„Und du willst wirklich nicht wissen, was drinsteht?“, fragte mich Abby nochmals.
„Nein“, antwortete ich trotzig.
„Okay, dann leite ich das an unseren Anwalt weiter, der soll sich darum kümmern“, meinte Abby und verließ die Küche.
Molly schaute mich an und dann auf den Brief, den Abby hat liegen lassen. Ihr Blick wechselte ein paar Mal zwischen ihm und mir hin und her. Dann griff sie danach und begann ebenso zu lesen.
„Boah, ich wird verrückt.“
Ich senkte meinen Kopf zur Seite und schaute Molly an.
„Ich will es nicht wissen!“, betonte ich noch Mal.
„Bist du verrückt? Der zahlt dir das ganze College und du willst nichts davon wissen?“
„Wer?“
„Dein Vater natürlich!“
Jetzt doch neugierig, riss ich ihr den Wisch aus der Hand und las selber. Da stand doch tatsächlich, dass mein Vater vor fünf Jahren einen Fond für mich eingerichtet hatte. Es wurde auch bis kurz vor seinem Tod eingezahlt.
Dad hatte trotz seiner Arbeitslosigkeit Geld einbezahlt? Wieso hat er mir davon nichts erzählt? Mir stiegen Tränen in die Augen.
„So ein Arschloch, wann lässt er mich endlich in Ruhe!“, rief ich, stand auf und warf dabei den Stuhl um.
Dann rannte ich in mein Zimmer und warf die Tür hinter mir zu. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und begann zu weinen. Ich verstehe es nicht. Zwei Jahre lang hatte er mich nur gedemütigt, verletzt, schikaniert. Und jetzt kam sowas. Ich war total durch den Wind und wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Es klopfte.
„Kann ich reinkommen?“, hörte ich Molly rufen.
Sie wartete überhaupt nicht auf Antwort, sondern öffnete gleich die Tür. Ich hörte ihre Schritte durch mein Zimmer hallen, bis sie vor meinem Bett stoppten. Dann setzte sie sich neben mich und wenig später spürte ich, wie sie mit ihrer Hand durch meine Haare kraulte.
„Ich versteh es einfach nicht“, brummelte ich ins Kissen.
„Meinst du nicht, er hat dich doch geliebt?“, hörte ich Molly fragen.
Ich hob mein Kopf an und sah Molly mit verheulten Augen an.
„Das hat er mir dann aber nicht gezeigt… mich als Dreck, Abschaum zu bezeichnen, zeigte nicht gerade viel Liebe.“
„Vielleicht konnte er es dir auch nicht zeigen.“
„Wieso? Früher hat er es doch auch getan…“
Die Erinnerung an früher schmerzte, weil es so schön war. Die Sehnsucht nach dieser Zeit ließ mein Herz zusammen krampfen. Meine Tränen flossen weiter.
„Früher hast du ihm alles erzählt, wenn irgendetwas war, oder?“
„Ja, ich hab Papa immer alles erzählt.“
„Und warum später nicht?“
„Ich äh…ich… ich weiß es nicht.“
„Sorry, wenn es sich jetzt anhört, als würde ich das Verhalten deines Dad entschuldigen wollen. Kann es sein, dass dein Vater sich ausgeschlossen gefühlt hat?“
Ich schaute sie mit großen Augen an.
„Du meinst… du meinst, ich bin selbst schuld an seinem Verhalten? Er hat ja gesagt, ich wäre schuld, dass Mum uns verlassen hat.“
„Nein, Tom, so habe ich das nicht gemeint.“
„Wie dann?“
„Hast du je deinem Dad erzählt, wie sehr du deine Mum vermisst?“
„Nein.“
„Hat er dir etwas über sich erzählt?“
„Nein…“
„Siehst du, das meinte ich. Ihr habt nicht miteinander geredet. Keiner wusste über den anderen Bescheid. Vielleicht hat er deswegen angefangen zu trinken, weil er dachte, dich auch zu verlieren.“
„Aber…“
„Nicht aber, Tom. Dein Dad hat sich so entschieden. Mein Vater hat dir ja schon gesagt, es war seine Entscheidung, mit dem Trinken anzufangen und auch seine Entscheidung, nicht damit aufzuhören.“
„Und warum hat er mich dann immer so mies behandelt.“
„Das, Tom, kann ich dir nicht sagen. Aber Alkohol zerstört vieles.“
„Da muss ich Molly Recht geben!“
Unsere Köpfe wanderten herum. Abby stand an der Tür. Sie trat zu uns heran.
„Tom, Alkohol verändert den Menschen. Auf lange Sicht verliert der Verstand die Orientierung. Du nimmst nicht mehr wahr, was wichtig ist. Alles dreht sich nur noch um dich und deine Person.“
„Du meinst, wenn Papa mal nicht betrunken war, war er normal?“
„Ich weiß es nicht Tom, was bei deinem Vater normal war. Wie gesagt, ich kannte ihn nicht gut, er hat uns immer gemieden.“
Ich atmete tief durch und wischte meine Tränen ab.
„Sieh den Fond mit dem Geld als einen Versuch an, sich bei dir zu entschuldigen. Nimm es an und versuch, es zu akzeptieren.“
„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Versuch es einfach, okay? Molly, ich bräuchte dich in der Praxis… kommst du? Ach Tom, bevor ich es vergesse. Könntest du alles beim Fenster wegräumen?“
„Öhm, ja. Wieso?“
„Weil gleich ein Schreiner kommt. Du bekommst zum Fenster einen eigenen Eingang hinzu.“
„Echt? Wow… danke… ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
„Nichts. Bob und ich dachten nur, es wäre vielleicht besser.“
Mit ihrem typischen Lächeln, verließ sie mein Zimmer. Molly knuffte mich in die Seite und verließ ebenso mein Zimmer. Diese Familie war einfach nur cool.
*-*-*
Da es mir im Zimmer doch zu laut wurde, hatte ich mich wieder vor das Haus auf die Veranda verzogen. Ich saß wieder auf meinem Lieblingsplatz. Auf der Bank. Ich schrieb wie ein Besessener in mein Tagebuch, denn ich hatte viel zu erzählen.
Ein Punkt noch und es ging mir wieder besser. Ich hatte mir alles von der Seele geschrieben. Das Sägen und Hämmern hatte ich die ganze Zeit nicht mehr wahrgenommen. Jetzt rief es mir in Erinnerung zurück, dass sich mein Zimmer baulich veränderte.
Ich legte mein Tagebuch auf die Bank und das von Mollys Grandpa oben drauf, welches ich vorsorglich mit herausgenommen hatte. Dann stand ich auf, schlüpfte in meine Turnschuhe und verließ die Veranda.
Bei Abby und Bob schien viel los zu sein, denn es parkten mindestens sechs Wagen vor dem Haus. Ich umrundete das Haus, bis ein offener Lieferwagen in Sicht kam. Schwere Balken lehnten an ihm.
Brauchte man so etwas, um eine Tür aufzubauen? Ein Typ kam um die Ecke, schaute mich kurz nickend an und griff nach einem der schweren Balken.
„Öhm… soll ich helfen?“, fragte ich.
„Danke, das wäre nett. Der Chef meint immer, ich wäre so super stark und könnte die alleine tragen.“
Also half ich ihm, den Balken aufzunehmen und trug ihn mit auf die Rückseite des Hauses. Ich war erstaunt, wie weit der Schreiner schon war. Die Tür war schon vollständig aufgebaut. Und jetzt sah ich auch, warum diese schweren Balken da waren.
„Gerade hier absetzen“, meinte der Typ und riss mich aus den Gedanken.
„Ach so… ja“, meinte ich und legte mit ihm das Holz ab.
„Nath, holst du mir bitte die Eisenwinkel aus dem Wagen?“, hörte ich einen der anderen zwei Männer rufen.
„Klar, Chef“, rief dieser Nath zurück.
„Danke noch mal“, meinte Nath zu mir.
Der Mann, der Nath weggeschickt hatte, kam auf mich zu.
„Hallo, du scheinst Tom zu sein, Bob und Abby haben mir schon Einiges über dich erzählt.“
„Äh… ja, ich bin Tom“, meinte ich verlegen.
Was haben die erzählt? Er streckte die Hand aus.
„Ich bin Carl, der hiesige Schreiner.“
Ich schüttelte die Hand.
„Nath, wo bleibst du denn?“, rief der anderer Mann schroff, „ich brauch die Winkel.“
„Also die Tür kannst du heute schon benutzen, aber wegen der kleinen Veranda, da werden wir erst morgen fertig“, meinte dieser Carl zu mir.
„Eine Veranda?“, fragte ich verblüfft.
„Ja und morgen wird sie fertig.“
Nath kam um die Ecke gedüst und hatte die Hände voll mit Eisenwinkeln. Er blieb an etwas hängen und fiel der Länge nach auf den Boden. Ich ging hin und half ihm auf.
„Nathaniel, du bist sowas von blöd. Kannst du mal irgendwas richtig machen?“, hörte ich den anderen Mann schimpfen.
Der Typ schaute mich verlegen an und hob die Eisenwinkel wieder auf.
„Bryan, sei doch nicht so. Er tut doch sein Möglichstes. Und zudem hätte er eigentlich Ferien“, meinte Carl neben uns.
„Ferien? Wäre ja noch schöner, zu Hause faul herum zu sitzen“, kam es von diesem Bryan.
Nath schaute mich noch mal kurz an. Ich beschloss, wieder zur Veranda zurück zu gehen. Auf halbem Weg hörte ich jemanden hinter mir.
„Du bist Tom?“
Ich drehte mich um. Dieser Nath stand vor mir.
„Ja, bin ich und du heißt Nathaniel… komischer Name.“
„So werde ich nur von meinem Dad gerufen. Nathaniel kommt aus dem Irischen. Meine Großeltern stammen aus Irland und sind nach Australien ausgewandert. Sonst sagen alle Nath zu mir.“
„Und woher kennst du meinen Namen, also ich mein, du hast ihn eben gehört, aber wieso kam er dir bekannt vor?“
„Hat mir Lesley erzählt. Wir gehen in die gleiche Klasse.“
„Und jetzt musst du in den Ferien arbeiten?“
„Ja, leider. Mein Dad meint, ich soll etwas Sinnvolles machen.“
„Nath!“, hörte ich seinen Dad wieder rufen.
„Du sorry, ich muss weitermachen. Wir sehen uns bestimmt noch.“
Ich nickte. Und schon war ich wieder alleine. Also umrundete ich wieder das komplette Haus und sah, dass noch zwei weitere Autos vor dem Haus standen. Jetzt dürften nicht mehr viel kommen, sonst wär kein Platz mehr.
Abby hatte anscheinend doch Recht, dass niemand auf das Gerede der Stefferson achten würde. Hier war genug los. Ich schnappte mir die zwei Tagebücher und betrat wieder das Haus.
Auf halbem Wege blieb ich stehen. Ob ich in die Praxis gehen sollte und fragen, ob sie meine Hilfe bräuchten? Ich brachte die Tagebücher schnell ins Zimmer und sah Nath durch die neue Tür.
Er lächelte mir kurz zu, bevor er sich wieder um seine Arbeit kümmerte. Ich legte die Tagebücher auf den Schreibtisch und ging noch mal ins Bad um mich kurz zu betrachten. Ja, so konnte ich bleiben. Wollte ja keine Patienten erschrecken.
Also lief ich zurück und betrat die Praxis. Das Wartezimmer war voll und als ich eintrat, hoben alle den Kopf.
„… hallo“, meinte ich und lief weiter zur Theke.
Dahinter saß eine verzweifelte Abby.