21. Türchen – No one else II

„Davide, sei doch vernünftig, draußen ist es bereits dunkel, das ist viel zu gefährlich!“

„Ich muss deiner Schwester Recht geben“, sagte Placido.

„Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, ob ihr das versteht! Emilio ist mein Bruder und ich hänge sehr an ihm. Ich will mich nicht damit abfinden, dass er angeblich ein homophobes Arschloch ist!“

„Davide nicht…“, kam es von Letizia.

„Ich glaube nicht, dass er die letzten Wochen uns etwas vorgespielt hat, das war der wahre Emilio, den Bruder, den ich über alles liebe…!“

Die ersten Tränen rannen über meine Wangen. Placido nahm ich in den Arm und drückte mich fest an sich.

„… der Emilio jetzt…, ist nicht der den wir kennen…“, schluchzte ich.

„Wir fahren alle vier!“, sagte plötzlich Letizia.

„Bist du dir da ganz sicher?“, wollte Dana wissen.

„Alleine fährt unser Junior nirgends hin! Und zehn Augen sehen auch viel mehr!“

Für Letizia war klar, das auch Jakob mitkommen würde. Ich drückte mich etwas von Placido weg.

„Ihr braucht das nicht zu machen…“

Placido ließ mich los und nahm mein Gesicht in seine Hände.

„Du hast wohl vergessen, dass ich dir versprochen habe, dass ich dich immer beschützen werde, wir machen das gemeinsam, oder gar nicht!“

Placido hatte ein Machtwort gesprochen, aber es mit viel Liebe zu mir verpackt.

„Da gibt es aber noch ein kleines Problem!“, warf Letizia vorbei.

„Was?“, wollte ich wissen.

„Wie kommen wir unbemerkt an den Carabinieri vorbei? Unsere Wagen stehen alle im Hof, was heißt, dass die Herren da unten sofort mitbekommen würden, wenn wir das Haus verlassen würden! Oder willst du mit Geleitschutz zu deinem Bruder fahren?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wir könnten den Nebeneingang der Zeichenschule nutzen, der liegt auf der anderen Seite der Grundstücks!“, meinte Jakob, der bisher still am Tisch gesessen hatte.

„Du bist ein Schatz“, meinte Placido und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

Jakob breite Zahnreihen kam zum Vorschein, als er grinste.

*-*-*

„Die hätten ruhig etwas aufräumen können!“, beschwerte sich Dana, als zum wiederholten Male, über einen kleineren Schutthaufen steigen musste.

„Dana, das ist ein Baustelle, da räumt man nicht jedes Mal auf, sondern macht dass immer auf einmal“, meinte ich.

Es wäre sonst kein Problem gewesen, wenn alles hell erleuchtet gewesen wäre, aber dann hätten wir uns ja verraten. So waren wir auf das spärliche Licht angewiesen, das die Straßenleuchten durch die Fenster abgaben.

Jakob reichte ihr seine Hand und half ihr, das Gleichgewicht zu wahren. Placido suchte irgendetwas in seinen Taschen.

„Schatz, was suchst du?“

„Den Schlüssel, irgendwo habe ich den Schlüssel von der Nebentür hingesteckt.“

„Sag bloß nicht, wir stehen jetzt gleich vor einer verschlossenen Tür!“, kam es von Letizia, die das letzte Hindernis erklommen hatte.

„Da ist er, ich wusste doch, dass ich ihn eingesteckt hatte!“, sagte Placido und hielt den Schlüssel wie eine Trophäe in die Luft.

Plötzlich schepperte es laut hinter uns. Natürlich fuhren wir zusammen und Dana entwich hinter vorgehaltener Hand ein leiser Schrei.

„Scheiße!“, hörten wir Jakob rufen.

Placido lief sofort an eines der Fenster zum Hof. Ich dagegen, bewegte mich vorsichtig zu Jakob.

„Was ist passiert?“, fragte ich ihn.

„Ach, ich habe diese Bleche übersehen, die standen da auch so doof aufgereiht.“

„Komm, ich helf dir auf!“

„Aaaaah…, mein Knöchel!“

„Leute, wir bekommen ein Problem…, die da draußen haben das auch gehört und kommen hier her gelaufen.“

„Und was machen wir jetzt? Jakob kann nicht gut laufen“, meinte ich.

„Ich bleib mit Jakob hier, bring ihn zurück und ihr drei geht alleine!“, meinte Dana und ging zu Jakob.

„Entschuldige Dana…“, kam es von Jakob, der sich immer noch bei mir abstütze.

„Kein Problem, Jakob. Vielleicht ist es besser so, wenn jemand im Haus bleibt, zu dem hab ich eh jetzt schon mehr Angst, als mir gut tut.“

Jakob wechselte zu Dana.

„Schafft ihr das rechtzeitig?“, fragte Letizia.

„Wird schon irgendwie gehen“, meinte Jakob.

Placido kam vom Fenster gelaufen.

„Wir müssen uns sputen, die sind gleich hier!“

So machten Jakob und Dana kehrt, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren und wir liefen zu der kleinen Nebentür.

„Passt auf euch auf!“, hörten wir Danas Stimme aus dem Dunkeln.

Placido zog gerade noch rechtzeitig die Tür auf, als schon die ersten Strahlen von Taschenlampen den Raum ausleuchteten. Schnell waren wir draußen und Placido verschloss die Tür wieder.

Letizia und ich lehnten an der Wand und atmeten schwer, als hätten wir einen Marathonlauf hinter uns.

„Man, das ist ja heftiger, als den Abgabetermin einer Seite der Zeitung einzuhalten“, meinte Letizia und drückte ihre Hand gegen die Brust.

„Wo bleibt nur das Taxi?“, fragte Placido und schaute sich um.

„Du hast es doch hoffentlich in diese Straße bestellt?“, fragte ich.

Placido drehte seinen Kopf und sah mich vorwurfsvoll an.

„Die Frage ist jetzt nicht dein Ernst?“

Ich konnte nicht anders und begann zu kichern, Letizia ebenso. Ein Wagen bog in die Straße und blendete mich.

„Da kommt es“, meinte Placido und wir drängten uns durch die parkenden Autos auf die Straße.

*-*-*

„Das sieht aber düster aus!“, meinte Letizia.

Wir standen vor dem Grundstück, wo sich die alte Mühle befand. Früher waren hier regelmäßig Zeltlager für Jugendliche von Florenz abgehalten worden, aber wegen Desinteresse, war vor ein paar Jahren alles eingestellt worden.

Seit dem lag das Grundstück unbenutzt brach. Neben mir flammte eine Taschenlampe auf und ich erschrak.

„Du hast eine Taschenlampe mitgenommen?“, fragte ich Placido.

„Denkst du ich will mir meine Haxen brechen? Klar habe ich eine Taschenlampe mitgenommen!“

Letizia kicherte.

„Ob Emilio uns sieht?“, fragte ich.

„Glaube ich nicht, du siehst ja auch nicht mal das Haus von der Straße, so kann er, falls er im Haus ist, uns sicher auch nicht sehen“, sagte Placido und lief los.

Das war die große Frage. Versteckte sich Emilio wirklich hier? Ich war mir felsenfest sicher, während Dana das angezweifelt hatte. Aber wie immer setzte ich meinen Dickkopf durch und deswegen waren wir jetzt auch hier.

Mit gespitzten Ohren liefen wir Placido hinter her und versuchten im Dunkeln vor uns etwas zu erkennen und auch zu hören. Der Lichtkegel der Taschenlampe war nicht groß, so konnte man anhand der schwachen Umrisse nur erahnen, wo ein Baum stand, oder ein Busch.

Langsam lichteten sich die Büsche und Bäumen und gegen den Himmel zeichnete sich die Silhouette der Mühle ab. Die Holzgerippe der Flügel waren deutlich zu erkennen und vereinzelt  hingen da noch Stofffetzen herunter.

Kalt lief es mir den Rücken herunter, denn das hier hatte schon etwas Gruseliges an sich. Früher waren die Windmühlen zur Salzgewinnung verwendet worden. Mit Hilfe der Windkraft pumpte man das Wasser auf die Felder, dann konnte, dank der Hitze, das Wasser verdunsten und das Salz abgeschöpft werden.

Das Haus selbst, das unterhalb der Mühle erbaut worden war, ragte als viereckiger Klotz zum Himmel. Es war völlig dunkel, keine spärliche Beleuchtung oder Ähnliches war zu entdecken.

„Bist du dir wirklich sicher, dass Emilio hier ist?“, fragte Letizia leise.

Sie hatte sich bei mir angelehnt und ich spürte, wie sie leicht zitterte.

„Ja!“, log ich, denn langsam kamen auch mir Zweifel auf.

Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte von der Mühle hinunter zum Haus. Kurz sah ich neben dem Wohntrakt etwas aufblitzen.

„Halt Placido! Zurück!“

„Was?“

„Geh langsam zurück, auf der rechten Seite, neben dem Haus…“

Das Licht wanderte zurück und etwas Rotes spiegelte sich im Schein der Lampe. Alle drei liefen wir näher und durch die stärkere werdende Lichtfülle erkannten wir eine Abdeckung. Dort angekommen, hob ich die grüne Plane hoch. Das Heck eines Autos kam zum Vorschein.

„Emilios Auto!“, kam es von Letizia.

„Du hattest Recht, er ist wirklich hier“, meinte Placido, während ich die Plane wieder fallen ließ.

„Ob er uns bemerkt hat?“

Dieses Mal hatte Letizia gefragt und schaute wie ich, unsicher zum Eingang des Hauses.

„Das werden wir gleich wissen!“, meinte Placido und bewegte sich zielsicher zur alten Holztür.

Das Kettenschloss, das die Doppeltür einst zierte, hing aufgebrochen herunter. Langsam hob Placido die Hand und drückte den alten rostigen Knauf nach unten. Die Tür war nicht verschlossen und knarrte und quietschte leicht, als sie Placido aufschob.

Staub flutete die Luft, im Schein der Taschenlampe und muffige Luft schlug uns entgegen. Letizia neben mir, hustete leicht. Vorwurfsvoll schaute ich in ihre Richtung, besann mich aber Besseres, waren wir bisher, nicht gerade leise gewesen.

„Emilio!?“, rief Placido plötzlich laut.

Wieder war ich zusammengefahren und deutlich hörte ich mein Herz bis zum Kopf hinauf schlagen. Nichts kam, absolute Stille.

„Wir wissen, dass du hier bist!“, kam es nun ebenso laut wie eben von Placido.

„Bleibt stehen! Ich bin bewaffnet“, hörten wir es plötzlich vor uns.

Letizia neben mir zuckte genauso wie ich zusammen. Noch so ein paar Dinger und ich hatte die Hose gestrichen voll. Placido hob die Taschenlampe Richtung der Stimme, die wir gerade gehört hatten, aber nichts war zu erkennen.

„Emilio, ich bin es Davide!“, rief ich ebenso laut.

„Warum hast du Placido zu mir geführt, gehörst du auch dieser Drecksbande an?“

Ich verstand erst nicht, was er meinte. Da ging mir ein Licht auf.

„Emilio, bitte…, das ist alles nur ein Missverständnis. Den Mann den du gesehen hast, ist Ethan nicht Placido, die sehen sich zum Verwechseln ähnlich.“

„Das sagst du doch nur, um mich herauszulocken.“

„Emilio, Davide sagt die Wahrheit!“, rief neben mir Letizia.

„Letizia, bist du das?“

„Ja Emilio, hier ist Letizia.“

„Gott sei Dank, dir geht es gut!“

„Warum soll es mir nicht gut gehen?“

„Die haben mir gedroht, dir etwas anzutun, wenn ich nicht ihren Befehlen folge!“

Rechts von uns erschreckte uns ein Geräusch und eine weitere Taschenlampe flammte auf.

„Emilio…“, sagte Letizia neben mir, als Emilios Gestalt in Sichtweite kam und rannte auf ihn zu.

Beide fielen sich um den Hals. Placido und ich näherten uns vorsichtig.

„… ich hab dich so vermisst…“, hörte ich Emilio schluchzen.

Noch nie hatte ich meinen Bruder weinen gehört, auch nicht, als wir noch Kinder waren. Das rührte mich doch sehr und erste Tränen rannen über meine Wangen.

„Es wird alles gut…“, hörte ich Letizia leise sagen.

Ich schaute mich um, konnte aber immer noch nichts erkennen, obwohl sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten.

„Lass uns gehen, bevor die Zuhause etwas merken“, sagte Placido neben mir.

Emilios Kopf fuhr hoch.

„Die?“

Er drückte Letizia von sich.

„Ja, die Carabinieri, die vor unserem Haus Wache stehen.“

„Warum das?“, wollte er wissen.

„Können wir das im Auto besprechen…, mir wird langsam kalt und dieser Ort ist mir nicht geheuer“, sagte Letizia.

„Ich kann nicht mit gehen!“, meinte Emilio.

„Wieso denn, Emilio, du bist doch bei uns sicher!“, wiedersprach ich ihm.

„Ich bin nirgendwo sicher!“

„Wenn du mit uns kommst, stehst du ab sofort unter Polizeischutz wie wir!“

„Da bin ich mir nicht sicher! Plac… dieser Ethan, oder wie er heißt hat überall seine Finger drin.“

Er war immer noch verunsichert. Aber ich verstand es, war er doch die ganze Zeit im Glauben, alles ging von Placido aus. Placido ein Mafiagangster. Ich konnte nicht anders und grinste.

„Warum grinst du so blöde?“, fuhr mich Emilio an.

„Ich habe mir Placido gerade als Mafiagangster vorgestellt!“

Selbst Placido grinste über meine Bemerkung.

„Egal, du kommst jetzt mit uns, ohne Widerrede. Ich will meinen Bruder bei mir haben!“

„Warum ist dir das jetzt auf einmal so wichtig? Bisher hast du auch kein großes Interesse gezeigt!“, schnauze mich Emilio an.

„Du vergisst wohl, was ihr das halbe Jahr vor Weihnachten abgezogen habt, das tat ganz schön weh und entschuldige, dass auch ich etwas gebraucht habe, mich an den Normalzustand wieder zu gewöhnen!“

Der Normalzustand beinhaltete vor meinem Outing, mehrere Essen in der Woche mit der Familie und mindestens ein Abend in der Woche, wo wir Geschwister zusammen loszogen und etwas gemeinsam unternahmen.

„Jungs, könnt ihr das bitte auf später verschieben, lasst uns jetzt alle einfach gehen, du auch Emilio! Du bleibst mir nicht alleine hier!“

Darauf sagte Emilio nichts.

„Fährt dein Auto noch?“, fragte Placido.

„Wieso?“, wollte Emilio wissen?“

„Weil wir uns von einem Taxi hierher fahren lassen haben und nun keinen fahrbaren Untersatz mehr haben!“, erklärte ich.

Wir liefen langsam Richtung Haustür und ich bemerkte, dass Emilio leicht humpelte.

„Und warum habt ihr keinen eigenen Wagen genommen?“

„Weil der Hof von Placidos Haus vielleicht voll Carabinieri steht!“, sagte Letizia vorwurfsvoll, „oder hätten wir die vielleicht mit hierher bringen sollen?“

„Entschuldige…“

Wie schon vorher, war ich fasziniert, wie Handzahm Emilio bei Letizia geworden war.

„Das ist aber schön! Alles schön vereint!“

Die Stimme kam direkt von der Tür.

 

 

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