Ein anderes Leben – Teil 5

Ich spürte nur noch, wie ich von hinten kräftig gestoßen wurde und nach vorne kippte. Hart schlug ich auf den Asphalt auf und rollte zur Seite. Im Hintergrund hörte ich ein hässliches Knacken und den Wagen vorbeirasen.

Langsam hob ich den Kopf und öffnete die Augen. Alles tat mir weh. Ob dies nun vom Aufschlag war, oder vom ungewohnten langen Laufen konnte ich nicht sagen. Vor mir lag Jack auf dem Boden und so langsam realisierte ich, was eben geschehen war.

„Jack?“, sagte ich leise, aber er reagierte nicht.

„Jack?“, rief ich nun lauter und versuchte mich aufzurichten, aber meine Kraft verließ mich.

„Jack… Lucas“, hörte ich Stimmen hinter mir.

Bevor ich weitere Versuche startete, mich zu erheben, war auch schon Hyun-Woo bei mir und richtete mich langsam auf. Ich konnte meinen Blick nicht von Jack wenden, bei dem inzwischen So-Woi eingetroffen war und vorsichtig seinen Kopf anhob.

Entsetzt sah ich, wie an So-Wois Hand Blut herunter tropfte,

*-*-*

„Hast du arge Schmerzen?“, fragte Hyun-Woo, der neben mir saß.

Ich schüttelte leicht den Kopf. Von einer Schwester hatte ich eine Spritze gegen die Schmerzen bekommen und war am rechten Ellenbogen und Knie verbunden. Besorgt schaute ich zu So-Woi, der vor der Glastür auf und ablief, hinter der Jack gerade operiert wurde.

Er hatte nicht so viel Glück, wie ich. Es wurde von einer großen Platzwunde am Kopf gesprochen, auch mehrere Brüche erwähnt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. War ich es doch, der unachtsam über die Straße gerannt war. Jack wollte mich nur schützen.

Jetzt lag er im OP und wurde schon seit einer Stunde operiert. Tränen rannen über meine Wangen. Ich spürte Hyun-Woos Hände auf meinem Rücken, wie sie sanft darüber streichelte. Meine Augen folgten So-Woi, der stumm vor der Tür zum OP hin und her lief, ob er nun sauer auf mich war.

Ich senkte den Kopf. War es wirklich so eine gute Entscheidung, in das Land meiner Mutter zu reisen? Waren bisher nicht all diese Dinge geschehen, weil ich hier war?

„Lucas…?“, hörte ich leise Hyun-Woos Stimme, „nicht…“

„… es tut mir so leid“, sprach ich mit heißeren, weinerlichen Stimme, „… daran bin ich schuld.“

„Bist du nicht…!“

„Nein Lucas, bist du nicht! Das war reine Absicht, der Wagen ist ungebremst in euch hineingefahren!“, kam es von So-Woi mit erschreckend fester Stimme.

Immer wieder hörte ich dieses schreckliche Geräusch in meinem Kopf, als Jack gegen diesen Wagen prallte. Ich griff zu meinen Ohren und hielt sie zu und schüttelte den Kopf. Plötzlich stand Hyun-Woo neben mir auf.

Verwundert blickte ich auf und schaute zu Hyun-Woo, der sich neben mir tief verbeugte. Etwas weiter hinten, am Ende des Flurs konnte ich mehrere Personen entdecken, voran So-Wois Großmutter.

Mühsam versuchte ich mich zu erheben. Nun waren sie wieder da, die vielen kleinen Schmerzteufel.

„Bleib sitzen!“, hörte ich So-Wois Stimme neben mir, der gerade an mir vorbei lief.

„Großmutter!“

„So-Woi, geht es dir gut?“

„Ja Großmutter, ich saß im Wagen…, aber Jack…“, er brach ab und fing an zu weinen.

Seine Großmutter nahm ihn in den Arm. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, wünschte, dies alles sei nur ein schlechter Traum, von dem ich nun aufwachte.

„Lucas?“, hörte ich eine weibliche Stimme.

Ich öffnete meine Augen und leicht verschwommen, durch die Tränen, sah ich in das Gesicht meiner Tante Min-Sun.

„Tante…, was… was tust du hier?“, fragte ich erstaunt und konnte auch Sung-Ja, meinen Onkel hinter ihr entdecken.

„Mr. Ri hat uns netterweise informiert und wir sind sofort hier her gekommen, dein Großvater ist in großer Sorge!“

Mr. Ri, So-Wois Großmutters Sekretär, aber woher wusste er, ich verstand nichts mehr. Hyun-Woo tauchte wieder auf.

„Ich habe So-Wois Großmutter über die Vorfälle informiert…“, meinte er nur kurz.

„Vorfälle?“, fragte nun Sung-Ja.

„Ja, beim Campen ist auch schon etwas vorgefallen…, Lucas wurde beim Duschen eingesperrt und es wurde Feuer gelegt.“

„Mein Gott!“, kam es entsetzt von meiner Tante, „wer macht so etwas?“

„Aber wir wissen doch gar nicht, ob das eine, oder andere miteinander zu tun hat. Der Fahrer kann doch auch betrunken gewesen sein und ist einfach weiter gefahren…, Fahrerflucht…, dass gibt es doch öfter…“, sagte ich verzweifelt, weil ich den Gedanken nicht wahr haben wollte, dass es jemand auf mich abgesehen hatte.

Meine Tante erhob und verbeugte sich, weil So-Wois Grandma zu uns kam.

„Geht es dir gut, Lucas?“, fragte sie und ich erhob mich diesmal.

„Ja es geht“, log ich, obwohl mir alles weh tat.

„Deine Tante und Onkel werden dich mit nach Hause nehmen, zudem habe ich angeordnet, dass zwei Leute unseres Sicherheitsdienstes vor dem Haus deines Großvaters postiert werden. Ich möchte keine weiteren Überraschungen.“

Ich hatte keine Möglichkeit der Widerworte, kraftlos nickte ich. Ihr Tonfall war eindeutig.

„Und weil ich meinen Enkel jetzt nicht hier wegbekommen werde, wirst du Hyun-Woo bei ihm bleiben, auch hier werden Männer von Sicherheitsdienst bleiben.“

Hyun-Woo verneigte sich leicht nickend und die Großmutter wandte sich wieder an ihren Enkel.

„So-Woi, Mr. Ri hat veranlasst, dass ein Raum hergerichtet wird, in dem du dich aufhalten kannst.“

Meine Stimme war wieder da und ich meldete mich wieder zu Wort.

„Ich… ich möchte auch hier bleiben…, schließlich liegt Jack wegen mir da drinnen…“

„Lucas“, kam es so scharf von So-Woi, dass ich zusammenfuhr, „Schuld hat dieser Fahrer von dem schwarzen Wagen, nicht DU!“

Meine Knie waren weich und ich schwankte. Onkel Sung-Ja griff mir unter die Arme und stütze mich.

„Lucas, es wäre wirklich besser, du kommst mit uns“, meinte er, „Hyun-Woo kann ja später noch ein paar Sachen von dir vorbei bringen.“

Ich gab auf und nickte. Meine Muskeln gehorchten mir fast nicht mehr, die Kraft war weg. Traurig schaute ich zu Hyun-Woo, der mir aufmunternd zunickte. Leise weinend, wurde ich weggeführt.

*-*-*

Während Sung-Ja den Wagen fuhr, hatte Min-Sun mich auf der Rückbank in die Arme genommen. Gegen meine Tränen konnte ich nichts machen, sie liefen unaufhörlich die Wangen herunter.

„Hast du arge Schmerzen?“, hörte ich Min-Suns Stimme neben mir, „der Arzt hat mir Schmerztabletten für dich mitgegeben. Ich bin so froh, dass dir nicht mehr passiert ist. Meine Schwester würde mir sicher nicht verzeihen, wenn dir hier bei uns etwas Schlimmes zu stoßen würde.“

Scheiße, an meine Eltern hatte ich gar nicht mehr gedacht.

„Ich denke, sie werden heute Nacht mit der ersten Frühmaschine hier in Seoul eintreffen“, hörte ich Sung-Ja sagen.

Erschrocken fuhr ich auf, was ich aber gleich wegen der Schmerzen bereute.

„Sie kommen hier her?“

„Ja, Vater hat darauf bestanden und Min-Ri hat sich mit ihnen in Verbindung gesetzt.“

Erstarrt blickte ich meine Tante an. Aber woher wussten sie die Nummer meiner Eltern. Mein Hirn arbeitete auf Höchsttouren, ich spürte, wie mir leicht übel wurde. Der Wagen wurde langsamer und blieb dann stehen.

Nur in Trance bekam ich mit, wie meine Tür geöffnet wurde, sich jemand an mir zu schaffen machte und langsam aus dem Wagen gehoben wurde. Es wurde laut um mich herum, viele Stimmen konnte ich hören, aber irgendwie in Watte gepackt, bis plötzlich alles dunkel wurde um mich herum und still.

*-*-*

„Lukas…?“

Deutlich hörte ich die Stimme meines Vaters. War ich eingeschlafen und er weckte mich? Plötzlich war alles wieder da, riss die Augen auf und fuhr hoch. Einen stechenden Schmerz durchfuhr mein ganzer Körper und ich jaulte auf.

„Lukas… langsam!“

Ich schaute direkt in die Augen meines Vaters. Das Zimmer in dem ich mich befand kannte ich nicht.

„Papa…?“, brachte ich nur heraus, fing wieder an zu weinen und fiel ihm so gut ich konnte, Dank der Schmerzen, um den Hals.

Ich spürte, wie er sanft seine Arme um mich legte. Nun flennte ich richtig los.

„Ist gut, Lukas“, hörte ich seine tröstende Stimme und spürte, wie er mir über die Haare strich.

Ich holte Luft, schluchzte kurz, während mich mein Vater aus seinen Armen entließ. Ich versuchte tief durchzuatmen und meine Stimme zu finden.

„Mama.. ist sie auch hier und Mia?“

„Mia ist bei meiner Schwester in Deutschland geblieben, sie hat ja Schule und kann nicht einfach so weg. Deine Mutter ist unten bei deinem Großvater, sie unterhalten sich schon lange.“

„Papa, was habe ich da nur losgetreten…, warum passiert mir das alles hier…?“

„Du hast gar nichts…, sagen wir mal so, es sind eben einige… oder viel Dinge passiert, die du erst verarbeiten musst. Keiner behauptet, sie haben mit dir zu tun!“

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, so gut es ging. Mein rechter Arm lag in einer Schleife und mein rechtes Bein brannte etwas, dass ich aber nicht sehen konnte, weil ich zugedeckt war.

„Kann ich aufstehen, ich möchte Mama sehen.“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, du warst vorhin…“

„Papa bitte, ich will nicht im Bett bleiben, während der Rest der Familie unten sitzt.“

„Wird dir das nicht zu viel? Das Beruhigungsmittel scheint wohl nicht mehr zu wirken, so aufgekratzt, wie du bist.“

Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Okay, aber nur unter der Bedingung, sobald es dir schlechter geht, wanderst du wieder ins Bett!“

„Mach ich…, hilfst du mir?“

Er schlug die Decke zurück und ich sah, dass ich andere Klamotten anhatte, als vor dem Unfall. Unfall, Jack kam mir wieder in den Sinn.

„Wie geht es Jack?“, fragte ich leise.

„Wenn du den jungen Mann meinst, der im Krankenhaus liegt, der ist stabil. Er liegt zwar in Koma, aber die Ärzte haben die Blutungen stoppen können.“

„Wird er wieder…“

„Die Ärzte sind zuversichtlich, dieser Jack scheint hart im nehmen zu sein.“

„Aber er liegt doch in Koma.“

„Künstliches Koma, sein Körper braucht Ruhe.“

Traurig nickte ich ihm zu, ohne etwas dazu zusagen. Mein Vater half mir aufzustehen. Ich wunderte mich, dass ich wieder so viel Kraft hatte und sah, durch die Vorhänge, dass es draußen wieder hell war.

„Wie spät ist es denn?“, fragte ich, während ich mühsam in meine Latschen schlüpfte.

„Morgens gegen zehn. Wir sind heute Nacht gegen vier hier gelandet und dein Onkel Sung-Ja war so freundlich uns vom Flughafen abzuholen.“

„Ich habe solange geschlafen? Und wie komme ich zu meinen Klamotten?“

„Du hast es gebraucht Lukas…und die Mittelchen, die du wohl bekommen hast, haben den Rest erledigt. Hyun-Woo war da und hat Sachen von dir gebracht. Übrigends ein sehr lieber und zuvorkommender Kerl, du hast einen guten Geschmack!“

Verlegen lächelte ich ihn an.

„So gefällst du mir schon besser.“

„Ist er noch hier?“

„Nein er ist zurück gefahren zu diesem So-…“

„So-Woi…“

„Ja. Okay, komm lass uns nach unten gehen.“

Als wir die Treppe hinunter gingen fiel mir auf, dass ich in diesem Teil des Hauses noch nie war. Bisher hatte ich nur den Laden und die große Küche gesehen. Interessiert schaute ich mich um.

„Was ist?“, fragte mein Vater.

„Ich war hier noch nie, ich sehe das alles zum ersten Mal.

Langsam lief ich die Treppe hinunter, nicht nur, weil ich die vielen Bilder an der Wand anschaute, sondern auch, weil mein Knie immer noch weh tat. Eine Hand am Treppenlauf, die andere in der Schlinge.

Es war komisch ruhig im Haus. Ich hätte erwartete, viele Stimmen zu hören. Doch es war still. Humpelnd folgte ich meinem Vater, der sich wohl besser auskannte. Mir fiel ein, dass er ja vielleicht schon früher einmal hier gewesen sein musste, als er und Mama noch nicht verheiratet waren.

Unten im Flur wartete er auf mich. Dort endlich angekommen, führte er mich durch den Flur, bis wir in der große Küche ankamen.

„Lucas“, rief meine Großmutter und stand auf.

Sie lief auf mich zu und ich wollte mich schon verbeugen, aber sie nahm mich einfach in den Arm.

„Hast du gut geschlafen, geht es dir gut?“, fragte sie und ließ mich los.

„Ja, danke Großmutter. Ich spüre das Knie und den Ellenbogen noch, aber es ist erträglich.“

„Falls du eine Schmerztablette brauchst, wir haben vom Krankenhaus genug mitbekommen“, meldete sich Sung-Ja zu Wort.

Mein Onkel saß noch am Tisch, mit seiner Frau Min-Sun und Min-Ri und drei Jugendliche, die ich noch nicht kannte. Hyun-Woo hatte mir die Familienmitglieder erklärt, aber irgendwie stimmte entweder das nicht, was er mir erzählt hatte, oder in der Familie hatte sich etwas geändert.

„Lucas, du schaust so nachdenklich, ist alles in Ordnung, setz dich doch“, meinte Großmutter.

„Es ist alles in Ordnung, nur…“, langsam setzte ich mich auf die Bank, mein Vater neben mich, „bringe ich jetzt irgendwie die Familie durcheinander…“

„Wie durcheinander?“

„Ich weiß, dass Mama eine Schwester und einen Bruder hat… und ein Bruder wird vermisst und jemand ist gestorben…und einen Cousin namens Taek habe ich auch,…“

Am Tisch fingen einige an zu grinsen.

„Dann erklär ich dir einfach noch einmal die Familie“, meinte Großmutter plötzlich, deine Mama ist die Älteste meiner Kinder, ältester Sohn der Familie ist Min-Chul, den wir leider nicht finden können, dann gibt es noch Min-Sun und unsere jüngste, Min-Ri.“

Die jeweils Genannten nickten mir zu.

„Min-Ri hat leider sehr früh ihren Mann durch einen Unfall verloren und hat einen Sohn, der dir gegenüber sitzt. Er ist achtzehn und heißt Hong-Sik. Die zwei zu deiner rechten sitzen, Tae-Young auch TAEK genannt, er ist neunzehn und seine Schwester Un-Sook ist siebzehn, sind die Kinder von Min Sun und Sung-Ja.”

„Kann ich jetzt gehen, ich habe noch zu lernen“, meckerte dieser Hong-Sik.

Seine Mutter schaute ihn böse an, aber schwieg.

„Möchtet ihr eine Tasse Tee?“, fragte uns Min-Sun und erhob sich.

„Danke gerne“, meinte mein Vater.

So hatte meine Mutter also zwei Schwestern und einen Bruder und war die Älteste.

„Hast du noch weitere Fragen?“

„Im Augenblick nicht Großmutter, danke!“

Es war eine seltsame Stimmung im Raum. Min-Sun kam an den Tisch, stellte uns eine Tasse mit heißem Tee hin und setzte sich wieder. Keiner sprach etwas und so schaute ich zu meinem Vater, der darauf kurz mit einem leichten Schulter zucken antworteten.

„Entschuldigt, vielleicht ist es unhöflich zu fragen, aber gibt es etwas, auf dass wir warten?“

„Nein, ist es nicht, Lucas“, sagte Sung-Ja, „wir warten auf deinen Großvater und deine Mutter.“

Aber musste man dann schweigen und eine seltsame Stimmung hervor rufen. Die Situation war wahrscheinlich schon verrückt genug, weil man sich achtzehn Jahre nicht gesehen hatte.

„Was macht ihr, studiert ihr?“, fragte ich meine Cousins und Cousine.

„Hong-Sik studiert Agrarwissenschaft an der Universität Chonnam“, antwortete Min-Sun.

„Stelle ich mir schwierig vor…“

Mich traf ein nicht recht zu deutender Blick von Hong-Sik, dann schaute er wieder weg.

„Und ihr beide?“

„Un-Sook und ich sind beides auf der Chungnam Universität, sie studiert Pädagogik, will Lehrerin werden und ich Veterinär Medizin…“

„Tierarzt?“

Er nickte.

„Und du? Willst du auch hier studieren?“, fragte Hong-Sik in einem Ton, der mir nicht gefiel.

„Ich habe mein Abitur beendet und mich dann für ein Jahr in Südkorea entschieden, damit ich das Land kennen lernen kann. Was ich nach diesem Jahr mache, weiß ich nicht recht, ob ich hier studieren möchte, da denke ich, haben meine Eltern noch mit zureden.“

Mein Vater lächelte mich an.

„Ein Jahr nichts tun…“, weiter kam Hong-Sik nicht, sein Onkel gab ihm eine Kopfnuss.

Darauf stand Hong-Sik auf und verließ wortlos die Küche.

„Dass hätte nicht sein müssen“, kam es leise von Min-Ri und an mich gewandt,  „entschuldige Lucas, Hong-Sik macht gerade eine schwierige Phase durch.“

„Wie lange denn noch“, kam es genervt von Un-Sook, die sich nun ebenfalls erhob.

„Ich frage mich, wie lange du meinen Cousin noch in Schutz nehmen willst“, sagte nun Tae-Young säuerlich und stand ebenso auf.

„Tae-Young!“, mahnte ihn seine Mutter

Oh je, wieder hatte ich etwas los getreten, unwohl schaute ich zu meinem Vater. Der schien sich ebenso unwohl zu fühlen.

„Es reicht!“, hörte ich plötzlich Großvaters Stimme.

Hinter ihm kam Mama zum Vorschein, ich stand auf und wir fielen uns in die Arme, soweit das von meiner Seite möglich war. Nicht nur mein Arm in der Schlinge störte, auch der Größenunterschied. Sie war zwei Kopf kleiner als ich.

„Alles in Ordnung mit dir? Lass dich ansehen, hast du abgenommen, du siehst so dünn und blass aus, hast du richtig gegessen?“

„Mama, es geht mir so weit gut und ich essen jeden Tag alle Mahlzeiten und nein, ich habe nicht abgenommen.“

Ich schaute zu Großvater, der mich anlächelte. Ich wollte schon hingehen, um ihn ebenfalls zu umarmen, aber ich besann mich auf das, was meine Mutter mir beigebracht hatte. So verbeugte ich mich und streckte meine Hand aus.

Er nahm sie und schüttelte sie leicht.

„Werde ich dich einmal gesund erleben?“, fragte er lächelnd.

„Entschuldige.“

„Du brauchst dich nicht entschuldigen, daran hat dieser Raser Schuld. Wie geht es dem anderen jungen Mann?“

„Er liegt im Koma, aber er ist stabil, er scheint viele Brüche zu haben.“

„Er hat dir das Leben gerettet. Ich hoffe man erwischt den Fahrer.“

Ich auch.

*-*-*

Ich weiß nicht woher die Familie so schnell dass Essen herzauberte, aber nun stand der ganze Tisch voll. Meine Mutter musste noch viele Fragen über sich ergehen lassen und Großvater unterhielt sich sogar mit Papa.

Der Haussegen schien wieder gerade zu sein, schien, denn Hong-Sik zog immer noch ein grimmiges Gesicht. Ich unterhielt mich etwas mit Tae-Young, der mir etwas mehr über sein Studium erzählte.

Bei einigen Dingen gab seine Schwester ihren Kommentar dazu und ich musste lachen, weil sie deutlich die Schwächen ihres Bruders hervorhob. Etwas später hatte ich mich mit meinen Eltern zurück gezogen.

Während Mama und ich an der Rückseite des Bettes gegen die Wand lehnten, saß Papa am Fußende des Bettes.

„Eigentlich sollten wir dich sofort mit nach Hause nehmen!“

„Aber Mama…“

„Deine Mutter hat recht, Lukas. Hier trachtet dir jemand anscheinend nach dem Leben. Das ist mir sogar zu gefährlich, dich hier zu lassen. Der junge Mann im Krankenhaus könntest du sein und er hat Glück gehabt, das er noch lebt.“

„Aber…, daheim kann mir auch was passieren und… und So-Wois Großmutter sorgt doch jetzt für meine Sicherheit, bis klar ist, wer da so eine Sche… einen Blödsinn macht.“

„… ich weiß nicht recht“, meinte Papa nachdenklich.

„Sogar jetzt sind unten zwei Männer vor Opas Laden.“

„Was meinst du Jürgen, mir wäre wohler, Lukas würde mit nach Hause fahren, aber er hat auch fertig gebracht, dass mein Vater, wieder mit mir redet.“

Sie lächelte mich an und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Wir sind ja noch die Woche da…, da kann noch viel geschehen“, antwortete mein Vater.

„Eine ganze Woche? Dass ist ja cool!“

„Ja, ich kann es mit meiner Arbeit vereinbaren und hier auch ein paar geschäftlichen Dinge erledigen und deine Mutter kann die Woche mit ihrer Familie und dir verbringen.“

Ich überlegte, ob ich sie vielleicht auf der Suche nach ihrem Bruder mitnehmen sollte.

„Du schaust so nachdenklich“, kam es von meinem Vater.

„Ich habe euch eins noch nicht erzählt. Ihr wisst ja, dass wir auf einem Campingplatz waren, wo das mit der Dusche passiert ist.“

Beide nickten.

„Aber den Grund, warum wir in der Gegend waren, weiß hier keiner. So-Woi, Jack und Hyun-Woo wollten mir bei der Suche nach Mamas Bruder helfen.“

„Hast du dir mal wieder zu viel vorgenommen!“, beschwerte sich Papa.

„Wie kommst du überhaupt darauf nach meinem Bruder zu suchen.“

„Nein! Habe ich nicht, zudem war es sehr schön dort. Ich habe das nur wegen Opa gemacht. Als er mich im Krankenhaus besuchte und sich entschuldigte, meinte er, er hätte durch seine Engstirnigkeit schon zwei Kinder verloren und dabei schaute er so traurig.“

„Unser Sohn mit seinem großen Herz…, das hat er von dir, Min-Ja.“

Sie lächelte und wuschelte mir durchs Haar.

„Und was gab es da jetzt zu überlegen?“, wollte Papa wissen.

„Ob ich Mama mitnehmen soll auf die Suche, wir haben da eine Email…“

„Das kommt gar nicht in Frage“, protestierte Mama, „solange nicht klar ist, wer das Auto gefahren hast, gehst du nirgendwo hin.“

„Aber Mama, ich kann doch nicht die ganze Zeit hier im Haus sitzen.“

„Wenn es nach mir ginge schon!“

„Wenn ich mit dir oder euch beiden unterwegs bin, wird mir schon nichts passieren, zudem werden wir sicher von Hyun-Woo gefahren.“

„Bist du dir sicher?“, fragte Papa, „meinst du nicht, jetzt wo dieser Jack ausgefallen ist, muss dein Schatz doch sicher mehr für seinen Chef da sein.“

„Dein Schatz?“, fragte Mama verwirrt.

Oh je, da hatte Papa bis jetzt wohl dicht gehalten und sich eben einen Schnitzer erlaubt, leicht verlegen lächelte er mich an.

„Typisch, selbst jetzt habt ihr also noch Geheimnisse vor mir. Ich dachte eigentlich, bei dieser Entfernung ist das nicht mehr möglich.“

„Mama, du hast immer gesagt, wir Männer müssen zusammenhalten.“

„Im Augenblick sehe ich nur einen Mann, nämlich meinen, aber versuch nicht das Thema zu wechseln! Wenn meint dein Papa mit Schatz?“

Ebenso verlegen wie Papa rang ich um eine Antwort, nachdem mein Ablenkungsversuch gescheitert war.

„Ich…, ich hab mich in Hyun-Woo verliebt…“

„Den Sekretär von diesem reichen Jungen?“

Wie sich das anhörte, aber ich vergaß, dass Mama ebenso mit diesem Schichtendenken groß geworden war.

„Ja!“

„Aber Junge, du bist erst vier Wochen da, wie kannst du da…“

„Min-Ja, du vergisst wohl, wie wir uns kennen gelernt haben…“, warf Papa ein.

Stimmt, danach hatte ich nie gefragt. Die Unterhaltung schien interessant zu werden.

„…und zudem finde ich, Hyun-Woo ist ein sehr netter junger Mann.“

„Du kennst ihn schon?“, fragte Mama verwundert.

„Ja, während du mit deinem Vater alleine warst, war er kurz hier und hat einige Klamotten von Lukas gebracht. Da konnte ich mich ein wenig mit ihm unterhalten. Sehr sympathisch und zuvorkommend!“

Das Telefongespräch erwähnte er nicht.

„Okay, wenn dein Vater so eine hohe Meinung von ihm hat…, aber bevor wir abfahren, will ich diesen Hyun-Woo kennen lernen.“

„Danke Mama“, meinte ich und gab ihr ein Küsschen auf die Wange.

„So, ich muss zugeben, trotz des langen sitzen im Flugzeug, bin ich doch recht müde. Wie halten wir es mit dem Schlafen?“, fragte Papa.

„Ist doch klar. Ihr zwei nehmt das Bett und ich nehme die Matte auf dem Boden.“

„Du willst hier bei uns schlafen? Bist du nicht schon etwas zu alt dafür?“, kam es von ihm und begann zu kichern.

Tante Min-Ri hatte vorgeschlagen, dass ich bei Hong-Sik schlafen sollte, aber so wie der drauf war, schlafe ich viel lieber bei euch.“

„Stimmt, ich gebe dir Recht, er hat sich sehr komisch benommen und wie ich die Gepflogenheiten hier kenne, ist nicht gerade eine Leuchte, was Respekt vor den Älteren betrifft.“

„Du vergisst, er ist ohne Vater aufgewachsen“, warf Mama ein.

„Das ist kein Grund sich in seinem Ton gegenüber seiner Mutter zu vergreifen. Ich weiß, ich habe hier nichts zu sagen, aber wenn er in meiner Gegenwart noch einmal so etwas macht, kann ich vielleicht meinen Mund nicht halten.“

„Wieso solltest du hier nichts zu sagen zu haben? Du bist Mamas Mann, also Schwager und Onkel in dieser Familie und wie ich es bisher gelernt habe, haben diese Verwandtschaft mit ihrer Meinung ebenso Gewicht, wie der Rest der Familie auch.“

„Manchmal frage ich mich, woher unser Sohn dieses hochgestochene Reden hat, von mir nicht!“, sagte Papa.

Mama grinste.

„Schau mich nicht an, von mir auch nicht. Aber du hast Recht, ich bin ebenso müde. Könntest du vielleicht unser Gepäck nach oben holen?“

„Ist bereits geschehen und eingeräumt, die Koffer liegen da oben auf dem Schrank.“

„Das ist mir gar nicht aufgefallen. Ich weiß nur noch, dass dies mal Min-Chuls Zimmer war, aber die Möbel sind anders, von seinen sind keine mehr da.“

Sie sagte das mit einer Traurigkeit, das meinen Entschluss, ihn zu finden, nur noch bestärkte.

„Okay, dann geh ich mal als erstes ins Bad…, ähm stimmt, wo ist das eigentlich?“, wollte ich wissen.

Beide lachten.

„Den Flur runter, dritte Tür rechts“, meinte Mama.

*-*-*

Der Abend war schön, es wurde viel erzählt, so lernte ich die asiatische Seite meiner Familie, etwas näher kennen. Das Essen war wieder köstlich und ich befürchtete, dass ich irgendwann unaufhörlich zu nahm. Die Nacht dagegen, war doch etwas unruhig.

Wenn mich nicht gerade Papas Schnarchen wach hielt, dann meldeten sich die Prellungen am Körper wieder. Trotzdem musste ich irgendwann fest eingeschlafen sein. Als ich wach wurde, war es bereits hell draußen und Mama und Papa verschwunden, ihr Bett gemacht.

Mühsam richtete ich mich auf. Mein Handy blinkte, so hatte ich anscheinend heute Nacht oder Morgen eine Nachricht bekommen.

„Hallo Lucas, da So-Woi bei seiner Großmutter ist und für mich keine Notwendigkeit besteht, anwesend zu sein, sitze ich zu Hause in meiner Wohnung. Ich vermisse dich sehr. Hoffe dir geht es soweit gut. Wenn du etwas brauchst, bitte melde dich bei mir. Dein Hyun-Woo

Ein Lächeln machte sich auf meinen Gesicht breit und gleichzeitig spürte ich, wie sehr ich ihn ebenso vermisste. Seit ich hier war, war ich noch keinen Tag ohne ihn gewesen. Etwas gerädert stand ich auf.

Mama hatte mir Klamotten hingerichtet. Wieder grinste ich, fast wie in alten Zeiten, als ich noch jünger war. Es breitete mir zwar Schwierigkeiten, in meine Sachen zu schlüpfen, aber irgendwann war auch dies geschafft.

Nach einem Kurzbesuch im Bad humpelte ich langsam nach unten und fand in der Küche, niemand vor. Wo waren sie denn alle? Da ich mich in diesem Haus noch zu wenig auskannte, ging ich den Weg, den ich schon kannte, also in den Ladenbereich.

Schon beim Nähern stellte ich fest, der Laden schien recht voll zu sein, denn ich konnte  Stimmen ausmachen, aber keine, die ich kannte, dafür waren es einfach zu viele. Ich bog um die letzte Biegung und konnte in den Laden sehen.

Meine Annahme war recht gewesen, ich sah mehrere Frauen mit Körben da stehen, aber außer Onkel Sung-Ja und Tante Min-Sun, kein bekanntes Gesicht entdecken. Langsam tastete ich mich vor, denn ich wollte nicht gleich auffallen.

Wie es wohl in allen Nachbarschaften so ist, hatte sich sicherlich auch Mamas Ankunft herum gesprochen und dieser Andrang erklärbar. Aber vielleicht war um diese Zeit auch immer so viel los.

Sung-Jas und meine Blicke trafen sich und er lächelte. Als er die Dame fertig bedient hatte, kam er zu mir.

„Guten Morgen, Lucas, gut geschlafen?“

„Ja, danke. Könntest du mir sagen, wo meine Eltern sich aushalten?“

„Klar, sie sind sicher noch mit deinen Großeltern im Garten.“

„Garten?“

„Stimmt, du kennst dich hier ja noch nicht aus!“

Eine weitere Kundin kam den Laden herein.

„Wenn du einen Augenblick wartest, zeige ich es dir, okay?“

„Kein Problem“, antwortete ich.

So sah ich zu, wie mein Onkel und Tante mit einer fröhlich, ausgelassener Freundlichkeit, die Damen im Laden bedienten. Bei der letzten Kundin schien das nicht recht zu wirken, denn sie war sehr wählerisch.

Onkel Sung-Ja ließ wohl seinen ganzen Charme fließen, aber selbst dies schien nicht zu helfen. Da kam mir eine Idee. Da die Kundin mit dem Rücken zu mir stand, hatte sie mich noch nicht gesehen.

So lief ich an das Gemüseregal, nahm einen Rettich und Frühlingszwiebeln in die Hand, wo die Kundin zuvor sehr skeptisch war. Mit diesen Dingen ging ich zu Tante Min-Sun.

„Könnte ich zu den Sachen noch ein paar Nashi Birnen haben“, fragte ich so laut, dass die Kundin auf mich aufmerksam werden musste, „der Rettich ist immer so frisch und die Frühlingszwiebel hier haben so ein gutes Aroma.“

Tante Min-Sun schien erst nicht zu begreifen, aber als die Kundin plötzlich einen der großen Rettich nahm, machte es bei ihr anscheinend Klick.

„Aber sicher doch, wie viel soll ich denn einpacken?“

„Drei, meine Eltern essen sie auch so gerne.“

Sie spielte das Spiel mit, packte mir die Birnen ein, auch das Gemüse, das ich ausgesucht hatte. Mittlerweile war der Korb der Dame gefüllt und auch Sung-Ja begann mit abwiegen und einpacken.

„Wünschen sie noch etwas?“, fragte mich Tante Min-Sun lächelnd.

„Ich schaue mich noch kurz um, ob ich noch etwas finde“, antwortete ich und entfernte mich von der Kasse.

Etwa zehn Minuten später, hatte die Frau den Laden verlassen und Sung-Ja fing an zu lachen.

„Lucas, du solltest öfter hier im Laden sein, sonst kauft die Frau nicht so viel ein.“

„Nicht?“

„Nein, sie beschwert sich immer über die angebliche Unfrische der Ware, kauft aber immer nur einen Apfel und eine Birne, mehr nicht.“

„Wirklich, das hätte ich jetzt nicht gedacht, bei der Größe ihres Korbes.“

„Ich glaube, der war heute zum ersten Mal voll“, sagte er grinsend.

Min-Sun packte die Sachen wieder aus, reichte mir aber die Nashi Birnen.

„Wofür?“

„Für deine Eltern“, meinte sie lächelnd.

*-*-*

Sung-Ja hatte mich in den Garten geführt. Was heißt Garten, das war schon ein halbes Feld. Von der Straße aus sah man das nicht. Allerlei Gemüse war hier angebaut und Opa mittendrin.

Am Rand war eine kleine Fläche mit Rasen, auf dem Gartenmöbel standen, wo ich Oma mit meinen Eltern vorfand.

„Guten Morgen“, rief ich, denn die drei hatten mich noch nicht bemerkt.

Ein gemeinschaftliches „Guten Morgen“ kam es zurück.

„Ist unser Langschläfer endlich wach?“, hörte ich Opa sagen, der sogar seine Arbeit wegen mir unterbrach.

Mit einem Bastkorb voll Lauch oder Ähnliches kam er zu uns, setzte sich neben seine Frau. Ich dagegen begrüßte meine Eltern kurz mit einer Umarmung und einem Kuss und legte die Tüte mit den Nashi Birnen auf den Tisch.

„Bekomm ich keinen?“, fragte Oma gespielt entrüstet.

Lächelnd ging ich zu ihr und gab ihr ebenfalls einen Kuss auf die Wange. Anschließend setzte ich mich neben meinen Vater.

„Es gibt Gepflogenheiten in anderen Ländern, die mir gefallen“, meinte sie lächelnd.

„Nicht jeder Sohn tut das in Deutschland“, erwiderte Papa.

„Wie geht es dir heute?“, fragte Opa.

„Gut, es zieht zwar noch etwas beim Bewegen, aber sonst gut.“

„Wollt ihr drei etwas unternehmen?“

Ich schaute meine Eltern an, die sich aber recht unentschlossen zeigten.

„Ich werde nachher noch bei meiner Firma vorbeischauen“, meinte Papa.

„Kann ich mit, dann weiß ich auch, wo die ist“, fragte ich.

„Wenn du so weit fit bist gerne.“

„Soll euch Sung-Ja fahren?“, fragte Oma.

„Der hat doch sicher viel zu tun, Großmutter“, sagte ich.

Oma schaute kurz zu Opa, als wollte sie ihm die Entscheidung übertragen.

„Guten Morgen…, Entschuldigung die Störung…“, hörte ich es hinter mir.

So-Woi.

„Guten Morgen junger Mann, was verschafft uns die Ehre?“, kam es von Opa.

„Großvater Sun-Min“, er verbeugte sich tief vor ihm, hinter ihm Hyun-Woo ebenso, „ich soll schöne Grüße von meiner Großmutter ausrichten.“

„Vielen Dank! Wie geht es dem jungen Mann?“

Ich bemerkte So-Wois Traurigkeit sofort.

„Unverändert, aber stabil…“

„Ich hoffe man findet diesen Fahrer und er bekommt eine gerechte Strafe.“

So-Woi nickte.

„Der eigentliche Grund meines Kommens ist, meine Großmutter möchte dich Lucas, mit deinen Eltern zum Mittagessen einladen…“

„Oh, danke, dass finde ich lieb“, rutschte es mir heraus, „äh… ist euch das Recht?“

Meine Eltern nickten beide, ohne etwas zu sagen. Hier trafen nun wieder die Kulturen zusammen. Würde es nach den Regeln von hier gehen, hätte mein Vater, als Familienoberhaupt, antworten müssen.

In Deutschland war die Einladung an mich mit meinen Eltern gerichtet, so würde ich als erstes antworten, was ich auch getan hatte. Eine kurze Pause entstand.

„Müssen wir gleich los?“, fragte ich.

„Nein, es ist noch genügend Zeit.“

„Wäre es ein Problem, kurz bei der Firma meines Vaters vorbei zu fahren?“

„Lukas“, kam es mahnend von meinem Vater.

„Das wäre kein Problem, Mr. Dremmler. Wir sind mit zwei Wagen gekommen. Ich selbst werde direkt ins Krankenhaus fahren. Ihnen steht Hyun-Woo zur Verfügung.“

Als So-Woi seinen Namen sagte, verneigte sich Hyun-Woo kurz, worauf ich ihn anlächelte.

Natürlich war mir Mamas prüfender Blick sofort aufgefallen.

„Gut, dann werde ich mich kurz umziehen“, sagte Papa und stand mit Mama auf.

„Ich werde auch gehen“, kam es von So-Woi und verneigte sich noch einmal vor meinen Großeltern.

„Richte deiner Großmutter die besten Wünsche von uns aus, So-Woi. Wenn sie Zeit hat, soll sie uns doch bitte besuchen“, meinte Oma.

„Werde ich machen, Großmutter Kil-Soon, danke!“

So-Woi kam zu mir und drückte mich kurz.

„Wir sehen uns später“, flüsterte er mir ins Ohr und ließ mich wieder los.

Er verneigte sich noch einmal kurz und verschwand aus dem Garten. Hyun-Woo kam zu mir und half mir auf, ohne dass ich ihn aufgefordert hatte. Aber irgendwie war es mir recht, denn einfach umarmen konnte ich ihn nicht.

Ich wusste einfach nicht, wie es meine Großeltern auffassen würden, dass ihr gerade zurück gewonnener Enkel auf Jungs stand und etwas mit einem Assistenten hatte.

„Hyun-Woo, pass bitte gut auf meinen Enkel auf“, sagte Opa, was mich nun wunderte.

Er sagte dies mit einem Lächeln, dass ich nicht zu deuten wusste.

„Aber sicher doch. Versprochen!“, erwiderte Hyun-Woo und verneigte sich leicht.

Nun kam mir etwas in den Sinn, worüber ich mir vorher keine Gedanken gemacht hatte. Hyun-Woo und auch vorhin So-Woi trugen beide ihre Ketten und waren wie meine deutlich zu sehen.

Dies schien wohl vielleicht auch Großvater aufgefallen zu sein und nicht nur ihm.

*-*-*

„Soll ich noch etwas für dich aus deinem Zimmer holen?“, fragte Hyun-Woo, als wir alleine waren.

„Ich weiß nicht“, meinte ich und gab ihm einen kleinen Kuss auf den Mund.

Verlegen lächelte er mich an.

„Brauch ich eine Jacke?“, fragte ich scheinheilig, als wäre nichts geschehen.

„Wäre gut, falls es dir kalt wird.“

„Lukas?“, hörte ich Mama rufen, die nun die Treppe herunter kam, „ich habe dir deine Jacke mitgebracht.“

Ich grinste Hyun-Woo an, denn die mütterliche Fürsorge war schneller. Hyun-Woo half mir in die Jacke und legte mir fast zärtlich den Arm in die Schlinge. Währenddessen kam auch Papa herunter. So gingen wir zu viert nach vorne, durch den Laden.

Klar wurde Papa, als Ausländer besonders beäugt, warum gerade er aus dem privaten Teil der Familie Park kam. Wir grüßten kurz Onkel und Tante und verließen den Laden. Dort stand auch schon der Suv von So-Woi.

Hyun-Woo öffnete die Türen und half mir beim Einstieg. Verwundert nahm ich vorne Platz.

Papa hatte sich von alleine zu Mama nach hinten gesetzt. Als letztes stieg Hyun-Woo selbst ein und startete den Wagen.

„Wo genau liegt ihre Firma, Mr. Dremmler?“

„Bucheon, Yakdea-Dong District…“

Hyun-Woo gab die Adresse komplett in den Navi ein und ließ den Wagen anrollen. So-Woi konnte ich nicht mehr entdecken, war wohl schon abgefahren. Sicher wie immer lenkte Hyun-Woo den Wagen durch die Straßen.

Die Stille im Auto war für mich irgendwie unerträglich, so überlegte ich, welches Thema ich eine Unterhaltung zum Laufen bringen konnte.

„Ich weiß, es ist vielleicht unangebracht zu fragen, aber habt ihr schon mehr über diese letzte Email heraus bekommen?“

„Du meinst die wegen deinem Onkel?“

„Ja.“

„Tut mir leid…, aber darum wollte sich Jack kümmern…“

„Ach so…“

„Wenn es dein… ähm ihr Wunsch ist, kann ich mich später darum kümmern…“                       

Ich musste grinsen. Selbst jetzt versuchte Hyun-Woo Haltung zu wahren und machte wieder eins auf Diener.

„Hyun-Woo, wir sind unter uns, meine Eltern wissen Bescheid…“, flüsterte ich.

„Es stört… dich nicht?“, fragte Hyun-Woo leise zurück.

„Sicher nicht und meine Eltern auch nicht“, antwortete ich lauter und schaute zu meinen Eltern nach hinten, die aber beide nur grinsen, keine Antwort gaben.

Hyun-Woo nickte verlegen.

„Wie gesagt, kann ich mich später darum kümmern.“

„Naja, ist jetzt nicht so wichtig“, antwortete ich.

*-*-*

„Sieht klein aus“, meinte ich zu meiner Mutter, als wir auf meinen Vater warteten.

„Raum ist knapp und teuer, das war schon immer so in Seoul.“

Sie hatte ihren Arm um meinen kranken Arm gelegt und schaute ebenso auf das Haus. Hyun-Woo stand beim Wagen. Papas Firma war ein kleiner Betrieb, der sich auf Heilkräuter spezialisierte und diese auch nach Deutschland versandte. Es war das zweite Standbein der Familie, wie mein Vater immer behauptete.

„Lukas?“, sagte sie leise und ich wandte mich zu ihr.

„In was für Kreise bist du da geschlittert?“, wollte sie flüsternd wissen.

Sie lächelte, so wusste ich nicht, wie sie das meinte.

„… äh was meinst du?“

„Dieser So-Woi…, seine Großmutter scheint ein hohes Tier hier zu sein.“

Ich musste grinsen, weil Mama mal wieder eine deutsche Redensart benutzt hatte, denn hohes Tier sagte man hier nicht.

„Durch die Chois, du erinnerst dich, die Familie, bei der ich anfänglich untergekommen war. Mr. Choi arbeitet, wie einige andere in der Familie für den Sender, der zu Haupteilen So-Wois Großmutter gehört.“

„Und wie hast du So-Woi kennen gelernt?“

„Bei dieser Benefizveranstaltung, wo mich der Sohn der Chois mitgenommen hatte.“

An Jae-Joong hatte ich gar nicht mehr gedacht und nahm mir fest vor, wenn hier alles etwas ruhiger wurde, ihn anzurufen. Es tat mir fast schon leid, hatte er sich doch so rührend nach meiner Ankunft hier, um mich gekümmert.

Da Mama nichts weiter fragte, schaute ich mir die Gegend etwas um. Hier schienen sehr viele Firmen ansässig zu sein, es hingen jedenfalls viele Werbeschilder an den Häusern. Hyun-Woo kam auf uns zu.

„Lucas, möchtest du dich nicht wieder ins Auto setzten? … dein Bein…“

Mama lächelte.

„Danke Hyun-Woo, aber im Augenblick ist mir mehr nach stehen, ich war schon zu viel gesessen undgelegen. Aber etwas anderes, können wir kurz bei So-Woi vorbei fahren, ich möchte mir doch etwas anderes anziehen, bevor wir zu seiner Großmutter fahren.“

Kein Problem“, lächelte er mich an.

Er ging zurück zum Wagen.

„Ein netter junger Mann“, meinte Mama, „sehr fürsorglich!“

„Ja“, meinte ich verträumt, worauf Mama zu kichern anfing.

„Mama“, flüsterte ich leicht säuerlich.

„Was denn, dich hat es ja anscheinend sehr erwischt.“

„Ja hat es! Hyun-Woo ist so ein lieber Kerl, kümmert sich aufopfernd für mich, ist immer für mich da. Es stimmt einfach alles…“

„Aber er ist der Sekretär von diesem jungen Mann.“

„Ja und? Mama ich weiß worauf du anspielst, aber ich denke nicht so, wie die anderen. Hyun-Woo ist nicht mehr oder weniger als ich! Das habe ich ihm auch schon mehrfach gesagt.“

„Ist ja gut, ich möchte nur nicht dass du enttäuscht wirst, oder dir jemand weh tut.“

Ich schaute auf meinen Arm.

„Du weißt schon wie ich das meine, pass bitte auf dich auf.“

Ich wollte nicht mehr weiter über Hyun-Woo und mich reden, so wechselte ich einfach das Thema.

„Du hast noch gar nichts über dein Gespräch mit Opa erzählt.“

Sie atmete tief durch.

„Was… soll ich da groß erzählen…, viele Entschuldigungen…, Schuldzuweisungen… Familienehre und so weiter…“

„Aber ihr habt euch wieder versöhnt.“

„Schon irgendwie…“

„… irgendwie, wie meinst du das?“

„Lukas, achtzehn Jahre, kann man nicht einfach vergessen, die Wunden die entstanden sind, lassen sich nicht einfach in einem Gespräch heilen, das braucht Zeit.“

„Schon…, verstehe ich, aber ihr habt einen Anfang gemacht und miteinander geredet. Du selbst hast mir immer wieder eingetrichtert, wie wichtig es ist, miteinander zu reden, wenn es Probleme gibt.“

„Ja habe ich, aber ab und zu schmeckt die eigene Medizin am bittersten.“

„Trotzdem freue ich mich, dass du und Opa euch wieder vertragen.“

„Ich freu mich, dass ich wieder eine Familie habe.“

Darauf konnte ich nichts erwidern, denn Papa verließ das Gebäude.

„Wir können meinte er und lief weiter zum Wagen.“

„Alles in Ordnung“, fragte Mama.

„Ja, ja. Alles im grünen Bereich.“

Den Blick meiner Mutter konnte ich nicht deuten. Sie hatte mich noch bis zum Wagen geführt und stieg nun ebenfalls ein. Hyun-Woo schloss ihre Tür und kam zu mir. Wieder half er mir einzusteigen.

*-*-*

„Das ist sehr edel hier…“, meinte Mama, als sie sich in meinem Zimmer umblickte.

„Ich glaube, So-Woi hat erzählt, die Wohnung, oder besser gesagt, das ganze Stockwerk, sei ein Geschenk seiner Großmutter.“

„Und seine Eltern? Wohnen die auch hier im Haus?“

Mama, wie immer neugierig.

„Nein. So-Wois Mutter ist früh verstorben und sein Vater wohnt für sich…, ihr Verhältnis ist nicht so gut.“

Papa hatte sich auf der kleinen Couch nieder gelassen, während Mama mir half, in ein weißes Hemd zu schlüpfen.

„Wo hast du die edlen Teile her?“, fragte sie nach einem Blick in meinen Schrank.

„Das habe ich geschenkt bekommen…“

„Mir hat noch nie einer so einen Anzug geschenkt“, kam es von Papa.

Es klopfte an der Tür. Hyun-Woo schaute herein. Auch er war umgezogen, was mich wunderte, hatte er doch nur ein paar wenige Sachen, hier in meinem Zimmer deponiert. Was mir jetzt erst auffiel, sie lagen nicht mehr im keinem Schrank.

„Deine Sachen…?“, fragte ich unbeholfen.

„So-Woi meinte, da ich als sein Sekretär ständig erreichbar sein müsste, und wir viel Arbeit hatten, die letzten Tage, bot er mir an, im Nachbarzimmer einzuziehen und meine Wohnung zu kündigen…“

„Das wusste ich nicht…“

„Hat sich auch erst ergeben…“

Während Mama mir half, mein Hemd zuzuknöpfen, schlüpfte ich etwas unbeholfen in meine Schuhe.

„Möchte jemand noch gerne etwas trinken, bevor wir aufbrechen?“, fragte Hyun-Woo höflich.

Meine Eltern schüttelten beide den Kopf. Da ich wusste, dass sich in meinem kleinen Kühlschrank nichts befand, meldete ich mich zu Wort.

„Ich bräuchte etwas Wasser für meine Tabletten…“

„Hast du wieder Schmerzen?“, fragte Mama besorgt.

„Es geht, aber ich befürchte, dass die Wirkung nachlassen könnte…“

„Ich hol dir ein Glas…“, meinte Hyun-Woo und verließ das Zimmer, durch die Tür, die direkt in So-Wois Wohnung führte.

„Wo geht es da hin?“, fragte Papa.

„Meine direkte Verbindung zu So-Woi…“

„Nicht schlecht…, meinst du, wir können kurz einen Blick riskieren?“

„Jürgen! Das gehört sich nicht!“

„Man kann doch mal fragen.“

„Mama, So-Woi hat da bestimmt nichts dagegen.“

So humpelte ich Hyun-Woo nach, der mir auf halben Weg in So-Wois Wohnung mit dem Glas Wasser entgegen kam.

„Danke!“, meinte ich, nahm meine Tablette und trank das Glas mit einem Zug leer.

Ich hörte meinen Vater pfeifen.

„Alter Schwede, die Wohnung würde mir auch gefallen“, meinte er.

„Wenn du ein paar Millionen locker machen kannst, sicher“, sagte ich grinsend und gab Hyun-Woo das Glas zurück, „…aber lasst uns gehen, ich möchte So-Wois Großmutter nicht warten lassen.“

„Wir auch nicht!“

*-*-*

Der Wagen stand noch nicht ganz, da wurde schon meine Tür geöffnet. Auf der Treppe kam Mr. Ri in Sicht, während mir ein junger Mann aus dem Wagen half.

„Mr. Dremmler, ich hoffe es geht ihnen besser?“

„Danke, Mr. Ri. Darf ich ihnen meinen Eltern vorstellen?“

Er schaute zu meinen Eltern und verneigte sich leicht.

„Mr. Und Mrs. Dremmler, ich freue mich sie hier begrüßen zu dürfen…, darf ich sie bitten?“, meinte Mr. Ri, machte leicht einen Diener und wies mit seiner Hand ins Haus, „sie werden bereits erwartet.“

„Ja, danke…“, antwortete Papa.

Hyun-Woo bot mir helfend seinen Arm an, von dem ich dankbar Gebrauch machte.. Langsam gingen wir die Treppe hinauf und blieben in Höhe Mr. Ri stehen.

„Mr. Ri…, ich wollte ihnen noch einmal danken, dass sie meine Eltern benachrichtigt haben und dass es mit dem Flug ohne Probleme so schnelll über die Bühne ging.“

„Nichts zu danken, das war für mich selbstverständlich.“

Er verbeugte sich leicht vor mir und ich erwiderte. So-Woi war anscheinend noch nicht da, ich konnte ihn nirgends entdecken.

Man nahm mir und meinen Eltern die Jacken ab und führte uns in einen Raum, der mich stark an eine Bibliothek erinnerte. Dann ließ man uns alleine. Auch Hyun-Woo war nicht mehr zu sehen.

„Das ist sehr nobel eingerichtet“, meinte Papa leise.

Mama hatte sich bei ihm eingehängt, ich merkte ihre Unsicherheit. Die Tür ging auf und So-Wois Großmutter betrat den Raum. Ich verbeugte mich schon automatisch.

„Ich freue mich sehr, sie kennen zu lernen“, sagte sie und streckte meinem Vater die Hand entgegen.

Das erste Mal sah ich, wie Papa sich so verbeugte, wie Mama es mir beigebracht hatte. Selbst den Arm hielt er mit der anderen Hand.

„Die Freude liegt ganz unsererseits“, sagte Papa leise.

„Min Ja, ich darf sie doch so nennen“, Mama nickte bejahend, „sie sehen ihrer Mutter sehr ähnlich, als sie in ihrem Alter war.

„Sie kennen meine Mutter?“, fragte Mama überrascht.

„Ja, nicht nur ihren Vater. Wir sind zusammen aufgewachsen. Unsere Wege trennten sich, als ich damals meinen Mann kennen lernte und nach der Heirat von dort weggezogen sind.“

Die Tür ging auf und So-Woi trat ein.

„Großmutter…“

Ganz untypisch für hier, wurde So-Woi in den Arm genommen und bekam sogar noch ein Küsschen auf die Wange. Hinter ihm verbeugte sich Hyun-Woo. Es tat einfach gut ihn in der Nähe zu haben.

Anschließend begrüßte auch So-Woi meine Eltern.

„Das Essen wird gleich serviert, So-Woi, führst du bitte unsere Gäste ins Esszimmer?“

„Gerne Großmutter.“

Voll der Gastgeber und Gentleman, brachte uns So-Woi in ein anderes Zimmer, während Hyun-Woo wieder seinen Arm anbot. Während meine Eltern sich setzten, zog Hyun-Woo meinen Stuhl etwas zurück, damit ich mich leichter hinsetzten konnte.

Anschließend setzte er sich neben mich. So-Wois Großmutter betrat das Zimmer und so wie Hyun-Woo mir, half So-Woi ihr beim hinsitzen.

„Hast du Lucas von deinen Plänen berichtet“, fragte So-Wois Großmutter.

„Nein, bisher nicht… hatte noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden.“

„Pläne…?“, fragte ich.

„Ja, So-Woi hat…“

„Großmutter, ich möchte dass gerne Lucas selbst erzählen.“

„Entschuldige So-Woi, aber ich bin nach wie vor sehr hingetan…“

„Danke Großmutter.“

So-Woi wandte sich mir zu.

„Du weißt doch noch, dass ich noch einmal kurz nach Amerika geflogen bin, um wichtige Dinge zu erledigen.“

Ich nickte.

„Ich war deswegen noch einmal drüben, um mich von der New York School of Design abzumelden, die ich schon ein Jahr besucht habe.“

„Ein ganzes Jahr schon, ich dachte, du hättest das andere Studium erst abgebrochen… und dein Vater hat nichts mitbekommen?“, fragte ich sehr erstaunt.

„Für alle Kosten ist meine Großmutter aufgekommen.“

Ich sah den kritischen Blick meines Vaters, den wohl auch So-Wois Großmutter bemerkte.

„Sie schauen kritisch, Mr. Dremmler.“

„Es mag wohl unhöflich erscheinen, wenn ich dies sage, aber ich bin der Meinung, ein Vater, wenn es möglich ist, sollte für die Ausbildung seines Sohnes oder Tochter aufkommen!“

„Da gebe ich ihnen Recht, Mr. Dremmler, da aber mein lieber Herr Sohn nur seine Firma und Geschäfte im Kopf hat, habe ich mich entschlossen, mich meines Enkel anzunehmen.“

„Das ist ihr gutes Recht“, meinte er nickend.

„… und du hast dich sicher gewundert, warum ich Hyun-Woo so schnell bei mir als Privatsekretär eingestellt habe“, sprach So-Woi einfach weiter.

„Wenn ich ehrlich bin, mich wunderte in diesem Land nichts mehr.“

Alle fingen an zu lachen.

„Großmutter hat mich auf die Idee gebracht, eine kleine Firma, mit eigenem Label zu eröffnen.“

„Cool“, rutschte mir heraus.

Mum beäugte mich leicht böse, während Hyun-Woo leicht grinste.

„Deswegen war ich auch zwischen durch so beschäftigt und mit Hilfe von Hyun-Woo haben wir eine tolles Haus gefunden, dass mittlerweile schon komplett eingerichtet ist.“

„Wow…, da habt ihr euch wirklich sehr ins Zeug gelegt.“

Ja, Hyun-Woo denke ich oft, vollbringt oft Wunder!“

Hyun-Woo lächelte verlegen und senkte den Kopf.

„Aber warum ich dir das alles erzähle…, ist, ich möchte gerne, dass du bei uns mitarbeitest…!“

„Ich? Bei euch…? Aber…, aber ich kenne ich mich mit Design doch gar nicht aus?“

„Ich dachte auch eher an…, dich als Model anzustellen…“

Papa fing an zu lachen, während ihn Mama mit dem Ellenbogen in der Seite strafte.

„Entschuldige…“, kam es leise von ihm.

„Model… ich?“

„Ja, Lucas. Hyun-Woo hat mir erzählt, dass dieser Vorschlag schon öfter gefallen ist und wenn ich ehrlich bin, du hast wirklich die Figur und das Aussehen dafür, ich hätte dich gerne als Aushängeschild für die neue Firma.“

Jetzt war ich paff. Wortlos schaute ich in die Runde.

„Und ich habe da noch eine kleine Überraschung…. Weil ich Hyun-Woo etwas mehr beanspruche, auf alle Fälle die nächste Zeit, habe ich schon jemand, den ich dir zur Seite stellen möchte…“

Jemand anderes? Hyun-Woo wäre mir schon recht gewesen.

„Ich habe da an einen alten Freund gedacht, den du kennst…“

Einen alten Freund den ich kenne, mir viel vor Aufregung niemand ein.

„Jae-Joong hat sich bereit erklärt, sich um dich zu kümmern, außerdem wird er das zweite Model für unsere Firma.“

„Jetzt bin ich echt…, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Wie wäre es mit danke – ich nehm den Job“, kam es grinsend von meinem Vater.

„Du kannst doch nicht für deinen Sohn entscheiden…“, beschwerte sich Mama.

„Ich habe echt nichts mitbekommen, ich wusste das ehrlich nicht“, versuchte ich mich irgendwie heraus zureden, denn nach dem Blick meiner Mutter zu urteilen, war sie überhaupt nicht begeistert.

„Ich finde, wir sollten erst einmal essen, dabei kann man auch gut reden“, mischte sich nun So-Wois Großmutter ein.

Sie hatte gerade aufgehört zu reden, als die Tür auf ging und wenig später wurde das Essen serviert.

*-*-*

„Ihr seid irgendwie verrückt, aber ich finde das cool!“

Ich saß mit So-Woi und Hyun-Woo auf der Terrasse, während meine Eltern drinnen blieben und sich mit So-Wois Großmutter unterhielten.

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, kam es von So-Woi.

„Kann ich da noch ein oder zwei Nächte drüber schlafen?“

So-Woi nickte und ich griff nach Hyun-Woos Hand.

„Du fehlst mir“, sagte ich leise.

Er lächelte mich an. Ich sah ihn an und dachte über So-Wois Angebot nach. Was sollten schon ein paar Fotos schaden? Es hörte sich eben irgendwie verrückt an, dass man mir so etwas anbot, denn ich selbst, fand mich nicht so interessant.

„Wo bist du gerade?“, fragte Hyun-Woo.

„Ich denke über So-Wois Angebot nach.“

„Ich dachte, du willst ein oder zwei Nächte drüber schlafen.“

„Ja ich weiß, man kriegt ja auch nicht jeden Tag so etwas gesagt.“

„Stimmt!“

„Was findet ihr an mir, dass ihr mich unbedingt als… „Fotomodel“ haben wollt.“

„Auf alle Fälle ist es nicht nur dein Aussehen…“, warf So-Woi ein.

„Da muss ich So-Woi recht geben, du hast etwas an dir, dass fasziniert und dass sage ich jetzt nicht nur, weil ich mich in dich verliebt habe!“

Meine Augenbraun wanderten nach oben. Hoppla, so eine öffentliche Liebeserklärung? Ganz ungewohnt für Hyun-Woo. Meine Lippen weiteten sich zu einem breiten Grinsen.

„Stimmt“, dieses mal wieder So-Woi, „ich würde sogar so weit gehen, dass man das schon fast magisch nennen könnte. Du wirkst so unschuldig, ruhig und gelassen, aber wenn man dich etwas kennt, merkt man, wie es tief in dir brodelt.“

Meine Schüchternheit machte sich bemerkbar, in dem mein Gesicht regelrecht tomatisierte. Was war das hier? Wie überrede ich Lukas am schnellsten?

„Ist ja schon gut…, ihr könnt aufhören, ich habe es kapiert. Ich mach den Job, aber bitte verlangt kein Profigehabe von mir, das liegt mir nämlich absolut überhaupt nicht!“

„Ich weiß gar nicht, was du hast, ich habe nur Tatsachen gesagt“, meinte So-Woi.

Hyun-Woo kam ganz dicht an mein Ohr.

„… und dass ich dich liebe, weißt du!“

Verlegen schaute ich zwischen den beiden hin und her. Beide grinsten.

„Und wann wollt ihr los…legen?“

„Bald…, die ersten Entwürfe stehen schon“, erklärte So-Woi.

„Darf man da mal etwas sehen?“

„Hyun-Woo…“

Hyun-Woo erhob sich und verschwand im Haus. Ich wandte meinen Kopf zu So-Woi, der aber in den Garten starrte. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Er schaute zu mir, hatte glasige Augen.

„… ich habe Angst… Lucas…, dass ich ihn verliere…“

Ich erhob mich, zog meinen Stuhl direkt neben ihn und setzte mich wieder.

„Ich kann mir nur annähernd vorstellen, wie schwierig es für dich jetzt ist. Ich habe Jack sehr lieb gewonnen und auch wenn du immer beteuerst, ich bin nicht schuld, fühle ich mich trotzdem mit verantwortlich für seinen Zustand.“

So-Woi wollte etwas erwidern, aber ich stoppte ihn, in dem ich meine Hand hob.

„Aber mein Vater sagte mir mal, egal was passiert, ich solle nach vorne schauen. Was passiert ist, kann ich und auch du nicht ändern und wir können nur das Beste hoffen. Was Jack jetzt sicher nicht brauchen kann, ist ein Freund, der niedergeschlagen und traurig ist.“

Er sah mich mit glasigen Augen an.

„Lebe deinen Traum und wenn Jack wieder fit ist, egal wie, bezieh ihn mit ein, teile mit ihm deine Freuden und auch deine Traurigkeit!“

So-Woi nickte.

„Gerne will ich bei euch mit einsteigen, da brauche ich jetzt nicht mehr darüber nachzudenken. Deine Freundschaft ist mehr sehr wichtig und Freunde helfen sich gegenseitig, wie du es in den vergangenen Wochen oft für mich gemacht hast.“

Wieder wollte So-Woi etwas sagen, aber ich redete einfach weiter.

„Nein, das soll jetzt keine Wiedergutmachung werden, So-Woi. Es ist mein freier Wille dir zu helfen…, mein Wunsch, weil ich denke, dass wir auch in Zukunft noch viel miteinander erleben werden, auch Spaß haben.“

Ich griff nach seiner Hand und drückte sie.

„… und jetzt wisch die Tränen weg, was soll Hyun-Woo denken, wenn er dich so sieht“, meinte ich und lächelte ihn breit an.

Wie aufs Stichwort kehrte Hyun-Woo mit einer großen Mappe zurück. Er öffnete sie und legte sie vor uns ab. Vor mir lagen ein Stapel Zeichnungen.

„Wow…, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, meinte ich, als ich mir einige der Skizzen genauer betrachtet hatte, „dass ist genau mein Stil…“

„Wirklich?“, wollte So-Woi wissen.

„Ja, ich bin zwar nicht wirklich ein Anzugträger, aber die Skizzen sagen mir, dass man sich in den Sachen wohlfühlen würde.“

So-Woi lächelte breit. Lange saßen wir da und diskutierten über die Zeichnungen, bis meine Eltern und So-Wois Großmutter auf der Terrasse erschienen. Auch sie waren von So-Wois angefertigten Skizzen mehr als begeistert.

Vergessen war, was in den vergangenen Tagen passiert war.

*-*-*

Es klopfte. Mum schaute auf, aber ich zuckte nur mit den Schultern.

„Herein“, sagte sie und die Tür öffnete sich.

Hyun-Woo kam ins Sichtfeld, dicht gefolgt von Jae-Joong.

„Jae-Joong“, sagte ich, stand auf und umarmte ihn, „Mum, darf ich dir Jae-Joong vorstellen, er ist der Sohn von den Chois, meiner ersten Gastfamilie. Jae-Joong, das ist meine Mutter Min-Ja!“

Jae-Joong verbeugte sich tief und streckte seine Hand aus.

„Es freut mich dich kennen zu lernen“, meinte Mum und schüttelte seine Hand.

„Entschuldigung“, meldete sich Hyun-Woo zu Wort, „So-Woi wartet draußen im Wagen. Ich habe Jae-Joong nur gezeigt, wo er hin muss.“

„Danke Hyun-Woo! Sag So-Woi einen lieben Gruß von uns“, meinte ich.

Er verneigte sich kurz und verließ das Zimmer wieder. Etwas traurig schaute ich ihm nach, hätte ich ihn doch gerne umarmt und anders begrüßt.

„Ich habe gehört, dein Vater ist auch hier“, kam es von Jae-Joong und riss mich aus den Gedanken.

„Ja, mein Mann kümmert sich um die Firma, er ist leider nicht hier.“

„Schade, ich hätte auch ihn gern kennen gelernt.“

„Dazu wirst du sicherlich noch Gelegenheit haben, wir sich bis Ende der Woche noch hier.“

Jae-Joong nickte und lächelte, während er sich wieder zu mir wandte.

„Hast du Schmerzen?“

„Nein, es ist alles gut, nur ist es etwas nervend, weil ich etwas in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt bin.“

„Schade…“

„Warum schade?“

„Ich wollte dich und deine Mutter eigentlich entführen. Hyun-Woo hat mich mit allen Informationen über deinen verschwundenen Onkel versorgt, die er hatte…“

„Er hat etwas heraus bekommen?“

Diese Frage kam von meiner Mutter. Jae-Joong nickte.

„Warte, ich zieh mich schnell um…“

„Lukas, du sollst dich doch schonen!“, kam es mahnend von meiner Mutter.

„Mum…! Es ist zwar schön, mit dir meine Zeit hier zu verbringen, aber mir fällt langsam die Decke auf den Kopf. Dieser Spur nachzugehen wird sicher nicht anstrengend und außerdem habe ich doch euch beide bei mir!“

Mum atmete tief durch und schüttelte den Kopf.

„Wie soll ich gegen deinen Dickkopf ankommen? Gut, aber wir haben Zeit, du machst dich langsam fertig. Währenddessen gehe ich zu meiner Schwester und sage ihr, dass wir zum Mittagessen nicht da sein werden. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass wir länger weg sind?“

„Ja, aber vorher soll ich Lucas noch ins Krankenhaus vorbeibringen, hat So-Woi angewiesen, dass man sich noch einmal seinen Arm und das Knie anschaut.

„Gut, sehr fürsorglich, ich werde unten auf euch warten… und zieh dich warm an, es ist etwas kühl draußen.“

„Ja Mum“, grinste ich.

Sie verließ das Zimmer und ich war mit Jae-Joong alleine.

„Gut siehst du aus…, naja bis auf die Blessuren…, wenn ich ehrlich bin, ich habe dich richtig vermisst.“

Ich lächelte verlegen.

„Was willst du anziehen? Komm ich helfe dir.“

Ich schaute ihm tief in die Augen.

„Es tut mir leid Jae-Joong…“

„Was… warum?“

„Dass…, dass ich jetzt mit Hyun-Woo zusammen bin…, du bist sicher enttäuscht.“

„Quatsch! Wer sagt denn so etwas? Lucas, ich steh nach wie vor auf Mädels. Du warst und bist der erste Freund den ich habe, der sich nicht für den Job meines Vaters interessierte, sondern für mich. Das ist mir sehr wichtig, bedeutet mir sehr viel. Wir kennen uns zwar erst kurze Zeit, aber ich möchte dich als Freund nicht mehr missen.“

„Wow…, das war ja schon fast eine… Liebeserklärung,… danke!“, meinte ich lächelnd und umarmte ihn.

„So, was willst du anziehen…?“

*-*-*

Meine Mutter studierte die Mappe, die ihr Jae-Joong gegeben hatte. Sie saß hinten im Wagen.

„Wie viel Wagen besitzt So-Woi eigentlich? Diesen hier habe ich noch nicht gesehen.“

„Der ist aus dem Fuhrpark seiner Großmutter. Tolle Frau übrigends, sie hat mich sehr beeindruckt.“

„Wieso denn?“

„Sie bot mir ihre Hilfe an, wenn mir mein Vater noch einmal Schwierigkeiten machen sollte. Er arbeitet schließlich für sie.“

„Was für Schwierigkeiten soll er dir denn machen?“

„Was meine Ausbildung betrifft, nicht seinen Wünsche folge. So-Wois Angebot, für dich dazu sein und auch noch als Model Geld zu verdienen, kam mir da gerade recht.“

„Man sollte seinem Vater aber Respekt erweisen“, kam es von hinten.

Ich drehte meinen Kopf zu Mum, die immer noch in der Mappe las.

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“, wollte ich wissen.

„Man kann seinen Vater ehren, aber dennoch seine eigenen Ziele verfolgen.“

„Ich gebe ihnen recht, Min-Ja, aber es fällt mich recht schwer, so wie er sich benimmt…“

Fragend schaute ich Jae-Joong an. Er atmete tief durch.

„Es ist kein Geheimnis, dass mein Vater jedem Rock hinter her steigt…, in der Firma wissen das, da bin ich mir sicher, alle.“

„Und deine Mutter?“, fragte ich entsetzt.

„Versucht ihr Gesicht zu wahren…“, bekam ich zur Antwort.

„Deswegen war er so selten zu Hause…“, sagte ich mehr zu mir selbst.

„Das tut mir leid, Jae-Joong“, meinte Mum.

„Muss es nicht, ich habe mich irgendwie daran gewöhnt…, wenn man das überhaupt kann… In meiner Gegenwart redet niemand darüber und das ist auch gut so. Ich unterstütze meine Mutter so gut ich kann und das ist noch eine Sache, warum ich froh bin, dass mir So-Woi diesen Job angeboten hat, denn so bin ich unabhängig, denn ich weiß nicht, was sich mein Vater noch einfallen lässt.“

Der Rest der Fahrt verlief eher still, jeder schien in seinen Gedanken gefangen. Es dauerte auch nicht mehr lange und das Krankenhaus war erreicht. Auf dem Parkplatz erkannte ich So-Wois Wagen, also war er auch hier.

Eigentlich verständlich, lag doch sein Freund hier. Etwas betreten stieg ich aus, die dummen Gedanken der letzten Tage überkamen mich wieder.

„Alles in Ordnung, Lukas?“, fragte Mama.

„Es geht…, ich musste gerade wieder an Jack denken…“

„An dessen Unfall du nicht Schuld bist!“, kam es von Jae-Joong, „Hyun-Woo hat mir schon so etwas gesagt, dass du sicher wieder davon anfängst. Du solltest es vielleicht aus der Sicht sehen, sei froh, dass ihr beide das überlebt habt, es hätte anders ausgehen können.“

„Jae-Joong hat recht, Lukas. Mr. Ri hat deinem Vater erzählt, dass die Polizei mittlerweile heraus gefunden hat, dass der Wagen ungebremst auf euch zuhielt, der Fahrer keine Anstalten machte, euch auszuweichen!“

Entsetzt schaute ich Mama an.

„Warum hat mir das keiner gesagt?“

„Jetzt reg dich ab“, kam es wieder von Jae-Joong, „es meinen alle nur gut mit dir und jetzt geh da rein!“

Mama grinste, obwohl es in der Situation eigentlich nichts zu grinsen gab. Für mich jedenfalls. Jae-Joong ging vor und ich folgte im mit Mama.

„Du hast hier sehr gute Freunde…“, flüsterte mir Mama zu, während wir das Krankenhaus betraten.

*-*-*

Die Schlinge war ich los und es war etwas ungewohnt, den Arm wieder frei zu bewegen. Beim Laufen machte sich das Knie noch etwas bemerkbar, besonders wenn ich den Fuß leicht anhob, aber ich konnte es wieder voll belasten.

Nach der Untersuchung schauten wir bei Jack vorbei. Da er auf der Intensivstation lag, konnten wir ihn leider nur durch eine Scheibe sehen. Jae-Joong machte uns bemerkbar, indem er sanft an das Fenster klopfte.

So-Woi kam nach draußen, er lächelte, obwohl ich der Meinung war, ihn traurig vorzufinden. Er verneigte sich kurz vor meiner Mutter und wandte sich dann an mich.

„Er ist aufgewacht“, meinte So-Woi stolz.

„Wirklich?“, fragte ich erstaunt.

„Er hat meine Hand gedrückt…“, erzählte So-Woi freudestrahlend.

Ich freute mich für ihn. Natürlich gab Mama auch noch ihren Senf dazu, bevor uns Jae-Joong hinausbegleitete. Etwas traurig war ich aber auch, denn ich hoffte Hyun-Woo zu sehen, aber leider konnte ich ihn nirgends entdecken.

Seit der Ankunft meiner Eltern hatte ich ihn nur wenig gesehen. Er fehlte mir ungemein, aber was konnte ich dagegen machen. Jae-Joong hatte den Wagen vorgefahren und wir stiegen ein.

Mama reichte mir die Unterlagen.

„Wenn du mich fragst, dann sind da keine großen Informationen über den Verbleib meines Bruders heraus zu lesen.“

Fast war ich versucht zu sagen, dich fragt keiner, aber das wäre sehr frech gewesen.

„Du meinst also, der Hinweis führt in eine Sackgasse?“, wollte ich wissen und schaute zu Jae-Joong, der mit den Schultern zuckte.

„Das habe ich nicht gesagt Lukas. Dein Onkel war begeisterter Gärtner, das stimmt schon…“

„Aber…?“

„Willst du jetzt jeden Blumenladen oder jede Gärtnerei Seoul durchsuchen?“

„Nein Mama! Tante Min-Ri hat mir erzählt, dass Onkel Min-Chul Orchideen über alles geliebt hat und wie Hyun-Woo in Erfahrung gebracht hat, gibt es nicht viele Geschäfte in Seoul, die sich auf Orchideen spezialisiert haben.“

„Und du glaubst du findest ihn dort?“

„Wenn nicht da, wo sonst? Er ist in Seoul gemeldet, aber ohne Adresse.“

„Wie geht das denn?“, wollte Jae-Joong wissen, „gemeldet bist du nur, wenn du auch eine Adresse hast.“

„Nicht, wenn du es mit der Polizei zu tun hattest.“

*-*-*

Ich spürte Mamas Unbehagen, als ich sie vorschob. Der Offizier schaute zudem noch sehr grimmig. Laut Hyun-Woos Informationen war Onkel Min-Chul in eine Schlägerei verwickelt gewesen und in der Station Beon 1 Il-Dong gemeldet worden.

Dort hatte uns Jae-Joong hingefahren.

„Entschuldigen sie, könnten sie bitte weiterhelfen?“, fragte Mama höflich und auch recht schüchtern.

Der grimmig schauende Offizier erhob sich genervt und kam an die Theke, während die anderen von uns keine Notiz nahmen, jedenfalls kam es mir so vor.“

„Was kann ich für sie tun?“, kam es von diesem Offizier, wie eine Ansage vom Band.

„Ich suche eine Person und wollte wissen, ob sie mir weiterhelfen können.“

„Da müssen sie sich ans Melderegister wenden!“, sagte diese Herr abweisend.

„Dort haben wir erfahren, dass er bei ihnen gemeldet wurde“, mischte ich mich jetzt ein.

Böse schaute mich der Offizier an, bevor er sich wieder an Mama wandte.

„Wie stehen sie zu dieser Person?“

„Er ist mein Bruder!“

„Name?“

„Park Min-Chul…“

„Straße?“

„Das wissen wir nicht…“

Wieder dieser böse Blick.

„Das ist wirklich nicht viel… Wie kommen sie darauf, dass wir ihnen weiter helfen können?“

„Uns liegt eine Meldung vor, dass bei ihnen die Personalien meines Bruders aufgenommen wurde.“

„Aus welchem Grund?“

„Schlägerei“, sagte Mama kleinlaut.

Ich spürte deutlich, wie unangenehm ihr das war. Ich dagegen, wurde langsam selbst böse, weil dieser Offizier vor uns wohl alles andere als Lust hatte, uns zu helfen.

„Eine Schlägerei… aha… soso.“

Jetzt platze mir aber fast der Kragen, doch Jae-Joong zupfte an meinem Ärmel und schüttelte den Kopf. Warum kam es mir so vor, als würde dieser Mann, seit das Wort Schlägerei gefallen war, so von oben herab schauen?

„Da kann ich ihnen nicht weiter helfen…“, meinte er und war im Begriff wieder zu seinem Platz zurück zu kehren.

„Können sie nicht, oder wollen sie nicht?“, platze mir heraus.

„Lukas!“, kam es mahnend von Mama.

Blitzschnell drehte sich der Polizist wieder zu uns.

„Bürschchen, nicht so frech! Siehst du die leere Zelle dahinten, da bist du schneller drin, als du denkst.“

Wer war hier frech? Ich spürte, wie mein Herz bis zum Kopf hinauf schlug.

„Aus welchen Grund?“, wollte ich nun wissen, weil wegen einer Frage, gleich eingesperrt zu werden, kam mir doch etwas übertrieben vor.

Mama und Jae-Joong standen mittlerweile hinter mir und zogen mich nach hinten, besser gesagt, sie versuchten es. Ich war nun so sauer, dass es ihnen schwer viel mich von meinem Platz zu bewegen.

„Ach ihr seid doch alle gleich…, einer in der Familie…, alle in der Familie…“

„Das ist also ihre Einstellung?“, sagte ich nun lauter, so dass auch nun die restlichen Herren und Damen in Raum Notiz von uns nahmen, „Jae-Joong, ruf doch bitte bei So-Woi an, oder besser noch gleich Mr. Ri, dass wir hier Schwierigkeiten haben…“

„Du pokerst ganz schön hoch“, flüsterte mir Jae-Joong ins Ohr, während er sein Handy hervor zog.

Mama hatte es geschafft, mich etwas von der Theke wegzuziehen.

„Lukas, was ist mit dir los, so kenne ich dich gar nicht!“

„Mama entschuldige…, aber ich fühl mich unberechtigt behandelt…, oder wir werden unfair behandelt, ist dir nicht aufgefallen, wie der auf uns herunterschaut?“

„Lukas!“, anscheinend hatte ich dies wieder zu laut gesagt, denn nun schaute mich auch Mama böse an.

„Ich habe Mr. Ri verständigt, er meinte, wir möchten doch bitte einen Augenblick warten“, meldete sich Jae-Joong zu Wort.

„Auf was?“, fragten Mama und ich fast gleichzeitig.

Jae- Joong zuckte mit seinen Schultern, so schaute ich mich um, ob irgendetwas passierte. Es tat sich nichts und der Herr an der Theke wandte sich fies grinsend weg. Plötzlich wurde hinter ihm eine Tür aufgerissen.

„Police Offizier Seong Hyun- Shik in mein Büro!“

Kurz war an der Tür ein älterer Herr zu sehen und während meine Mutter leise kicherte, verschwand unser Police Offizier in dessen Büro..

„Was, warum kicherst du plötzlich? Ist mir etwas entgangen?“, flüsterte ich ihr zu.

Sie schüttelte den Kopf.

„Sein Vorname steht für Weisheit und Ehrlichkeit?“

„Wessen Vorname?“, fragte ich neugierig.

„Der Vorname des Polizisten, hast du ihn nicht gerade gehört? Seong Hyun-Shik, das ist ein Kombination aus Weisheit und Ehrlichkeit.“

„Löffelweise hat er das Zeug auf alle Fälle nicht gegessen!“

Auch ich musste nun grinsen. Da hatte jemand seinen Namen unverdient bekommen. Aber wer war schon für seinen Namen verantwortlich? Die Tür ging auf und ein Police Officer Seong, mit hochrotem Kopf, trat heraus. Der ältere Herr von vorhin folgte ihm.

„Es tut mir leid… äh… Mr. Park…?“, sprach mich der alte Herr an, „Senior Police Officer Kim…“

Park? Ach so, das musste ich gleich korrigieren.

„Mein Name ist Lukas Dremmler…, meine Mutter hier, ist eine geborene Park…, wir kommen aus Deutschland und suchen den Bruder meiner Mutter.“

„So etwas Ähnliches hat mir ein Mr. Ri erzählt…“, kam es vom SPO Kim, „PO Seong, bitte geben sie den Herrschaften die gewünschte Auskunft!“    

Police Officer Seong machte sich am Computer zu schaffen.

„Wir haben nur die Adresse des Geschäftes, wo er tätig ist, schlafen tut er so viel ich weiß im Badehaus“, bekamen wir plötzlich zur Antwort.

„Wäre es möglich diese Adresse zu bekommen?“, fragte Mama.

„Aber selbstverständlich“, meinte der alte Herr.

Wie es plötzlich alles möglich war. Aber ich musste zugeben, ohne Mr. Ri hätten wir die Auskunft nicht bekommen. Der Polizist reichte Mama einen Zettel, verbeugte sich und entschuldigte sich nochmals.

*-*-*

Ich war etwas müde und dies wurde auch sofort bemerkt. Trotz heftigem Gegenredens wurde einfach über meinen Kopf hinweg entschlossen, also sprich Mama und Jae-Joong beschlossen einfach für heute aufzuhören.

So saß ich nun im Garten meines Großvaters und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die in den Garten fielen. Ich hatte die Augen geschlossen und träumte vor mich hin, genauer ich dachte an Hyun-Woo.

Ich vermisste ihn schrecklich, aber wusste auch, dass er in seiner neuen Aufgabe völlig aufging und er dafür viel Zeit brauchte. Irgendetwas kribbelte an meinem Arm, so hob ich die andere Hand und rieb über die Stelle.

Als es wieder begann, öffnete ich die Augen, um zu sehen, ob irgendwelches Getier sich auf meinem Arm zu schaffen machte, schließlich saß ich ja in einem Garten. Doch nichts saß da, nur direkt vor mir war ein strahlendes Gesicht zu sehen. Hyun-Woo.

„Hallo Lucas“, hauchte er.

„Hyun-Woo… Schatz, gerade habe ich an dich gedacht“, sagte ich im Flüsterton.

„Deswegen dieses verzückte Lächeln in deinem Gesicht?“

„Eigentlich sollte ich traurig sein…“

Hyun-Woo schaute mich verwundert an, richtete sich auf und setzte sich neben mich.

„Wieso?“

„Da fragst du noch? Ich vermisse dich schrecklich…, es sind die ersten Tage, dass ich ohne dich bin!“

Wieder lächelte er.

„Ja, ich weiß, du brauchst nichts zu sagen. Dein neuer Job kostet dich viel Zeit…“

„Ja, tut es und mir macht es unheimlich Spaß! Aber ich wusste nicht, dass es dich so mitnimmt, du mich so vermisst.“

„Hör mal! Du bist mein Freund, den ich ganz toll lieb hab und du wunderst dich, dass du mir fehlst?“

Lächelnd schüttelte er den Kopf. Gerührt schaute er mich an.

„Nächste Woche wird es besser, dann ist das Grobe alles erledigt. Ich mach mir nur etwas Sorgen um So-Woi.“

„Warum, ist etwas passiert, oder mit Jack?“

„Nein, ich habe Angst, er übernimmt sich. Seit das mit Jack passiert ist, arbeitet er wie ein Wilder…, und in der wenigen freien Zeit, die er hat, sitzt er bei Jack im Krankenhaus. Er schläft nicht viel. Gestern ist er sogar an seinem Schreibtisch eingeschlafen.“

„Das wusste ich nicht…“

„Wie denn auch Lucas, du hast genug mit dir zu tun. Du musst wieder ganz gesund werden.“

„Bin ich, nur etwas müde.“

Der plötzliche leicht säuerliche Blick von Hyun-Woo brachte mich leicht aus der Fassung.

„Was?“, wollte ich wissen.

„Du bist genauso wie So-Woi, ihr beide könntet Brüder sein, jeder von euch hat einen Dickschädel!“

Oho, das war jemand wirklich sauer.

„Nicht nur, dass du einfach leichtsinnig mit deiner Gesundheit umgehst, obwohl du weißt, dass dich bestimmte Situationen aus der Bahn werfen…, nein, du legst es auch noch drauf an, direkt in Dinge hinein zusteuern, die dir nicht bekommen.“

So hatte ich Hyun-Woo noch nicht erlebt. Vor mir saß ein süßer, wütender Typ, der ganz genau wusste, was er wollte. So ganz anders, als vorher. War das der Umgang mit mir?

„Bist…, bist du jetzt sauer auf mich?“, fragte ich vorsichtig.

„Sauer auf dich? Wie kommst du da drauf. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich auf den Menschen, der mir so viel bedeutet, nicht besser aufpassen kann… Lucas, du bist mir sehr wichtig…, ich habe Angst, ich könnte dich verlieren, wenn irgendwann mal der Augenblick kommt, dass es dir wirklich zu viel wird.“

Mittlerweile hatte er Tränen in den Augen. Ich hob die Hand, legte sie sanft an seine Wange und wischte mit dem Daumen, die eine Träne weg, die über seine Wange kullerte. Ich senkte leicht den Kopf, ohne ihn aus den Augen zu verlieren.

„Was soll ich sagen…, oder versprechen? Es tut mir leid, Hyun-Woo, dass ich dir so viel Sorgen mache. Aber ich weiß nicht, warum ich immer in solche Dinge schlittere, die mein Limit überspringen. Ich kann da echt nichts für.“

„Das sage ich ja nicht, du musst dich nicht entschuldigen… ich möchte nur…, dass du bitte auf dich aufpasst, ich kann leider nicht immer bei dir sein, so wie ich will…!“

Ich atmete tief durch, denn ich wusste nicht, was ich darauf noch antworten sollte.

„Entschuldigt, wenn ich euch störe, aber ich muss Hyun-Woo Recht geben!“

Mama, sie war unbemerkt an den Tisch getreten. Hyun-Woo entzog sich meiner Hand.

„Es tut mir leid, ich wollte euch nicht belauschen, aber was Hyun-Woo gesagt hat, beeindruckte mich!“

Hyun-Woo nickte verschüchtert. Mama legte ihre Hand auf Hyun-Woos Schulter.

„Lukas, wir meinen es alle nur gut mit dir, okay?“

Auch ich nickte.

„Also bring Hyun-Woo nicht in Schwierigkeiten!“

„Ja“, sagte ich leise.

„Warum ich eigentlich gekommen bin…, dein Vater und ich müssen zwei Tage früher zurück sein, es hat sich leider so ergeben.“

„Aber…“, weiter kam ich irgendwie nicht, Mama unterbrach mich.

„Lukas, es geht nicht anders, aber ich verspreche dir, sobald es uns möglich ist, kommen wir wieder…, okay?“

„Ja.“

Ich war enttäuscht, hatte ich mich doch so gefreut die ganze Woche mit meinen Eltern zusammen zu sein. Gut, ich hatte dieses Jahr in korea selbst gewählt, aber war mir nicht bewusst, wie sehr mir die Familie fehlen würde, auch wenn ich hier Familienanschluss gefunden hatte.

Die eigenen Eltern und Schwester waren doch etwas anders, auch wenn ich Mia oft gestritten hatte. Mama wuschelte mir über den Kopf.

„Zieh dir etwas an, es wird langsam kühl“, meinte sie noch, bevor sie wieder im Haus verschwand.

„Soll ich dir etwas holen?“, fragte Hyun-Woo.

„Nein, lass uns nur noch ein bisschen hier zusammen sitzen…“

Er lächelte. Vom Haus her drangen Stimmen. Un-Sook und Tae-Young tauchten auf.

„Hallo Lucas“, hörte ich meine Cousine sagen, „du hast Besuch?“

„Ja, das ist Hyun-Woo mein Freund“, sagte ich, ohne darüber nachzudenken.

„Hallo Hyun-Woo“, meinte Tae-Young und streckte seine Hand aus.

Hyun-Woo erhob sich und grüßte ihn, anschließend auch Un-Sook. Danach setzten sich die beiden zu mir.

„Ich hol dir schnell eine Jacke“, meinte Hyun-Woo und verschwand im Haus.

„Also stimmt es…“, kam es von Tae-Young.

„Ähm was?“, wollte ich wissen.

„Dass du schwul bist. Als Mum und Dad sich darüber unterhalten haben, konnte ich das nicht glauben.“

Mir war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Erstarrt schaute ich zu Tae-Young. Siedend fiel mir ein, was ich eben gesagt hatte, ich war selbst schuld. Aber wie dachte Hyun-Woo darüber? Was hatte ich getan?

Man redet also über mich. Aber woher wussten das Onkel und Tante. Unmengen von Fragen prasselten auf mich hernieder.

„Lucas? … Lucas, ist alles in Ordnung?“, hörte ich Un-Sook aus der Ferne.

Zurückgerissen aus den Gedanken schaute ich zu ihr.

„Hä…, was?“

„Du bist ganz weiß um die Nase. Bruderherz ich hab dir gesagt, dass sollst du nicht tun!“

Ich schaute zwischen den beiden hin und her.

„Ich denke Lucas hätte uns das schon selbst erzählt und du hast ihn jetzt einfach überrumpelt, das ist nicht fair!“

„Ach was, ich werde meinen Cousin doch wohl fragen dürfen, ob er schwul ist, was ist denn dabei?“

Tae-Young schien wohl absolut keine Probleme damit zu haben. Aber viel mehr brannte mir nun eine andere Frage auf der Seele. Wer im Haus wusste noch davon? Entsetzt dachte ich an Großvater.

Für mich unbemerkt, war Hyun-Woo zurück gekommen.

„Die hat mir deine Mutter … Lucas…? Ist alles in Ordnung?“

„So sitzt er schon die ganze Zeit da“, meinte Un-Sook.

„Ist etwas passiert?“, fragte Hyun-Woo.

Er schien wohl nicht gemerkt zu haben, wie ich ihn vorhin vorstellte. Oder…, nein das konnte ich mir nicht vorstellen.

„Mein ach so toller Bruder hat ihm eine etwas intime Frage gestellt.“

„Intim?“

„Was denn? Ich wollte doch nur wissen, ob er schwul ist, was machst du jetzt so ein Ding draus“, fuhr Tae-Young seine Schwester an.

Hyun-Woo wurde etwas rot und hängte mir meine Jacke um, dann setzte er sich wieder neben mich.

„Du bist absolute ein Trampel, so etwas fragt man doch nicht so einfach.“

„Wie dann?“

„Ja, ich bin es…“, unterbrach ich den kleinen Streit zwischen den Geschwistern.

Ich hatte mich etwas gefangen, aber mir machte Hyun-Woo mehr Sorgen. Unter dem Tisch suchte ich seine Hand.

„Siehst du! Ich habe ja auch nur wegen Hong-Sik gefragt.“

Hong-Sik, was hatte der damit zu tun? Jetzt war ich völlig verwirrt. Ich fand Hyun-Woos Hand und zu meiner Überraschung griff er zuerst zu und drückte meine Hand.

„Wie kommst du jetzt auf den?“, fragte Un-Sook.

Tae-Young beugte sich etwas vor.

„Dich nervt doch auch sein Verhalten, dass er seit einiger Zeit an den Tag legt“, begann Tae-Young an zu flüstern.

Hyun-Woo und ich neigten uns auch etwas vor, um zu verstehen, was er da sagte.

„Aber was hat das jetzt mit Lucas zu tun?“, wollte Un-Sook wissen.

„Ich habe mich etwas umgehört. Du kennst doch Chan-Ki.“

„Ja, du meinst Hong-Siks besten Freund. Ich habe ihn eine Weile schon nicht mehr gesehen. Sonst war er fast jeden Tag hier.“

„Das hat auch seinen Grund. Von einem Mädchen in seiner Studiengruppe habe ich erfahren, dass sich die beiden unheimlich in die Wolle bekommen haben. Es muss wohl sogar in eine kleine Schlägerei ausgeartet sein.“

„WAS?“, entfuhr es Un-Sook laut.

Sie hielt sich kurz die Hand vor dem Mund und schaute sich um.

„Das sieht Hong-Sik gar nicht ähnlich, der ist doch bisher jeder Schwierigkeit aus dem Weg gegangen.“

„Das dachte ich auch, bis ich den Grund des Streits gehört habe…, sein bester Freund hat sich vor der ganzen Gruppe geoutet.“

„Wow!“, entfleuchte es mir und alle Blicke wanderte zu mir, doch Tae-Young erzählte weiter.

„Anscheinend glaubte Hong-Sik, das jeder der Meinung war, dass er mit Chang-Ki zusammen wäre und da ist er wohl ausgetickt. Dann hat es wohl einen handfesten Streit gegeben, mit anschließendem Handgemenge.“

„Ich bin schockiert“, gab meine Cousine von sich.

Ich konnte dazu nichts großartig sagen, da ich Hong-Sik so gut wie gar nicht kannte. Kurzes Schweigen kam in der Runde auf.

„Das erklärt aber nicht, warum du Lucas gefragt hast, ob er schwul ist“, nahm Un-Sook den Faden wieder auf.

„Naja…, ich dachte, vielleicht kann er mit Hong-Sik mal reden…“, gab Tae-Young zur Antwort.

„Und mir auch Prügel einfangen? Nein, mein Lieber, das werde ich schön bleiben lassen“, antwortete ich abwehrend.

„Du…, du bräuchtest ihm ja nicht gleich auf die Nase binden, dass du schwul bist… ich dachte nur, weil du dich damit besser auskennst, kannst du Hong-Siks Denken etwas gerade rücken.“

„Da bin ich mir zwar nicht ganz sicher, aber von deiner Sicht her gesehen, wenn es dadurch eventuell Hong-Siks Laune hebt, wäre es ein Versuch wert.“

„Das würdest du wirklich tun?“, fragte Un-Sook und rückte mir nach meiner Meinung, etwas zu dicht auf die Pelle.

Hyun-Woo hatte dies ebenfalls wahrgenommen, aber grinste nur die ganze Zeit. Sein Handy meldete sich und er erhob und entschuldigte sich, bevor er etwas weiter in den Garten lief und sich vom Tisch entfernte.

Ich rutschte etwas weg und nickte. Mein Blick folgte aber Hyun-Woo, der zwischen dem Lauch und den Tomaten stand und angeregt sich mit jemand unterhielt.

„Ich hole uns etwas zu trinken“, sagte Un-Sook und riss mich aus meinen Gedanken.

„Danke Schwesterherz“, kam es von Tae-Young, „vielleicht auch etwas leichtes zu Essen, mein Magen meldet sich.

„Obst?“, fragte Un-Sook.

„Gute Idee, für dich auch, Lucas?“

„Öhm…, ja danke.“

Waren die immer so freundlich zu einander, oder spielten mir die zwei jetzt etwas vor. Wenn ja, dann waren sie sehr überzeugend. Kaum war Un-Sook im Haus verschwunden, kam jemand anderes heraus.

Ein grimmig schauender Hong-Sik. Bisher hatte ich ihn noch nicht anders gesehen.

„Hallo Hong-Sik“, rief ich, bekam aber keiner Antwort.

„Hong-Sik, grüß gefälligst deinen Cousin!“, fuhr ihn Tae-Young an.

Er blieb stehen und schaute seinen Cousin böse an.

„Ich grüße wen ich will!“

Dann wandte er sich zu mir.

„Was willst du schon wieder hier?“

„HONG-SIK!“, rief Tae-Young mahnend.

„WAS? Seit dieser Arsch hier ist, gibt es doch nur Ärger. Er ist genauso ein Troublemaker wie seine Mutter! Die bringen nichts als Ärger! Sie sollen…!“

Weiter kam er nicht mehr, denn plötzlich für mich unerwartet erschien eine Hand von hinten und schleuderte ihn herum. Es war mein Vater, der da stand und ihn jetzt am Kragen packte. Woher er so plötzlich auftauchte, wusste ich nicht.

Auch der Rest der Familie tauchte plötzlich auf, aber bis auf meinen Vater sagte niemand etwas.

„Bürschchen, rede nie wieder so von meinem Sohn und schon gar nicht von meiner Frau. Ich habe ja schon gehört, dass du deiner Mutter nur Schwierigkeiten machst, also wer ist hier der Troublemaker? Hm? Jeder Hund in der Nachbarschaft hat mehr Anstand als du!“

„Jürgen… bitte…“, kam es von Hong-Suk Mutter, die mit Tränen in den Augen neben meiner Mutter stand.

„Lass ihn, er hat doch Recht!“, meinte Grandpa sauer und meine Tante schwieg.

Ich wunderte mich, dass Grandpa Partei für Papa ergriff, wo er ihn doch angeblich nie leiden hat können.

„Ich kannte deinen Vater Hong-Ji…, er war ein ehrsamer fleißiger Mann. Ich kann mir nur annähernd vorstellen, wie schwer es für deine Mutter sein musste, dich alleine großzuziehen. Sie steht von morgen bis abends da und arbeitet sich die Finger wund, damit du eine gescheite Ausbildung bekommst… und sie ist wie meine Frau, sie beschwert sich nie, wenn etwas zu viel ist.“

Hong-Sik schlug die Hand meines Vaters weg.

„DU HAST MIR GAR NICHTS ZU SAGEN!“, schrie er Papa an.

Eigentlich dachte ich, Papa würde jetzt die Hand ausrutschen, aber Grandpa war schneller. Laut klatschte es und Hong-Siks Gesicht flog zur Seite.

„AUF DIE KNIE“, schrie Grandpa, „und entschuldige dich sofort!“

Doch Hong-Sik reagierte nicht auf ihn.

„KEINER VON EUCH VERSTEHT MICH… ICH… ICH HASSE EUCH ALLE!“, schrie er und rannte ins Haus.

Grandpa griff sich ans Herz und begann zu schwanken.

„Vater“, rief Tante Min-Sun besorgt und rannte auf ihn zu, doch Papa war schneller und stütze ihn.

„Alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich Hyun-Woos flüsternde Stimme hinter mir.

Ich drehte meinen Kopf und nickte.

„…, aber ich bräuchte deine Hilfe.“

„Bei was…, was hast du vor?“

„Familienangelegenheiten… könnte man es nennen, jemand muss sich um Hong-Sik kümmern!“

„Bist du verrückt? Der schlägt dich zu Brei!“

Das hatte er etwas zu laut gesagt, denn es flogen ein paar Köpfe herum und schauten zu uns.

„Nicht, wenn ich mir Verstärkung mitnehme!“

„Verstärkung?“

„Dich, Tae-Young und Un-Sook werden ja wohl reichen.“

„Bist du dir sicher? Du weißt ja nicht mal wo er ist.“

„Das werden wir schon heraus finden.“

*-*-*

Die beiden waren schnell davon überzeugt, mir zu helfen. Hong-Siks Rucksack und seine Jacke lagen im Flur auf dem Boden. In seinem Zimmer fanden wir ihn nicht.

„Wo könnte er noch sein, hat er vielleicht einen Lieblingsplatz?“, fragte ich.

Tae-Young und Un-Sook überlegten angestrengt und mein Cousin schüttelte den Kopf.

„Doch Bruder, oben am Aussichtspunkt, auf der kleinen Anhöhe…“

„Da wo man so viele Treppenstufen steigen muss?“, fragte ich, denn diesen Platz kannte ich

schon von Jae-Joong, der mich am ersten Abend nach meiner Ankunft, dort hinaufführte.

„Ja.“

„Den kenne ich…, aber ich weiß nicht, ob ich so weit laufen kann mit meinem Bein.“

„Ich könnte euch bis zur Treppe fahren“, meldete sich Hyun-Woo zu Wort, „bist du dir aber sicher, dass dir das nicht zu viel wird?“

„Wieso, ich habe doch euch dabei“, lächelte ich ihn an.

„Sollen wir den Erwachsenen nicht Bescheid geben?“, fragte Un-Sook.

„Ich denke, die haben gerade genug mit sich selbst zu tun“, antwortete ich und lief Richtung Ausgang.

*-*-*

Schwer atmend sah ich die Anhöhe. Es war doch anstrengender, als ich es mir vorgestellt hatte. Noch konnte ich Hong-Sik nicht sehen, aber wir waren auch noch nicht ganz oben. Dort endlich angekommen, entwich Un-Sook ein leichter Schrei.

Sie zeigte auf ihren Cousin Hong-Sik, der auf der anderen Seite des Geländers stand und wohl springen wollte.

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2 Kommentare

  1. Hey Pit,

    eine klasse Folge, spannend und viele Wendungen…
    Habe mich auch über die Fortsetzung sehr gefreut.
    Gute Genesung!
    VG Claus

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  2. Hallo Pit,

    freu mich riesig, wieder was von dir zu lesen und dann noch so eine tolle Fortsetzung, echt großartig. Hoffe, dass du bald die nächste Folge präsentierst, würde mich wirklich freuen.
    Hoffe, dass es mit deiner Gesundheit weiter bergauf geht, ich wünsche es dir jedenfalls von ganzem Herzen.

    VlG Andi

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