Kapitel 2
Am nächsten Morgen, es ist der Donnerstag vor dem ersten Adventssonntag, fast hätte ich verschlafen, ging ich mit einer gewissen Spannung in die Schule. Würde „Thomas, der Zwerg“, mir nun Nachhilfe geben oder nicht. Heute wollte er mir ja Bescheid sagen.
Ob er mit seiner Mutter gesprochen hatte? Hoffentlich hatte die nichts gegen zwei bis drei Sonntagstunden Nachhilfe mit mir einzuwenden. Ok, sie wusste schon, wer ich bzw., wer wir waren.
Das heißt, eigentlich kannte sie meinen Vater, der hatte schon mal öfter ihre Kanzlei gebraucht wegen einiger Rechtstreitigkeiten, mein Vater war in der Stadtverwaltung, und er hatte damals mit ihr persönlich des Öfteren zu tun.
Wenn der Zwerg also meinen Namen gesagt hatte, dann würde sie ja vielleicht zustimmen.
Als ich in die Klasse kam, wurde ich gleich von Sebastian begrüßt. Meine Augen suchten aber gleich mal nach Thomas und als ich ihn hinten bei Sandra stehen sah, sie war wohl eine der wenigen, die ihn nicht immer Zwerg nannten, ging ich auf ihn zu.
Sandra sah mich erstaunt an. „Was will denn der große Christof von dir, Thomas“, fragte sie ihn und beachtete mich kaum.
“Wir haben was zu besprechen“, sagte dieser und schob mich von Sandra weg an meinen Platz. „Danke, Thomas“, sagte ich, „dass du bei ihr nichts gesagt hast. Das wäre ja in einer Stunde in der ganzen Schule rund, dass du mir Nachhilfe verpasst.“ „ Ja, das weiß ich und deshalb habe ich dir einen Zettel geschrieben“, antwortet er und gibt mir ein zusammen gefaltetes DIN a 5 Blatt, „da steht alles drauf, halt dich dran, sonst kannst du die Sache vergessen.“
Weitere Kommunikation wurde durch Hiltrud unterbrochen, die jetzt durch die Türe herein stürmte. Ihr „Guten Morgen allerseits“, wurde mit einem kollektiven „Guten morgen“ Gemurmel erwidert.
Dann war Ruhe und sie legte dann auch gleich los. Zwei Stunden Mathe, mein Hassfach, obwohl bis zur Stufe 10 ich immer noch ganz gut mit gekommen war. Der Zettel lag vor mir, immer noch zusammengefaltet, unter meinem Mathebuch, ich traute mich jetzt nicht, weil Hiltrud pausenlos in dem Gang neben meinem Tisch auf und ab lief.
Wenn sie den Zettel in die Hand kriegen würde, dann hätte sie nicht besseres zu tun, als es laut vor zu lesen und dann war mein cooles Image endlich dahin. In der kleinen Pause las ich dann, was der Zwerg, eh, ich meine Thomas, aufgeschrieben hatte.
Ich schluckte, der spinnt doch wohl, ab sofort Sonntag von neun Uhr, also mitten in der Nacht, bis Zwölf Uhr, sage und schreibe drei Stunden am Stück, für dreißig Euro, also zehn pro Stunde. Das war ja nicht zu teuer, das werden meine Eltern zahlen, aber neun Uhr, das ist doch Folter, oder nicht.
Hatte ich denn eine Wahl? Unten drunter stand dann noch: „Akzeptiere das oder vergiss es und wenn du einmal zu spät kommst, ist die Chose beendet“ und dann noch, oh Hohn: „Liebe Grüße, der Zwerg!!!“.
Der hat mich jetzt ja voll ab gewatscht, der kleine Mistkerl, aber wie schon gesagt, eine Wahl hatte ich nicht und ich würde mich auch noch dafür bedanken müssen. Die Ansprache meiner Eltern dazu wird mir auch nicht gerade gefallen, aber Hauptsache, sie zahlen.
Hiltrud war wieder an ihrem Pult angekommen und holte eine mit Weihnachtsmotiven bedruckte Stofftasche hervor. „So, die Herrschaften, es ist soweit. Wir losen jetzt die Wichtelpartner aus. Jeder zieht aus der Tasche ein kleines Kuvert und nimmt das geschlossen mit nach Hause“, erklärt sie mit erhobener Stimme.
“In dem Kuvert ist der Name der Schülerin oder des Schülers, dem ihr ein Wichtelgeschenk packen und das ihr dann mit dem Namen des Empfängers versehen sollt“, führt sie fort, „ ich sammele die Päckchen zwei Tage vor unserer Adventsfeier, also am 17.Dezember ein und auf der Feier werden sie dann verteilt. Der Wert, das hatten wir ja schon abgemacht, soll maximal Fünfzehn Euro betragen. Alkohol und sonstige Genussmittel sind tabu. Gibt es dazu noch Fragen oder Anmerkungen?“
Felix, unser Klassenproll: „Fallen Kondome auch unter Genussmittel?“
Riesiges Gelächter, Hiltrud dreht sich zu ihm rum: „Das kommt wohl darauf an, wer da drin steckt. Ob das ein Genussmittel ist, wenn du da drin steckst, das will ich nicht kommentieren müssen“.
Noch größeres Gelächter und Felix Kopf macht einen auf rote Ampel. Treffer und versenkt, das ist Hiltrud. Die Pausenklingel erlöst ihn und uns natürlich auch. Hiltruds Knaller ist vorherrschendes Pausengespräch und Felix ist wohl in die Toilette geflüchtet.
Ich suche Thomas und es dauert über die Hälfte der Pause, bis ich ihn endlich finde. Er steht wieder mit Sandra und einigen anderen Mädchen im Foyer vor dem schwarzen Brett. „He, Thomas, haste mal einen Moment?“, spreche ich ihn von hinten an. Er dreht sich um und sieht mich an.
„Ist irgendwas unklar, Christof? Ich hatte doch alles schön auf geschrieben. Wo ist das Problem?“, fragt er und grinst leicht spöttisch.
„Geh bitte mal mit ein Stück zur Seite“, bitte ich ihn und dreh mich von ihm weg und mache ein paar Schritte weg von dem schwarzen Brett. Ob er nach kommt?
Als ich mich wieder umdrehe, ist er direkt hinter mir. „Danke“, sag ich und schaue ihn an. „Sag mal, Thomas, muss das schon um neun Uhr sein am Sonntag?“, frage ich. Er hebt eine Augenbraue an, sieht mir in die Augen und sagt ganz cool: „Christof, du willst etwas von mir, das ist Fakt eins. Fakt zwei ist, ich bestimme, wann und wo und Fakt drei ist, komm oder lass es sein. Eine Alternative gibt es nicht. Denk an den Spruch `Der frühe Vogel fängt den Wurm“, sagt er und dreht sich wieder um und geht zurück zu den Tussen.
So ein arroganter Arsch, denk ich, der führt mich ganz schön vor. Aber hab ich eine Wahl? Scheiße, hab ich nicht. Na warte Bürschchen, noch ist nicht aller Tage Abend. Irgendwann brauchst du mich vielleicht auch mal, dann lass ich mir auch ein paar Schikanen einfallen.
Ich steck meine Hand in die rechte Tasche und spiele mit dem Wichtelkuvert. Ich bin in Gedanken schon beim Sonntagmorgen und höre den Wecker um acht Uhr. Bor, mitten in der Nacht aufstehen und dann noch für Mathe. übler kann ein Sonntag nicht anfangen. Aber leider muss ich da wohl durch. Sonst ist mein Abitur gefährdet und meine Eltern stocksauer.
Sebastian ruft mich, er steht beim Kiosk und hat was zum Trinken in der Hand. Ich gehe zu ihm. „Was machst du denn für ein Gesicht, Alter“, sagt er mich musternd, „hast du ein Gespenst gesehen?“ „So könnte man es nennen“, und ich berichte ihm von der Sache mit dem Zwerg.
Sebastian lacht sich fast krank. „Der große Christoph frisst dem Zwerg aus der Hand. Das ich das noch erlebe, das ist ja voll geil. Ha, ha, ha, ich lach mich weg“, stottert er zwischen dem Gelächter. „das ist echt cool“, gibt er von sich.
„Eh Alter, hör auf zu Lachen, du Arsch, du bist mein Freund, und seinen Freund lacht man nicht aus“, sag ich. Ich bin jetzt richtig sauer.
Die Pause ist um und ich sitze mit düsterem Gesicht in der Klasse. Meine Gedanken drehen sich um den Zwerg und um die Schmach, dass ich ihm quasi hilflos ausgeliefert bin. Aber was ich auch überlege, ich komm auf keine andere Lösung, meine Mathematikprobleme zu lösen.
Also muss ich wohl am Sonntag um neun bei ihm aufschlagen und zwar pünktlich, der ist echt in der Lage und lässt mich hängen. Von Sebastian bin ich schon ein bisschen enttäuscht, wie kann er sich so über meine Misere lustig machen, er ist doch mein bester Freund und sollte mich eigentlich trösten.
Die Stunde läuft total an mir vorbei, ich kann nur noch an Sonntag denken. Hoffentlich spricht sich das nicht rum, dass der kleine Gnom mich so vorführt. Dann ist mein Image dahin, mein Ruf als der Boss zerstört. Und alles nur für diese Scheißmathe, ich hasse dieses Fach. Seit eineinhalb Jahren wird das immer schlimmer für mich.
Den ganzen Nachmittag häng ich in meinem Zimmer rum, zuerst an den Hausaufgaben und dann halt einfach nur so zum Chillen. Erst zum Abendbrot gehe ich runter, ich muss auch noch meinen Eltern sagen, dass Thomas mir Nachhilfe in Mathe gibt und was das kostet. Mama ist gleich einverstanden und Papa meint nur: „Wenn es denn sein muss, aber du gehst auch da hin und lernst. Wenn du dann aber trotzdem mit einer Fünf in Mathe nach Hause kommst, werde ich das Geld vom Taschengeld abziehen.“
Nach dem Essen geh ich wieder hoch und auf einmal fällt mir das Wichtelkuvert wieder ein. Ich krame in meiner Hosentasche und werde auch fündig. Ein bisschen verknittert ist es schon, aber das macht ja nix. Ich reiße den Umschlag auf, der ist sogar zu geklebt gewesen und entnehme den Zettel, der auch noch zweimal gefaltet ist. Mal sehen, wen oder was ich da gezogen habe.
Ich falte das Teil auseinander und lese: „Thomas Gessner“! Oh leck, ich hab den Zwerg gezogen, das ist ja ein Ding, ausgerechnet jetzt, wo ich doch jetzt sonntags immer bei dem antanzen muss. Das bietet mir ja schon einige Möglichkeiten im positiven wie im negativen, je nach dem, was ich ihm darein packe.
Wenn der nicht so klein wäre, dann, ja, dann würde er mich schon reizen, also als Freund mein ich jetzt, für den Fall, dass er auch auf Jungs stehen würde. Das ist schon ein hübsches Kerlchen. Ich bin jetzt schon gespannt, wie der so wohnt und wie das wird am Sonntag.
Na ja, bis dahin sind ja noch zwei Tage, denk ich und mach mich fertig fürs Bett. Ich bin müde, habe ich doch die letzte Nacht schlecht geschlafen.
Im Bett geht mir der Zwerg nicht mehr aus dem Kopf. Dauernd sehe ich sein Bild vor mir, seine eher zarte Gestalt und die dunkelblonden Locken, die bis über den Kragen gehen. Von hinten sah er von weitem wie ein Mädchen aus.
Ich muss mich regelrecht zwingen, nicht Hand an mich zulegen, aber das geht ja mal gar nicht. Wenn ich mir jetzt mit seinem Bild vor Augen einen runter hole, krieg ich das nie mehr aus dem Kopf und dann kann ich Mathe endgültig vergessen.
Dann kann ich mich nicht mehr konzentrieren, das darf nicht sein. Irgendwann, gefühlte zwei Stunden später, fall ich endlich in einen unruhigen, von wilden Träumen durchzogenen Schlaf.
Dem entsprechend sehe ich dann auch aus, als ich nach dem viel zu frühen Ende der Nacht im Bad in den Spiegel schaue. Der, der mir da entgegen blickt, sieht aus, als hätte er drei Tage und Nächte am Stück durchgesoffen und rum gehurt.
Nach einer Dusche und einer intensiven Behandlung mit der Feuchtigkeitscreme meiner Mutter sehe ich nicht mehr gerade so schlimm aus.
“Junge, geht es dir nicht gut“, will dann meine Mutter auch gleich wissen, als sie mich sieht.
„Schlecht geschlafen, Mama“, ist meine knappe Antwort, bevor ich mir etwas Kaffee ein gieße und ein Brötchen mache.
Das esse ich dann auf dem Weg zur Schule, die gerade mal zehn Minuten Fußweg entfernt ist. Auf dem Schulhof ist schon reger Betrieb, ich gehe aber gleich durch in die Klasse. Dort sind nur einige wenige Mitschüler, unter anderem auch Thomas, der gerade mit Sebastian redet, der wohl die Aufgaben von Thomas mit seinen vergleicht.
Da der dabei auf meinem Platz sitzt, stelle ich mich vor den Tisch und schau auf beide runter. „Morgen“, quetsche ich durch die Zähne und beide erwidern meinen eher dürftigen Gruß wesentlich freundlicher.
“Alles klar mit Sonntag, sind deine Eltern einverstanden“, fragt mich jetzt der Zwerg, während er sein Heft wieder einpackt und aufsteht.
„Ja, alles klar, ich werde um neun Uhr da sein“, antworte ich nicht gerade freundlich und nehme meinen Platz ein, nachdem er aufgestanden ist. „Okay“, sagt er mit einem leichten Grinsen und geht zu seinem Tisch. Mittlerweile sind alle Schüler eingetrudelt und bestimmt ist Hiltrud auch nicht mehr weit.
Sebastian kann sich ein Grinsen natürlich mal wieder nicht verkneifen und erst, als er meinen bitterbösen Blick bemerkt, verschwindet sein Grinsen aus seinem Gesicht.
„Wenn du dich weiter über mich lustig machst, kündige ich dir unsere seit ewigen Zeiten bestehend Freundschaft“, sage ich mit einem bissigen Unterton und in diesem Moment ist das mein voller Ernst.
“Sorry“, kommt es dann doch von ihm, „ich wollte dich nicht aus lachen, aber es war einfach zu komisch, wie dich der Knirps vorgeführt hat.“
„Ich werde mich bei Gelegenheit rächen, vielleicht schon bald, ich habe ihn nämlich als Wichtelkandidat gezogen und da werde ich mir, je nachdem wie die Nachhilfe verläuft, was entsprechendes einfallen lassen. Das bleibt aber unter uns, verstanden“, sag ich zu Sebastian.
Der nickt und ich weiß, dass ich mich da voll auf ihn verlassen kann. Hiltrud kommt und unsere Gespräche verstummen schlagartig. Da heute Freitag ist, schreibt sie bestimmt wieder einen Test, das ist auch so eine bescheuerte Angewohnheit von ihr, uns auf diese Art den Einstieg in das Wochenende zu versauen.
Diesmal hat sie aber offensichtlich nicht die Absicht, einen Test zu machen. Sie verteilt Zettel, auf denen die einzelnen Dinge für die Advents und Weihnachtsfeier stehen. Da soll sich jetzt jeder eintragen, der etwas mitbringt, Plätzchen oder Kuchen oder ähnliche Dinge und auch Deko und so.
Jetzt haben wir Zeit uns alles durchzulesen und dann unseren Namen dort einzutragen, wo die Sachen stehen, die man mitbringen will. Da meine Mutter immer Körbeweise alle möglichen Plätzchen backt, trage ich mich dort ein und bei Dekorationsmaterial schreibe ich noch zwei Lichterketten auf, die habe ich schon im vorigen Jahr zur Verfügung gestellt.
Das muss reichen, da die anderen ja ebenfalls einen Teil mitbringen. Jetzt teilt Hiltrud noch sechs Schülerinnen und Schüler als Festkomitee ein und ich als Klassensprecher bin natürlich dabei. Zu meiner Freude ist aber dieses Jahr auch Thomas an der Reihe und mir obliegt es, wie auch im vorigen Jahr, mit Hilfe der anderen Fünf alles zu koordinieren und vorzubereiten.