Naja, gut informiert, war wohl übertrieben. Aber sie kannte seinen vollen Namen, den ich bis dahin selbst nicht wusste und sie musste mit Regine, Constanzes Mutter über ihn geredet haben.
„Kann ich dir echt nicht sagen“, kam es von Constanze, „ich weiß nur, nach einem Gespräch mit deiner Mutter, daß
sie den ganzen Tag am Telefon, warum weiß ich aber nicht.“
„Vielleicht wollte Constanzes Mutter, Lucas irgendwie unterstützen?“, warf Sabine ein.
„Wie denn, Lucas wohnt doch erst seit einer Woche neben uns, vorher hat sie ihn doch gar nicht gekannt.“
„Ich kann nur sagen, dass meine Mutter einige Anrufe bekommen hat, nach denen sie sich komisch benommen hat. Danach kam sie mit der Tanzakademy und der Schule. Wer da allerdings angerufen hat, weiß ich echt nicht“, meldete sich Lucas zu Wort.
„Und dein Vater, hat er vielleicht angerufen?“
„Der ist beruflich im Ausland…“, antwortete Constanze für Lucas.
„Ähm…, nein Constanze… das stimmt nicht… mein Vater ist… tot…“
Entsetzt schauten wir drei Lucas an.
„Tot…, aber ihr habt doch…“
„Meine Mutter hat mir gesagt, ich soll das sagen…“, Tränen sammelten sich in Lucas Augen, ich griff nach seiner Hand, „… in Wirklichkeit… wurde er erhängt… in seinem Büro gefunden.“
Lucas Kopf sank auf seinen Arm und er fing an zu weinen.
„Shit…, Lucas, das tut mir Leid“, kam es von Constanze.
„Muss… es nicht, du konntest das nicht wissen“, murmelte Lucas.
Oh man, tat mir Lucas Leid, am liebsten hätte ich ihn jetzt in den Arm genommen. So blieb mir nur seine Hand, die ich leicht kräftig drückte.
„Weiß…, weiß man was passiert ist?“, wollte Sabine wissen.
Boah, sie konnte wirklich ein Trampel sein, ich sah sie sauer an und schüttelte den Kopf. Anscheinend wurde ihr bewusst, welchen Schnitzer sie sich gerade erlaubt hatte und zuckte Schuld bewusst mit ihren Schultern.
Doch Lucas hob den Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Die Polizei meinte…“, Constanze reichte ihm ein Papiertaschentuch, „danke…“, putze sich kurz die Nase, „er wäre erpresst worden… mehr weiß ich nicht.“
„Heftig“, kam es von Constanze.
„Wir mussten alles verkaufen, weil festgestellt wurde, dass mein Vater mit seiner Firma kurz vor dem Bankrott gestanden ist und wir für die Schulden aufkommen mussten…, also meine Mutter. Mit dem Rest war übrig blieb… sind wir dann hierher gezogen…, irgendwelche Freunde, die ich nicht kenne, halfen uns dabei.“
„… und dann noch das Mobbing…, wie hast du das ausgehalten?“, wollte Constanze wissen.
„Mobbing?“, fragte Sabine, die das ja nicht wissen konnte.
Constanze merkte, dass ihr Mundwerk mal wieder schneller war, als ihr Gehirn.
„Ich wurde an meiner alten Schule gemobbt…, am Schluss…“, er hob sein T-Shirt an und deutlich konnte man mehrere Narben auf seiner Brust und Bauch sehen, „wurde es so heftig…, ein weiterer Grund, warum wir von dort wegzogen.“
„Autsch“, kam es von Sabine, „… sind die noch ganz kirre…?“
Ich verstand Sabine, was sie meinte. Als ich ihn nach dem Duschen halb nackt sah, waren mir diese Narben gar nicht aufgefallen, aber ich stand ja auch weiter weg. Jetzt saß ich ja direkt neben ihm.
Mir fielen nicht nur die Narben auf, sondern auch die gut ausgebildete Brust und den Sixpack den sein Bauch zierte. Noch immer hatte ich seine Hand in meiner.
„Tut das noch weh?“, fragte Constanze.
Lucas schüttelte den Kopf und ließ sein Shirt wieder nach unten gleiten. Mit der freien Hand nahm er seinen Kaffee und nahm einen Schluck. Erst jetzt nahm ich war, dass Constanze er mich dann meine Hand durchdringend anschaute.
Augenblicklich ließ ich los und umgriff mit beiden Händen mein Milchglas.
„Und seit wann bist du dem Ballett verfallen?“, fragte ich um einfach mal das Thema zu wechseln.
„Ich habe mit sieben angefangen, schuld daran ist meine Großmutter.“
„Großmutter?“
„Ja, ihre Lieblingsbeschäftigung war, mich überall mit hin zu schleifen. So einmal auch ins Ballett, das war ich gerade sieben geworden. Ich war so fasziniert, von den Tänzern, dass ich eine Woche später, auf mein Drängen von meiner Großmutter zum Ballett angemeldet wurde.“
„Und was meinten deine Eltern dazu?“
„Eigentlich nicht fiel, nachdem meine Großmutter ein langes Gespräch mit ihnen geführt hatte. Und ihr, seid doch auch schon länger dabei?“
„Also ich tanze nicht“, kam es abwehrend von Constanze, „bin bloß ein paar Mal als Benjamins beste Freundin zum Zuschauen dabei gewesen.“
„Und dass meine liebe Schwester das Aschenputtel in Erstbesetzung tanzt, sagt ja schon alles“, lächelte ich Sabine an.
„Du tanzt auch nicht schlecht“, meinte Lucas.
Leicht verlegen musste ich grinsen.
*-*-*
Der Alltag hatte mich wieder, die Schmerzen waren ertragbar, so brachte ich die Schule ohne weitere Vorkommnisse vorüber. Nun sollte sich zeigen, wie gut der Verband an meiner Brust war.
Am Dienstagmittag trafen wir uns zur nächsten Probe unseres Stückes. Doch zu meiner Verwunderung steckte Madam Toufon Lucas und mich in einen Extraraum. Wir sollten nach einer kurzen Aufwärmphase einen Tanz zu einer Melodie kreieren.
„Hast du das schon mal gemacht“, fragte ich Lucas, als wir alleine waren.
„Bisher immer nur alleine…“
„Ich noch nie. Wie Madam Toufon darauf kommt, weiß ich nicht, vor allem nicht so kurz vor der Premiere.“
Lucas dehnte seine Beine an der Stange.
„Ich finde das gut, eine Abwechslung und vor allem man bekommt den Kopf wieder frei.“
Ich hielt kurz inne und beobachtete Lucas.
„Dein Kopf muss ziemlich voll sein“, sagte ich leise.
Er schaute mich an und hielt ebenfalls inne.
„Es geht schon…, hier bei dir fühl ich mich wohl…, das hilft mir schon sehr.“
„Danke…“
„Mal schauen, was sie für ein Lied für uns ausgesucht hat.“
Lucas lief zum CD Player und drückte die Starttaste. Klaviermusik startete und ich erkannte das Lied von Whitney Houston, das letzte was bekannt wurde, bevor sie starb – Look to you.
„Nicht leicht, aber machbar…“, meinte Lucas.
„Wenn du das sagst…“
„Stell dich mal in die Mitte. Ich geh zurück auf Anfang und komme dann zu dir. Lass mich einfach beginnen und tanze dann, was dir einfällt… denk vor allem nicht an irgendwelche Fehler…, lass dich einfach gehen!“
Ich nickte und ging zur Mitte. Er starte das Lied neu, kam zu mir und stellte sich hinter mich. Plötzlich spürte ich seine Hand auf meiner Schulter und ich drehte meinen Kopf zur Seite. Er beugte sich zu mir und schwang sein Bein hoch hinaus, bevor er sich eindrehte und zu mir nach vorne glitt.
Ich schloss kurz die Augen, hörte nur auf die Musik. Langsam wirkten die Töne auf meine Körper, ich ließ mich fallen, spürte Lucas Hände auf meinem Körper. Mit voller Hingabe versuchte ich Lucas anzupassen.
Nichts war mehr da, keine Probleme, keine Schmerzen, nur noch die Musik, Lucas und ich. Wie weggewischt waren alle Gedanken, nur noch Vertrauen, Hingabe und ein großes Maß von Liebe, wie ich sie noch nie gespürt hatte.
Lucas hob mich an und ließ mich langsam an sich herunter gleiten. Unsere Blicken trafen sich und ich versank völlig in seinem Blick, wie in einem tiefen See. Wie in Zeitlupe bewegten wir uns, dann auch wieder schnell.
Und dann verklang die Musik, die Melodie des Vertrauens in meinem Kopf. Für wenige Sekunden konnte man nur unser Atmen hören, dann hörte ich plötzlich hinter mir jemanden applaudieren.
Noch immer außer Atem schaute ich zur Tür, wo hinter Madam Toufon noch ein paar anderen der Tänzer standen.
„Normalerweise spreche ich ein Lob nie direkt aus“, begann Madam Toufon, „aber ihre Darbietung war wirklich einmalig. Schon lange habe ich nicht mehr so ein Einklang und eine Gradlinigkeit des Tanzes gesehen, ich danke ihnen meine Herren.“
Beeindruckt von den Worten von Madam Toufon blickte ich zu Lucas.
„Zehn Minuten Pause, danach treffen wir uns wieder im großen Saal.“
Alle verschwanden, bis auf Sabine und Constanze, die sich auch unter der kleinen Zuschauertruppe befanden.
„Also wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, ihr seid ein Paar“, meinte Sabine, was bei Lucas ein Lächeln hervor brachte und mir etwas Röte ins Gesicht trieb, „Mensch Benjamin, ich wusste gar nicht, was du wirklich drauf hast!“
Oh, so ein Lob von meiner Schwester.
„Ich muss Sabine Recht geben!“, kam es von Constanze, „bisher hab ich immer nur belustigt zu geschaut, aber das eben, das hat mich total gefesselt.“
„Ja und jetzt ist gut, ich habe Durst“, meinte ich und lief zu meiner Tasche.
Lucas und ich ein Paar. Ein Wunschdenken, oder auch nicht. Noch nie habe ich mich jemand so nah gefühlt, wie eben beim Tanz mit Lucas. Was sprach dagegen, dass wir ein Paar geben würden.
Ich zog die Flasche heraus und nahm ein paar kräftige Wasserschlucke. Dabei schielte ich zu Lucas, der sich nun vom Boden erhob. Die Frage kam auf, warum meine Wünsche und Verlangen mir noch nie früher aufgekommen waren.
War ich wirklich so ein Spätzünder. Dieses Gefühl, dass ich während des Tanzens gespürt hatte, war immer noch in mir und ich wollte es festhalten, nicht mehr missen, danach süchtig werden.
„Ein Cent für deine Gedanken“, sagte Lucas neben mir, der ebenfalls etwas trank.
Ich sah ihn und schraubte meine Flasche zu.
„Ich… bin immer noch irgendwie selbst beeindruckt, was da eben passiert ist… was ist passiert?“
„Du meinst das Tanzen?“
Ich nickte.
„Ganz einfach, du hast dich fallen lassen, du hast einem fremden Menschen dein Vertrauen geschenkt.“
„Naja, so ganz fremd bist du ja nicht.“
„Du weißt wie ich es meine.“
Lucas warf sein Handtuch um den Nacken und kam zu mir.
„Ja…, tu ich…“, lächelte er mich an.
„… es hat gut getan“, flüsterte ich.
„… mir auch, seit langer Zeit, hat mir das Tanzen wieder Spaß gemacht.“
Unsere Gesichter kamen sich näher.
„… danke…“, hauchte ich.
„Für was denn…?“
„… für diesen…“, unsere Münder waren nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt.
„Kommt ihr?“, rief plötzlich Constanze.
3 Kommentare
Hi ihr,
vielen Dank, ihrwisst ja man soll immer aufhören wenn es am Schönsten ist 🙂 Gruß Pit
Hi Pit, das ist jetzt aber fies so eine schöne Szene jetzt einfach zunichte zu machen… Also sowas…. Griiinnss
Hab ich dir schon mal gesagt, dass dus enorm drauf hast zu schreiben… Mach weiter so, echt super. Wie geht’s dir eigentlich mittlerweile?
VlG Andy
Ich sah die beiden vor mir, kurz vor dem Kuss –
dann kommt eine Frau und …
Cliffhanger …
Klasse geschrieben