Die Brüder – Teil 3

Weil das Wochenende natürlich zum kennen lernen nicht reichte, wollte mich Phillip am folgenden Wochenende in Frankfurt besuchen. Ich denke aber auch einfach die Möglichkeiten auszukundschaften, wenn er wirklich zu mir und Mum ziehen würde.

Bisher hatten wir kein Wort darüber mehr verloren, nachdem Andreas die Frage in den Raum gestellt hatte. Was mich auch sehr verwunderte, obwohl Phillip und ich nur zwei Tage jetzt kannte, schien der eine zu wissen was der andere dachte.

Ich musste Phillip nur anschauen und ich wusste was in ihm vorging, so auch er bei mir. Mir fiel der Abschied sehr schwer und das nicht nur wegen Phillip. Ich hatte Großeltern, die mir sofort ans Herz gewachsen waren.

Mein Opa hatte mir soviel zu erzählen, und irgendwie wusste ich mich geborgen in der Nähe der Beiden. Es war eine riesen Knuddelei bevor wir ins Auto stiegen, Michael hatte sogar die beiden zur Hochzeit eingeladen, was sie sehr begrüßten.

*-*-*

Am Montag mussten wir wieder in die Schule. Andreas in seine und ich in meine. Ich war schon hin und hergerissen, wegen diesem Wochenende. Zu einem hatte ich meinen Vater verloren, ohne ihn je richtig kennen zu lernen.

Wobei ich mich fragte ob man einen Menschen jemals richtig kennen lernen konnte. Es stimmte mich halt einfach traurig, diese Chance verpasst zu haben. Andererseits hatte ich eine Bruder und Großeltern dazu gewonnen.

Meine Gefühlswelt schien zu bersten, einfach noch zu viele Eindrücke in meinem Kopf waren. Raffael winkte mir schon von weitem zu. Manchmal fragte ich mich, ob Raffael nicht doch mehr von mir wollte als eine normale Freundschaft.

„Na, wie war dein Wochenende?“ fragte er mich.

„Sehr interessant, als würde ich meine zweite verpasste Kindheit nachholen.“

„Zweite Kindheit?

Ich erzählte ihm von Phillip und meinen Großeltern. Er stand einfach nur da und war baff, über das eben erzählte.

„Und wann werde ich Phillip kennen lernen.“

„Eine Woche nach den Prüfungen, an meinem Geburtstag, wir werden ja beide achtzehn, den wollen wir zusammen feiern, oder am nächsten Wochenende.“

Die Tatsache, dass Phillip mein Zwillingsbruder war, verschwieg ich aber.

„Du ich habe mit Martin gesprochen, du weißt doch wegen deinem Lied“, meinte Rafael plötzlich.

„Ja und?“

„Er würde dir gerne helfen, er meinte nur ob du ihm den Text geben könntest und vielleicht das Lied auf eine CD brennen könntest.“

„Bin ich ein Aufnahmestudio?“

„Nein, aber so könnte Martin schon vorab ein bisschen üben, bevor er mit dir am Klavier singt.“

„Gut ich versuch es, ich bringe es morgen mit. Und wann kann ich Martin mal persönlich kennen lernen?“

„Gleich, hinter dir kommt er!“, sagte Raffael und zeigte über meine Schulter.

Ich drehte mich um, und für ein bruchteil einer Sekunde glaubte ich, mein Herz bleibt stehen.

„Martin?“, stammelte ich.

„Ja, so nennt man mich, normalerweise“, kam es von meinem Gegenüber zurück.

Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Seine dunklen Haare, die durch den Wind wirr auf seinem Kopf standen, und die blonden, kleinen Strähnchen, die dieses Wirrwarr komplett machten. Einen Mund wohl geformt, das mir das Wasser im Mund zusammen lief. Und dann die Augen, sie hatten ein grün, dass ich bis dahin noch bei keinem gesehen hatte.

„Sebastian…“

Raffael riss mich aus meinen Träumen. Ich wurde feuerrot.

„Keine Sorge, dass passiert mir laufend“, kam es von Martin, „wobei ich zugeben muss, ein Junge hat mich bis jetzt noch nicht so angestarrt oder es ist mir nicht aufgefallen.“

Ich schaute verzweifelt um mich um ein Mauseloch zu finden, in das ich mich verkriechen hät können. Das war oberpeinlich.

„Stehst du auf Jungs?“, und die Hammerfrage gleich hinter her. Am liebsten wäre ich jetzt weggerannt, aber mein Körper traute sich nicht. Also entschloss ich mich, in die Gegenoffensive zu gehen.

„Ja, Probleme damit?“

„In keinster Weise“, sagte er mit einem Lächeln, das mich dahin schmelzen ließ.

Raffael schaute zwischen uns hin und her schien langsam zu verstehen, was sich da gerade anbahnte.

„Ähm Leute, der Unterricht beginnt, will euch ja nicht unterbrechen“. meinte er und zog nervös an meinem Ärmel.

„Man sieht sich,“ sagte Martin.

„Bestimmt!,“ bekam ich nur raus.

Raffael zog mich ins Gebäude, obwohl ich kein Auge von Martin lösen konnte.

„Was war jetzt das? Liebe auf den ersten Blick“, konnte sich Raffael nicht verbeißen.

„Ach Quatsch, wie kommst du da rauf?“

„So wie du ihn gerade angehimmelt hast,“ sagte Raffael grinsend.

„Schlimm? Bist wohl neidisch“, konterte ich.

Ich lief die Treppe hinauf zu unserem Klassenzimmer.

„Ein bisschen…“, konnte ich hinter meinem Rücken gerade noch so hören.

„Du Raffael?“

Ich war ruckartig stehen geblieben um mich zu Raffael umzudrehen, was zur Folge hatte, dass ich das Gleichgewicht verlor und hinstürzte.

„Du brauchst nicht vor mir hinzuknien“, sagte Raffael und begann zu kichern.

„Wie kommst du auch darauf, dass ich mich zu dir herab lassen würde.“

Mit Mühe und Not stand ich wieder auf und sammelte meine Sachen wieder ein.

„Hab ich dich gerade richtig verstanden?“ fragte ich, während ich dies tat.

„Schon…,“, kam es von Raffael und bekam rote Flecken im Gesicht.

„Und warum hast du nie was gesagt?“

„Ich hab mich nie getraut..“

Ich saß im Unterricht und konnte mich nicht recht konzentrieren. Es fiel nicht weiter auf, denn unser Lehrer hielt über irgendwelche mathematischen Kurven einen Vortrag. Ich dachte an Raffael, was er mir gerade gestanden hatte.

Und ich bekam diese grünen Augen von Martin nicht mehr aus dem Hirn. Wie viele Geschehnisse, hält ein Mensch eigentlich aus? Sieben Stunden später, war ich froh meine Haustür auf zuschließen. Raffael hatte sich auffallend fern gehalten von mir.

Ich schmiss meine Tasche auf den Boden und rieb an meinem Arm. Ich hatte ihn mir doch mehr angehauen, als ich dachte. Das Telefon ging.

„Sebastian hier.“

„Hallo Sebastian, hier ist Phillip.“

Ich hörte an seiner Stimme, dass was nicht in Ordnung war.

„Phillip? Was ist, du hörst dich so traurig an.“

„Peter… Peter ist gestorben…“

„Peter ist tot…?“

Hinter mir fiel etwas zu Boden. Meine Mutter war gerade auch nach Hause gekommen, und als sie das Wort Tod hörte, ließ sie ihre Tasche fallen.

„Ja. Er ist heute Nacht… an Hirnblutung gestorben.“

Ich merkte wie sich Phillip zusammen riss. Er stand kurz davor los zuweinen.

„Sebastian, hätte ich doch nur was gesagt….. jetzt bin ich schuld, dass zwei Menschen gestorben sind.“

„Rede doch nicht so einen Scheiß. An gar nichts bist du schuld. Das war eine unglückliche Zusammenführung von Ereignissen, da kannst du doch nichts dazu.“

„Doch Sebastian, hätte ich meinem Vater gleich erzählt, was dieses Schwein mit Peter gemacht hat, wäre vielleicht alles nicht soweit gekommen.“

„Siehst du, du sagst selber vielleicht. Du weißt selber nicht was dann geworden wäre.“

Meine Mutter stand hinter mir und strich mir über den Kopf, ich hatte die Lauttaste gedrückt, so konnte sie alles mithören.

„Ach ich weiß selber nicht mehr was ich denke soll.“

„Versteh ich Phillip, halt aber wenigstens bis Donnerstagabend noch aus, bis du im Zug zu mir sitzt. Bitte tu mir den Gefallen.“

„Ich komm wahrscheinlich erst Freitag.“

„Wieso das?“

„Weil Peter am Donnerstag beerdigt wird.“

„Soll ich kommen?“

Meine Mutter schaute mich fragend an, ich wusste was sie meinte, wegen der Schule und so.

„Das würdest du für mich tun?“

„Wenn Mum damit einverstanden ist, werde ich kommen, natürlich, Moment ich frage.“

Ich brauchte nicht zu fragen meine Mutter nickte schon und ging in die Küche.

„Dann geht alles klar, ich ruf dich wieder an, wenn ich weiß mit welchem Zug ich heut Abend ankomme.“

„Danke.“

„Für was?“

„Das ich einen so tollen Bruder habe.“

Zum Glück konnte er nicht die Röte in meinem Gesicht sehen.

*-*-*

„Hast du auch genügend Geld mit?“, fragte meine Mum, als ich auf dem Tritt zum Waggon stand.

„Ja Mum, habe ich und ruf Oma noch mal an, wann ich eintreffen werde.“

„Ja mach ich Sebastian. Ich bin stolz auf die mein Großer und pass auf dich auf.“

„Danke Mum.“

Im Gegensatz zu anderen Jungs in dem Alter machte es mir nichts aus, wenn meine Mutter mich in den Arm nahm und mir einen Kuss zum Abschied gab. Ich hatte nun dreieinhalb Stunden Fahrt vor mir.

Der ICE rollte langsam aus dem Frankfurter Hauptbahnhof. Langsam gewann er an Geschwindigkeit. Dass mir meine Mutter eine 1.Klasse Ticket besorgte fand ich toll. So hatte ich wenigstens meine Ruhe.

Ich packte mein Notebook aus legte die Aufnahme mit meinem Lied ein und begann es zu bearbeiten. Raffael brachte mich auf die Idee, das Stück noch etwas umzuschreiben. Immer wieder hörte ich mir die Melodie über Kopfhörer an und hatte den Text vor Augen.

…ich fühl mich so alleine… vermisse deine Liebe…

Es erinnerte mich an Phillip, den Text hätte von ihm sein können. Ich hatte nicht gemerkt, wie in meinem Abteil, sich noch jemand hinzu setzte. Ich zuckte förmlich zusammen, als ich aufschaute und zwei wunderschöne Augen schaute.

Der Junge sprach mich an, bis ich schnallte, dass ich noch immer den Kopfhörer auf hatte, und deswegen nichts verstand.

„Hast du was gesagt?“ fragte ich ihn.“

„Ja Hallo hab ich gesagt.“

„Ähm, hallo.“

„Fährst du auch nach München?“

„Ja, zu meinem Bruder.“

„Ich in die Herzklinik.“

Ich schaltete den Laptop ab, denn ich hatte das Gefühl, es könnte eine längere Unterhaltung geben.

„Auch jemanden Besuchen?“

„Nein, muss zu einer Untersuchung, ich hab nen Herzfehler.“

Ich wunderte mich schon, dass der Junge so blass um die Nase war.

„Fühlst du dich nicht wohl, oder warum bist du so blass? Übrigens ich heiße Sebastian.“

„Ich bin Kai, nein ich seh immer so aus, wegen meiner Krankheit.“

„Hört sich schlimm an.“

„Man kann damit leben.“

„Und warum fährst du alleine, wenn ich fragen darf. Deine Eltern nicht dabei.“

„Ach die. Immer unterwegs. Heute London morgen New York, sind nicht so viel zu Hause.“

„Du vermisst sie?“

„Ja sehr, aber ich bin es gewohnt, nur per Telefon mit Ihnen verbunden zu sein.“

„Du kommst auch aus Frankfurt?“

„Ja, aber Frankfurt ist so groß, wäre ein Zufall wenn wir uns über den Weg gelaufen wären. Zudem verlasse ich so wieso das Haus selten, weil ich keine Freunde habe.“

Ich dachte mir noch, warum lernst du nie normale Leute kennen. Aber Kai wurde mir zusehends sympathischer.

„Gehst du nicht zur Schule?“

„Ich hab einen Privatlehrer, leider.“

„Leider? Fände ich toll.“

„Ist toll, wenn einer nur für einen da ist, aber kennen lernen tust du dadurch niemand, keine Klassenkameraden oder so.“

„Da hast du wieder Recht, aber jetzt hast du ja jemanden kennen gelernt.“

„Danke. Was hast du eigentlich so interessiert an deinem Laptop gearbeitet, Hausaufgaben?“

„So zusagen. Ich geh auf die Musikschule und am Ende des Monats muss ich ein selbstkomponiertes Lied abgeben, als Prüfung.“

„Hört sich wirklich interessant an, kann ich mal rein hören?“

„Sicher.“

Ich fuhr mein Laptop hoch, und er setzte sich neben mich. Ich merkte wie langsam und vorsichtig er das tat. Irgendwie bekam ich Mitleid mit ihm. Er setzte sich den Kopfhörer auf und lauschte der Musik.

„Und der Text?“

Ich gab ihm das Blatt, dass ich mir zu Hause hab ausdrucken lassen. Wieder saß er da, nur diesmal summte er die Melodie leise mit. Er wiederholte es ein paar Mal und plötzlich hörte ich mein Lied das erstemal von jemand anderem.

Jahre sind vorbei

Schmerzen sind geblieben

ich fühl mich so allein

vermisse deine Liebe

 

Geh mit mir wenn du willst

Allezeit bis in den Tag

Ich seh dich dort oben

Was ich fühl wenn du weinst

Zeig mir deine wahre Macht

über mich

 

The love you feel

neverending like you are

my only shinning star

he makes you see

the lonely comes

Eternity

 

Jahre sind vorbei

und ich schau auf die Sterne

ich sehe wie du weinst

ich hör es aus der Ferne.

 

© Alle Rechte bei der Gruppe „Invade“

 

Ich war hin und weg, als ich Kais glasklare Stimme hörte.

„Wow, hast du eine geile Stimme.“

„Danke, ich habe ja auch Gesangunterricht.“

„Kein Wunder.. so schön hat sich das Lied noch nie angehört..“

„Das ist ein Duett… oder?“

„Ja. Aus meiner Schule will jemand mit mir singen.

„Und mit wem willst du es dann vortragen, singen?“

„Eigentlich gar nicht, aber ich muss. Am liebsten würde ich nur Klavier.“

„Wieso denn nicht, du hast doch eine sympathische Stimme.“

„Nein, nicht dein Ernst. Ich halte sie als sehr unerträglich.“

„Bist du gut im Klavier spielen?“

„Ja wieso?“

„Also ich gebe dir einwenig Unterricht im Singen und du mir im Klavierspielen, okay?“

„Wenn du meine Piepstimme ertragen willst, gerne.“

„Gut wenn ich wieder in Frankfurt zurück bin, fangen wir damit an.“

„Und wann wäre das?“

„Ich muss über Nacht in der Klinik bleiben, Moment auf meinem Ticket steht, wann ich zurückfahre.“

Er zog ein Ticket aus seiner Jackentasche und lass es durch. Wir stellten fest, dass wir mit den gleichen ICE am Abend zurück fahren würden. Überhaupt merkte ich, dass Kai viel mehr Farbe ins Gesicht bekommen hatte, er war die letzte halbe Stunde regelrecht aufgeblüht.

Wir saßen gemeinsam fast zwei Stunden da, um das Lied komplett auszuarbeiten. Ich hatte selten jemand so begeistert bei der Arbeit gesehen wie Kai.

„Was ist das?“

Ich schaute auf, denn Kai hatte einen anderen Ordner auf meinem Laptop geöffnet.

„Das sind nur Gedanken, die ab und zu aufschreibe… nichts Wichtiges.“

„Darf ich mal reinschauen?“

„Meinetwegen.“

Er blätterte in den Seiten und blieb bei einem stehen, was er leise vor sich hin lass.

jede Trennung tut weh

ein Abschnitt des Lebens geht zu Ende

man denk alles bricht zusammen

der Schmerz zu groß

weil die Erinnerung zu frisch

jeden Tag neu

das Neue man noch nicht sieht

oder es nicht sehen will

weil unbekannt und eben neu

nur sehr langsam es geht

viele den Anfang nicht sehen

und es doch ein Anfang ist

viele neue Dinge kommen

helfen den Schmerz zu bändigen

bis er irgendwann langsam

in den Teil der Erinnerung übergeht

und man es ablegt

wie einen Mantel nach dem Regen

und nur noch selten daran denkt

was früher war

aber bis zu dieser zeit

den Schmerz ertragen muss

mit der Gewissheit

es geht vorbei

es kommt was neues…

Kai lehnte sich zurück, und schaute nachdenklich zum Fenster raus, wo die Landschaft in Windeseile vorbei rauschte. Ich schrieb meine Notizen fertig und lehnte mich dann ebenfalls zurück.

„Was ist?“, fragte ich ihn nach einer Weile.

„Dein Text hat mich an was erinnert, was ich schon lange verdrängt hatte.“

„Nicht abgelegt?“

„Na ja auch abgelegt, kann man schon sagen.“

„Schmerzhaft?“

„Ja sehr.“

„Möchtest du darüber reden?“

„Ich weiß nicht.“

„Ich bin ein guter Zuhörer.“

„Habe ich mittlerweile gemerkt. Aber ich weiß nicht ob ich soweit bin, darüber zu reden.“

„Du musst nicht Kai, ich will nicht, dass du etwas tust, was du nicht möchtest.“

„Würde dir das schon gerne erzählen, Sebastian, aber ich weiß dann nicht wie du reagierst.“

„Wir wäre es, wenn du es mal drauf ankommen lässt?“

„Meinst du?“

„Versuch es einfach.“

Er schaute wieder zum Fenster hinaus.

„Es war vor zwei Jahren, als ich Markus kennen lernte. Er war wie ich in der Herzklinik in München. Nur mit dem Unterschied ich war Privatpatient und seine Operation hatten irgendeine Organisation übernommen, die minderbemittelten Familien, die Kosten für so aufwendige Operationen übernahmen.“

Ich blieb ruhig an meinem Platz sitzen und lauschte einfach, was Kai zu erzählen hatte.

„Am Anfang wusste ich nicht ob er nur von meinem Reichtum fasziniert war, oder wirklich nur als Freund meine Nähe suchte, so war ich im Denken schon von meinen Eltern eingenommen. Aber schnell wurde mir klar, dass da noch mehr zwischen uns war. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart, nicht mehr einsam wie die vielen Wochen zuvor im Krankenhaus oder zu Hause. Wenn ich ihn mal eine Stunde nicht zu Gesicht bekam, vermisste ich ihn schrecklich. Während der Nacht lag ich oft wach und wünschte mir, er wäre jetzt bei mir. Bis wir uns eines Tages näher kamen und er mir einfach einen Kuss gab. Total verwirrt machte ich den größten Fehler, den man begehen konnte, ich schmiss ihn aus meinem Zimmer.“

Ich sah wie Kai Tränen über die Wangen kullerten.

„Am nächsten Tag, versuchte ich mich zu entschuldigen.“

„Und?“, fragte ich.

„Er war nicht mehr da, er war verlegt worden. Jemand vom Personal der Klinik hatte unseren Kuss beobachtet und es meinen Eltern gemeldet. Sie sorgten dafür, dass Markus in ein anderes Krankenhaus verlegt worden war, wie ich später von einer Schwester erfahren hatte.“

„Und du hast nie wieder was von ihm gehört?“

„Nein ich traute mich nicht Kontakt aufzunehmen, wegen meiner Eltern.“

„Aber die sind doch eh nie da?“

„Jetzt ja, früher war das nicht so..“

„Hast du noch seine Adresse?“

„Irgendwo in meinem Geldbeutel. Ein Bild von ihm und die Adresse hinten drauf.“

Er stand langsam auf und zog den Geldbeutel aus seiner Hosentasche. Er öffnete ihn und durchsuchte ihn in den Fächern. Mir fielen die viele grünen Euros auf die da steckten. Er sagte ja er wäre reich, aber in Wirklichkeit interessierte es mich nicht.

Er zog ein kleines verknittertes Bild hervor, wo man ihn und einen Jungen sah.

„Das ist Markus, der sieht verdammt gut aus.“

„Dir macht es also nichts aus, dass ich mich in einen Jungen verliebt habe?“

„Wieso sollte es das? Jungen oder Mädchen ist doch egal.“

Ich lies ihn noch zappeln und sagte ihm nicht gleich, dass ich schwul bin. Er steckte beides zurück in seine Hosentasche und lies sich neben mich fallen.

„Kenne genug Leute die darauf allergisch reagieren,“ meinte Kai.

„Ich weiß, habe ich auch schon mitgekriegt.“

„Hast du selbst schwule Bekannte?“

„Nicht direkt, einer hat sich gerade geoutet bei mir, mein Klassenkamerad Raffael.“

„Und wie hast du reagiert, du kennst ihn doch schon länger nehme ich an.“

„Überrascht, weil ich es nicht bemerkt hatte.“

„Wieso solltest du denn es merken?“

„Lieber Kai, … ich bin selber schwul und normalerweise merkt man als Schwuler so was, wenn man jemanden gleichgesinnten gegenüber hat. Naja wenn man ihn länger kennt mein ich.“

Kai sah mich sprachlos an.

„Du bist auch schwul?“

„Ja, mit jeder Faser meines Körpers.“

„Einen Freund?“

„Leider nicht und ich hatte auch noch nie einen.“

„So super wie du aussiehst und noch keinen Freund?“

„Nein“, sagte ich und lehnte mich ein wenig hinüber zu ihm.

„Hast du es auf mich abgesehen?“ fragte Kai und grinste.

„Warum nicht, so etwas Liebes sollte man sich nicht durch die Finger gehen lassen.“

Kai wurde rot.

„Ähm.. meinst du das jetzt echt.., oder willst du mich verschaukeln?“

„Wie schätzt du mich denn ein?“

„Der ICE Graf Hindenburg lüft mit fünfminütiger Verspätung gleich im Hauptbahnhof München ein“, kam es aus dem Lautsprecher.

„Diese Antwort bleib ich dir jetzt schuldig. Hier meine Handynummer, wir sehen uns morgen Abend hier im Zug, okay?“

„Du bist mir einer, okay bis morgen Abend hier im Zug, dann möchte ich eine Antwort von dir“, sagte ich und packte mein Laptop in die Tasche.

Mit meiner und seiner Tasche beladen, machten wir uns auf den Weg zur Tür. Der ICE rollte langsam aus, bis er am Bahnsteig zum Stehen kam. Ich half Kai beim aussteigen. Mein Name wurde gerufen und ich drehte mich um.

Phillip kam auf mich zugerannt und fiel mir um den Hals.

„Dich gibt es zweimal?“, fragte Kai erstaunt.

„Ja“, sagte ich als mich Phillip losließ.

„Wow ich seh doppelt.“

„Hallo Phillip, das ist Kai, ich hab ihn auf der Herfahrt kennen gelernt“, sagte ich.

„Hallo Kai, und ich denke sehr gut verstanden“, sagte Phillip mit einem frechen Grinsen und gab Kai seine Hand.

Kai und ich wurden rot.

„Ach so Kai, morgen fährst du mit uns als Doppelpack zurück.“

„Das überlebe ich nicht“, meinte Kai und alle fingen wir an zu lachen.

Ich suchte nach meinen Großeltern, als wir den Bahnhof verließen.

„Suchst du jemanden?“ fragte mich Phillip.

„Ja wo sind Opa und Oma?“

„Nicht da.“

„Und wie kommen wir nach Hause?“

„Mit dem da?“

Phillip wies auf sein Motorrad, an dem zwei Helme hingen.

„Den habe ich extra für dich gekauft, ich hoffe dir gefällt die Farbe. Royal blau!“ meinte Phillip.

„Entweder spionierst du mir nach, oder du kennst mich besser als ich denke.“

„Ich hab Clarissa angerufen, die hat’s mir verraten und die gleiche Kopfgröße wie ich hast du ja.“

“Du bist verrückt“, meinte ich.

„Sehe es als Geburtstagsgeschenk für siebzehn Jahre an.“

„Und was willst du mir dann zu unserem achtzehnten Geburtstag schenken?“

„Das wird noch nicht verraten“, sagte Phillip.´

„Du bist echt verrückt, aber mein Bruder.“

Ich drückte ihn fest an mich, und wollte nicht mehr los lassen.

„Willst du mir alle Knochen brechen, drück doch nicht so fest“, beklagte sich Phillip.

Ich grinste nur. Meine kleine Tasche spannte er hinten drauf und ich nahm hinter im Platz. Und ab ging die Post. Ab und zu kam es mir vor er legte sich absichtlich in die Kurven, damit ich mich noch fester an ihn drückte.

Vor dem Haus meiner Großeltern, fiel mir ein Stein vom Herzen, das wir endlich da waren. Kaum war ich abgestiegen, da ging auch schon die Haustür auf und meine Oma kam heraus, gefolgt von Opa.

„Da seid ihr ja endlich, war die Fahrt anstrengend?“ fragte meine Oma mich.

„Nein Oma, Sebastian hat einen Jungen kennen gelernt, der es ihm wohl angetan hat“, sagte Phillip.

Mir lief es einskalt den Rücken runter. Phillip der das anscheinend bemerkte, nahm mich in den Arm.

„Keine Sorge kleiner Bruder, deine Großeltern wissen Bescheid.“

„Bin ich hier etwa Gesprächsthema Nummer eins?“

„Nein mein Junge wir haben Phillip einfach gefragt und er hat uns ehrlich geantwortet“, sagte mein Opa.

„Steht hier irgendwo, ich bin schwul, oder benehme ich mich wie ein Tunte?“, fragte ich verwirrt.

„Nein, Sebastian. Dein Großvater und ich waren nur so verwundert, wie innig du mit Andreas umgegangen bist und vor ein bar Tagen kam ein Bericht über schwule Jugendliche im Fernseher und wie schwierig sie es haben.“

Und… und es stört euch nicht?“

„Nein es stört uns nicht, nur müssen wir uns erst dran gewöhnen. Phillip hat uns einiges im Internet gezeigt und ausgedruckt. Das war schon lehrreich für uns.“

Ich sah meinen Bruder an, der grinste.

„Danke!“, sagte ich und drückte ihn noch mal.

„Ich will ja eure Zweisamkeit nicht stören“, meinte meine Oma, „aber wenn ihr pünktlich zur Beerdigung von Peter kommen wollt, müsst ihr euch jetzt fertig machen.“

Mit einem Male war die Fröhlichkeit, aus dem Gesicht meines Bruders verschwunden.

„Das kriegen wir schon hin“, sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter, er versuchte zu lächeln, was misslang.

*-*-*

Auf dem Friedhof wurde mein Bruder von vielen seiner Klassenkameraden begrüßt. Die Überraschung über das Doppelpack war groß, da wir beide schwarz trugen, waren wir fast nicht zu unterscheiden.

Phillip war tapfer, sogar während der ganzen Grabrede, blieb er ruhig neben mir stehen. Am Schluss, als alle am gehen waren, legte er noch eine weiße Rose auf das Grab.

„Die ist für dich Peter, für mich die Hoffnung, das du nun ein besseres Leben führen kannst, wo immer du auch bist…“

Es trieb mir die Tränen in die Augen, von den Umstehenden ganz zu schweigen.

„…für mich warst du und bist du immer noch ein guter Freund, etwas Besonderes…“

Phillip fing an zu weinen.

„…die Lücke die du hinterlässt… wird niemand ausfüllen können, …jetzt nicht… nie.“

Phillip drehte sich um und ging. Ich lief ihm schweigend hinter her. Er schlug die Richtung ein, die ich vom letzten Mal noch kannte. Da wo unser Vater begraben lag.

„Meinst du, der Schmerz lässt irgendwann nach?“, fragte er Phillip mich, als er vor dem Grab unseres Vaters kniete und nervös an den Blumen zupfte.

„Ich weiß es nicht Phillip. Der Schmerz lässt irgendwann nach, aber die Bilder die du im Kopf hast, werden bleiben. Sie sind eingebrannt dein ganzes Leben.“

„Du meinst, ich werde die Bilder immer wieder sehen?“

„Es wird Augenblicke geben, da wird dich eine Situation an das Geschehene erinnern. Das wird nicht ausbleiben“

„Wie soll ich das bloß aushalten, es tut so weh Sebastian.“

Ich ging zu ihm hin und strich ihm durch das Haar, er lehnte seinen Kopf gegen mein Bein und weinte leise.

„Irgendwann wird der Schmerz verblassen, Phillip, da bin ich mir sicher. Denk an die schönen Sachen, die du mit Dad erlebt hast, vielleicht hilft es dir den Schmerz ein wenig besser zu ertragen.“

Mein Handy piepte. Phillip wischte sich die Tränen ab und stand auf. Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und zog noch einwenig die Schleifen gerade, die an den Kränzen befestigt waren. Ich nahm mein Handy heraus, eine SMS, aber eine fremde Nummer. Ich öffnete sie. Kai.

Hallo Sebastian, es ist normaler weise nicht meine Art, aber könntest du noch kurz im Krankenhaus vorbei kommen? Gruß Kai.

Ich hatte es laut vorgelesen, ohne es zu merken. Phillip war zu mir gekommen und schaute auf mein Handy.

„Soll ich dich hinfahren?“

„Mit dem Motorrad?“

„Natürlich, für die Straßenbahn hab ich  noch kein Führerschein“, meinte Phillip und lächelte ein wenig.

Ich machte mir ein wenig Sorgen um meinen großen Bruder. Er fühlte sich schuldig an zwei Todesfällen, das bedrückte ihn sehr, und zog ihn nach unten. Ich hatte Angst irgendwann, bricht das dann aus ihm heraus.

Ich lächelte zurück. Wir liefen Hand in Hand zum Motorrad, das auf dem Parkplatz vor dem Friedhof stand. Am Motorrad warteten Thomas und Georg bereits.

„Hallo ihr zwei, was liegt an?“ fragte Thomas.

„Nichts besonderes Sebastian und ich wollen noch einen Bekannten im Krankenhaus besuchen, sonst ist nichts angesagt“, meinte Phillip.

„Wir sehen uns Montag dann wieder oder?“, meinte Georg.

„Genau, ich fahre morgen, mit meinen Bruder nach Frankfurt.“

„Also bis dann tschüss ihr zwei.“

*-*-*

Diesmal fuhr Phillip ein wenig humaner. Trotzdem schmiegte ich mich an ihn. Auf einmal kam mir der Gedanke, dass ich wusste was mir die ganze Zeit fehlte. Ein Bruder zum anlehnen, reden… Auf einmal war ich glücklich fühlte mich geborgen, wurde innerlich ganz ruhig. Das Gefühl kannte ich noch nicht, doch war da diese Vertrautheit zu einem Menschen, den ich noch nicht so lange kannte, zu dem ich aber eine Nähe spürte.

Ich wurde aus dem Gedanken gerissen, als wir auf den Parkplatz des Krankenhauses fuhren. Nervös klemmte Phillip seinen Helm ans Moped. Plötzlich fiel mir ein, was in Phillip vorgehen musste. Hier war vor gut zwei Wochen unser Vater erstochen worden.

Ich nahm Phillip an der Hand, mir war es egal was die anderen Leute dachten, wenn sie das sahen. Ich merkte den Widerstand, als wir an der Stelle vorbei kamen, wo es passiert sein musste. Ich legte meinen Arm um seine Schulter und zog ihn durch die Drehtür des Einganges.

Ich lief zum Info und fragte nach Kais Zimmer. Anscheinend wurden wir schon erwartet. Eine Lernschwester führte uns zu Kai. Er lag in einem Privatzimmer, viel größer als ich es von normalen Zimmern im Krankenhaus gewohnt war. Seine Eltern mussten wirklich sehr reich sein.

„Hallo Kai“, sagte ich als uns die Schwester hinein führte.

„Hallo Sebastian.. ähm Phillip, wer ist jetzt wer, man, euch kann man ja wirklich nicht auseinander halten.“

Ich ging zu seinem Bett und gab ihm einen kleinen Kuss.

„Du bist Sebastian!“

„Bist du dir sicher!“

„Ja du riechst nach Sebastian, also musst du Sebastian sein.“

Phillip  kam von hinten an mich heran, und roch an mir. Kai musste grinsen.

„Warum sollte ich eigentlich kommen?“, fragte ich.

„Ich kann morgen Abend leider nicht mit euch zurück fahren, sie wollen mich bis Sonntag hier behalten. Und ich wollt … dich halt noch mal sehen vorher… bevor du abreist.“

„Hat das einen bestimmten Grund?“, fragte ich.

Kai wurde rot.

„Soll ich rausgehen?“, fragte mein Bruder.

„Nein Phillip musst du nicht, du bekommst ja es sowieso mit…, ich glaub ich hab mich in deinen Bruder verknallt.“

 

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