich da sei. Das Hochzeitsbankett konnte also steigen, denn außer dem Anzug erwartete ich keine Lieferung. Ich taperte zur Tür und erwartete den Boten, der sich allerdings als weiblicher Vertreter der Gattung Lieferpersonal erwies. Ich unterschrieb die Quittung und gab ihr noch einen Lincoln. Sie bedankte sich noch nicht einmal, dabei hatte ich nur den einen Fünf-Dollar-Schein in der Tasche.

Ich brachte die drei Pakete in Schlafzimmer, Gordon im Schlepptau. „Dein Outfit für heute?“ „Genau!“ Ich blickte auf die Uhr. „Mist, ich muss mich beeilen!“ „Wieso? Die Hochzeit beginnt doch erst um fünf?“ „Die Hochzeit ja, aber ich bin vorher ja noch zum Tee geladen und dazu werde bereits um drei abgeholt.“ „Na, dann will ich dich nicht länger stören.“ „Danke, Und du? Was willst du jetzt machen? Dich betrinken?“ Er lachte. „Auch wenn die gehörnten Männer in der Regel machen, nein, ich werde nicht sofort dem Alkohol zusprechen.“ „Sondern?“ „Na, erst einmal werde ich mich ablenken, mir eine OBP reinziehen und mich dann erst betrinken.“ Er lachte.

„Eine OBP?“ Den Ausdruck hatte der ominöse Anrufer von heute morgen gebraucht. „OBP steht für Off-Braodway-Production. Manchmal finden diese Stücke ihren Weg zum Broadway, aber meistens nicht. Aber man kann viele neue Talente dort entdecken und meistens ist es relativ kurzweilig da. Die Preise sind relativ human im Vergleich zum Broadway.“

Ich war baff. Scott und Richard hatten anscheinend was mit einem Künstler oder der Künstler mit ihnen. Ich blickte jetzt überhaupt nicht mehr durch. Gordon erkannte meine augenscheinliche Irritation. „Was ist los?“

Zurück im Wohnzimmer erzählte ich ihm von dem morgendliches Anruf dieses Jason und den Eintragungen auf dem Küchenkalender. „Tja, mein Lieber. Wenn man jetzt arglistig wäre, könnte man meinen, dass dein Scott eine Affäre hat.“ Ich grummelte. „Aber da ich an das Gute im Menschen glaube, denke ich das nicht.“ „Ich will es ja auch nicht glauben, aber die Fakten! Die Tatsachen sprechen eindeutig dafür!“ „Wenn man sie so betrachten will, dann hast du Recht.“ „Wie meinst du das denn jetzt?“ „Alex, ich bitte dich. Wenn du unbedingt glauben willst, dass dein Scott einen Seitensprung hat, kann man die Fakten dahingehend interpretieren, aber man muss es nicht. Es kann auch eine andere Erklärung dafür geben und die Sache ist völlig harmlos.“ „Und wie soll man sie dann bitte deuten?“

Gordon ging an die Bar und kam mit der Flasche Weinbrand wieder. Er füllte die Gläser nach und drückte mir das meinige wieder in die Hand. „Also, auf dem Küchenkalender steht in regelmäßigen Abständen Richard.“ Es war zwar keine Frage, aber ich bejahte dennoch. „Gut, würdest du die Treffen mit deinem Seitensprung offen auf dem Küchenkalender eintragen? Wohl eher nicht, oder?“

Ich schüttelte zustimmend den Kopf. Er trank einen Schluck. „So, und heute stellt sich nun raus, dass es einen weiteren Beteiligten gibt.“ „Jason?“ „Genau, Jason, der Künstler. Man könnte jetzt auf zwar auf die Idee kommen, die hätten zu dritt das Wort Begehren buchstabiert, aber kannst oder willst du dir Richard nackt vorstellen oder gar in Aktion?“ Er grinste, ich musste bei dem Gedanken ebenfalls schmunzeln.

„Da dieser Jason so offen mit dir gesprochen hat, dürfte die Sache wohl doch eher harmlos sein, er wird sich einfach dabei nichts gedacht haben, als er das Treffen absagte. Als es um den nächsten Termin ging, sprach er da von Meeting oder Date?“ „Ähh, …“ Ich überlegte krampfhaft. „Ich glaube, er sprach von einem Appointment!“ „Da hast du es. Für ihn ging es um einen geschäftlichen Termin und um kein amouröses Beisammensein.“ „Das heißt nun?“ „Tja, Jason ist Künstler und hat selbst einen Termin für ein Stück und sagt daher ab. Das kann für ihn ein Vortanzen, ein Vorsprechen oder ein Vorsingen sein. Daher vermute ich einfach mal, dass Scott und Richard bei ihm irgendwelche Stunden nehmen.“

Das klang irgendwie logisch, aber Zweifel blieben. „Gordon, das mag ja alles sein, aber warum sagen sie denn dann nicht die Wahrheit und lügen Sebastian und mich mehr oder minder an, sie seien beim Eishockey gewesen? Das macht doch keinen Sinn!“

Er grinste mich an. „Doch, mein Lieber, es macht Sinn. Richard will Sebastian und Scott dich mit irgendetwas überraschen. Aus dieser Überraschung machen sie so ein Geheimnis, dass sie sogar dafür lügen.“ Er trank sein Glas aus. „Ich an deiner Stelle würde nicht zu sehr darüber nachgrübeln. Sprich einfach Richard an, wenn du ihn siehst!“ „Du bist gut! Soll ich sagen: Entschuldige Richard, aber euer Fickdate hat den Mittwochsbums abgesagt!“ Er verschluckte sich fast. „Alex, ich glaube nicht, das Scott das schwule Kamasutra üben muss oder bist du so schlecht im Bett geworden? Sie können ja auch einfach nur Gesangsstunden nehmen, weil sie Euch mit einem Ständchen überraschen wollen. Wer weiß?“

Er stellte das Glas ab, kam auf mich zu und umarmte mich. „So, mein Großer, ich werde jetzt von dannen ziehen und dich der alternden Damenwelt überlassen. Aber rasier dich oder willst du als Macho gehen.“ „Nu aber raus!“ Die Drohung war nicht ernst gemeint, aber zum rasieren war ich ja heute noch nicht gekommen. Mir blieb knapp eine Stunde, um mich fertig zu machen.

Intermezzo

Die Nacht war wundervoll, wir liebten uns – quasi als eigenes Dessert – bis in die frühen Morgenstunden. Das Aufstehen war relativ hart, ich erwachte allein in dem großen Bett. Auf Scotts Seite fand ich nur einen Zettel mit seiner wahrscheinlichen Ankunftszeit und der Bemerkung, dass er mich zum Essen ausführen wollte. Ich war also bis sieben abends wieder mal auf mich allein gestellt.

Der Ventilator rotierte zwar auf schwächster Stufe, aber er sorgte dessen trotz für ein Gefühl der Kälte. Ich lag in dem mir noch fremden Bett und dachte nach. Was sollte ich machen? Ich mochte Scott, soviel stand fest. Aber auch wenn der emotionale Part in mir eine Zukunft für uns beiden wünschte, der Rationalist in mir glaubte nicht daran.

Nach dem obligatorischen Nuttenfrühstück bestehend aus zwei Tassen Kaffee und drei Zigaretten verbrachte ich den restlichen Vormittag mit Einkäufen für die Daheimgebliebenen. Ich kaufte also etwas für meine Eltern, meine Schwester, die ich seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte, etwas für Jan, meinen Chorleiter, und ich erstand sogar ein Geschenk für Felix. Ich weiß zwar auch nicht, aber ich fand das schwarze Shirt gut. Die Freiheitsstatue umrahmt von dem Spruch: „Now I am free!“ Zum ersten Mal seit Tagen dachte ich wieder an ihn.

Auf der Suche nach Abwechslung führte mich dann der Weg des Nachmittags doch noch zu der Vernissage, zu der ich am Vortag eingeladen worden war. Ich hatte gehofft, Esteban dort zu treffen, denn ich brauchte in der momentanen Stimmungslage, in der ich steckte, jemanden zum reden. Es hilft mir, wenn ich jemanden als seelische Müllhalde ge- oder auch missbrauchen kann. Aber der Graffitisprayer glänzte durch Abwesenheit.

Die Kunstwerke sagten mir überhaupt nicht zu, ebenso wenig das mexikanische Buffet, dass irgendwie wie gewollt aber nicht gekonnt aussah: die Minitacos trieften vor Fett, die Guacamola war ziemlich braun und die Tortillas zerbrachen schon beim bloßen Anfassen. Nach einem halben Glas eines ziemlich verwässerten Mescals verließ ich wieder die Galerie.

Ich überlegte, wie ich den Rest des Alleinseins verbringen sollte. Ich könnte in eins der vielen Museen, aber den Plan verwarf ich gleich wieder, mir war einfach nicht nach Öl auf Leinwand. Kunst hatte ich ja heute auch schon genossen, wenn auch naive Malerei eines Mexikaners, aber das sollte für heute reichen. Ein Besuch bei Sebastian kam für mich auch nicht in Frage. Der Gute musste arbeiten.

Ich irrte ziel- und planlos durch die Straßen und fand mich kurze Zeit später in einem Straßencafe wieder. Nicht nur meine Wenigkeit nutzte den warmen Tag nach dem gestrigen Regen, denn die zehn Tische, die da auf dem Bürgersteig standen, waren fast voll besetzt. Ich ergatterte den letzten freien Zweiertisch, bestellte einen Cappuccino und sinnierte in der herbstlichen Sonne über Gott und die Welt, über Felix und Scott und besonders über meine Gefühle zu beiden.

Ich hätte das Shirt doch besser nicht kaufen sollen, denn seitdem fuhren meine Gefühle irgendwie Achterbahn. Felix und ich waren gute fünf Jahre zusammen gewesen und sind in der Zeit durch dick und dünn gegangen. Neben seinem Coming Out hatten wir drei Examen miteinander durchlitten, seine beiden und meine erste juristische Staatsprüfung.

Er war der erste Mann, mit dem ich mir ein Zusammenleben in einer Wohnung vorstellen konnte. Gut, wir lebten dann in Bonn zwar zusammen, aber was von mir als Lebens- und Liebesgemeinschaft geplant war, wandelte sich ziemlich schnell in eine reine Wohn- und Zweckgemeinschaft. Ich spielte aufgrund meiner größeren Freizeit als Referendar Hüter des Hauses, sprich ich kochte, putzte, wusch und bügelte. Er hingegen mutierte ziemlich schnell zum Pantoffeltiger, der nur im äußersten Notfall des Abends das Haus wieder verließ.

Während ich da so stumm vor mich hin ins Leere blickte, störte ein Räuspern die Stille meiner Gedanken. Ich blickte auf und sah einen graumelierten Herrn so um die 50, der auf den Stuhl neben mir deutete. „Free?“ Ich nickte. „Yes, take a seat.“ Er setzte sich und während mein Nebenmann seine Bestellung aufgab, war ich schon längst wieder ins Reich der Gedanken eingetaucht. Aber anstelle einer Glaskugel benutzte ich die Tasse als Fokus.

„It seems you don’t like hot coffee.“ Ich starrte ihn gedankenverloren an. „Äh, wie meinen?“ Er grinste. „Ah, ein Landsmann. Dachte ich mir schon!“ Ich schaute ihn fragend an. „Wie meinen Sie denn das jetzt? Schauen Amerikaner denn anders als Deutsche?“ „Nein, eigentlich nicht, aber Ihre Brille.“ Ich war verdutzt. „Sehen Sie, Amerikaner haben einen schlechten Geschmack was Brillen angeht, hauptsächlich findet man schwarze Horngestelle bei normalen Augenleiden. Wenn es nicht gerade um Sonnenbrillen geht, könnte man meinen, es gebe hier nur eine Einheitsbrille.“ Er lachte und ich musste schmunzeln. „Ist mir so noch nicht aufgefallen. Sind Sie Optiker?“

„Nein, nur aufmerksamer Beobachter.“ „Aber mit viel Brillenerfahrung!“ Wir lachten jetzt beide. „Wenn sie es so nennen wollen. Aber in meinem Beruf gibt es kaum jemanden über vierzig, der keine Brille trägt.“ „Und was machen Sie, wenn die Frage gestattet ist?“ „Die Frage ist gestattet. Ich bin eine Art Buchprüfer.“ „Eine Art Buchprüfer? Also, ich kenne nur normale Revisoren, dass es Unterarten davon gibt, ist mir neu.“ Ich nahm die Augengläser ab und sah ihm in die Augen. Seine Lachfältchen traten hervor. „Nein, die gibt es auch nicht- Ich bin eher Dolmetscher für Bücher.“ Ich war zwar nicht neugierig auf seine Lebensgeschichte, aber dankbar für die Abwechslung, die sich mir bot, riss sie mich doch aus meinem bisher trübsinnigen Gedankensalat. „Das müssen Sie mir jetzt genauer erklären.“

„Sehen Sie, es gibt Unterschiede im Bilanzierungsrecht der einzelnen Länder. Was man abschreiben kann und darf, wie was zu bewerten ist, was in die Bücher muss und was nicht.“ „Klingt nach tiefstem HGB, AfA und trockenem Steuerrecht.“ „Sie sind auch vom Fach?“ „Wieso?“ „Na, sie nennen die Abschreibung für Anlagen schlicht AfA. Lassen Sie mich raten: Jurist?“ „Angehender! Im Moment noch Referendar.“ „War ich auch mal, aber das ist Ewigkeiten her. Welche Station?“ „Gerade mit der Verwaltung angefangen.“ „Gericht oder Stadt?“ „Kreisverwaltung.“ „Wo?“ Ich beschloss, meinem Gegenüber die Wahrheit zu sagen, denn die Möglichkeit, dass ich ihn jemals wieder sehen würde, tendierte gegen Null.

„Kleines Kaff bei Bonn. Bornheim, falls Ihnen das was sagt!“ „To be honest … Bornheim sagt mir nichts, aber in Bonn war ich letzte Woche noch. Da sitzt einer unserer deutschen Kunden.“ Ich war erstaunt. Die Welt ist ein Dorf, und das nicht erst seit der Einführung des Internets.

„Wirklich?“ „Das hat was mit meiner Dolmetschertätigkeit zu tun.“ Er lächelte und ich schaute ihn an. „Lassen sie mich bitte mal kurz überlegen.“ „Ich lausche gebannt Ihren Überlegungen!“ „Sie sagten, sie übersetzen Bücher.“ „Genau!“ „Da sich Zahlen eigentlich nicht übersetzen lassen, denn eine Ziffer ist eine Zahl, egal ob in deutsch oder in englisch geschrieben, aber deren Bewertung kann, je nach Rechtssystem, in welchem ich mich bewege, eine andere sein.“ Er nickte väterlich. „Ich vermute daher einfach mal, sie waren bei dem rosa Riesen.“ „Gut kombiniert! Das stimmt schon einmal. Aber nun die Frage: Warum?“ Ich kam mir vor wie bei einem Examen.

„Ich habe zwar keine genaue Ahnung, aber ich habe hier einen Besuch an der Börse gemacht. War ziemlich interessant. Da sah ich, dass die deutsche Telekom auch hier gehandelt wird. Ohne mich großartig mit amerikanischem Börsenrecht beschäftigt zu haben, vermute ich einfach mal, dass sie die deutschen Bilanzen des ehemaligen Staatsbetriebs für die New Yorker Stock Exchange aufbereiten.“ Er war verblüfft. „Der Kandidat hat 100 Punkte!“

Jetzt tranken wir beide. Er von seinem noch heißem Kaffee, ich von meinem mittlerweile kalt gewordenem Trank, dementsprechende verzog ich mein Gesicht. Mein Gegenüber orderte via Handzeichen zwei neue Tassen für unseren Tisch.

„Wie sind sie darauf gekommen?“ „Nun, ich schätze einfach einmal, dass Firmen, deren Aktien hier gehandelt werden sollen, den amerikanischen Börsenrichtlinien entsprechen müssen.“ Er nickte ein weiteres Mal. „Da die Firma mit dem Rosa T aber ein rein deutsches Unternehmen ist, gilt ja deutsches Recht bei der Bilanzierung. Sie bereiten also die Bilanzen für die Börse hier auf bzw. bescheinigen als eine Art Auditor, dass die Bilanzen den Richtlinien hier entsprechen.“ „Sie sind, obschon ihrer dunklen Haare, ein helles Köpfchen. Stimmt auffallend.“

Er trank den Rest seines Kaffees, der Kellner brachte in dem Moment die neunen Getränke. „Darf ich mich erst einmal vorstellen. Maximilian Bendler von Hallerman, Forbes, Forbes and Bendler.“ Ich schüttelte ihm die Hand. „Angenehm. Alexander van Aart. Ohne irgendwelche Anhänge.“ Wir grinsten beide.

Der frische Kaffee tat gut. „Aber was mache ich hier?“ Er schaute mich verblüffend an. „Wir drehen den Spieß jetzt einmal herum. Also! Was könnte ich hier machen?“ „Ich bin kein Psychologe!“ „Aber nach eigenem Bekunden ein guter Beobachter!“ Er räusperte sich, aber eher wohlwollend. „Also, ich sehe einen deutschen Referendar gedankenverloren in einem Straßencafe im Big Apple. So wie sie hier sitzen, können sie nicht einer der Wochenendtouristen sein, zumal ja kein Wochenende ist. Sie sind also schon etwas länger hier.“ „Stimmt!“ „So wie sie auf Ihren Kaffee starrten, beschäftigt Sie etwas.“ „Stimmt auch. Aber was beschäftigt mich?“

„Sie verlangen Dinge von mir! Aber gut! Sie haben eine Trennung hinter sich, ich schätze mal, so knapp vor einem Monat!“ Ich war baff erstaunt, es stimmte fast auf den Tag.

„Und wie kommen sie darauf?“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Ihr Ringfinger verrät es mir! Sie waren lange Zeit liiert, tragen heute jedoch keinen Ring mehr. Die Vertiefung ist aber noch zu sehen. Und, verzeihen Sie mir diese Bemerkung, normalerweise verbringt man seinen Urlaub zu zweit am Strand und nicht alleine in einer Stadt. Als ich damals im Referendariat steckte, bin ich mit meiner Frau nach Rimini zur Erholung gefahren, Städtereisen machten wir am Wochenende. Ich weiß zwar, dass sich das Freizeitverhalten geändert hat, aber so grundlegend? Nein, das glaube ich nun wieder nicht!“ Der Mann war gut.

„Sie haben recht, allerdings bis jetzt nur 80 Punkte erreicht.“ Er grinste mich an. „Na dann ist der Rest einfach. Sie haben hier eine neue Frau kennen und vielleicht auch lieben gelernt und schwanken jetzt, was Sie machen sollen! Ob das hier mit der Amerikanerin eine Zukunft hat: Sie in Deutschland in Bonn in Ausbildung und die Herzdame hier in Staaten in New York. Habe ich Recht?“ „Es stimmt alles, nur es ist keine Herzdame sondern ein Herzbube.“ Er trank einen Schluck. „Na ja, Beziehung ist Beziehung, egal welche Geschlechter daran beteiligt sind. Aber wenn Sie wollen, erzählen Sie. Ich habe Zeit, meine Frau ist beim Frisör und das kann dauern.“

Es war eigentlich genau das, was ich wollte, mir meine Gefühlslage von der Seele reden. Ich fasste also während drei Zigaretten und zwei weiteren Kaffees, die ich diesmal bestellte, die fünf Jahre mit Felix und mein Zusammentreffen mit Scott zusammen.

Maximilan Bendler kratze sich am Kopf. „Also, junger Freund, Sie stecken in einem schönen Dilemma.“ „Da sagen sie mir nichts Neues.“ Ich schaute ihn resignierend an. „Ich kenne mich zwar besser mit blanken Zahlen aus, denn die haben keine Gefühle, aber eine gewisse Risikoabwägung gehört auch zu meinem Metier.“ „Und was kommt bei der Bewertung raus?“

„Hm, ich bin leider nur Wirtschaftsanwalt und kein Psychologe, die könnten so etwas besser analysieren. Aber wenn ich die ganze Situation mal in die Welt der Wirtschaft übertragen darf: Sie haben sich gerade von dem langjährigen Hauptabnehmer ihrer, nennen wir es mal Gefühlsprodukte, getrennt, die Gründe lassen wir jetzt mal außen vor. Das heißt, sie müssen sich jetzt neu orientieren, denn sie wollen ja weiterhin ihre Produkte an den Mann bringen.“ Ich lauschte gebannt seinen Worten. „Sie können die Herstellung aber auch nicht einfach einstellen, denn das würde den Ruin ihrer Firma bedeuten. Sie produzieren im Moment daher, entschuldigen Sie die Metapher, eher Gefühle für die Halde. Nun kommt in dieser für Sie sehr schwierigen Phase ein verlockendes Angebot, jemand interessiert sich für ihre einzigartigen Produkte und könnte zum neuen Hautabnehmer mutieren. So weit, so gut. Allerdings gibt es bei dem potentiellen Kunden ein ziemlich großes Problem.“ Ich unterbrach ihn. „Sie meinen, wie er im alltäglichen Zusammenleben reagiert?“ „Nein, junger Freund, das gehört zu den noch auszuhandelnden Konditionen des Liefervertrages, im Moment sind das jedenfalls Sekundärprobleme. Haben Sie sich schon mal Gedanken über die Standortfrage gemacht?“ Er blickte mich scharf und eindringlich an.

„Wenn ich ehrlich bin, nicht wirklich!“ „Meiner Ansicht nach ist das größte Problem. Während ihr alter Kunde in unmittelbarer Nähe zum Produktionsort saß und sie jederzeit auf seine Wünsche reagieren konnten, ist der Weg zum neuen Abnehmer etwas weiter. Ein kleiner Teich von 6.000 km Breite liegt zwischen Ihnen.“ Er schmunzelte und ich konnte mir ob des Vergleichs ein Lächeln auch nicht verkneifen.

„Eine Verlagerung der Produktionsstätte wäre zwar möglich, aber im Moment nicht so ratsam.“ „Wie meinen Sie das denn jetzt?“ „Einfach! Sie sind im Referendariat, also noch in der Bauphase zu ihrem beruflichen Fundament. Sie könnten jetzt zwar den Bau einstellen, aber das wäre bei Ihren Talenten erstens eine Verschwendung von Ressourcen, die ich bedauern würde, und zweitens wären sie dann auf Gedeih und Verderb dem Kunden ausgeliefert. Mit nur einem Examen können Sie in den Staaten überhaupt nichts anfangen, sie müssten wieder bei Null beginnen, wenn Sie überhaupt eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Auch eine Verlagerung des Abnehmers kommt nicht Betracht, denn die Konditionen, zu denen er hier arbeitet, findet er in Deutschland nur sehr schwer, zumal er ja die Sprache nicht spricht.“

Ich war erstaunt, so wirtschaftlich hatte ich eine Beziehung noch nie analysiert bekommen. „Also sollte ich die ganze Sache besser lassen?!“ Er blickte mich erstaunt an. „Das habe ich nicht gesagt! Die Ausgangslage ist zwar nicht rosig, aber so schwarz müssen sie sie nun auch wieder nicht malen.“ Ich verstand nun gar nichts mehr.

„Ich sage nicht, dass eine Fusion ob ovo zum Scheitern verurteilt ist, aber sie wird mehr als schwierig werden. Sie mögen Ihren Todd …“ „Scott!“ „Entschuldigung. Sie mögen also ihren Scott?“ „Ja.“ „Es ist für Sie aber erheblich mehr als eine verspielte Urlaubsliebelei?“ „Ich glaube schon!“ „Aber sicher sind sie sich nicht?“ „Nein, dazu ist die Trennung von Felix noch zu frisch und kann man in der Liebe sicher sein?“ „Keine Gegenfragen, junger Freund.“ Er zwinkerte mir zu. „So etwas wie 100%ige Sicherheit wird es nie geben, so etwas nennt man einfach Leben. Aber ganz davon ab, haben Sie schon eine Wahlstation?“

Die Wendung kam für mich mehr als überraschend. „Nein, noch nichts Festes. Ein Onkel von mir wollte mich in der Rechtsabteilung seiner Firma unterbringen. Wieso fragen Sie?“ „Na, wenn Sie doch mit Ihrem Scott fusionieren wollen, Ihre Wahlstation können Sie auch bei Hallerman, Forbes, Forbes and Bendler machen. Auch wenn sie die Fusion nicht wollen, ein Auslandsaufenthalt macht sich in Bewerbungsunterlagen immer gut!“ Er grinste über beide Backen.

„Ausbildungsberechtigt bin ich ja, ich müsste mich zwar noch genauer kundig machen, aber das ist das kleinste Problem!“ Ich schaute ihn ungläubig an. „Das würden Sie für mich tun?“ „Natürlich, denn Sie müssen wissen, ich liebe schwierige Fusionen. Mein Angebot steht.“ Er stellte seine Tasse ab und hielt mir seine Hand hin und ich schlug ein.

Wir unterhielten uns noch einige Zeit über die mögliche Zusammenarbeit, bis seine Frau auftauchte, um ihren geparkten Ehemann abzuholen. Ich überließ Frau Bendler, die sich als Miriam vorstellte, gerne den Platz und verließ, nach dem obligatorischen Austausch von Karten, frohen Mutes das Ehepaar Bendler und das Straßencafe in Richtung meines Liebsten.

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