Ich fiel auf die Knie.
„Hyun-Wooooo… neeein!“, schrie ich.
Jack und Juen rannten zum Wagen, während So-Woi mich festhielt.
*-*-*
Mit einer Decke umwickelt, saß ich in einem Polizeiwagen. Juen stand vor der Tür. Ich hatte die Augen geschlossen und konnte nicht fassen, was da eben passiert war. Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass Hyun-Woo gleich wieder auftauchte.
Er war nicht tot, nicht mein Hyun-Woo, mein Schatz, mein ein und alles. Nein das konnte und durfte nicht sein.
Verzweifelt schüttelte ich den Kopf, mein ganzer Körper schüttelte sich. Nein! Nein! Nein! Das ist alles nicht wahr! Hyun-Woo lebt! Ganz sicher! Ich suche ihn einfach selber. Er war nicht in diesem Wagen.
Aber wo war er, wo war mein Hyun-Woo? Verzweifelt hob ich den Kopf und sah auf die Feuerwehrleute, die den Wagenbrand löschten. Die Tür neben mir öffnete sich. Ich schaute hin.
„Lucas…, deine… deine Eltern sind hier!“, sagte Juen leise.
Meine Eltern? Scheiße, die hatte ich völlig vergessen. Wieder fing ich an zu weinen und sah meinen Vater nur noch verschwommen, wie er vor mir auf die Knie ging.
„Mein Gott Lukas!“, hörte ich ihn sagen und spürte plötzlich seine Hände an mir.
Das veranlasste mich nur noch mehr zu schluchzen. Er nahm mich in seine Arme, was mein Drang zu weinen nur noch verstärkte.
„Komm… hier kannst du nicht bleiben.“
„… nein Papa!“, schrie ich, „…ich will… hier nicht weg… mein Hyun-Woo…“
Mehr brachte ich nicht heraus, eine weitere Weinattacke ergriff mich.
*-*-*
Juen
Lucas so zu sehen, tat so unheimlich weh. Ich musste mich beherrschen, nicht selbst mit zu weinen. Ich würde ihm so gerne helfen, wusste aber nicht wie. Zu meiner Überraschung war Jae-Joongs Mutter anwesend und hatte Mrs. Dremmler im Arm.
Jae-Joong stand hinter den beiden und sah ebenso traurig aus. Er hatte sich bereit erklärt, die Dremmlers von Flughafen abzuholen, nachdem das hier passiert war. Nun hatte er ein Mädchen im Arm, welches mir nicht bekannt war.
Konnte das Lucas Schwester sein, wie hieß sie doch gleich…, Mia glaube ich. Sie sah ihm sehr ähnlich.
„Wir haben eine Leiche gefunden?“, hörte ich es leise hinter mir.
Geschockt fuhr ich herum und sah wie jemand bei Onkel Min-Chul stand. Genau in diesem Augenblick schaute er zu uns herüber. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich hinüber gehen, oder hier bei Lucas bleiben, denn ich hatte stricke Order bekommen, Lucas auf keine Fälle allein zu lassen.
Aber seine Familie und Jae-Joong waren bei Ihm und jede Menge Kollegen standen dicht beim Wagen. Lucas würde sicher nichts passieren. So lief ich von der Neugier getrieben zu Min-Chul. So-Woi und Jack konnte ich nirgends ausmachen.
Plötzlich wurde es bei dem Wagen, der immer noch vereinzelt brannte laut. Leute riefen durcheinander, aber ich konnte niemand verstehen. Als ich meinen Partner Min-Chul erreicht hatte, kam gerade ein Feuerwehrmann gerannt.
„Wir haben noch jemanden gefunden, am Hang unten und er lebt!“
Min-Chul bemerkte mich und schaute mich kurz an. Ohne etwas zu sagen, rannten wir beide an dem fast gelöschten Wagen vorbei und stoppten abrupt, als wir den Rand zum Hang erreichten.
Unter uns waren viele Taschenlampen zu sehen, aber nichts richtig zu erkennen. Es war einfach zu dunkel. Ein Motorengeräusch ließ mich zusammenfahren und ich drehte mich um. Ein Wagen kam genau auf uns zugefahren und ich zog meinen Partner zur Seite.
Unmittelbar neben uns kam der Feuerwehrwagen zum Stehen. Helle Scheinwerfer auf dem Dach wurden eingeschaltet und ich kniff meine Augen zusammen. Ein Feuerwehrmann kletterte aufs Dach und veränderte den Winkel der Scheinwerfer.
Ich schaute wieder den Hang hinunter und konnte nun Jack und So-Woi zwischen den Feuerwehrmännern und Polizisten erkennen.
Während Jack stand, kniete So-Woi am Boden. War er ausversehen den Hang hinunter gekullert? Mich hielt nichts mehr und setzte mich in Bewegung.
„Juen!“, rief Min-Chul hinter mir her.
Das war mir jetzt aber egal, ich wollte wissen, was da unten passiert war. Der Hang war rutschig, vom Regen durchnässt. Ich hatte viel Mühe nicht selbst auszurutschen. Als ich dann endlich näher kam, entdeckte ich, dass da noch eine weitere Person auf dem Boden lag, die ich vorher von oben, nicht gesehen hatte.
*-*-*
Lucas
Als mich Papa zum Wagen führen wollte, wurde es plötzlich laut hinter uns. Viele Leute schrien durcheinander und es entstand Hektik. Ich wollte einfach nicht gehen und wehrte mich.
„Lucas, sei doch vernünftig“, hörte ich Papa sagen, aber ich konnte hier nicht so einfach weg.
Ich schaute zurück und sah wie hinter dem noch brennenden Wagen ein Feuerwehrwagen abgestellt wurde und dessen Scheinwerfer angingen.
Komisch war nur, dass sie nicht den Wagen anleuchteten, sondern die andere Seite. Da war doch nichts. Und noch etwas konnte ich entdecken. Da standen Onkel Min-Chul und Juen, die schauten ebenfalls in die Richtung, in die, die Scheinwerfer ausgerichtet waren.
Ein Krankenwagen kam direkt neben uns zum Halten.
„Nehmt nur das nötigste mit, der Mann liegt unten am Hang, Halskrause nicht vergessen, wir wissen nicht wie schlimm die Kopfverletzung ist!“, rief der eine Sanitäter, der auf unserer Seite aus dem Wagen stieg.
Ich schaute Papa an. Redete der von Hyun-Woo. Mit letzter Kraft befreite ich mich aus seinen Armen und rannte den Sanitätern hinter her.
„Lucas, bleib hier!“, hörte ich meinen Vater schreien.
Aber ich wollte nicht hören. Die Decke nervte und so ließ ich sie einfach fallen. Onkel Min-Chul kam in Sicht, von Juen war nichts zu sehen.
„Onkel Min-Chul…“, rief ich laut.
Der drehte sich ruckartig um und griff gerade noch rechtzeitig nach mir, denn vor mir ging es steil den Hang hinunter.
„Lucas, was soll das?“, hörte ich meinen Vater hinter mir.
Er hatte mich anscheinend eingeholt.
„Hallo Min-Chul…!“
Man umarmte sich kurz. Ich schaute den Hang hinunter und sah plötzlich Jack und So-Woi. Um sie herum jede Menge Feuerwehrleute und Polizisten. Auch Juen war bei ihnen.
„Sie haben noch jemanden gefunden“, hörte ich hinter mir Onkel Min-Chul sagen.
Er ließ mich los und der Arm meines Vaters löste seinen ab.
„Ist das Hyun-Woo?“, fragte ich mit dünner Stimme.
„Wir wissen es noch nicht!“, antwortete mein Onkel.
„Ich muss da runter!“
„Gar nichts musst du“, rief Papa sauer, „es fehlt noch, dass du auch da runter stürzt!“
Ich war am Limit und konnte mich nicht mehr wehren. Mir fiel schon schwer halbwegs stehen zu bleiben, meine Beine waren total weich.
Juen löste sich von der Menge und versuchte wieder den Hang hoch zu kommen. Durch den Regen war wohl alles glitschig. Aber nicht das erregte meine Aufmerksamkeit, sondern dass Juen strahlte.
Schwer atmend kam er dann bei uns an. Anfangs konnte ich ihn gar nicht verstehen.
„…er lebt… hust… Lucas er lebt!“
Mit großen Augen schaute ich ihn an. Er stütze sich an mir ab und rann nach Luft.
„Dein Hyun-Woo lebt!“, sagte er dann deutlich.
Jetzt hielt mich nichts mehr, ich wollte da runter. Aber ich hatte keine Chance, mein Vater hielt mich eisern fest.
„Was ist passiert?“, hörte ich Jae-Joongs Stimme.
„… sie haben Hyun-Woo gefunden!“, antwortete Juen, „er lebt…, er hat sich nur etwas den Kopf angestoßen!“
*-*-*
Dick eingehüllt in einer Decke saß ich nun bei Großmutter. Wir waren alle so durchnässt, das Onkel Min-Chul und Papa entschieden hatten, allesamt zu den Großeltern zu fahren. So-Woi und Jack waren mit ins Krankenhaus gefahren, um Hyun-Woo beizustehen. Jae-Joong und Mama fuhren ins Hotel und zu uns nach Hause, um trockene Kleidung zu besorgen.
„Mein Junge, hört die Aufregung um dich denn nie auf?“, sagte Großmutter.
„Es tut mir so leid…“, weiter kam ich nicht, wieder fing ich an zu weinen.
„Steckt den Jungen oben ins Bett, er braucht Ruhe!“, hörte ich Großvaters strenge Stimme.
„Was ist denn jetzt genau passiert?“, sprach er deutlich leiser.
„Hyun-Woo hat ausgesagt, dass er den Wagen holen wollte und dazu das Fahrzeug umrunden musste. Dabei wäre er über etwas gestolpert und den Hang hinunter gerollt. Dabei muss wohl der Wagen in die Luft geflogen sein“, erklärte Onkel Min-Chul.
In dem Arm meiner Großmutter beruhigte ich mich langsam wieder.
„Und… und die Leiche?“, fragte Papa.
Onkel Min-Chul atmete tief durch.
„Wir vermuten, dass es der Bombenleger war… über dessen Beine Hyun-Woo gestolpert war… Glück im Unglück… wahrscheinlich hat dieser vor Schreck die Bombe selbst ausgelöst.“
Keiner sagte mehr etwas.
*-*-*
Am Morgen war ich erst einmal ein wenig desorientiert. Ich lag nicht wie gewohnt in meinem Bett und fand anstelle von Hyun-Woo, Juen neben mir. Plötzlich fiel mir alles wieder ein und wollte so schnell wie möglich zu Hyun-Woo.
Doch schon beim Aufstehen wurde es mir leicht schwindlig.
„Du sollst langsam machen!“, hörte ich es hinter mir.
Ich drehte den Kopf und sah in die verschlafenen Augen von Juen. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen. Wie zu Hause hatte er auch hier nur eine Shorts an. Sein Vertrauen zu mir musste wirklich groß sein. Unweigerlich musste ich grinsen.
„So gefällst du mir schon besser“, sagte er und streckte sich, „wo willst du hin?“
Mein Lächeln verschwand.
„Blöde Frage, zu Hyun-Woo natürlich!“
„Nicht möglich!“
„Juen, das ist mir egal, wenn meine Eltern oder jemand anderes gesagt hat…, ich bleibe nicht hier.“
Yuen sah mich lange an.
„Du hast gestern wirklich nicht mehr viel mit gebekommen, oder?“
„Was meinst du?“
„Wenn du fit wärst, dann wüsstest du, dass Hyun-Woo gar nicht mehr im Krankenhaus ist, sonst sich mit Jack auf dem Weg zu seiner Mutter befindet!“
„Was?“
„Du hast mich schon richtig verstanden! Es läuft alles so, wie du geplant hast. An Heilig Abend ist jeder bei seiner Familie.“
Klar hörte ich Juens traurigen Unterton, darauf wollte ich aber nicht eingehen. Mir liefen Tränen die Wangen hinunter.
„Ich möchte zu Hyun-Woo…“, wimmerte ich und setzte mich wieder aufs Bett.
Juen kam von hinten und nahm mich in den Arm.
„Wenn alles normal gelaufen wäre, Lucas, dann wäre er doch jetzt auch zu Hause bei seiner Mutter und du im Hotel.“
„Ja, aber…“
„Nichts aber. Dein Opa hat beschlossen, dass alles so abläuft, wie du dir es gewünscht hast. Aber ich kann dir etwas verraten. Jack holt deinen Schatz heute Abend wieder ab und dann siehst du ihn wieder. Du ziehst dich jetzt an, denn ich denke deine Großmutter wartet mit dem Frühstück auf uns.
*-*-*
Ich saß neben Onkel Sung-Ja im Wagen, der mich ins Hotel bringen sollte. Juen war nicht mitgefahren. Er war zusammen mit Onkel Min-Chul bei den Großeltern geblieben, weil die beiden noch etwas zu bereden hatten.
Als wir am Hotel vorfuhren, konnte ich Mia entdecken, die vor dem Eingang zum Hotel wartete. Sie sah lustig aus, mit ihrer rosa Zipfelmütze, die sie trug. Natürlich ließ es sich Onkel Sung-Ja nicht nehmen, sie noch kurz zu begrüßen, bevor er wieder nach Hause fuhr.
„Geht es dir gut?“, wollte Mia wissen.
„Es geht…“, antwortete ich.
Mia tat etwas, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Sie nahm meine Hand und lief mit mir gemeinsam ins Hotel.
„Komm Papa und Mama warten schon auf dich“, sagte sie, bevor wir den Aufzug besteigne wollten.
„Mia, hättest du etwas dagegen, wenn wir die Treppe benutzen?“
„Regierst du immer noch so empfindlich auf den Aufzug.“
Ich nickte.
„Okay“, meinte sie, ließ aber meine Hand nicht los.
So liefen wir Hand in Hand, wie ein Pärchen nach oben. Sie hätte vielleicht sagen sollen, dass ihr Zimmer sich im vierten Stock befand, denn dann hätte ich mich vielleicht breitschlagen lassen, den Aufzug doch zu benutzen.
Nun stand ich aber an der oberen Schwelle und hechelte nach Luft.
„Du bist wirklich nicht in Ordnung, früher hätte dir so eine Treppe nichts ausgemacht.“
Sie redete, als wäre ich schon ein uralter Mann. Aber sie grinste dabei, so gab ich keine Wiederworte. Wir liefen den Flur hinunter, bis Mia nun meine Hand losließ und vor einer der Türen stehen blieb.
Sie klopfte und etwas später wurde die Tür aufgezogen und Papa kam in mein Blickfeld.
„Hallo Lukas“, meinte er, während sich Mia an ihm vorbei drückte.
Papa zog mich herein und schloss hinter mir die Tür. Ich konnte nicht anderes und fiel ihm direkt in die Arme. Ich wollte gar nicht mehr loslassen. Das gestern hatte mir zu sehr zugesetzt.
„Hast du etwas schlafen können?“, hörte ich ihn fragen.
Ich löste mich etwas von ihm und nickte.
„Zieh erst mal deine Jacke aus und komm rein, deine Mutter wartet schon auf dich.“
Ich machte, wie befohlen und ließ wie gewohnt auch meine Schuhe am Eingang zurück. Danach folgte ich Papa durch den engen Flur. Sie hatten wieder eine Suite bekommen und so fand ich Mama im Wohnzimmer sitzend vor.
Als sie mich sah, stand sie sofort auf und nahm ich in den Arm.
„Hallo Lukas, ich hoffe dir geht es etwas besser?“
Ich versuchte etwas zu lächeln und nickte. Sie zog mich zur Couch und setzte sich mit mir hin. Meine Hand hatte sie bis dahin nicht losgelassen.
„Eigentlich wäre ich am liebste wieder abgereist, nach dem was gestern vorgefallen ist! Aber ich bin dank dir hier, um mit meiner Familie endlich wieder Weihnachten feiern zu können. Zudem hat dein Onkel angerufen und gesagt, dass du nun völlig sicher bist.“
„Wieso?“, fragte ich verwundert.
Papa hatte sich auf dem Sessel niedergelassen und eine Tasse genommen.
„Du erinnerst dich vielleicht, dass beim Wagen eine Leiche gefunden wurde?“, fragte Papa.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Die Sehnsucht nach Hyun-Woo war nach wie vor groß.
„Ja…!“
„Dein Onkel erzählte, dass nach vorläufigen Untersuchungen, sich es mit aller Wahrscheinlichkeit es sich um den Professor handelte, den man bei dem Wagen gefunden hatte.“
„Wirklich…?“, fragte ich unsicher.
„Sein Mercedes wurde in der Nähe gefunden…“
„Ach so.“
„Du scheinst nicht richtig darüber glücklich zu sein, dass jetzt alles ein Ende hat?“
Ich schaute auf.
„Papa…, es tut mir leid, wenn ich nicht so reagiere, wie du dir das eventuell vorstellst. Wie kann ich glücklich sein, wenn ein weiterer Mensch gestorben ist…, selbst, wenn es der Professor war?“
„Schon gut Lukas…, ich verstehe.“
„Zudem habe ich immer noch die Bilder vom brennenden Auto vor Augen und dass ich…“
Ich brach ab und versuchte nicht wieder mit dem weinen an zu fangen.
„… dass du Hyun-Woo verloren hast.“
„Dem geht es gut“, mischte sich Mia ein, die aus ihrem Zimmer kam, „schau hier, das hat mir Jae-Joong vorhin geschickt.“
Sie hob mir ihr Handy unter die Nase. Auf dem Bild konnte ich Hyun-Woo sehen, umringt von So-Woi, Jack und Jae-Joong. Alle vier grinsten und machten das Peace Zeichen. Ich konnte nicht anders und musste ein wenig grinsen.
Hyun-Woo schien es gut zu gehen. Nur ein kleines Pflaster zierte seine Stirn.
„Kannst du mir das schicken?“, fragte ich meine Schwester.
„Bereist geschehen!“, antwortete sie und ließ sich auf der Lehne von Papas Sessel nieder.
Mama stand auf und lief zu dem kleinen Beistelltisch. Dort lag ein Geschenk, was sie nahm.
„Eigentlich wollte ich dir das zur Bescherung geben, aber ich glaube, dass brauchst du jetzt schon“, meinte sie und reichte mir das Geschenk.
„Wieso?“
„Du glaubst doch nicht, dass du so heute Abend mit uns Essen gehst!“
Stimmt, ich hatte eine an den Knien verrissene Jeans an und mein Wohlfühlpulover. Also bekam ich wieder mal etwas zum Anziehen an Weihnachten. Ich legte das Päckchen zur Seite.
„Mama, was hältst du von dem Vorschlag, dass ich mit Papa nach Hause fahre und mir dort einer meiner Anzüge hole. Wäre schade, wenn die nur im Schrank hängen würden.“
Ich nannte die Wohnung von Hyun-Woo schon ganz selbstverständlich mein zu Hause.
„Darfst du das denn?“
„Klar Mama, die sind extra für mich angefertigt worden, wer soll die sonst anziehen?“
„Also ich finde das eine gute Idee, so komme ich wenigstens noch etwas raus!“, sagte Papa.
Mama nickte, sagte nichts weiter dazu.
„Gut, dann werde ich mal unten anrufen und ein Taxi bestellen lassen“, meinte Papa.
*-*-*
Ich erschrak etwas, als ich die Tür zur Wohnung aufzog und drinnen alles hell erleuchtet war. Der Fernseher lief und zu meiner Überraschung stand da ein voll geschmückter Tannenbaum am Fenster.
Plötzlich tauchte Juens Kopf an der Couch auf.
„… Ähm… hallo Lukas, entschuldige, ich wusste nicht, dass du kommst.“
„Was tust du denn hier?“
„… ich wohne hier.“
„Das weiß ich auch, aber warum bist du hier?“
Verlegen schaute er sich um.
„Ich habe mit meinem Vater telefoniert…, er fragte, ob ich mir das nochmal an tun wollte. Das gestern hat mir schon so weh getan, dass mich meine eigene Mutter nicht erkennt und mich mit meinem Bruder verwechselt.“
„Soll das heißen du sitzt an heilig Abend hier alleine…?“
„Kein Problem“, versuchte Juen mir zu versichern, „dass ist in Ordnung…“
Papa, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte, trat zur Seite und zog sein Handy heraus.
„Aber du kannst doch nicht hier alleine…“
„Doch Lukas! Das ist wirklich kein Problem!“
„Juen!“
Das war die Stimme meines Vaters, der gerade wieder sein Handy verschwinden ließ.
„… ähm ja?“
„Du gehst jetzt und holst dir etwas Gutes zum Anziehen…, heute Abend verbringst du mit uns!“
Ich lächelte Papa an.
„Aber ich kann doch nicht…“
„Doch kannst du! Ich habe eben mit meiner Frau gesprochen und sie würde sich freuen, wenn du heute Abend unser Gast bist.“
Juen sah mich hilflos an.
„Du hast meine Vater gehört“, lächelte ich ihn an.
Er zuckte mit den Schultern.
„Eine Frage noch? Woher haben wir diesen wunderschönen Tannenbaum?“
„…ähm, dass sollte für dich eine Überraschung von Hyun-Woo sein.“
„Die ist ihm gelungen!“
*-*-*
„Hallo Juen…“, begrüßte Mama ihn schon an der Tür.
„Danke Mrs. Dremmler, dass ich heute Abend ihr Gast sein darf.“
Komm herein und setze dich.“
„Danke, gerne.“
„Komm, gib mir deinen Anzug“, meinte ich und nahm ihm die Hülle ab.
Ich brachte meinen und seinen Anzug in das elterliche Schlafzimmer.
„Eure Schuhe stehen da vorne“, meinte Papa, als ich wieder zurück kam und er auf den Rucksack zeigte.
Ich nickte und gesellte mich zu Juen.
„Mein Sohn hat mir erzählt, dass deine Familie, deinen älteren Bruder vermisst?“, fragte Mama.
Ich wusste nicht, ob es jetzt gut war, Juen mit der Familie zu kommen.
„Ja, mein Vater denkt sogar, er wäre tot. Bei meiner Mutter bin ich leider nicht so sicher, sie denkt immer, er wäre auf einem Lehrgang.“
„Und was denkst du? Hast du noch nicht versucht, ihn zu finden?“
„Mama, es gestaltet sich sehr schwer, jemanden hier zu finden. Und falls er nicht gefunden werden will, gestaltet sich das noch schwieriger.“
„Aber Juen sitzt doch jetzt an der Quelle…, Min-Chul ist ihm sicher dabei behilflich.“
Da wäre ich mir nicht so sicher, auch wenn Onkel Min-Chul immer sehr hilfsbereit war, aber auch nur wenn es die Familie war. Ich konnte Juens Stimmungslage nicht deuten, sein Gesicht schien die ganze Zeit ausdruckslos. Einzig die Augen funkelten lebendig
„Hättet ihr eventuell etwas dagegen, wenn Juen und ich etwas spazieren gehen, bisher war ich heute nur drinnen.“
„Mama schaute zu Papa, aber der schüttelte nur den Kopf, sagte nichts weiter. Na toll, was sollte das jetzt heißen? Nein sie haben nichts dagegen, oder nein ihr geht nicht nach draußen.
„Aber achtet bitte auf die Zeit und kommt nicht so spät zurück, ihr müsst euch noch um ziehen“, sagte Mama.
„Darin haben wir Übung“, lachte ich und zwinkerte Juen zu.
*-*-*
„Es tut mir leid, dass meine Mutter von deinem Bruder angefangen hat.“
„Das ist nicht schlimm und irgendwie hat sie recht. Ich würde schon gern wissen, wie es ihm geht.
„Vielleicht ist er verheiratet und du schon Onkel.“
„Das glaube ich jetzt weniger, Joon war schon immer ein Einzelgänger, hatte wenig Freunde.“
„Menschen können sich ändern.“
Darauf sagte nun Juen nichts mehr und lief still neben mir her. Ich zog mein Handy heraus und schaute, ob ich vielleicht eine Nachricht von Hyun-Woo verpasst hatte, aber ich fand lediglich die Nachricht von Mia mit dem Bild.
Ich öffnete und musste wieder lächeln. Ich hielt es Juen hin, der es bisher noch nicht gesehen hatte. Auch er lächelte und ich ließ mein Handy wieder verschwinden.
„Du hast tolle Freunde…“
„Es sind auch deine Freunde!“
„Das ist ein seltsames Gefühl…, Freunde zu haben…, ich kenne das nicht.“
„War es wirklich früher so schlimm für dich?“
Wir liefen weiter.
„Wie soll ich es sagen. Kann man sich an so etwas gewöhnen? Irgendwann dachte ich nicht mehr darüber nach. In der Akademie hing ich mit den Typen zusammen, die auf meinem Zimmer waren, aber so ernste Gespräche führen, wie ich es mit dir mache, gabs da nie.“
„Wolltest du nie jemanden näher kennen lernen?“
„Wie gesagt, da habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht. Es gab nur zwei Gesprächsthemen, Mädchen oder die Ausbildung. Ich habe mich mehr auf die Ausbildung konzentriert.“
„Also kein Mädchen, für das du schwärmst.“
„Was heißt schwärmen? Klar gibt es da Berühmtheiten, die mir gefallen, aber irgendwie unerreichbar sind. Und seit ich euch kennen gelernt habe, sehe wie du und Hyun-Woo, oder Jack und So-Woi mit einander umgeht, erwische ich mich bei dem Gedanken, dass mir das auch gefallen könnte.“
„Du sagtest, du bist nicht schwul?“
„Muss man schwul sein, um einen Jungen zu mögen…? Wenn es nur einen Jungen gibt, der dich zum Beispiel interessiert, aber du sonst nur Mädchen magst, ist man dann schon schwul?“
Ich schüttelte den Kopf, weil ich diese Sichtweise nicht kannte.
„Also, wenn du dich zum Beispiel in Jae-Joong verlieben würdest, wäre nur er interessant sonst kein anderer Typ.“
„Jae-Joong ist schwul?“
„Nein“, lachte ich, „das war nur ein Beispiel.“
Er brauchte ja nichts von unserem gemeinsamen Duscherlebnis wissen.
„Ja, so ungefähr meine ich das. Aber genauso schwer es ist, eine Freundin zu finden, wird es auch mit einem Freund sein.“
„Wie sollte er sein, dein Freund, wie stellst du dir den vor?“
„Eigentlich wie bei den Mädchen auch. Verständnis und humorvoll, sollte er sein, kein Wirbelwind wie Jae-Joong, das wäre mir eine Nummer zu heftig.“
Ich musste wieder grinsen.
„Ich mag es ruhig und harmonisch. Ich bin ein Kuschelfanatiker! Aber wie ich eingangs schon sagte, so jemanden muss man erst finden.“
„Oder du wirst gefunden!“
„Mich? Mach dich nicht lächerlich! Schau uns beide doch an, wir sind das krasse Gegenteil von einander. Wenn ich vielleicht so groß wie du wäre, diese sanften Gesichtszüge und die tollen Augen, dann hätte ich vielleicht eine Chance. Du hast ja selbst gehört, auf andere wirke ich wie ein Schuljunge.“
„Soso, du findest meine Augen toll?“
„Von Anfang an. Grüne Augen sind selten hier, außer du trägst vielleicht eingefärbte Kontaktlinsen und dann kommt noch dazu, dass deine Augen irgendwie magisch sind.“
„Ich glaube, wir gehen langsam zurück, nicht dass meine Augen dich noch verzaubern.“
*-*-*
„Ist der neu?“, wollte Mia wissen, die in einem Kleid vor mir stand, welches ich selber noch nie gesehen hatte.“
„Ja, ein weiterer toller Entwurf von So-Woi nach meinem Geschmack.“
Schwarze einfach Schnürschuhe und eine körperbetonte schwarze Jeanshose. Weißes Hemd wie immer und darauf ein Jacket in schwarz, nur der Kragen, so wie die Taschenaufsätze, waren grün-schwarz kariert.
Juen erschien in einem anscheinend normalen schwarzen Anzug. Nur wenn man genau hinsah, war dieses schwarz nicht einfach schwarz, der komplette Anzug war mit verschiedenen Muster überzog.
Papa kam zurück, trug ein weißes Hemd mit Krawatte und Pullunder. Mia dagegen hatte wie Mama ein einfaches Kleid an. So konnte man sich sehen lassen. Natürlich erregten Juen und ich Aufmerksamkeit, als wir später das Restaurant im Haus betraten.
Etwas hatte ich mich schon daran gewöhnt, so beachtete ich die anderen Leute überhaupt nicht. Papa überraschte uns mit einem mehr gängigen Menü, welches später doch etwas schwer im Magen lag.
Wie immer hatte ich zu viel gegessen. Nach deutscher Manier, bestellte ich mir am Schluss einen Kaffee. Ich trank gerade, als ich hinter mir eine bekannte Stimme hörte.
„Guten Abend zusammen…“
Ich drehte mich um und Hyun-Woo stand vor mir. Meine Laune stieg ums tausend fache. Ich sprang auf und umarmte ihn heftig. Mein Vater räusperte sich, so ließ ich von ihm ab und setzte mich wieder.
Er schüttelte jedem die Hand und blieb dann hinter mir wieder stehen. Natürlich spürte ich sofort, dass nun seine Hände auf meinen Schultern ruhten.
„Hallo Hyun-Woo, das ist aber schön, dass du noch vorbei kommen konntest, wie geht es dir?“
Mama natürlich wieder, neugierig wie immer.
„Gut…, vielleicht noch etwas wackelig auf den Beinen und auch der Schock, über das was passiert ist, sitzt doch noch tief.“
„Das kann ich mir gut vorstellen, komm setz dich zu uns.“
„Danke…“
Mia rutschte dichter zu ihrem Vater und so wurde noch ein Plätzchen frei.
„Möchtest du noch etwas essen?“
Er schüttelte abwehrend mit seinen Händen.
„Nein, meine Mutter hat gut und sehr viel gekocht. Sie hat mir auch genügend Essen mit eingepackt.“
„Und wie geht es deiner Großmutter?“
„ Sie ist voll genesen und sprudelt vor Tatendrang fast über.“
„Das freut mich zu hören!“, meinte Mama.
„Mia, was hältst du von einem kleinen Verdauungssparziergang, bevor wir nach oben gehen. Nur du und ich mit Mama?“
„Und die Jungs?“, fragte Mia.
„Ich denke, die werden langsam heim fahren, denn morgen ist ja auch noch ein anstrengender Tag.“
Ich spürte, dass es Mia gar nicht recht war. Sie wollte wahrscheinlich noch mit uns abhängen oder so etwas. Aber ich gab zu, dass Papa recht hatte. Morgen war ein langer Tag und ich sollte mich noch etwas ausruhen.
„Kann ich noch schnell eure Zimmerkarte haben, damit wir unsere Sachen holen können?“, fragte ich Papa.
„Ich gehe kurz mit hinauf, denn wir brauchen ja unsere Jacken, wenn wir noch etwas laufen wollen.“
„Und Schal und Handschuhe“, kam es von Mama.
„Würdest du dich so lange um die Damen kümmern, bis ich wieder komme?“, grinste ich Hyun-Woo an.
„Aber gerne doch!“
*-*-*
Wir wurden noch bis zum Wagen begleitet. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass Hyun-Woo seinen neuen Wagen verloren hatte. Dieser war sicher aus dem Fuhrpark von So-Woi.
„Was ist das für eine Tasche? Die hatten wir vorhin nicht dabei“, flüsterte mir Juen zu.
„Etwas, was mir mein Vater noch aus Deutschland mitgebracht hat.“
„Ach so.“
Hyun-Woo öffnete den Kofferraum und wir legten dort unsere Sachen ab. Danach hielt er mir wieder ganz Gentleman die Tür auf. Ich verabschiedete mich von meiner Familie und stieg ein.
Als wir abfuhren, winkten wir natürlich, bis die drei außer Sichtweite waren. Ich schaute zu Hyun-Woo. Bis jetzt hatten seit diesem Vorfall noch nicht miteinander geredet. Ich beschloss einfach ruhig zu sein und abzuwarten, bis wir zu Hause waren.
Die Erinnerung kam zurück und ich musste plötzlich mit den Tränen kämpfen. Mir wurde so richtig bewusst, dass ich fast meinen Hyun-Woo verloren hätte. Ich schaute nach draußen, merkte aber dennoch, dass Hyun-Woo nach meiner Hand griff.
„Es ist alles gut!“, sagte er leise.
Nun schaute ich doch zu ihm. Seine Augen glänzten ebenso.
„Es ist vorbei! Wir schaffen das gemeinsam! Okay?“, sprach er leise weiter.
Ich nickte.
„Es kann nur besser werden!“
*-*-*
Diese Nacht schlief ich schlechter als die Nacht zuvor. Immer wieder suchte ich in der Dunkelheit nach Hyun-Woo, ob er auch wirklich neben mir lag. Natürlich waren dicke Tränen nach unserer Ankunft in der Wohnung geflossen und ich wollte meinen Schatz auch gar nicht mehr los lassen.
Erst wollte uns Juen alleine lassen, damit wir Zeit für uns hatten, aber wir bekamen noch Besuch. So-Woi und Jack schauten noch vorbei, als sie von Grandma Shin-Sook zurück kamen.
Wir saßen noch eine ganze Weile zusammen und redeten einfach. Da alle recht müde waren, bechlossen wir ins Bett zu gehen. Hyun-Woo griff nach mir und zog mich eng an sich heran. Er legte den Arm um mich und wie ich es schon kannte, wanderte sein Bein über meine.
„Schlaf Lucas, du musst morgen fit sein“, brummelte er und war, wenige Augenblicke, später wieder eingeschlafen.
Am frühen Morgen tat sich ein neues Problem vor mir auf. Wie konnte ich meine Überraschung für später vorbereiten, ohne dass es Hyun-Woo bemerkte. Wie jeden Morgen umsorgte er mich und schon bald war mein Hunger gestillt.
„Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich nachher noch kurz zu So-Woi hinauf“, sagte mein Schatz und begann das Geschirr abzuräumen.
Das war vielleicht meine Chance.
„Kein Problem“, meinte ich.
Juen neben mir schob sich gedankenverloren den letzten Löffel voll Reis in den Mund. Ich musste wohl in den sauren Apfel beißen und Juen einweihen, ganz ohne seine Hilfe bekam ich das nicht hin.
So wartete ich geduldig, bis Hyun-Woo die Wohnung verlassen hatte und trat dann in Aktion.
*-*-*
Während Hyun-Woo zu seiner Mutter gefahren war, um sie und seine Großmutter abzuholen, führen Juen und ich mit Jack zum Haus meines Großvaters. Als wir dort eintrafen, sah ich, dass Grandma Shin-Sook wohl auch gerade angekommen war.
Der Begrüßungsmarathon konnte beginnen. Natürlich freute ich mich, sie wieder zu sehen, denn sie war schon fast sowas wie eine gute alte Freundin für mich. Nach und nach trafen auch die anderen ein. Ein kleiner Menschenpulk bildete sich vor dem Laden.
Durch die Begrüßung abgelenkt, konnte Juen, meine Überraschung unbemerkt an den anderen vorbei zu schmuggeln. Kurz darauf kamen Großvater mit Onkel Min-Chul heraus und baten uns freundlich, doch ins Haus zu kommen.
So viele Leute vor seinem Laden erweckte die Neugier der Nachbarn und das war ihm gar nicht recht. Nach und nach traten wir ein. Drinnen war ich erst einmal total von den Socken. Nichts erinnerte mehr an den Laden.
Das hatten sich meine Tanten wirklich etwas einfallen lassen. Die Kasse war abgedeckt und der Rest der Theke schaffte nun Platz für all die Getränke, die heute angeboten wurden. Wie besprochen stand diagonal zum Raum ein langer Tisch, an dem wir alle Platz fanden.
Als Hyun-Woo eintraf stand ich wieder auf, um seine Mutter und Großmutter zu begrüßen. Warum sich die Großmütter alle automatisch zusammen setzten, war mir ein Rätsel. Ich merkte schnell, dass da keine überschaubare Sitzordnung gab, sondern jeder setzte sich dort hin wo er wollte.
So saß das Jungvolk, also wir, wie ein Pulk am Ende des Tisches, während die Eltern eher in der Mitte vertreten waren, ganz am Schluss saß dann die ältere Generation, in einem gewissen Abstand.
Ich wusste nicht, ob das so geplant war, konnte mir aber auch egal sein. Onkel Sung-Ja kam zu mir und beugte sich vor.
„Lucas, du musste etwas sagen und den Abend eröffnen“, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich zeigte auf mich.
„Ich?“, fragte ich entsetzt.
Er nickte fröhlich und ging zu seinem Platz zurück. Hyun-Woo kicherte hinter vorgehaltener Hand. So stand ich unsicher auf und schaute in die Runde, die aber nicht so recht mitbekam, dass ich etwas sagen wollte, naja eher sagen sollte!
Ich nahm eines meiner Stäbchen und klopfte damit vorsichtig ans Glas. Sofort kehrte Ruhe ein und ich hatte nun die volle Aufmerksamkeit.
„Onkel Sung-Ja meinte, ich solle diesen Abend eröffnen. Eigentlich dachte ich, das macht immer das Familienoberhaupt.“
Großvater lächelte mir zu, schüttelte leicht den Kopf und zeigte auf mich.
„Du hattest die Idee“, sagte Hyun-Woo leise neben mir.
„Stimmt!“, meinte und ein Grinsen ging durch die Runde.
„Wo soll ich anfangen…, am besten am Anfang denke ich.“
Ich räusperte mich kurz.
„… als ich vor einem Jahr mit dem Plan zu meinen Eltern kam, dass ich nach Korea möchte, waren die am Anfang nicht sehr angetan…, ich alleine in einem fernen Land. Doch dank meines Zeichenlehrers Park In-Jeu, konnte ich sie davon überzeugen, dass es etwas Gutes sei, hier her zu kommen.“
„Wenn wir das alles vorher gewusst hätten…?“, unterbrach mich mein Vater.
„Ach Papa, sein nicht so, oder willst du sagen, dir gefällt es hier nicht?“
Er grinste und hob seinen Daumen nach oben.
„Klar hat man irgendwelche Erwartungen, wenn man wo Fremdes hinkommt, aber alle meine Vorstellungen wurden schon am Anfang weit überboten. Die Kultur und Gastfreundschaft dieses Landes ist atemberaubend und kann ich nur weiter empfehlen!“
Alle fingen an kurz zu applaudieren, so musste ich warten, bis wieder Ruhe einkehrte.
„Es mag stimmen, dass ein paar wenig schönere Dinge, seit ich hier bin, geschehen sind, aber im Endeffekt habe ich dieses Land so kennen gelernt, wie es wirklich ist… das reale Korea. Was mich aber am meisten freut…, ich habe den Teil meiner Familie gefunden, der mir bis dato unbekannt war.“
Ich schaute kurz jeden der Familienmitglieder an, bevor ich weitere redete.
„Und es brachte mir noch eine Vielzahl von lieben Menschen, die ich kennen lernen durfte, gute Freunden, auf die ich immer zählen kann und natürlich einen liebevollen Freund, den ich aufrichtig liebe und er mich!“
Nun wurde es laut am Tisch. Jeder sprach durcheinander und es dauerte einige Zeit, bis ich weiter sprechen konnte. Ich nahm mein Glas in die Hand und hob es in die Höhe.
„Ich denke, egal wo man auf dieser Welt ist, gibt es eine Tradition, die alle teilen. Ein Trinkspruch!“
Nun nahmen alle ihre Gläser in die Hand.
„Möge dies nicht der letzte Abend sein, an dem wir so vergnügt beieinander sitzen und freuen uns auf das, was kommt. Geon-Bae! (Prost)
*-*-*
Ich hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht, wie bei diesem Essen. Niemand dachte mehr an Vorkommnisse, die geschehen waren. Was mir aber jetzt erst auffiel, unter dem Weihnachtsbaum, der in der Ecke stand, lagen auch Geschenke.
Und als hätte jemand meine Gedanken gelesen standen mehrere auf und liefen zum Weihnachtsbaum. Zuerst wurden die Großeltern beschenkt. Es waren kleine bescheidene Präsente, das hatte man im Vorfeld wohl so ausgemacht.
Auch meine Cousins und meine Schwester bekamen kleine Päckchen. Und so ging es weiter, bis fast jeder etwas hatte, außer Hyun-Woo und mir. Großvater kam zu mir und ich dachte schon, nun bekommst du auch etwas, aber er hatte nichts in seinen Händen.
Am Tisch wurde es automatisch ruhiger, als nun Großvater bei mir stand.
„Lieber Lucas, eigentlich ist das schönste Weihnachtsgeschenk für mich, die ganze Familie um mich zu haben und ich denke, jeder denkt so. Wir haben lange überlegt, was wir dir schenken könnten, es gab sogar einige Telefonate nach Deutschland. Aber so recht konnten wir uns nicht einigen, bis mein Enkel Hong-Sik…, wie sagt ihr… eine geniale Idee…“, alles kicherte, „… hatte. Wir haben das Glück für heute Abend jemanden gefunden zu haben, der nachher von uns allen, vor dem Haus ein Foto macht. So hast du eine Erinnerung an diesen Abend, wo alle Menschen vereint sind, die dich lieb haben!“
Alles begann zu klatschen und ich hatte Mühe, meine Tränen zurück zu halten.
„Du hast uns alle zusammen gebracht und ich danke dir herzlichst dafür!“
Wieder wurde das klatschen lauter und ich nickten allen zum Dank zu. Dann stand ich auf und umarmte meinen Großvater lange. Als er sich dann gesetzt hatte, ergriff ich nochmal das Wort.
„Einer hat noch kein Geschenk bekommen, der einen großen Anteil daran hat, wie ich mich jetzt fühle!“
Hyun-Woo wurde rot.
„…Lucas bitte…“, meinte er verschüchtert, aber ich sprach einfach weiter.
„Ich habe auch lange überlegt, was ich ihm schenken sollte…, die Ringe vielleicht, die ich für uns beide anfertigen ließ und schon ewig mit mir herumtrage…, oder etwas anderes… Nützliches…, aber von keinem war ich so richtig überzeugt. Wie wir alle wissen, ist dein Auto leider zerstört worden…“
„Du willst ihm ein Auto schenken?“, rutschte Mia heraus und alles fing an zu lachen.
Ich schüttelte langsam den Kopf und lächelte ebenso.
„Mit dem Wagen ist leider auch ein kleines Präsent verloren gegangen, ein Geschenk deines Vaters. Durch eine gute Quelle“, Hyun-Woos Mutter lächelte, „weiß ich, was drin war.“
Hyun-Woo sah mich erstaunt an.
„Es war ein kleines Bild, das dich mit deinem Vater zeigte. Er hatte dich geschultert und eine Geige in der Hand. Lieber Hyun-Woo, ich kann dir dieses Unikat nicht wieder bringen, aber ich kann dir etwas anderes geben, was dich an dein Vater erinnern wird.“
Ich nickte Juen zu, der darauf in den hinteren Bereich des Hauses kurz verschwand. Zurück kam er mit meiner Geige, die mir Papa, auf meinen Wunsch, aus Deutschland mitgebracht hatte.
„Du spielst Geige?“, fragte Großvater und So-Woi fast gleichzeitig.
Ich nahm mein Instrument entgegen und lächelte.
„Warum hast du das nicht erzählt?“, wollte nun Onkel Min-Chul wissen.
„Ähm…, es hat niemand gefragt…“
Wieder wurde am Tisch gelacht. Als ich den Bogen hob, kehrte wieder Stille ein.
„Leider habe ich nur wenig Zeit zum üben gehabt, als verzeiht mir bitte schon im Voraus, wenn ich einen Fehler mache.“
„Und du hast gesagt, dass ich träume“, kam es plötzlich von So-Woi, „…also habe ich, gestern doch eine Geige gehört!“
Jack drehte den Kopf weg und kicherte hinter vorgehaltener Hand. Da ich keinen Notenständer hatte, stand nun Juen neben mir und hielt mir die Noten vor die Nase. Ich setzte an und ließ den ersten Ton erklingen.
Ich spielte Stille Nacht, dass auf der ganzen Welt bekannt war. Es wurde ganz ruhig im Raum und jeder lauschte den Klängen meiner Geige. Hyun-Woo saß da und ich bemerkte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.
Aber er lächelte dabei. Er war anscheinend genauso glücklich wie ich und wie jeder hier im Raum. Ein schönes Weihnachtsfest, so wie ich es mir gewünscht hatte.
…to be continued…
3 Kommentare
Vielen, vielen, vielen Dank! 🙂
Meinem Vorredner schließe ich mich gern an und habe dem auch nicht entgegen zusetzen oder hinzuzufügen.
Danke Pit.
Liebe Grüße,
Sephi
Danke
Für die tolle Geschichte, die 24 Fortsetzungen als Adventskalender und diesen versöhnlichen rührenden (Zwischen)Abschluss
Ich wünsche Dir und allen Lesern, die hoffentlich genau so begeistert sind wie ich, eine schöne Weihnachtszeit ohne Ärger und Streit, einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein gutes Jahr 2019.
Möge die Welt ein klein bisschen besser und menschlicher werden.
Gerdsc