Wege – Teil 10 – Eintauchen

Schlotternd saß Mic im Auto. Er fror, sein Kopf schmerzte und überhaupt fühlte er sich ziemlich elend. Richard drehte die Heizung höher, drückte kurz seine Hand.

„Du hast es wirklich erzählt, Mic. Das war bestimmt nicht leicht. Ich bin so stolz auf dich. Und ich hoffe, du bist es auch.“

Mic wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Stolz? Darauf, dass er seiner Mutter die Ohren vollgejammert hatte? Sicher nicht. Er war sich keineswegs sicher, das Richtige getan zu haben, aber da er das Thema nicht weiter vertiefen wollte, schwieg er einfach.

Er schauderte, als ihm der nächste Kälteschauer über den Rücken jagte.

„Mann, du bist ja total fertig. Ich mach dir gleich nen Tee und dann ab ins Bett mit dir.“

Mics Eltern hatten versucht, Mic zu überreden, die Nacht in seinem alten Zimmer zu verbringen, aber Mic hatte unbedingt nach Hause gewollt. Darauf hatte Jo mit den Worten „Du solltest jetzt nicht allein sein, und selbst fahren ist auch keine so gute Idee.“ Richard angerufen, der ihn abgeholt hatte.

„Verfuckte Schneeberge. Müssen die das Zeug unbedingt auf die Parkplätze schaufeln?“

Leise vor sich hin fluchend suchte Richard nach einem Parkplatz.

„Endlich! Aber wir werden ein Stück laufen müssen…“

Kalt. Selbst für Mitte Dezember fand Mic es viel zu kalt, als er mit Richard bibbernd durch den Schnee stolperte. Und es schneite noch immer. Seit wann war es so eiskalt, wenn es schneite? Es würde bestimmt weiße Weihnachten geben, aber in diesem Moment hatte dieser Gedanke für Mic absolut nichts Romantisches an sich. Statt dessen reihte er Schnee in seine Hassliste ein – direkt hinter Sonntage.

Zu Hause angekommen duschte Mic erst so heiß er es ertragen konnte und kroch dann wirklich in sein Bett. Er fror noch immer, fühlte sich trotz der von der heißen Dusche deutlich geröteten Haut so, als hätte jemand sein Inneres eingefroren. Lediglich sein Bett, die Decke, das Kissen, all das fühlte sich noch eisiger an als der gefrorene Klumpen in ihm.

Richard kam mit Tee ans Bett.

„Du zitterst ja noch immer. Und fühlst dich ganz heiß an. Ich glaub du hast Fieber…“

Mic fühlte eine kalte Hand auf seiner Stirn und fröstelte.

„Es ist kalt hier. Ist die Heizung aus?“

„Kalt? Hier hats gefühlte 30 Grad. Ne, mein Lieber, du bist krank. Hast du Aspirin? Lass mal, ich schau schon nach…“

Mic schloss die Augen, deren Lider sich mit einem Mal ganz schwer anfühlten.

„Hier. Trink das.“

Mic setzte sich widerwillig auf, griff nach dem Glas, das Richard ihm hinhielt und schluckte die eiskalte Flüssigkeit ohne irgendwas zu schmecken. Allein das kalte Glas zu berühren jagte ihm weitere Kälteschauer über den Rücken.

„Du gehst morgen früh zum Arzt. So gehst du jedenfalls nicht arbeiten.“

hörte er Richard noch sagen, ehe er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Ein scharrendes Geräusch, das in seinem Kopf dröhnte, weckte Mic. Er fuhr hoch, spürte dabei noch immer dumpfes Kopfweh, zu dem sich jetzt richtiges Halsweh gesellt hatte. Das war kein leichtes Kratzen mehr. Und nicht nur das. Eigentlich tat ihm so ziemlich alles weh.

Das Geräusch kam von draußen. Mit wackeligen Schritten ging Mic zum Fenster, zog die Vorhänge zurück und sah den Mieter aus Parterre Schnee schaufeln, was das schabende Geräusch erklärte. Es schneite noch immer, draußen war es hell, der Himmel grau.

Hell! Es war schon hell! Mics Blick wanderte zu seinem Wecker, der 9:24 anzeigte.

Mit einem Fluch stürzte Mic erst ins Bad, dann, es sich anders überlegend, ins Wohnzimmer, um das Telefon zu suchen. Er musste unbedingt die Schule anrufen. Verdammt, er hatte verschlafen!

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren.

„Babs! Was zum Teufel machst du hier? Und warum hast du mich nicht geweckt?“

Hatte er Babs wirklich gerade angeschrien? Ja, dem Schmerz in seinem Hals nach hatte er das wohl.

Babs, die ihn ansah wie einen Geist, stotterte.

„Ich… du…. Richard musste zur Arbeit und ich erst heut Nachmittag. Du solltest… ich hab die Schule angerufen. Und meinen Hausarzt. Ich… du sollst um 11:30…“

Babs verstummte kurz, schien sich dann wieder zu fangen.

„Du siehst richtig Scheiße aus, Mic. Du bist krank. Geh wieder ins Bett, ich bring dich dann nachher zum Arzt.“

Mic öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, kam aber nicht dazu.

„Die Schule ist informiert, dass du krank bist. Und jetzt geh ins Bett!“

Nun war auch Babs laut geworden, drohte ihm mit einer Art Leinensäckchen, das sie abwechselnd von einer Hand in die andere nahm.

„Und nimm das hier mit.“

fügte sie etwas ruhiger hinzu.

„Das ist ein Dinkelkissen. Ich habs dir gerade warm gemacht. Im Ofen, nicht in der Mikrowelle. Die zerstört nämlich das Qi, und das ist bei dir eh schon gestört.“

Mic seufzte und stellte dabei erschrocken fest, dass das tiefe Einatmen weh tat. Er war also in der Schule krank gemeldet. Nun ja, vielleicht sollte er wirklich heute besser zu Hause bleiben. Frieren tat er auch schon wieder, und so nahm er ergeben das dargebotene Dinkelkissen.

„Danke, Babs. Lieb von dir. Und .. naja… Entschuldigung… fürs Anschreien eben.“

„Schon gut.“

Damit schob Babs ihn Richtung Schlafzimmer.

„Babs? Was ist eigentlich Qi?“

fragte Mic nach, nur um irgendwas zu sagen, biss sich aber sofort auf die Lippen. War ja klar, dass nun ein langer und breiter Vortrag über irgendwelche fernöstlichen Heilmethoden kommen würde, aber er täuschte sich. Babs machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Ach, das bedeutet so viel wie Energie, aber das interessiert dich doch eh nicht. Ich hol jetzt den Holunderbeersaft, der müsste inzwischen heiß sein.“

Mic hörte ihre schnellen, kurzen Schritte, als Babs durch die Diele ging, zog die Decke fester um sich und schloss die Augen. In seinem Kopf hämmerte der Schmerz, und ein Aspirin wäre ihm lieber gewesen als Holundersaft. Egal, er war froh, dass Babs da war, auch wenn sie irgendwie sehr… unterkühlt wirkte.

„Ist irgendwas?“

fragte er Babs dann auch, als sie wieder in sein Schlafzimmer kam. Die schüttelte nur den Kopf.

„Ne. Hier, trink das. Davon wirst du schwitzen.“

„Bist du so lieb und löst mir noch ein Aspirin auf? Bitte?“

Babs zuckte die Schultern.

„Klar. Warte hier.“

Ein paar Minuten später hatte Mic sowohl den Holundersaft heruntergewürgt wie auch das Aspirin.

„Ok, ich geh nochmal rauf zu mir, du kannst noch ne Stunde schlafen. Ich weck dich dann gleich und wir fahren zum Arzt. Brauchst du noch was?“

Babs war wirklich komisch, oder kam ihm das nur so vor? Egal jetzt, Mic konnte grad eh nicht richtig denken, murmelte noch ein „Danke, Babs.“ und dämmerte noch eine Weile vor sich hin.

„Ich schreibe Sie für den Rest der Woche krank. Arbeiten sie auch samstags?“

hatte der Arzt ihn gefragt, und Mic hatte sich nur sehr halbherzig gegen die AU gewehrt, schnell nachgegeben. Er hatte noch eine Klausur vorzubereiten, und auf diese Weise würde er ausnahmsweise mal richtig viel Zeit dafür haben. Außerdem fühlte er sich wirklich nicht gut. So müsste er am Montag nochmal in die Schule, danach würden dann ohnehin erst mal Ferien sein.

Immerhin hatte der Arzt ihm nicht irgendwelche Wunderheilmittel andrehen wollen, was er in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um Babs‘ Hausarzt handelte, gar nicht so abwegig gefunden hätte. Keine Ohrenkerzen oder Farbtherapie, ja nicht einmal Globuli.

„Und?“

fragte Babs, die gerade das Auto startete.

„AU für diese Woche, Antibiotikum und Schleimlöser. Irgendein bakterieller Infekt, der es sich auf einem Virus bequem gemacht hat.“

„Gut. Dann bring ich dich jetzt zurück nach Hause und du gehst wieder ins Bett.“

Babs war noch immer komisch, fand Mic. Sie sprach auf der Fahrt nach Hause zunächst nicht ein Wort mit ihm.

„Babs? Ist sicher alles ok? Irgendwas ist doch mit dir?“

Demonstrativ auf den Verkehr konzentriert schüttelte Babs ihre Locken.

„Ich will dich nur wieder im Bett wissen… und ich hab keinen Bock auf eine Hotline voller pubertierender Teenies.“

„Hm? Pubertierende Teenies?“

„Die haben mich an ne neue Hotline gesetzt. Totale Scheiße, sag ich dir. Die werben bei GZSZ jetzt für einen neuen Damenrasierer und verlosen eine Statistenrolle, wenn die Zuschauer die Hotline anrufen. Jetzt darf ich kichernde Teenies über Intimrasur aufklären, dabei könnt ich schwören, dass die meisten nicht mal alt genug für auch nur ein einziges Haar sind.“

Mic musste wider Willen grinsen.

„Armes kleines Babs. Das ist natürlich ein schweres Los.“

Babs knurrte etwas unverständliches, aber Mic vermutete einen nicht ganz jugendfreien Fluch. Doch auch wenn Mic auf gar keinen Fall seinen gegen Babs‘ Callcenter-Job hätte eintauschen wollen und von Babs wusste, wie stressig ihr Job manchmal war, so hatte er dennoch das Gefühl, dass da noch irgendetwas anderes war, das Babs bedrückte.

„Babs? Ist das wirklich alles? Ich meine, wenn…“

Ein kurzer Seitenblick seiner Freundin ließ ihn verstummen.

„Reicht das etwa nicht?“

fuhr Babs ihn an.

„Und jetzt lass mich fahren. Es ist verdammt rutschig und ich hab Sommerreifen drauf.“

Das nächste Mal, als Mic nach einem unruhigen Schlaf wach wurde, war es schon wieder dunkel draußen und neben ihm lag Richard, offensichtlich in ein Buch vertieft. Endlich mal kein Kopfweh mehr. Der Hals schmerzte, Arme und Beine schienen immer noch schwerer wie Blei, aber im Großen und Ganzen fühlte er sich schon ein wenig besser. Vor allem fror er nicht mehr so entsetzlich.

„Spannend?“

fragte er und schielte dabei nach dem Buchtitel. „Sprache ohne Worte“ stand da.

Richard lächelte.

„Hey, du bist wach. Wie fühlst du dich?“

„Besser. Besonders jetzt, wo du hier bist.“

Ein heftiger Hustenanfall ließ seine Worte allerdings nicht so richtig glaubwürdig klingen.

Richards Lächeln wurde breiter.

„Na klar bin ich hier. Was dachtest du denn? Babs hat mir übrigens ihren Schlüssel geliehen. Hunger? Durst?“

„Nur Durst. Aber bitte keinen Holundersaft…“

Richard lachte.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Hat Babs mir heute Morgen verpasst.“

„Ich bin aber nicht Babs.“

schmunzelte Richard und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.

„Ist mir auch schon aufgefallen…“

murmelte Mic.

„Die würde mich sicher nicht so küssen.“

„Und du dich hoffentlich nicht so küssen lassen. Ich mach dir nen Tee.“

Mit einem Gefühl von Bedauern ließ Mic Richard los und sah, wie er durch die Schlafzimmertür verschwand. Er fühlte sich plötzlich sehr anlehnungs- und kuschelbedürftig.

Was hatte Richard gesagt? Und du dich hoffentlich nicht so küssen lassen? Was bedeutete das? Kannte er doch sowas wie Eifersucht? Mic nahm sich vor, mit ihm über Levin zu sprechen. Er musste einfach wissen, was das mit Richard machte oder auch nicht machte. Nicht ein Wort hatten sie letzte Woche darüber verloren, beide nicht. Daran gedacht hatte Mic dagegen viel.

Was las Richard eigentlich da? Mic nahm das Buch, das aufgeklappt auf dem Bett lag, betrachtete das Cover.

„Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt.“* war da zu lesen. Ach du Scheiße… damit beschäftigte Richard sich? Zögerlich begann er, den Klappentext zu lesen. Eine Stelle traf ihn dabei wie ein Blitz: „Traumatisiert zu sein bedeutet, verdammt zu sein zu einer geistigen Endlosschleife unerträglicher Erfahrungen. In diesem fesselnden Buch erklärt Peter Levine, was bei einem Trauma in unserem Körper und unserer Psyche geschieht, und zeigt, wie die Weisheit des Körpers hilft, es zu überwinden und zu transformieren.“ War er das? Traumatisiert? Das Wort klang so… dramatisch. Irgendwie eine Nummer zu groß. Ja, er hatte eine miese Erfahrung gemacht, und das setzte ihm noch immer mehr zu, als ihm lieb war, aber traumatisiert? Und was bitte sollte Weisheit des Körpers bedeuten?

Mic begann, in dem Buch zu blättern, las hier und da ein paar Sätze. Wem wollte er hier eigentlich was vormachen? Wahrscheinlich war das einfach der Fachausdruck für genau das, was mit ihm los war. Und Richard tat etwas, worauf er selbst so gar nicht gekommen war: Er hatte sich Literatur dazu besorgt. Mic seufzte. Er war hier der Germanist, von denen ja wohl bekannt war, dass sie bibliophil sind. Eigentlich hätte er selbst auf die Idee kommen müssen, nicht erst von Richard darauf gebracht werden. Womit hatte er nur jemanden wie Richard verdient?

Der kam gerade einen Tee und kleingeschnittenes Obst auf einem Tablett balancierend wieder ins Schlafzimmer. Als er bemerkte, dass Mic das Buch durchblätterte, blieb er kurz stehen.

„Solltest du vielleicht auch mal lesen.“

meinte er, kam dann ans Bett und setzte das Tablett auf dem kleinen Tischchen daneben ab.

„Du liest das wegen mir, oder?“

„Nein, ich mach mir Sorgen um Predo, seit ich den hochgehoben habe.“

Richard verdrehte die Augen und seufzte.

„Natürlich wegen dir, du Schwachkopf. Ich fand, das war eine gute Idee. Schließlich will ich wirklich besser verstehen können, was da mit dir passiert, und da du es mir nicht so richtig erklären kannst, weil du es anscheinend selbst nicht weißt… Ich fand die Idee gut.“

Er deutete mit dem Kinn auf das Buch.

„Stört dich das?“

„Nein, stören trifft es nicht. Es ist nur… ach, ich weiß auch nicht. Ist nur irgendwie… komisch. Wann hast du das gekauft? Und da gibt’s doch bestimmt eine Menge Bücher. Warum ausgerechnet dieses?“

Richards Blick wurde nervös.

„Ich habs nicht gekauft. Jörn hat‘s mir heute vorbeigebracht.“

Mic war für einen Moment sprachlos.

„Jörn?“

wiederholte er schließlich wenig einfallsreich.

„Ja, Jörn. Stell dir vor. Seine Idee.“

„Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

„So kann man sich täuschen. Trink mal, bevor der Tee kalt wird. Und ein bisschen Obst würde dir auch ganz gut tun, von wegen Vitamine.“

Täuschte er sich, oder war es Richard tatsächlich unangenehm, dass die Idee von Jörn war und nicht seine eigene? Richard nahm ihm das Buch aus den Händen und legte es zur Seite, hielt ihm statt dessen die Teetasse vor die Nase. Mit einem letzten prüfenden Blick auf Richard nahm Mic diese und nippte vorsichtig daran.

„Bäh. Was ist das denn?“

Richard grinste.

„Thymian. Nicht besonders lecker, hilft aber. Sei ein braver Junge und trink.“

„Ich bin gar kein Junge…“

maulte Mic, noch immer verwirrt durch die Information, die er eben über Jörn erhalten hatte, trank aber noch ein paar Schlucke, um die Tasse dann abzustellen und sich an Richard zu kuscheln. Er beschloss, das Thema Jörn erst mal ruhen zu lassen.

„Wegen dem Typen in Köln, also Levin…“

murmelte er in Richards Armbeuge, wurde aber von Richard unterbrochen.

„Nicht jetzt, ok? Können wir übermorgen darüber reden? Morgen hab ich das Xing-Meeting, da wird’s spät. Übermorgen? Wenn’s dir besser geht? Bitte?“

„Ungern… aber dann reden, wir, versprochen?“

Richard schien erleichtert, und Mic, wenn er ganz ehrlich zu sich war, war es auch.

„Ok. Versprochen.“

Eine Weile lagen sie einfach nur schweigend aneinander gekuschelt. Mic hatte Richard wirklich vermisst in den letzten beiden Wochen, in denen er ihn vor lauter Angst aus seinem Leben quasi ausgeschlossen hatte.

„Schön, dass du hier bist. Bleibst du heute Nacht?“

„Wenn du mich lässt…“

„Ich bitte darum, auch wenn mir nur nach kuscheln ist. Aber davon ganz viel.“

Den nächsten Tag verbrachte Mic wieder weitgehend im Bett, obwohl er sich wirklich bereits bedeutend besser fühlte. Langweilig war es allerdings, aber auf die Klausurvorbereitung konnte er sich dann doch nicht so recht konzentrieren. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf.

Er begann, im Internet ein wenig nach Traumafolgen zu recherchieren und fand sich in so manchem Erfahrungsbericht wieder, einiges schüttelte ihn sogar ziemlich durch. Mit sehr viel anderem wiederum konnte er so gar nichts anfangen.

Er dachte an Babs, die er heute noch nicht gesehen hatte. Wie seltsam sie gewesen war… und an Jörn. Wie war er nur auf die Idee mit dem Buch gekommen? Und was daran störte Richard? Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Er seufzte. Der Tag verging viel zu langsam, und das Nachmittagsprogramm im Fernsehen war auch nicht so wirklich der Burner. Richard würde er heute sicher nicht zu sehen bekommen, der traf sich abends mit irgendeiner Marketing-Regionalgruppe, an der er sich über Xing beteiligte. „Netzwerken ist wichtig in meinem Job.“ hatte er gesagt.

Schließlich holte Mic seine Gitarre ins Bett und spielte, bis die Fingerkuppen zu schmerzen begannen. Viel zu lange hatte er nicht mehr gespielt. Überhaupt hatte er so einiges vernachlässigt. Sein tägliches Laufpensum zum Beispiel, aber das lag natürlich auch am Wetter. Er lief einfach nicht gern durch Schnee. Dennoch nahm er sich fest vor, das wieder zu ändern. Laufen tat ihm einfach gut, und er hatte das wirklich sträflich schleifen lassen seit seinem Absturz vor ein paar Wochen. Bestimmt war seine Kondition inzwischen gleich Null. Nun, heute würde er das nicht ändern können.

Ob seine Eltern inzwischen einigermaßen verdaut hatten, was er erzählt hatte? War es richtig gewesen, alles zu erzählen?

Was für ein endloser Tag! Er hatte die zweite Thermoskanne Thymiantee schon halb leer getrunken, seine Mailbox aufgeräumt und überlegte, was er noch tun könne. Lesen hatte er schon versucht, was er sonst viel und gerne tat, aber irgendwie war seine Konzentration einfach nicht die beste. Immer wieder erwischte er sich dabei, Buchstaben für Buchstaben zu lesen, ohne deren Sinn zu erfassen. Horror, wenn er sich auch noch die ganze Nacht so rumwälzen würde.

Also ließ er sich ein Bad ein, das sollte ja angeblich müde machen. Wieder in seinem Bett fühlte er sich aber keineswegs müde, lediglich irgendwie deprimiert und gefrustet.

Unwillig drehte Mic sich von einer Seite auf die andere und versuchte zu schlafen. Er wusste inzwischen nicht mal mehr, wie er liegen sollte. Indem er gerade darüber nachdachte, ob er Schnee oder Langeweile mehr hasste, klingelte es.

Das war bestimmt Babs, freute er sich über die willkommene Abwechslung und ging zur Tür, aber es war nicht Babs, sondern Jörn, der immer 2 Stufen auf einmal nehmend und mit 3 Pizzakartons bewaffnet, die Treppe herauf spurtete.

„Du?“

Jörn setzte mal wieder sein inzwischen von Mic fast schon gefürchtetes Lächeln auf. Verdammt, so ein Lächeln sollte verboten sein. Für den Bruchteil einer Sekunde war Mic geneigt, die Tür ganz schnell wieder zuzuschlagen, hasste sich dafür, wie er auf Jörn ansprang.

„Ja, ich. Heut ist schon Donnerstag, gestern waren wir zum Tanzen verabredet, und auch wenn du krank bist: Ich denke, wir sind mindestens quitt, jetzt hab ICH nämlich auch mal auf DICH gewartet. Dass Du krank bist, hab ich erst heute per Mail von Richard erfahren. Letzte Woche hast du wenigstens noch abgesagt…“

„Verdammter Mist! Ich hab tatsächlich unsere Verabredung vergessen. Tut mir leid. Wenigstens Absagen hätte ich müssen.“

„Außerdem“,

fuhr Jörn ungerührt fort,

„haben wir auch noch ein paar Dinge zu klären.“

Mic schluckte. Ja, das hatten sie wahrscheinlich. Seit dem Streit an dem Köln-Wochenende hatten sie nicht mehr miteinander geredet. Die Vorwürfe, die er ihm und Richard gemacht hatte… das hatte er vielleicht mit Richard geklärt, aber eben nicht mit Jörn.

Ok, Richard hatte sich letzte Woche Mittwoch mit Jörn getroffen, nachdem Mic das Tanzen abgesagt hatte, so hatte Jörn sicher schon einiges gehört, aber dennoch… blöde, peinliche Situation. Mic hätte sich am liebsten spontan in Luft aufgelöst.

„Also langsam nehm ich es persönlich, dass du mich immer hier draußen stehen lässt.“

beschwerte sich Jörn, der schließlich noch immer im Flur stand, und sofort tat Mic einen Schritt zur Seite. Himmel, wie benahm er sich schon wieder?!

„Sorry. Komm rein.“

„Na bitte. Geht doch.“

Jörn warf seine Jacke über einen Küchenstuhl, zog wie selbstverständlich die Schuhe aus, legte die Pizzakartons und seine Zigaretten samt Zippo auf den Tisch und schaute sich suchend um.

„Ist Richard schon zu seinem Meeting?“

„Ich glaub schon, der war noch gar nicht hier seit heute Morgen.“

Jörn musterte Mic von oben bis unten. Der wäre am liebsten im Erdboden versunken, als ihm bewusst wurde, wie er da stand: Wahrscheinlich völlig zerknautscht, mit zerrupften Haaren weil einfach nur trocken gerubbelt nach dem Baden, auf jeden Fall aber in seinen heiß geliebten Schlabberhosen und den dicken, bunt geringelten Wollsocken. Und zu allem Überfluss spürte er auch noch – mal wieder – das Blut in sein Gesicht schießen. Er seufzte. Zu spät, jetzt brauchte er sich auch nicht mehr herzurichten.

„Du bist grad aus dem Bett gekrochen, oder? Willst du da wieder rein?“

„Nein, mir tut eh schon alles weh vom Liegen. Ehm… willst du was trinken? Ich kann dir… hm… Thymiantee anbieten…“

Jörn verzog angewidert das Gesicht.

„Lass mal, den will ich dir nicht wegtrinken. Darf ich?“

Schon hatte er den Kühlschrank geöffnet inspizierte dessen Inhalt, holte eine Flasche Sprudel heraus und deutete auf die Pizzakartons.

„Schinken, Krabben oder Spinat? Oder von allem ein bisschen? Du darfst wählen. Lass uns ins Wohnzimmer gehen.“

Und schon verschwand Jörn samt Pizza, Getränken und Tabakwaren aus der Küche. Eigentlich ganz schön dreist, fand Mic. Der benahm sich ja, als wäre er hier zu Hause. Dann musste er doch grinsen und holte Gläser aus dem Schrank.

„Ich probier mich durch, glaub ich.“

rief er Jörn hinterher, während er noch nach Tellern und Servietten angelte. Als er das Wohnzimmer betrat, hatte Jörn bereits die Pizzakartons geöffnet und sich aufs Sofa gefaltet. Eigentlich hatte Mic keinen Appetit, probierte dann aber doch ein Stück Spinatpizza, welches ihm fast sofort wieder im Hals stecken blieb, als Jörn seine Füße auf Mics Beinen ablegte.

„Ihr habt euch also wieder vertragen, du und Richard.“

stellte Jörn mit einem süffisanten Grinsen zwischen 2 Stücken Pizza fest.

„Ich will Richard nicht verlieren…“

antwortete Mic ausweichend. Ja, vertragen hatten sie sich. Das seltsame Gefühl, dass da irgendwas war zwischen Richard und Jörn, irgendetwas, von dem er aus irgendeinem Grund nichts wissen sollte, hatte ihn jedoch nicht verlassen.

„Er dich auch nicht. Also lass so nen Scheiß demnächst, ja?“

Mic betrachtete die Füße, die auf seinen Oberschenkeln lagen. Dreist, stellte er nochmal fest.

„Ich weiß. Ich hab überreagiert, und das tut mir leid.“

Ob Richard Jörn von Levin erzählt hatte?

„Überreagiert, soso. So kann man das natürlich auch nennen, beim ersten Problem mit jemand anders ins Bett zu hopsen.“

beantwortete Jörn Mics ungestellte Frage.

„Richard sieht das nicht so eng.“

meinte Mic sich verteidigen zu müssen, worauf Jörn schnaubte.

„Ach? Das wär mir neu… aber noch ist das ja eigentlich nur Eure Sache.“

„Richtig, aber wieso noch? Das bleibt auch unsere Sache.“

Jörn nahm seine Füße von Mics Beinen runter, rückte ein kleines Stück von ihm ab.

„Ok…“

kam es zögerlich von Jörn,

„das ist doch mal eine klare Ansage.“

Natürlich war das seine und Richards Sache, was denn sonst? Dachte Jörn jetzt, da wäre irgendwie mehr mit Levin?

„Das mit Levin war… naja… ein Ausrutscher.“

„Wenn du es sagst…“

Jörn war plötzlich komisch, fand Mic, und wieder beschlich ihn das Gefühl, dass da etwas war, wovon er nichts wusste.

„Warum habt ihr beide euch eigentlich getrennt damals?“

fragte er einer plötzlichen Eingebung folgend. Die Frage hatte er auch Richard schon mal gestellt, aber keine Antwort erhalten.

Jörn zog offensichtlich verdutzt die Augenbrauen hoch.

„Das weißt du nicht?“

„Wenn ich es wüsste, würde ich wohl kaum fragen, oder? Also? Warum?“

Jörns entgleisten Gesichtszügen nach war er wirklich erstaunt.

„Ok, jetzt versteh ich einiges besser. Aber wenn Richard dir das nicht erzählt hat, dann werd ich den Teufel tun und dir das sagen. Tu mir einen Gefallen, ja? Frag Richard danach, nicht mich.“

„Habe ich schon, irgendwann, aber da war er grad zu müde, um es zu erzählen. Was ist so schlimm daran, wenn ich dich frage?“

Jörn, inzwischen bei seinem vierten Stück Pizza, kaute demonstrativ gründlich, schien Zeit gewinnen zu wollen. Oder bildete Mic sich das jetzt auch wieder nur ein?

„Sagen wir mal so: Es ist nicht schlimm, dass du fragst, aber antworten sollte dir Richard. Ist seine Sache, was er dir wie erzählt, ok?“

Das war nicht wirklich hilfreich.

„Und da wundert es euch, dass ich mich frage, was da noch zwischen euch ist? Was soll denn die Geheimniskrämerei?“

Vehement schüttelte Jörn den Kopf.

„Kein Geheimnis, das ist Quatsch. Wir haben nur… es war einfach vernünftiger, uns zu trennen. Es gab Dinge, in denen wir einfach nicht zusammen passten. Oder vielmehr… ach Mist. Tu mir den Gefallen, bitte. Frag Richard danach. Ich hab ihm versprochen, das ihm zu überlassen. Alles andere wär einfach nicht fair.“

„Aber…“

„Bitte!“

Jörn, so selbstbewusst er sonst auch immer wirkte, schien in diesem Moment verlegen zu sein. Wie er so unsicher wirkend versuchte, sich um eine Antwort zu drücken… In seinen bittenden Augen glaubte Mic ein Aufflackern von Ängstlichkeit wahrzunehmen. Irgendwas stimmte da nicht, das war kein Hirngespinst, da war Mic sich inzwischen sicher.

„Werde ich. Jetzt sowieso, wo du so ein Tamtam darum machst.“

„Danke. Hast du noch Hunger auf Pizza?“

Es war offenkundig, dass Jörn das Thema wechseln wollte, und Mic tat ihm den Gefallen und ging darauf ein. Mehr, als Jörn schon gesagt hatte, war ja wohl ohnehin nicht aus ihm raus zu bekommen. Fürs Erste reichte es Mic zu wissen, dass er sich nicht nur eingebildet hatte, dass da irgendwas sonderbar war.

„Nein, aber lecker war‘s. Gute Idee.“

„Na dann…“

Jörn klappte die Kartons zu und brachte sie in die Küche. Seine gute Laune schien auf einen Schlag zurückgekehrt zu sein, in seinen Augen glitzerte es gefährlich.

„Sooo krank wirkst du übrigens gar nicht.“

schmunzelte er, als er Mic eine Zigarette anbot, die dieser auch nahm.

„Ne, ich fühle mich auch schon viel besser. Ich glaube nicht, dass ich noch Fieber habe. Langweilig war mir heute.“

Vor sich hin lächelnd begann Jörn, in Mics CDs zu wühlen, traf endlich eine Wahl und drehte sich wieder zu Mic um.

„Na dann kannst du mir vielleicht bei was helfen.“

„Öhm…“

Jörn hielt das Cover der CD hoch, die er soeben eingelegt hatte: Ein Sampler mit tanzbarer Rumba.

„Ich hab noch Hunger. Tanzhunger. Wollen wir?“

„Was? Hier?!?“

fragte Mic stumpfsinnig, viel zu perplex, um etwas Vernünftiges sagen zu können. Es reichte ja nicht, dass es ihn schon nervös genug machte, hier allein mit Jörn zu sitzen, nein, jetzt wollte der auch noch tanzen.

„Warum nicht hier? Dir geht’s besser, und es ist doch Platz genug, Musik ist auch da… also versuch mal, mir nicht wieder eine reinzuhauen, ok? Du führst, das ist eh nicht so anstrengend…“

Damit fühlte Mic sich vom Sofa hochgezogen.

„Außerdem“,

fügte Jörn verschmitzt lächelnd hinzu,

„schuldest du mir noch was. Das war jetzt schon der dritte geplatzte Tanzabend, und 2 davon gehen ganz eindeutig auf Deine Kappe.“

Verrückter Kerl, wollte hier durchs Wohnzimmer tanzen.

Mic lachte laut auf, als Jörn probeweise ein paar vollkommen überzogene Drehungen hinlegte und mit seinen Socken auf dem Parkett ins Rutschen geriet, ausgerechnet bei Celine Dions Falling into you. Reflexartig fing er ihn auf, soweit das nötig war, wofür er ein breites Grinsen erntete.

„Ups, danke. Geht eben doch besser zu zweit…“

Typisch, dass Jörn Rumba ausgesucht hatte. Mic konnte zunächst selbst kaum glauben, was er da tat: Mit Jörn durch sein Wohnzimmer tanzen. Und das ganz ohne Alkohol, Joints oder andere berauschende Mittel.

Wobei – so ganz stimmte das nicht. Das Tanzen selbst hatte etwas Berauschendes, erst recht mit Jörn. Diese Mischung aus Bewegung, Berührung, Rhythmus, das völlige Aufgehen in der Musik, den kleinen Signalen des anderen, hatte für Mic schon fast etwas Magisches, die Sinne Vernebelndes. Oder die Sinne Weckendes, je nachdem, wie man es betrachten wollte.

Schnell stellte sich der Zustand ein, den er für sich selbst als Flow bezeichnete, ein Zustand, in dem nichts anderes auf der Welt mehr von Bedeutung schien als tanzen, wo er nicht mehr dachte, nur noch fühlte.

Mit Jörn zu tanzen ging allerdings weit darüber hinaus. Kein Zeitgefühl war da mehr, Erschöpfung, Durst, Vernunft, seine Erkältung, Angst, all das wurde nach und nach ausgelöscht. Wer war er, wer Jörn? Die Grenzen zwischen ihren Körpern schienen ineinander zu fließen, und doch erzeugte jede Berührung ein Knistern, wirkte geradezu elektrisierend, aufladend. Der Tanz mit Jörn versetzte Mic in einen Erregungszustand, der alle seine Sinne übersensibel zu machen schien, der keine Fragen zuließ, der einfach nur mehr und noch mehr verlangte. Jeder Tanzschritt, jede Drehung, die Jörn sich von ihm entfernen ließ, diente nur dazu, ihn wieder an sich ziehen zu können, näher, enger, haltloser. Alles, was noch existierte, war ungezügelte Lust am Fluss des gemeinsamen Rhythmus, in dem er und Jörn sich bewegten. Eine Strömung, in der er sich nur auf sein Gefühl verlassen konnte, in die er sich gleichsam hineinstürzte, durch die er sie beide nur noch von inneren Impulsen geleitet steuerte.

Abrupt stockte der Strom zusammen mit dem Ende der CD. Schwer atmend standen sie sich in der plötzlichen Stille gegenüber, beide um das wissend, was gerade geschehen war. Mic war sich sicher, dass er das, was er gerade fühlte, auch in Jörns Augen sehen konnte, fand den rauschähnlichen Zustand in Jörns Augen genauso gespiegelt wie den Schock über das jähe Ende und die Erkenntnis, dass sie beide dieses Ende nicht hinnehmen wollten.

Ihre Lippen berührten sich wie selbstverständlich, ihr Hände befreiten sich fahrig und wie von allein gegenseitig von störendem Stoff, gaben dem rauschähnlichen Zustand Futter, damit er anhielt. Alles, was noch zählte, war, dass er diesen Mann wollte, auf der Stelle, jetzt, sofort. Wie ein Strudel saugte ihn dieses Wollen ein, ein Wollen, dass die ganze Zeit da gewesen war seit jenem Freitag im Oktober, unterdrückt, unwillkommen, aber hartnäckig. Und Mic ließ sich in seiner Euphorie einsaugen, nur allzu bereitwillig.

Eine ganze Weile lagen sie später da, die Augen geschlossen, regungslos dem nachspürend, was sie gerade erlebt hatten und langsam in sich selbst zurückkehrend. Mic spürte, wie sein Herzschlag sich nach und nach genauso wieder normalisierte wie der von Jörn. Langsam ebbte der euphorische Zustand ab, der Verstand schaltete sich wieder ein. Mist. Was tat er hier? Fast gleichzeitig öffneten sie die Augen, sahen sich an.

„Scheiße. Und jetzt?“

sagte Mic eher zu sich selbst als zu Jörn. Was hatte er jetzt schon wieder angerichtet?

*Anmerkung: Das Buch gibt es wirklich.

Peter A. Levine: Sprache ohne Worte: Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. Kösel, 2010, ISBN 978-3-466-30918-4.

Die Erwähnung soll bitte nicht als Werbung verstanden werden. Ich hätte ebenso ein anderes Buch auswählen können.

 

 

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