Boycamp IV – Teil 18

„So, hier könnt ihr machen was ihr wollt. Ich fahre da zu der Hütte hin, hoffentlich ist das Schloss nicht eingerostet.“

Stein sprang von seinem Sitz.

„Wenn doch, wir haben einen Mann dabei, der löst das Problem im Handumdrehen.“

Emmi lächelte, sah nach hinten ob alle abgestiegen waren und tuckerte dann zu der Hütte hin, die etwas abseits am Waldrand stand.

„So Jungs. Dann wollen wir uns erst mal aufwärmen «, rief Stein und sammelte die Mannschaft um sich.

Nico war nicht ganz bei der Sache. Zum einen reizte ihn das Skifahren nicht in dem Maße und dann hätte er lieber ein bisschen die Gegend erkundet. Er redete mit Falk.

„Klar, nimm Rick mit. Für dich ist es eh besser, noch nicht mit Hochleistungssport anzufangen.“

„Danke, Falk. Ich bin ja nicht weit.“

Er machte sich mit seinem vierbeinigen Begleiter auf den Weg. Emmi war bereits in der Hütte, die Tür stand offen.

„Hallo, nicht erschrecken. Ich bin’s nur“, rief er unter der Tür.

„Kein Problem, kommen Sie nur herein. Wollen Sie kein Ski fahren?“

„Ist nicht so mein Ding. Ich bin eher neugierig.“

Muffige, abgestandene Luft schlug ihm entgegen, die Frau öffnete das einzige Fenster der Hütte.

„Würden sie den Fensterladen draußen aufklappen? Die Verriegelung habe ich gelöst.“

„Klar.“

Nico ging hinaus und klappte die Läden auseinander. Er trat ein paar Schritte zurück. Klein war die Hütte nicht und auch drinnen sehr geräumig. Er ging wieder hinein und durch das Licht konnte er jetzt auch die Inneneinrichtung erkennen.

„Ein sehr guter Bekannter von mir war Jäger, der hat hier fast das ganze Jahr über gelebt«, erläuterte Tante Emmi, als sie Nicos große Augen sah.

Tatsächlich war die Hütte anscheinend mit allem ausgestattet, was man zum täglichen Leben braucht. Tisch, Stühle, eine Eckbank, ein Herd, eine separate Schlafkabine. An den Wänden eingerahmte Naturmalereien, Rehbockgehörne und Regale mit allerlei Krimskrams.

„Gemütlich sieht das aus. Und nun jagt Ihr Bekannter nicht mehr?“

Emmi wurde nachdenklich und setzte sich auf einen Stuhl. Ihre Hand fuhr über die antike Petroleumlampe auf dem Tisch.

„Er ist vor zwei Jahren gestorben. Seitdem war ich auch nicht mehr hier oben.“

Nico spürte, dass da mehr war als nur eine Bekanntschaft. Aber er fragte nicht. Die Frau rieb sich die Hände.

„So, nun mach ich erst mal Feuer, ist ja saukalt hier drin.“

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Oh, ja, auf der Rückseite muss Brennholz gestapelt sein.“

Nico ging um die Hütte herum und legte so viel Holzscheite in den Arm, wie er tragen konnte. Es wunderte ihn, dass in der Zeit niemand versucht hatte, das Holz zu stehlen oder hier einzudringen.

Wenn er an die Dorfbande dachte, dann war das ziemlich naheliegend. Einbruchsicher jedenfalls war das Ganze nicht.

„Wenn Sie mir jetzt noch beim Abladen helfen würden, wäre ich Ihnen dankbar«, sagte sie, nachdem die ersten Flammen aus dem Ofen schlugen.

„Abladen?“

„Ja nun, ihr seid den ganzen Tag hier draußen, das geht ohne Versorgung nicht. Das sind doch alles junge Leute, die haben immer Hunger.“

„Den ganzen Tag? Ich denke, wir fahren Mittag wieder zurück?“

Sie winkte ab.

„Ach, was wollt ihr in den paar Stunden schon erleben? Ich hab gestern noch mit eurem Koch gesprochen, Mittagessen in eurem Camp fällt aus. Euer Chef weiß auch noch nichts. Kleine Überraschungen beleben den Geist.“

Nico war etwas erstaunt, dass da anscheinend Fäden im Hintergrund gezogen wurden und sie keinen Wind davon bekommen hatten. An dem Anhänger war ein Kasten angebaut, der Nico so direkt nicht aufgefallen war.

Den öffnete die Frau jetzt und darin befanden sich neben zwei großen Töpfen noch diverse, gefüllte Taschen. Darunter lagen dann noch zusammengeklappte Campingstühle. Ohne weiter zu fragen half Nico, die Utensilien in die Hütte zu schaffen.

„Die Töpfe sind ganz schön schwer. Ohne Hilfe wäre das jetzt schwierig geworden.“

Emmi lachte und winkte ab.

„Ach, die jungen Leute von heute. Ich bin nicht so zerbrechlich wie ich aussehe, außerdem bin ich gewohnt, hinzulangen. Auf dem Dorf fängt man im Kindesalter an und schafft bis zum letzten Tag. Das ist schon etwas anderes als in der Stadt. Stellen Sie die Töpfe bitte auf den Herd.“

„Bohnensuppe? Mit Speck nehme ich an?“

„Ja, und Würstchen samt frischen Semmel. Das beste was man essen kann wenn einem kalt ist. Nicht so zimperlich gewürzt, ausgewogene Konsistenz… ähm… eure Jungs dürfen Alkohol trinken?“

„Nein, das ist eigentlich nicht erlaubt. Aber warum fragen Sie?“

„Nun, die werden ganz schön durchgefroren sein. Ein Glas Glühwein und ein paar Weihnachtsplätzchen zum Nachtisch?“

Sie legte ihren Kopf schief und lächelte Nico fragend an.

„Ich rede mit dem Chef. Ich denke schon, dass da eine Ausnahme fällig wird.“

Sie lachte.

„Ich stell den Glühwein auf jeden Fall mal auf den Herd. Ihr Erwachsenen könnt das ja auch vertragen.“

Ein Scharren an der Tür verriet Nico, dass da jemand neugierig geworden war. Er ließ Rick herein.

„Riechst du die Würstchen?“

„Ah, ist das der Hund, den Sie gesucht haben?“

„Ja, das ist er.“

„Und, wo war er denn?“

Nico überlegte, ob er die Geschichte erzählen sollte und entschied sich, es zu tun. Diese Frau hatte ihnen schließlich auch schon so manche Information zukommen lassen. Es wurde sehr schnell mollig warm in der Hütte und rasch glühten die Herdplatten.

Ohne Nico zu fragen, stellte ihm die Frau einen Glühwein hin, während er die Geschichte erzählte. Es war die Umgebung und diese herzliche Frau, dass er sich plötzlich sehr wohl fühlte.

Hier könnte ich auch zu Hause sein, sinnierte er und dachte an Vlado und die Sache mit dem Ranger.

„Dieses elende Pack. Ich dachte nicht, dass sie soweit gehen würden. Aber da sehen Sie, man muss mit allem rechnen«, schimpfte sie, nachdem ihr Nico die Geschichte erzählt hatte.

„Nun geht das alles vor Gericht, einen Anwalt haben wir schon eingeschaltet.“

„Sehr gut. Mir wäre am liebsten, man würde sie aus dem Dorf schmeißen. Aber Gesindel wird man so schnell nicht los.“

Es klopfte leise und verhalten an der Tür. Emmi horchte auf.

„Aha, jetzt wollen wir die mal überraschen.“

Sie öffnete die Tür und Steins Stimme ertönte.

„Wir wären dann soweit. Können wir fahren?“

„Nein, tut mir leid, wir können nicht fahren. Es ist beschlossen worden, dass ein Vormittag viel zu kurz ist. Darum gibt’s hier das Mittagessen.“

Nico musste grinsen, denn Falk war nur sehr selten sprachlos. Die Frau wartete nicht auf Reaktionen und rief hinaus.

„Kommt schon rein, es ist kalt da draußen und ungemütlich.“

Stein trat ein und sah sich kurz um.

„Wer hat das denn eingefädelt?“

Nico saß am Tisch und winkte ab.

„Das ist diesmal nicht auf meinem Mist gewachsen.“

„So ist das also. Na dann..“ Falk rief nach draußen: „Stellt eure Skier an die Wand, klopft den Schnee von den Klamotten und Schuhen. Und dann rein hier.“

Nacheinander kamen die Jungen in die Hütte. Rote Nasen hatten sie und durchgefroren, trotz der dicken Klamotten.

„Zieht eure Jacken und Schuhe aus. Es ist nicht gemütlich, nasse Sachen anzuhaben«, rief Emmi ihnen zu.

Nico trat zu Stein hin.

„Falk, sie hat mich gefragt, ob die Jungs Alkohol trinken dürfen. Sie hat Glühwein aufgestellt…“

Stein nickte.

„Das ist kein Problem. Wir haben das hier unter Kontrolle und es ist ja keiner dabei, der gefährdet ist. Alt genug sind sie auch.“

Freudig trat Nico neben Emmi, die nun eifrig den Topf mit der Suppe umrührte.

„Sie dürfen Glühwein haben.“

„Fein. Stellen Sie bitte…“

Nico unterbrach sie.

„Ich bin zwar der jüngere von uns beiden, aber ich heiße Nico.“

Er hielt ihr die Hand hin.

„Ah, ein schöner und hier auch seltener Name. Dass ich Tante Emmi bin, ist ja schon bekannt. Stellst du ihnen bitte die Teller für die Suppe hin? Besteck ist da hinten irgendwo in einer der Kisten.“

Nico teilte die Teller an die Jungen aus, die jetzt eng beieinander auf der Eckbank saßen und sich gegenseitig aufwärmten. Trotz der Kälte und Nässe schien es ihnen viel Spaß gemacht zu haben.

„Das lasse ich mir gefallen«, jubelte Ruben, dem die anderen einstimmten.

Für Falk, Leo, Rainer, Nico und Emmi standen die Campingstühle zur Verfügung. Trotz der vielen Personen war es nicht zu eng in der Hütte, eher machte sich eine Gemütlichkeit breit, unterstützt durch ein paar Kerzen, dem Knistern des Feuers und dem Duft des Glühweins.

„Und, wie war eurer Skikurs?«, fragte Nico in die Runde und schon wurde eifrig durcheinandergeredet, gelacht und geknufft.

Die Stimmung stieg mit jeder Minute und wurde erst etwas flacher, als jeder einen Teller mit dampfender Bohnensuppe vor sich stehen hatte.

„Hier könnt es mir gefallen. So urig und weit weg von allem.“

Leo nickte.

„Nico, das wäre auch das Richtige für uns alle hier. Ich möchte ja nichts über das Camp sagen, aber wenn ich eines Tages so ne Art Rente erleben sollte, dann nur auf diese Art.“

Rainer beugte sich zu Falk Stein hin.

„Sag mal, wollen wir wirklich noch mal nach draußen? Die Klamotten sind jetzt nass, das kann ein Problem werden.“

Stein nickte, während er seine Suppe löffelte.

„Du hast recht, das macht keinen Sinn. Wir können keinen mit Lungenentzündung brauchen. Was schlägst du vor?“

Rainer sah auf die Uhr.

„Es ist auch schon gleich dreizehn Uhr. Ich schlage vor, wir halten hier eine gemütliche Talkrunde und fahren dann langsam zurück. Bis hier alles aufgeräumt ist wird das sicherlich grade recht.“

Stein stand auf, holte Nachschub aus dem Topf und beugte sich zu Emmi hinunter.

„Wenn unser Koch das organisiert hätte, gäbe es auch noch einen Kaffee.“

Er lachte dabei entwaffnend. Tante Emmi sah ihn mit großen Augen an.

„Aha. Sie glauben also, dass ich nicht an so etwas denke?“

Stein wich zurück.

„Ähm, ich glaube gar nichts. Meinte ja nur.“

Emmi stand auf und ging zu einem kleinen Einbauschrank neben dem Herd. Daraus nahm sie eine ganze Packung Kaffee heraus.

„Hier, reicht der Ihnen?“

Sie lachte und schwenkte das Päckchen vor Steins Nase.“

„Sie werden das Verdienstkreuz dafür bekommen.“

Nach dem Essen standen zwei Schalen mir Gebäck auf dem Tisch und der Glühwein war Kaffee gewichen. Jeder unterhielt sich mit jedem und nur Nico kraulte nachdenklich Ricks Fell neben sich.

Er sah sich die Gesichter der Jungen genau an, denn so konnte er sie nur selten studieren. Jonas war wie aufgekratzt, er redete und redete und er tat das auch mal laut. Aber er war nicht einzige. Was ihn von den anderen unterschied war nur, dass er immer mal wieder zu Nico herüberschaute.

Der ließ sich aber auf das Augenspiel nicht ein. All diese Dinge bedeuteten nur einen weiteren Schritt aufeinander zu und Nico wollte das nicht riskieren. Aber er bemerkte, wie die Jungs im Allgemeinen aufgeblüht waren.

Sie sind vollständig im Camp angekommen, sie haben sich gefügt und sie sind auf dem richtigen Weg. Stein konnte zufrieden sein, wenn es weiter so lief, würde aus dem Projekt eine stabile Einrichtung.

Schnell verging die Zeit unter diesen Umständen und am späten Nachmittag klopfte Rainer auf seine Uhr.

„Ich denke, es wird Zeit zum Aufbruch?“

Stein nickte.

„Ja, bevor sich hier niemand mehr etwas zu sagen hat.“

Er stand auf.

„Jungs, langsam fertig machen. Und jeder hilft Tante Emmi beim zusammenpacken.“

Das Ganze geschah wieder ohne murren, nur wurde es in dieser Situation sehr eng in der Hütte.

„Komm, Rick, wir verziehen uns nach draußen«, sagte Nico und trat vor die Tür.

Eiskalte Luft schlug ihm entgegen, die Sicht war auf nur wenige Meter zurückgegangen. „Nebel“ fluchte er vor sich hin. Als er vor einer Stunde mal um die Hütte musste, war der noch nicht da.

Aber Nico vertraute Tante Emmi. Nach wie vor glaubte er, dass sie damals sehr oft hier oben gewesen war, aus welchem Grund auch immer und ihr traute er zu, dass sie den Wag auch blind finden würde.

Die Jungen bemerkten das Wetter erst gar nicht, als sie den Kasten am Anhänger beluden, nur den Betreuern schmeckte das auch nicht.

„Mistwetter. Was ein Glück haben wir eine ortskundige Fahrerin«, stellte Rainer fest.

Nachdem alles aufgeladen war und die Mannschaft auf ihren Plätzen saß, krabbelte Tante Emmi auf den Traktor.

„So, dann mal nach Hause.“

Sie drehte den Zündschlüssel, aber der Motor sprang nicht an. Immer wieder versuchte sie es, ohne Erfolg.

„Das gibt’s doch nicht, der hat mich doch noch nie verlassen«, fluchte sie laut.

Wieder und wieder versuchte sie, den Motor zu starten. Leo sprang jetzt vom Anhänger und kam ihr zu Hilfe. Er öffnete jedoch sofort die Motorhaube und fasste hierhin und dorthin, zog an den Leitungen und schließlich tat er nichts mehr. Stein kam zu ihm.

„Und? Was kaputt?“

„Ich würde sagen, ja. Eine Glühkerze ist schuld. Für eine Selbstzündung ist es jetzt zu kalt, sonst bräuchten wir sie nicht.“

„Ohje. Und jetzt?“

„Das ist aber nicht das einzige Problem, Falk.“

„So, was noch?“

„Die Kerze wurde entfernt. Wäre das vorher schon gewesen, wäre Emmi gar nicht erst fortgekommen. Ich weiß ja nicht wie, aber das muss hier passiert sein.“

„Was? Hier?“

Inzwischen waren auch Rainer und Nico dazugekommen, auch Emmi stieg von ihrem Traktor ab.

„Also war jemand am Traktor, als wir in der Hütte waren.“

„Anders kann es nicht sein, Falk«, antwortete Leo besorgt.

„Kannst du das reparieren?“

„Ohne Ersatzkerze kommen wir hier nicht weg.“

Nico wurde wütend.

„Von alleine kann die Kerze ja nicht verschwinden. Dieses verdammt Pack lässt nicht locker. Und wieder können wir nichts beweisen. Zu viele Fußspuren hier, alle kreuz und quer. Und gesehen hat auch niemand etwas.“

„Ich sage nicht, was ich dem- oder denjenigen wünsche«, fügte Emmi hinzu.

„Aber es hat alles keinen Wert. Kommando zurück. Jemand muss ins Dorf, in der Scheune liegen genug von den Kerzen herum.“

Stein dachte nach.

„Wir brauchen einen Plan. Die Jungen bleiben auf alle Fälle hier. Und zwei von uns. Nico und Rainer, ihr passt auf sie auf, Leo und ich gehen los, Rick wird den Weg finden, außerdem müssen wir nur den Wagenspuren nach. Ich denke, dass wir in zwei Stunden höchstens zurück sind.“

„Hört mal zu,“ rief Stein den Jungen dann zu.

„Wir haben ein technisches Problem. Ihr geht jetzt bitte alle zurück in die Hütte und wartet, bis wir wieder zurück sind.“

Dann nahm er Nico und Rainer zur Seite.

„Bis wir wieder hier sind, geht niemand alleine raus, wenn er mal pinkeln muss.“

Er zog sein Handy aus der Tasche.

„Empfang gibt es hier oben auch, ruft sofort an, wenn da etwas verdächtig wird. Und lasst euch auf nichts ein, hört ihr?“

Nico und Rainer nickten und sahen sich kurz an, für sie gab es keine weiteren Fragen. Emmi kramte in ihren Taschen, dann hielt sie Stein einen Schlüsselbund vor die Nase.

„Falls der Laden schon geschlossen ist, gehen sie rein und über die Diele in den Hof. Rechts hinten ist der Schuppen, dort finden Sie die Kerzen über der Werkbank. Jedenfalls hab ich sie zuletzt dort gesehen.“

Stein nahm den Schlüssel entgegen.

„Gut, Leo, Rick, auf geht’s. Wer zuerst im Dorf ist.“

Schnell waren die drei im dichten Nebel verschwunden.

„So, Jungs, rein in die Hütte. Wir legen noch Holz nach und vielleicht gibt’s ja noch Reste von vorhin?“ richtete Rainer seine Frage an Emmi.

„Genug, da ist noch genug.“

Kurz darauf waren wieder alle in der Hütte versammelt, nur Nico und Rainer blieben vor der Tür. Nico zündete sich eine Zigarette an.

„Eigentlich will ich es mir ja dauernd abgewöhnen, aber unter solchen Umständen schaffe ich es einfach nicht.“

„Mach dir nichts draus, Nico, es gibt Schlimmeres. Das Ganze hier zum Beispiel schmeckt mir überhaupt nicht.“

„Du denkst, die lauern da draußen irgendwo?“

„Wer kann es wissen. Wenn sie nicht ganz dumm sind, konnten sie ahnen wie wir vorgehen. Man kann bloß hoffen, dass sie sich den Arsch abfrieren und von selbst abhauen.“

Nico war auch nicht wohl in seiner Haut. Es war verdammt ruhig hier, kein Wind, kein Rauschen in den Bäumen. Nichts. Eigentlich ideal für sein Befinden, aber jetzt mochte er diesen Frieden nicht.

Er war trügerisch und die lose Stimmung von vorhin war einer eher verhaltenen Stimmung gewichen.

„Schade. Das war ein so schöner Nachmittag. Ich könnte sie… umbringen«, entfuhr es ihm wütend.

Emmi trat zu den beiden vorm Haus.

„Kommt rein, der Glühwein ist gleich fertig. Den können wir jetzt brauchen. Bei diesem Elend.“

Sie schlossen die Läden des Fensters und innen verriegelte Rainer die Tür. Die Jungen waren noch enger zusammengerückt und so fanden er und Nico noch Platz auf der Eckbank.

„Was geht da vor sich? Was ist kaputt? Und warum schließen wir uns hier ein?«, wollte Benny wissen.

Er fragte wohl, was alle wissen wollten.

„Der Motor streikt, eine Glühkerze ist defekt. Herr Stein und Herr Meier gehen eine neue holen. Das war leider nicht eingeplant. Die Tür.. naja, man kann nicht wissen, ob sich da ungebetene Gäste herumtreiben. Wir wollen unter uns bleiben, deshalb.“

Es bestand kein Grund, warum die Jungen diese Aussage anzweifeln sollten und so stellten sie keine Fragen mehr. Die Sache mit der Tür war etwas fadenscheinig, aber eine andere Antwort war Rainer auf die Schnelle nicht eingefallen.

Dass Nico jetzt neben Jonas saß, beunruhigte ihn nicht. Seine Gedanken waren woanders und er hätte sich gewünscht, sie nicht zu haben. Trotzdem versuchte er nicht, von Jonas abzurücken. Seine Nähe war ihm nicht unlieb.

Sie schlürften an den letzten Resten des Glühweins und schwiegen. Und dieses Warten zog sich unendlich in die Länge. Aus Sekunden wurden Minuten, inzwischen schlich sich zwischen den Nebel die Dämmerung.

Rick würde den direkten Weg finden, daran konnte nichts scheitern. Nico sah auf die Uhr. Sie waren erst eine Stunde weg und doch schienen es viele Stunden gewesen zu sein. Was ihm noch viel mehr zu schaffen machte war dieses Gefühl, dass Unheil in der Luft lag.

Es mochte nichts bedeuten, aber nur selten wurde er getäuscht. Dieses Nichtstun und Ausgeliefertsein in dieser Hütte trugen keinesfalls zu seiner Entspannung bei. Plötzlich gab es einen dumpfen Schlag von außen gegen die Tür.

Alle zuckten zusammen und Nico stand mit Rainer gleichzeitig auf.

„Bleibt ganz ruhig, wir schauen nach«, versuchte Rainer die jetzt verängstigten Jungen zu beruhigen.

Emmis Gesicht wurde ernst.

„Ich habe es fast befürchtet. Diese Drecksbande..“, flüsterte sie Rainer zu, so dass es die Jungen nicht hören konnten.

In ihrer Wut ballte sie eine Faust. Nicos Herz klopfte bis an den Hals. Er hatte es geahnt, aber eine Hilfe war diese Ahnung nicht. Im Moment sah es überhaupt nicht gut aus für sie und Nico zog sein Handy.

„Falk? Sie sind hier, an der Tür. Was sollen wir machen und wo seid ihr?“

Doch außer einem Krächzen, Knistern und Knacken konnte er nichts verstehen. Immer wieder versuchte er, mit Falk zu reden, aber aus irgendeinem Grund war der Empfang gestört. Enttäuscht ließ er das Handy sinken.

„Rainer, versuch du mal, Falk anzurufen mit deinem Handy.“

Doch auch Rainer schüttelte den Kopf, kurz darauf polterte es erneut, diesmal am Fensterladen.

„Klingt wie Schneebälle“, rief Ruben in den Raum.

Und er konnte damit recht haben. Vielleicht war das alles harmlos, aber wer sollte um diese Zeit bei der Kälte und hier in der Einöde Lust auf so einen Spaß haben? Dennoch, Nico wurde immer unruhiger. Die Frage war, was passiert, wenn sie die Tür öffneten?

„Gibt’s hier einen anderen Ausgang?“ fragte Nico Tante Emmi.

„Ausgang? Nee, direkt nicht. Es gibt einen flachen Keller, ja, aber ob man vor dort rauskommt – ich weiß es nicht. Die Klappe ist direkt neben der Kochnische, unter dem Läufer.“

Rasch hatte Nico die Öse im Holzboden gefunden und zog die Klappe auf. Kalte, abgestandene Luft waberte dort unten und es war Stockfinster.

„Gib mir mal jemand die Petroleumlampe«, rief er in den Raum und Sascha war sofort bei ihm. Eine kleine Leiter führte nach unten, Nico schätzte, dass der Keller höchstens einen Meter fünfzig hoch war.

„Halt mal die Lampe, so dass ich was sehen kann«, bat er Sascha und der holte tief Luft.

„Soll ich mit runter?“

„Nein, bleib erst mal oben.“

Nico blickte sich um, aber er konnte nichts erkennen, was auf einen Ausgang hindeutete. Der Keller war fast leer, bis auf eine Weinkiste und weiter hinten in der Ecke undefinierbares Gerümpel.

Währenddessen hörte er, wie es oben erneut polterte, diesmal drei Schläge hintereinander. Rasch stieg er wieder auf.

„So, alle gehen jetzt ohne Hatz da runter in den Keller. Bleibt ruhig, es kann nichts passieren. Wir wollen nur ganz sicher gehen.“

Er wäre froh gewesen, wenn er an jedes seiner Worte hätte glauben können. Die Jungen hatten viel zu viel Angst, als sich Nicos Anweisung zu wiedersetzen. Auch Tante Emmi musste danach in den unwirtlichen, kalten Raum.

„Kein Ton, egal was passiert, okay? Wir kriegen das hin. Wahrscheinlich alles ganz harmlos.“

Damit schloss Nico die Klappe und legte den Teppich darüber. Rainer stand an der Tür und lauschte.

„Nichts zu hören. Kein Ton.“

Nico zog seine Jacke an und sah sich kurz um. Dann kniete er sich vor den Ofen und zog den Aschenrost heraus. Ohne Erklärungen fasste er in die warme Asche und stopfte sich sein Tasche damit voll.

Rainer sah ihm zu, machte es ihm aber ohne zu fragen nach.

„Okay, lass uns nachsehen, wer uns da ärgern will.“

Sie hatten beide schon zu viel erlebt, um vor Angst zu sterben. Es war riskant, sehr sogar, aber einfach nur Warten war nicht ihre Art. Rainer hob vorsichtig den Riegel der Tür und lauschte. Dann drehte er den Türknauf und schob die Tür ein paar Zentimeter auf.

„Aha, lasst ihr euch endlich sehen!?“ rief es aus dem Nebel.

Nico verzog das Gesicht.

„Mirka. Diese widerliche Zecke.“

Rainer hielt die Tür fest und flüsterte Nico zu.

„Und jetzt?“

Nico schob ihn entschlossen beiseite und stellte sich unter die dann weit geöffnete Tür. Eine vermummte Gestalt stand etwa zehn Meter vor ihm im Schnee.

„Wie schön, dich wiederzusehen, Mirka. Wie geht’s denn eben?“

Nicos Stimme zitterte, aber das bemerkte nur er selbst. „Was gibt’s?“

„Was es gibt? Wir haben noch eine Rechnung offen. Dein Köter und du.“

„Von was redest du? Hat der Mosler nicht behauptet, das wäre alles erstunken und erlogen?“

„Der Mosler, der Mosler. Der dämliche Schwachkopf weiß gar nichts. Aber das zwischen uns, das wissen wir. Und du wirst jetzt die Rechnung bezahlen. Du und dein Köter.“

„Dann musst du aber herkommen. Mir ist es zu kalt.“

„Gar nichts werde ich. Wenn die ersten Flämmchen in die Hütte schlagen, kommst du so oder so heraus. Wir räuchern euch aus, wenn es sein muss.“

Nico hatte sich ähnliches gedacht. Er musste verhindern, dass Mirka soweit ging.

„Gut, ich komme. Aber der Hund ist nicht hier.“

„Ich weiß. Der kriegt seine Abreibung trotzdem, mach dir keine Sorgen. Und jetzt komm, ich habe keine Lust mehr auf Geschwafel.“

Das Schlimme war, dass man sonst niemanden sah oder hörte. Mirka wäre niemals alleine hierher gekommen, seine Bastarde lauerten garantiert hier irgendwo. Sie waren hinterhältig und feige, das machte sie durchaus gefährlich.

Auf Zeit spielen schien auch nicht zu funktionieren. Wo die anderen bloß so lange blieben?

Doch mit einem Mal legte sich Nicos Anspannung. Nur wenige Schritte hinter Mirka funkelten plötzlich kurz zwei grüne Augen aus dem Nebel, sie reflektierten das Licht aus der Hütte. Dann erloschen sie wieder.

„Immer bist du da, wenn man dich braucht«, flüsterte er zu sich selbst.

„Was hast du grade gefaselt? Komm endlich, oder wir stecken die Hütte an.“

„Dazu musst du aber erst an mir vorbei.“ Nico beschloss, ihn zu reizen.

„Das muss ich nicht. Ein Zeichen von mir und sie steht in hellen Flammen. Und dann war’s ein schrecklicher Unfall.“

„Ach, mit Feuer scheint ihr gerne zu spielen, wie? Weißt du, dass du krank bist, Mirka?“

Als keine Antwort kam wusste Nico, dass der handeln würde. Als Mirka den Arm hob und offenbar ein Zeichen geben wollte, stürzte er wie vom Blitz getroffen vornüber in den Schnee. Rick hatte ihn aus mehreren Metern angesprungen und hielt ihn in alter Manier sofort am Boden fest.

Nico atmete auf.

„Mirka, ich habe dich für schlauer gehalten. Du bist aber nichts weiter als ein erbärmlicher Dummkopf. Dass dir so was zweimal passiert – ich würde mir in den Arsch treten. Aber das kannst du ja jetzt nicht!“

Er drehte sich zu Rainer um.

„Lass bitte sofort die Jungen raus, beeil dich.“

Beim letzten Wort war Rainer bereits verschwunden und Nico ging langsam auf Mirka zu, der

im Schnee lag und sich unter Ricks Zangenbiss nicht rührte.

„Na, wie ist das? Das kennst du doch schon, oder? Und auch, wie das weitergeht, wenn du auch nur ansatzweise versuchst, Dummheiten zu machen. Mein Hund mag dich immer weniger, außerdem hört er das Wort Köter nach wie vor nicht gerne. Und deine kindischen Eskapaden öden uns allmählich auch an. Fällt dir eigentlich nichts Besseres ein? Ich frage mich langsam, ob es nicht Zeit wird, dir eine Lektion zu verpassen, die du nie wieder vergisst.“

Dann fiel ihm etwas Schwarzes im Schnee auf. Er bückte sich und hob es auf.

„Ah, eine Leuchtpistole. Das bringt mich doch glatt auf eine Idee. Ich wette, damit wolltet ihr auch das Lager anzünden, richtig?“

Er fummelte ein Taschentuch aus der Jacke, wickelte die Pistole darin ein und schüttelte den Kopf.

„Wie saudoof bist du denn eigentlich wirklich?“

Inzwischen kamen die Jungen eilig zu der Stelle hin. Nico lief die Zeit davon, das war nicht gut. „Sascha, Ruben, Maik – haltet den da unten fest. Lasst den Bastard nicht aus den Augen und wenn er zickt, benutzt Gewalt. Rick, lass ihn los.“

Knurrend ließ Rick langsam von Mirka ab, sofort stürzten sich die drei Jungen auf den Körper im Schnee. Die hatten Kraft und keine Angst, Nico konnte ihnen vertrauen.

„Such die anderen«, rief er dann dem Rüden zu, der sofort mit riesigen Sätzen auf die Hütte zu rannte und dann hinter ihr verschwand. Es war angenehm und von Vorteil, dass er bei solchen Aktionen nie bellte.

„Alle anderen kommen mit mir. Rainer, was ist mit dir?“

„Ich bleibe hier. Wer weiß, was für ein Gesindel da noch rumläuft.“

Nico hielt ihm die Waffe hin.

„Wenn möglich, nicht anfassen wegen der Fingerabdrücke. Ansonsten knall das Pack einfach über den Haufen. Mehr wert sind die nicht.“

Mirka kochte vor Zorn, doch blieb ihm unter den Griffen der Jungen kein Zentimeter, um sich zu wehren. Sascha bog ihm einen Arm nach hinten und machte ihn so praktisch Bewegungsunfähig.

„Okay, dann los.“

Benny, Jonas, Markus und Timo folgten ihm ohne zu zögern. Ein Schrei aus dem Wald ging ihnen kurz darauf durch Mark und Bein, dann bellte Rick. Nico rannte, von den Jungen gefolgt, in die Richtung, von wo das bellen kam.

Sie folgten dann einem mal lauten, dann leisen Wimmern und schließlich kamen sie an die Stelle. Rick hatte sich diesmal nicht viel Mühe gemacht: Steffen stand mit aufgerissenen Augen fest an einen Baumstamm gepresst und starrte auf den Hund.

Der stand zwei Meter davor und bleckte die Zähne, dass selbst Nico ein kalter Schauer über den Rücken lief. Neben Steffen stand ein Kanister und diverse Lumpen, es roch nach Benzin.

 

 

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