Jedes Jahr dasselbe. Wenn es auf Weihnachten zu ging, spielten die Leute verrückt. Ich stand vor dem Covent Garden, wo wie beim Ameisenhaufen die Menschen hinein und herausströmten.
Covent Garden. Hier bekam man alles, was in Sachen Gemüse, Obst und Blumen das Herz begehrte. Immer frisch und reichlich. Eigentlich sollte man London während der Vorweihnachtszeit meiden, wenn man keine großen Menschenaufläufe mag. Aber was blieb mir anderes übrig, ich arbeite hier in diesen heiligen Hallen des Konsums.
Meine Eltern hatten mir nie verziehen, dass ich den guten Job als Lehrer aufgegeben hatte und nun als freier Journalist mein Geld verdiente. Wer ich bin? Stimmt, wir wurden uns noch nicht vorgestellt.
Wer du bist weiß ich. Du bist der Mensch der das hier liest. Wo und warum auch immer. Das bist du und ich bin mir sicher, wir werden bald Freunde sein. Da kannst du machen was du willst!
Und ich? Ich heiße Jack Colborn, bin achtundzwanzig Jahre alt, wie schon erzählt, freier Journalist und wohne in der Weltstadt London. Man sollte eigentlich glauben hier in dieser Stadt gibt es genug Quatsch und Tratsch über den man schreiben könnte.
Alleine schon die königliche Familie lieferte genug Stoff um Bücher zu füllen. Aber nein, leider gab es zu viele… Was? Käseblätter, die über alles und jeden schrieben. Dies war auch nicht mein Ding.
Ich schrieb für ein angeblich angesehenes Wochenblatt, welches sich der noblen Cuisine der englischen Küche verschrieben hatte. Sprich, ich testete Restaurants, Kneipen oder Cafés in der Stadt und dem Umland.
Eigentlich hatte die englische Küche den Ruf schwer verdaulich und langweilig zu sein, da sie oft sehr fettig und deftig war. Aber dagegen standen die außergewöhnlichen Kombinationen, wie zum Beispiel ein herzhaftes Stück Fleisch mit einer Minzsoße.
Zudem gab es ja nicht nur englische Läden. So saß ich mindestens einmal in der Woche in einer dieser Lokalitäten und schrieb darüber in den folgenden Tagen einen Bericht. Dieser wurde dann veröffentlicht. Normalerweise sollte ich ja schon in der Londoner City verhasst sein, da, wenn mir der Laden nicht gefiel, ich auch dem entsprechende Artikel schrieb, aber da ich ein eher durchschnittlicher Typ war, so ungefähr 1,80 groß, braune Haare und etwas hager, fiel ich meist nie auf.
Unter meinen Artikeln stand auch immer nur JC, nie der volle Name und dann war ich mir auch nicht sicher, ob diese ach so noble Blatt soviel Beachtung bekam, wie der Chef der Redaktion mir glauben machen wollte.
Zudem, wer dachte schon, dass einer, der an ein paar Tagen in der Woche hinter dem Tresen ein kleines Bistros bediente, Artikel über die Essgewohnheiten des englischen Volkes schrieb. Hier war ich einfach Jack, der liebenswerte Typ, der immer für einen Spaß zu haben war.
Einzig Riley wusste, was ich so nebenbei machte, um mein Bankkonto zu füllen. Halt, du sagst sicher, wenn er Artikel für eine Zeitung schreibt und gut verdient, warum bedient er dann noch in einem Bistro?
Um ehrlich zu sein, nötig hatte ich es nicht, aber alleine täglich am Laptop in der Wohnung zu sitzen…, mir fiel schlichtweg die Decke auf den Kopf. Außerdem war es immer spaßig mit Riley zusammen zu arbeiten, dem das Bistro gehörte.
Alleine? Ja ich war solo. Zwar erst seit ein paar Wochen, aber nach dem Desaster mit James wollte ich alleine sein. James? Ein ganzer Kerl dank Chappi! Ich weiß ich sollte keine Werbung machen, aber bei James fiel mir nichts anders ein.
Der typische Engländer eben, der den ganzen Tag im edlen Zwirn herum rannte, nur seine Bankgeschäfte im Kopf hatte, außer Zeitung lesen und Sport im TV zu schauen, anscheinend keine andere Beschäftigung im Sinn hatte. Langweilig eben.
Wie ich mich in diesen Kerl verlieben hatte können, wer weiß? Ich hatte ihn los und war erst mal vom Gattung Mann kuriert. Das dachte ich zumindest. Denn ich habe ein Problem. Was mein Problem ist, fragst du?
Hier, dieser kleine grüne Kasten, auch Einwegkamera genannt. Gut, ich sehe schon, das Fragezeichen in deinem Gesicht wird immer größer. Ich sollte von vorne anfangen. Okay, dass du nicht ganz dumm in die Feiertage gehen musst, erzähle ich es eben.
Wie jeden Morgen führt mich mein erster Weg zu Rileys Bistro. Nein nicht um dort zu arbeiten, ich frühstücke dort. Umständlich werden viele denken, aber ich hatte mich an den morgendlichen Plausch mit Riley gewöhnt und wollte auch darauf nicht verzichten.
War besser als morgens die Times zu lesen, zumindest interessanter, oder sich zu Hause mühsam ein Frühstück zu richten. Aber ich komme vom Thema ab. Also ich lief wie jeden Morgen an der Garrick Street entlang, als dort aus dem Carluccio Interieur, einem Dekoladen, jemand heraus stürmte und mich über den Haufen rannte.
Als ich aufschaute und versuchte mich zwischen den Paketen und Tüten dieses Jemanden zu Recht zu finden, schaute ich die schönsten blauen Augen, die ich bisher gesehen hatte.
„Oh Entschuldigung, haben sie sich weh getan?“, fragte mein Gegenüber.
Mein angekratztes Ego schüttelte den Kopf, obwohl mir meine Schulter leicht weh tat.
„Nein…, wirklich nicht?“
„Geht schon“, meinte ich und bemerkte den kleinen Regenbogensticker am Kragen seines Jacketts.
Ich richtete mich auf und half ihm, seine Pakete und Tüten wieder aufzunehmen.
„Tut mir wirklich Leid, aber ich bin heute so in Eile…“, sagte er und durch Zufall berührten sich unsere Hände.
Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper und wieder strahlten mich diese traumhaften Augen an.
„Kann vorkommen in dieser Zeit“, antwortete ich, womit ich natürlich die Vorweihnachtszeit meinte.
„Oh, da kommt mein Taxi“, sagte er und hob einen Arm mit Tüten nach oben.
Der Wagen hielt und ich half ihm während des Einsteigens, seine noch in meiner Hand befindlichen Pakete im Taxi zu verstauen.
„Entschuldigung noch mal und auch danke fürs Einladen“, meinte er und stieg nach vorne zum Fahrer ein.
Ohne ein weiteres Wort fuhr er im Taxi davon, ich stand wie angewurzelt noch auf dem Bürgersteig und schaute ihm nach. Was für eine Erscheinung. Halt, Jack du hast dir geschworen, erst Mal keine Männer mehr!
Ich trat, immer noch dem Taxi nach sehend ein Schritt nach hinten und kickte etwas über den Bordstein. So schaute ich nach unten und fand eine Einwegkamera. Hatte er die verloren und es nicht bemerkt?
Ich bückte mich und hob sie auf. Noch einmal schaute ich in die Richtung, in der das Taxi verschwunden war. Hm, was sollte ich damit machen? Ich ließ sie in meine Manteltasche gleiten und setzte meinen Weg fort.
*-*-*
Eine gefühlte Ewigkeit später und nervendes Gedränge im Covent Garden erreichte ich endlich Rileys Bistro One. Die Front wirkte durch seine Kirschbaumholzverkleidung recht warm und einladend.
Zwischen den zwei großen Türen, von denen eine immer offen stand, war das große Fenster angeordnet, wo man einen kleinen Einblick in Rileys Laden erhaschen konnte. Wie gewohnt betrat ich den Laden.
„Guten Morgen“, rief ich.
„Morgen“, rief mir Georg entgegen.
Ein junger Londoner, der sich als Bedienung bei Riley sein Studium mitfinanzierte.
„Kleines oder großes Frühstück?“, fragte mich Georg, bevor ich meinen Mantel überhaupt ausgezogen hatte.
„Kleines…“, antwortete ich.
„Kaffee oder Tee?“
„Tee!“
„Kommt sofort!“
Und schon verschwand Georg Richtung Küche, während ich meinen Mantel an der Garderobe aufhängte.
„Morgen Jack“, kam es von Riley, als ich mich zu ihm an den Tresen setze.
„Guten Morgen, Riley.“
„Und, welches Etablissement hast du gestern besucht?“
„Warte, wie soll ich es beschreiben? Ich war bei einem Perser. Sindbad nennt sich der Laden. Wenn du in der Nähe bist, solltest du mal hineinschauen.“
Riley lachte dreckig.
„Und wie hast du ihn wirklich beschrieben?“
Ich grinste fett. Riley kannte mich gut genug. Er schätze meine zynische und bissige Art.
„Ärgerlich und vergessenswert. Eine Beleidigung für jeden Magen, dass eventuell innerliche Verletzungen nach sich tragen könnte. Das hat Sindbad wirklich nicht verdient!“
„Sindbad war ein Perser?, fragte Riley lachte noch mehr und stellte mir meinen Tee hin.
„Danke… unter persischer Küche stelle ich mir etwas anders vor, nicht so farblose und fetten Gerichte.“
Georg erschien wieder auf der Bildfläche und servierte mir mein Frühstück.
„Danke Georg“, meinte ich und nippte an meinem Tee.
„Du, ich habe gestern Abend James getroffen.“
„Ja…?“, fragte ich, obwohl ich eigentlich kein Interesse hatte, etwas über ihn zu hören.
„Er wird Ende der Woche mit Oliver zusammen ziehen.“
Das war mir jetzt neu. Ich wusste zwar, dass die beiden gut befreundet waren, aber nicht so gut.
„Wenn er meint mit Oliver glücklich zu werden.“
„Ich sage ja immer noch, es war ein Fehler, ihn in den Wind zu schießen.“
Jedes Mal das gleiche Thema.
„Riley, wie oft soll ich dir es noch sagen? Was soll ich mit diesem langweiligen Mann?“
„Er ist ein Bänker…“
„Ja und?“
„Einen Bänker kann man immer gut gebrauchen.“
„Das hört sich an, als würdest du dir jemanden halten, aus reinem Eigennutz.“
„Ich und ein Mann? Wer will mich denn schon? Und zudem bin ich hier mit diesem Laden verheiratet und habe keine Zeit für solche Eskapaden.“
Stimmt! Riley war keine Schönheit, stand von morgens bis abends in seinem Bistro. Ein untersetzter Typ mit schütteren leicht angegrauten, braunen Haaren und kein Mann für eine Beziehung.
„Oliver soll ein kleines Landgut, außerhalb von London besitzen“, erzählte Riley einfach weiter.
„Geld zu Geld, so war es immer“, gab ich von mir und strich meinen Toast mit Butter ein.
„Am Freitag wollen sie beide vorbei kommen und hier essen.“
„James hat einen Tisch bestellt?“
„Ja, so gegen sieben Uhr.“
Oh mein Gott und ich hatte Dienst, womit hatte ich das verdient.
„Das ist ja mal ganz etwas Neues, James und spontane Entscheidungen“, meinte ich und biss vom Toast ab.
„Ob das spontan war, weiß ich nicht“, versuchte mir Riley zu erklären, während er ein paar Tassen abtrocknete, „auf alle Fälle hat er mir von Oliver vorgeschwärmt.“
Klar, Oliver war aus gutem Hause und eine sehr gute Partie, wie man so schön sagte. Du fragst dich, warum ich ihn mir nicht weg geschnappt hatte? Er war schlichtweg nicht meine Kragenweite und schon gar nicht mein Typ.
Seitenscheitel und immer gegelte Haare. Ein Gesicht, glatt wie ein Kinderarsch und immer in den modischsten und nobelsten Stoffen gekleidet. Eigentlich hatte ich ihn noch nie zweimal im selben Outfit gesehen.
„Wer würde nicht von Oliver schwärmen“, log ich.
„Ein Mann von Welt eben“, meinte Riley und richtete weitere Tassen mit Tee.
Ich versuchte mir ein Grinsen zu Verbeisen.
„Er hat auch nach dir gefragt.“
„Nach mir?“
„Was du so treibst und ob du einen neuen Freund hast.“
„Ich tu das, was ich immer mache, hast du ihm hoffentlich erzählt und du weißt, dass ich im Bezug auf Männer erst Mal die Nase voll habe.“
Mir fiel mein morgendlicher Zusammenstoß ein, diese wachen und freundlichen Augen kamen mir in den Sinn.
„So ungefähr habe ich es ihn auch erzählt.“
„Und? Was meinte er dazu.“
„Dass er sich so etwas ungefähr gedacht hatte.“
„Gedacht… aha. Auch eine neue Seite die ich an James nie kennen gelernt habe.“
„Du bist unfair!“
„Wieso bin ich unfair? Wenn James einmal etwas gedacht hat, dann nur an sich selbst!“
„Wenn du meinst…“
„Ja…, meine ich und könnten wir das Thema wechseln…, es wird langweilig.“
Sein Schweigen hielt nicht lang, anders war ich es von Riley auch nicht gewohnt.
„Du solltest dir gegen seine Erwartungen etwas Neues suchen, etwas Fesches, Interessantes!“
„Seine Erwartungen? Warum?“
„Dass er sieht, dass du nicht so bist, wie er meint.“
„Was meint er denn?“
„Was weiß ich?
„Er muss doch etwas gesagt haben.“
„Nein, hat er nicht. Nur dass er sich so etwas schon gedacht hat.“
Langsam wurde ich ärgerlich. Lustlos stocherte ich in meinen Rühreiern herum.
„Ich könnte mir Harry schnappen“, sagte ich belustig, als ich ein Bild von ihm auf der Titelseite der heutigen Tageszeitung erblickte.
„Welchen Harry?“
Ich tippte auf die Tageszeitung und Riley blickte darauf.
„Prinz Harry ist schwul?“
Ich lachte auf.
„Woher soll ich das wissen? Gut, es gibt ein paar verfängliche Bilder im Internet, wo er andere Kerle knutscht, aber genauso viele Bilder mit Weibern.“
„Also bi…!“
„Riley, das war ein Spaß!“
„Okay…, wobei ich mir gut vorstellen könnte, dass du Harry als Freund haben könntest.“
Das liebte ich so an Riley. Seine naive und kindliche Art, die er an den Tag legte.
„Als Schwiegermutter die Queen? Nein danke!“
„Warum nicht, ich find sie cool!“
Kein Wunder. Das Bistro hing voll mit der königlichen Familie. Ich aß fertig, während Riley wortlos einige Gäste bediente. Irgendwann kam er zurück an den Tresen.
„Wann kommst du heute Abend?“
„So gegen fünf…, okay?“
„Ja…, geht in Ordnung.“
Ich stand auf und legte mein Geld auf die Theke, um zu bezahlen.
„Also dann bis später“, meinte ich, winkte ihm kurz zu und lief zur Garderobe.
Ich zog meinen Mantel an und verließ das Bistro. Beim Hinaus gehen griff ich in die Manteltaschen und erfühlte einen Gegenstand. Ich zog ihn heraus und hatte die Einwegkamera in der Hand.
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